19. DAS ENDE

Zwei Wochen später roch ich erneut Rauch im Wind, und als die Nacht hereinbrach, schimmerte das Glas vor dem Fenster meines Schlafgemachs rötlich. Flammen loderten im Nordosten wie ein Höllenschlund, der immer näher kam, um uns zu verschlingen. Die Barrikaden, die unsere Soldaten westlich des Flusses errichtet hatten und die von dort aus weiter nach Norden verliefen, waren in Brand gesteckt worden. Cannan hatte unseren Truppen befohlen, das Holz mit Pech zu tränken und es hinter dem Feind anzuzünden, sodass es für so viele wie möglich zur tödlichen Falle würde, wenn die Schlacht für uns schlecht ausginge. Die meisten Cokyrier würden verbrennen, andere ertrinken, und nur wenigen sollte die Flucht gelingen. Bei dem Gedanken an das Schicksal der Soldaten − auch wenn es Feinde waren − drehte sich mir den Magen um, und ich war froh, dass über die lauten, wie Peitschen knallenden Geräusche der Flammen keine Schreie zu hören waren.

Das Großfeuer erlosch im Laufe der Nacht, was nicht zuletzt am kalten Regen lag. Unsere Truppen formierten sich hinter dem verkohlten Gelände und warteten auf die unvermeidliche nächste Angriffswelle der Cokyrier. Um unsere Streitkräfte zusammenziehen zu können, hatte Cannan die Brücke im Süden in Brand stecken lassen und die Männer von dort abgezogen – die Bogenschützen in die Stadt, Kavallerie und Fußsoldaten in den Nordosten geschickt. Irgendwann würde sich unser ganzes Heer hinter die steinernen Wälle zurückziehen und unsere letzte Gegenwehr leisten müssen.

Cannan wollte den cokyrischen Soldaten in keiner Weise Hilfe gewähren, und so wurden die Felder, die man nicht mehr hatte abernten können, angezündet, die Brunnen in den Dörfern vergiftet und die Tiere geschlachtet. So lag das Land hinter den Stadtmauern wie tot da – alles verödet und zum Stillstand gekommen.

Die Stadt pulsierte dagegen in den ersten Dezemberwochen nur so vor Leben. Kirchen, Versammlungshallen, größere Stallungen, Schulen – jedes Gebäude, das sich irgendwie verteidigen ließe, wurde bereit gemacht, um Bürger für den Fall zu schützen, dass die Cokyrier die Stadtmauern überwinden würden. Die unteren Fenster und die Balkontüren des Palastes wurden zugenagelt, um Pfeilen wie Soldaten den Zugang zu erschweren. Das Glas der oberen Fenster würde, wenn es so weit wäre, herausgeschlagen, um unseren Bogenschützen bessere Stellungen zu verschaffen. Waffen, Verbandszeug, Feuerholz und Nahrungsvorräte wurden in jedes mögliche Bollwerk gebracht.

Das erste Anzeichen für den bevorstehenden Rückzug unserer Truppen in die Stadt war die beträchtlich steigende Zahl der Verwundeten. Außerdem kamen immer mehr Witwen mit Kindern zum Palast und suchten beim König um Unterstützung und Schutz an. Steldor hatte mich gebeten, ihm an den Nachmittagen im Thronsaal zur Seite zu stehen, wenn solche Petitionen vorgebracht wurden, und so kam mir erst richtig zu Bewusstsein, wie beschwerlich das Leben unserer Untertanen geworden war. Leider gab es auch keine tröstenden Worte, die wir den Bittstellern bieten konnten, nur ein offenes Ohr und ein paar Münzen. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, meinen Gemahl mit neuen Augen zu sehen, denn das von ihm gezeigte Mitgefühl und seine Geduld erstaunten mich. Kurz vor Weihnachten erfuhr ich dann, dass unseren Bürgern kein Einlass in den Palast mehr gewährt würde.

Steldor befand sich soeben im Thronsaal, als ich ihn aufsuchte, um eine Erklärung dafür zu bekommen, denn selbst Destari hatte sich geweigert, mir zu sagen, was vorgefallen war. Cannan, Galen und Casimir waren bei ihm, ebenso das übliche Halbrund weiterer Elitegardisten, doch keiner reagierte erstaunt auf mein Eintreten. Es war, als hätte man bereits mit meinem Erscheinen gerechnet. Steldor erhob sich und kam mir auf den Stufen der Empore entgegen. Dann nahm er meine Hände in die seinen, was mir genügte, um zu ahnen, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.

»Alera«, sagte er und warf einen kurzen Blick auf seinen Vater, »wir haben unsere Männer zurück in die Stadt beordert und bereiten uns darauf vor, die Stadtmauern zu verteidigen. Anders als im vergangenen Winter wird Cokyri jedoch nicht versuchen, uns auszuhungern. Man hat bereits unsere Kapitulation verlangt, und bald wird der Großangriff beginnen.«

»Haben wir die Kapitulation in Erwägung gezogen?«, fragte ich und spürte, wie das Blut heftig in meinen Schläfen pochte. Es war der Hauptmann, der meine Frage beantwortete.

»Nein. Offen gesagt wollen wir lieber im Kampf sterben, als Gefahr zu laufen, hingerichtet zu werden. Wenn der Zeitpunkt zur Kapitulation gekommen ist, werden wir versuchen, die besten Bedingungen für unser Volk zu verhandeln. Dabei wissen wir jedoch, dass der Overlord keine Gnade kennen wird und die Menschen bestenfalls auf ein Leben in Sklaverei hoffen dürfen.«

Als er den Schrecken in meinem Gesicht sah, führte Steldor mich die Stufen hinauf und ich ließ mich auf den Thron der Königin sinken. Er setzte sich jedoch nicht, sondern blieb neben mir stehen.

»Und die Schließung des Palastes?«, fragte ich.

»Gewisse Teile unserer eigenen Bevölkerung könnten uns gefährlich werden. Eines der Gebäude auf dem Kasernengelände wurde zur Anlaufstelle für beunruhigte Bürger umfunktioniert, damit die Menschen sich von ihrem Herrscher nicht im Stich gelassen fühlen, doch direkten Zugang zum König kann ich ihnen nicht mehr gewähren.« Hinter Cannans gefasstem Ton war dennoch die Resignation zu hören.

»Aus demselben Grund musst auch du nun unablässig im Palast bleiben. Begib dich nicht einmal mehr in den Garten oder einen Innenhof«, mahnte Steldor. »Und du sollst wissen, dass meine Mutter und Tiersia bereits Zuflucht in diesen Mauern gefunden haben. Sie sind im zweiten Stock untergebracht.«

Ich blickte in Galens aschfahles Gesicht und machte mir klar, dass dieses Privileg nur seiner Frau, nicht aber seiner Mutter und seinen Schwestern zuteilgeworden war.

»Was ist mit Lania?«, flüsterte ich, und der Kummer in Steldors Gesicht hätte mir schon genug verraten, doch Cannan beantwortete meine Frage dennoch.

»Ich habe mit Baelic gesprochen, aber wir haben beide den Eindruck, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für ein solches Vorgehen wäre. Wir befürchten, eine Panik könne ausbrechen. Wir fürchten, die Bevölkerung würde den Palast stürmen, wenn sie bemerkte, dass wir solche Maßnahmen ergreifen. Ich habe jedoch Wachen entsandt, die die Familie meines Bruders beschützen, und sobald die Cokyrier die Stadtmauern durchbrechen, wird man sie unverzüglich hierherbringen.«

»Sobald?« Meine Stimme war fast unhörbar, denn die Endgültigkeit in diesem einzigen Wort war wie ein eisiger Hauch.

»Ja«, sagte der Hauptmann, die Augen voller Mitgefühl, und Steldor legte mir seine Hände auf die Schultern. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Ich sage Euch das, weil ich glaube, Ihr besitzt die Kraft, damit umzugehen. Und weil Ihr das Recht habt, die Wahrheit zu erfahren. Solange Narian ihre Truppen anführt, ist unsere Niederlage unabwendbar. Er wird die Mauern zertrümmern. Er besitzt die Fähigkeit dazu. Ich erwarte auch, dass er große Teile der Stadt in Brand steckt. Er scheint auch diese Fähigkeit zu haben, mit oder ohne flammende Pfeile.«

Er schwieg und schüttelte den Kopf, als ringe er um Verständnis oder eine Erklärung.

»Er ist im Besitz ungeheurer Macht, Alera – Zauberei. Ihr wart zugegen, als er das Feuer auf Koranis’ Gut entfacht hat. Art und Umfang seiner Kräfte übersteigen unser Vorstellungsvermögen, und wir wissen nicht, wie wir uns dagegen verteidigen sollen.«

»Dann wird die Legende also wahr?«

»Es sieht sehr danach aus.«

Alle im Saal Anwesenden schwiegen, und ich erhob mich steif und schüttelte Steldors Hände ab. Zu meiner eigenen Überraschung hatte ich nicht das Bedürfnis zu weinen, sondern verspürte vielmehr eine große Entschlossenheit, dem Schicksal in gleicher Weise wie unsere tapferen Männer zu begegnen.

»Danke«, sagte ich mit fester Stimme. »Ich werde nach Tiersia schauen und ihr jede erdenkliche Hilfe anbieten. Und ich werde meine Mutter bitten, sich um Faramay zu kümmern. Denn das wenigste, was ich tun kann, ist wohl, sie davon abzuhalten, Euch zu behelligen.«

Ich hatte nicht beabsichtigt, ironisch zu klingen, doch alle lächelten, als wären sie dankbar für einen kleinen Lichtblick in der nervenzehrenden Anspannung, wie kurz er auch sein mochte.

Die unmittelbar vor der Stadt zusammengezogenen cokyrischen Truppen waren zum Angriff bereit, und doch passierte noch nichts. Stattdessen herrschte eine erstaunliche Ruhe. Zunächst schien das keinen Sinn zu ergeben, dann begriff ich mit einem kurzen Anflug von Dankbarkeit, dass Narian uns nicht zu Weihnachten angreifen würde. Auch wenn ich wusste, dass er selbst den Feiertag nicht beging, so war ihm doch bekannt, dass wir das taten, und er gewährte uns offenbar aus Respekt diesen Aufschub. Auch wenn ich selbst den Palast nicht verließ, so konnte ich doch aus der Ferne sehen, wie die Menschen auf die Hauptdurchgangsstraße strömten, um einander im Geiste des Festtages zu begrüßen. Ich wusste, dass sie die Kirchen und Kapellen füllen würden, um den Festtag zu begehen, obwohl ich gleichzeitig nicht anders konnte, als den Wert von Gebeten infrage zu stellen. Dennoch fühlte sich allein die kurzfristige Verschonung vom Lärm und der Anspannung des Krieges wie ein Geschenk des Himmels an, und ich genoss es dankbar. Schließlich war das vermutlich der letzte Frieden, den wir für lange Zeit erleben würden.

Der Angriff auf die Stadt begann am ersten Tag des neuen Jahres. Mir schien es eine Ironie des Schicksals zu sein. Im Schutz der Dunkelheit begannen die Cokyrier, unsere Mauern an mehreren Stellen gleichzeitig zu untergraben. Vermutlich wollten sie explosives Pulver zum Einsatz bringen, um den Stein zu sprengen und einen Durchlass für ihre Soldaten zu schaffen. Cannan hatte befohlen, Schalen mit Wasser auf jeden Turm zu schaffen, und dort, wo die Wasseroberfläche sich kräuselte, wusste man, dass gegraben wurde, und ergriff Gegenmaßnahmen. Die Cokyrier wurden mit Pfeilen, siedendem Wasser und Steinen attackiert, und als der Morgen dämmerte, zogen sich die Grabenden zurück. Unsere Soldaten taten ihr Bestes, die Tunnel wieder zuzustürzen, und doch wussten wir, dass der Feind mit jeder der folgenden Nächte ein Stückchen weiter vordringen würde, bis er unsere Mauern unvermeidlich zum Einsturz brächte.

Im Norden fällten die feindlichen Soldaten Bäume, um die Stämme als Rammböcke zu nutzen. Aus dem Osten griffen sie uns mit eigens dafür errichteten Katapulten an, die sie mit Felsbrocken aus dem Vorgebirge oder dem Fluss bestückten. Der fortwährende Beschuss klang wie rhythmischer Donner.

Die Cokyrier schossen auch brennende Pfeile über unsere Mauern, um Kräfte durch die andauernden Löscharbeiten zu binden. Von den höher gelegenen und einigermaßen geschützten Posten unternahmen unsere Bogenschützen ihr Möglichstes, um die Aktivitäten des Feindes zu stören, doch es waren einfach zu wenige.

Die Explosionen, die Teile der Stadtmauer zum Einsturz brachten, erfolgten schließlich Mitte Januar und genügten, um den Fußboden erzittern und die Kronleuchter klirren zu lassen. Tiersia befand sich zu dem Zeitpunkt gerade mit mir in meinem Privatsalon, und in ihren Augen spiegelte sich der Schrecken, den ich selbst empfand. Destari kam sogleich herein, um uns über die Ereignisse zu informieren, doch die Sorge in seiner Stimme verhinderte, dass er meine Ängste zerstreute. Ich hob Kätzchen auf meinen Schoß, während Tiersia Tränen über das angespannte, bleiche Gesicht rannen. Wir lehnten uns aneinander, verschränkten die Arme und saßen eine Weile schweigend da, denn mir fehlten die Worte, sie zu trösten.

»Ich will ihn nicht verlieren«, murmelte sie mit belegter Stimme.

»Ich weiß. Aber das liegt nicht in unserer Hand.«

Dann schwiegen wir wieder, und jede war in ihrem eigenen Kummer gefangen. Meine Gedanken wanderten zu Steldor, dem ich ebenfalls kein Leid geschehen lassen wollte. Aber ich wusste, dass er alles opfern würde, um die Menschen zu beschützen, die er liebte, mich eingeschlossen. Die Tatsache, dass Galen, Steldor und so viele andere junge Männer, deren Leben doch gerade erst richtig begonnen hatte, vielleicht den nächsten Tag nicht mehr erleben würden, machte mich ganz krank. Ich schauderte, versuchte, solche Gedanken zu verdrängen, und zwang mich selbst, an Narians Versprechen zu glauben, dass er seine Soldaten zurückhalten würde. Da nun Teile der Stadtmauer geborsten waren, hatte der Krieg bereits die Straßen erreicht. Unsere unermüdlichen Soldaten kämpften, um zu verhindern, dass die Cokyrier den Palast einnahmen. Tag und Nacht hörte ich Schreie und dazu das Klirren von Schwertern und Rüstungen. Die Bevölkerung von Hytanica hatte begonnen, sich in die Kirchen, Stallungen und Schulen zu flüchten, die man zuvor zu Bollwerken ausgerüstet hatte. Viele versuchten auch, im Palast Zuflucht zu finden, in der massivsten und am besten verteidigten Festung. Die dicken Mauern und die Entschlossenheit unserer Männer hatten bislang die Cokyrier abgewehrt, obwohl die geschickten Krieger aus den Bergen auch Anstalten machten, die gut zehn Meter hohe rückwärtige Mauer zu erklimmen, die den Garten umgab. In meinem kostbaren Refugium war bereits Blut geflossen, und etliche Männer hatten ihr Leben verloren.

Noch nie hatte ich in meinem Zuhause so viele Menschen gesehen. Es schien, als hätte sich die halbe Stadt hereingedrängt. Die Leute kletterten auf der panischen Suche nach Schutz einer über den anderen. Und täglich wuchs ihre Zahl. Der Lärm war unerträglich. Eltern versuchten, ihre Kinder nicht aus den Augen zu verlieren, Männer riefen nach Freunden und Verwandten, die sie in dem Durcheinander verloren hatten, Babys schrien und Offiziere riefen Befehle, versuchten alle zu beruhigen und eine gewisse Ordnung in das Chaos zu bringen.

Ich wusste, dass Cannan sich eingeschaltet haben musste, als plötzlich Elitegardisten eingriffen und Frauen und Kinder in den Ballsaal und den königlichen Speisesaal im ersten Stock führten. Gleichzeitig wurden alle gesunden, aber noch unbewaffneten Männer in den Thronsaal gerufen, um dort mit Waffen aus dem Arsenal ausgerüstet zu werden. Schließlich brachte man noch die Verletzten und Gebrechlichen in die Versammlungshalle neben dem Arbeitszimmer des königlichen Leibarztes, wo man alle Heilkundigen des Königreichs zusammengezogen hatte.

Ich bahnte mir meinen Weg durch die Gänge im zweiten Stock, ohne eigentlich zu wissen, wohin ich wollte. Je weiter ich ging, desto hilfloser und bedrängter fühlte ich mich. Das Schloss schien aus allen Nähten zu platzen, und überall verlangte man nach Hilfe und Trost. Ich kämpfte mich durch eine Menschentraube am oberen Absatz der Prunktreppe und hielt mir die Ohren zu, um den Lärm auszusperren, der mir Kopfschmerzen verursachte. Dabei versuchte ich, all denen auszuweichen, die die Stufen heraufstiegen, um unten Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Und in all diesem Wahnsinn konnte ich weder Sinn noch Hoffnung ausmachen. Hytanica würde fallen. Heute oder morgen, oder nächste Woche, oder eben dann, wenn wir die Feinde nicht mehr abwehren konnten. Doch der Fall Hytanicas war unabwendbar. Was würde dann mit mir werden? Mit den Menschen, die ich liebte? Mit allen in der Stadt? Und mit all jenen, die mich im Palast umgaben? Als ich Schreie vom Eingangstor vernahm, sah ich, wie Wachen die Knaufe ihrer Schwerter benutzten, um den Durchgang freizubekommen. Ich war davon überzeugt, dass die Cokyrier nun auch unsere letzten Barrikaden überwunden hatten, doch dann schaute ich genauer hin und erkannte, dass bereits gegen unsere eigene Bevölkerung gekämpft wurde, gegen Menschen, die wir nicht mehr beschützen und aufnehmen konnten. Als die Männer es schließlich doch schafften, das Tor zu schließen, wurde der Balken davorgelegt, um es zu versperren. Von der anderen Seite waren Schreie zu hören. Doch niemand antwortete. Stattdessen wurden Möbel und alles, was man finden konnte, aufgetürmt, um den Zugang weiter zu blockieren.

Ich presste mich ans Geländer, um den durcheinanderlaufenden Menschen Platz zu machen, und mir wurde richtiggehend schwindelig – wahrscheinlich wäre ich zu Boden gesunken, doch dafür fehlte einfach der Platz. Die Hitze, die diese Hunderte von Menschen verströmten, war unerträglich.

Ich stöhnte auf, wenngleich niemand mich hörte oder mir Beachtung schenkte, und ich fragte mich, wie ich wohl von Destari getrennt worden war und ob er versuchte, mich wiederzufinden, oder angesichts der drohenden Gefahr irgendwo anders im Einsatz war. Ich schloss die Augen und hob eine Hand, um mir damit über die feuchte Stirn zu wischen, doch da verschränkte jemand seine Finger mit den meinen.

Ich schlug die Augen wieder auf und sah Steldor neben mir, bereit, mich aus dieser Menge zu retten. An seine Hand geklammert stolperte ich ihm nach, während er sich dank seiner Größe und imposanten Statur einen Weg über die Stufen hinab zum Parterre bahnte. Auf das Ansehen unseres Amtes gab da schon niemand mehr etwas.

Gemeinsam schoben wir uns durch den Thronsaal, in dem jetzt Männer behelfsmäßig als Soldaten bewaffnet und notdürftig mit dem Gebrauch der Waffen vertraut gemacht wurden. Im Vorüberlaufen sah ich eine Schwangere zusammenbrechen und einen Mann, der den Respekt vor dem Gesetz vergessen zu haben schien und sich eine der Preziosen aus meinem Heim in seine Tasche stopfte.

Ein anderer taumelte gegen Steldor, der ihn jedoch sogleich am Kragen packte und beiseitestieß. Doch keinen Augenblick lang ließ mein Gemahl meine Hand los. Schließlich betraten wir die Halle der Könige und eilten in Cannans Dienstzimmer, wo der Hauptmann und seine hochrangigen Elitegardisten sich bereits versammelt hatten.

»Ich habe sie«, verkündete Steldor, knallte die Tür hinter uns zu und sperrte so den unablässigen Lärm ein wenig aus.

»Gut«, sagte Cannan, der hinter seinem Schreibtisch saß, kurzangebunden und bedeutete uns, dass wir uns setzen sollten. »Galen?«

»Ich habe ihn nicht gesehen, aber er muss irgendwo da draußen sein. Ich denke, er wird uns finden.«

Wie aufs Stichwort stürmte der Haushofmeister herein. Steldor zog mich gerade noch rechtzeitig beiseite, um mich vor der auffliegenden Tür zu schützen. Dankbar ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. Galen keuchte und war verschwitzt, wie die meisten Männer um mich herum.

»Da draußen herrscht der blanke Wahnsinn, Sir. Sie bringen einander um. Wir brauchen dazu nicht einmal mehr die Cokyrier.«

»Wir tun unser Bestes, um die Ordnung aufrechtzuerhalten«, erwiderte Cannan kurzangebunden. »Doch nun, da der König und die Königin anwesend sind, haben wir einige Entscheidungen zu treffen.«

»Gibt es noch irgendetwas, das wir zu unserer Verteidigung tun können, Sir?« Das war Casimir gewesen, einer der sechs Stellvertreter des Hauptmannes im Raum.

Cannan stand auf und antwortete unumwunden: »Wir sitzen in der Falle. Der Feind hat bereits die Stadt eingenommen, und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie im Palast –«

»Sie sind schon auf dem Gelände.« Mein Leibwächter, der einzige Stellvertreter, der noch gefehlt hatte, schien unbemerkt eingetreten zu sein. Alle nahmen seine düstere Meldung kommentarlos zur Kenntnis. »Sie sind im Innenhof. Die Soldaten, die die Mauern verteidigt haben, sind entweder tot oder haben sich ergeben. Es ist vorbei.«

Cannan biss fast unmerklich die Zähne zusammen, zeigte ansonsten jedoch keinerlei Reaktion. »Versuchen sie, die Tore zu durchbrechen?«

»Nein, Sir«, antwortete Destari und rieb sich den Nacken. »Sie feiern. Und sie warten.«

Cannan verstand sofort, sprach seine Schlussfolgerung aber auch laut aus. »Er wird selbst kommen.«

Destari nickte, und alle Gesichter im Raum nahmen einen stoischen Ausdruck an. Bis auf meines, das vor Schreck wie starr war. Steldor trat neben meinen Stuhl, und ich klammerte mich an seine Hand, als würde die allein mich davor bewahren, den Verstand zu verlieren.

»Narian hat die Stadt in Richtung Cokyri verlassen«, sagte Destari noch und klang bereits wie jemand, der sich in sein Schicksal ergeben hat. »Die Belagerung ist zu Ende, und der Overlord will den exakten Moment unserer Kapitulation mit eigenen Augen sehen. Narian wird ihm mitteilen, dass der Zeitpunkt dafür gekommen ist.«

Das war es dann also: Das Ende schien gekommen.

In derselben Nacht herrschte eine willkommene Trägheit. Man hatte den Menschen nicht gesagt, was genau passiert war, denn das schien barmherziger. Und es sorgte dafür, dass die fragile Ordnung, die herzustellen Cannan gelungen war, nicht in Panik umschlug. Ich blieb im Dienstzimmer des Hauptmannes, wo ständig Männer kamen und gingen, nicht zuletzt Cannan selbst. Aber es war der einzige Ort, an dem ich mich ohne beständige Furcht um meine Sicherheit aufhalten konnte. Steldor führte mich in die kleine Kammer, die sich hinten an das Dienstzimmer seines Vaters anschloss, und forderte mich auf, die Liege zu benutzen, die dort stand, und vielleicht ein wenig zu schlafen. Der Raum war dunkel, fast leer und irgendwie friedlich, denn der Lärm aus dem Rest des Palastes war hier ausgesperrt.

Ich döste in einem seltsamen traumartigen Zustand, während Stimmen an mein Ohr drangen, Gesprächsfetzen einer Unterhaltung im Dienstzimmer, die ich gar nicht verstehen wollte, bis schließlich in mein Bewusstsein drang, dass es darum ging, den König und die Königin aus dem Palast zu bringen. Es gab noch einen Fluchttunnel, der intakt war. Den, der nach Norden führte, aus der Stadt heraus. Ich lag auf meinem geliehenen Lager, starrte an die pechschwarze Decke und lauschte angestrengt.

»Es ist nur noch eine Frage von Stunden«, sagte Cannan mit leiser, aber für mich doch verständlicher Stimme. »Euch beide hierzubehalten, ist völlig sinnlos.«

»Es gab Gefechte im Wald jenseits der nördlichen Mauer.« Ich erkannte Casimirs Stimme und wusste, dass er und vielleicht auch noch einige andere Männer sich mit Cannan und Steldor im Raum aufhielten. »Denken Sie, es wäre sicher, die königliche Familie dorthin zu bringen, wo vielleicht noch cokyrische Truppen stehen?«

»Schick Kundschafter aus, die Gegend zu durchkämmen«, erwiderte Cannan. »Wir brauchen eine Vorstellung davon, was uns dort erwartet. Aber letztlich werden wir gar keine andere Wahl haben, als jegliches Risiko einzugehen.«

Ich hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder geschlossen wurde, und nahm an, dass Casimir gegangen war.

»Sir, unser Plan zur Zerstörung –«, hörte ich Destari ansetzen, doch er wurde sogleich von meinem Gemahl unterbrochen.

»Ich werde nicht gehen«, stieß Steldor hervor.

Cannan reagierte heftig und ohne Umschweife auf diese Aussage.

»Das Reich ist gefallen, Steldor. Das Einzige, was uns vielleicht noch bleibt, ist, dich und Alera zu beschützen.«

»Nehmt Alera, den früheren König und die Königin, aber ich werde nicht fliehen.«

Ein Stuhl scharrte, und ich wusste, dass der Hauptmann aufgestanden war.

»Wenn der Overlord eintrifft, wird er dich töten. Begreifst du das? Und es wird weder ein rascher noch ein würdevoller Tod sein.«

»Und was ist daran würdevoll davonzulaufen?« Steldors Stimme war lauter und leidenschaftlicher geworden. »Ihr sagt, ich sei der König und dass Ihr mich beschützen müsstet, aber selbst wenn ich ginge, wovon wäre ich denn dann noch König? Es wird kein Königreich mehr geben, in das ich zurückkehren könnte.« Kurz herrschte Schweigen, und ich konnte Vater und Sohn direkt vor mir sehen, wie sie einander anstarrten, bis Steldor genauso entschlossen seine Entscheidung bekannt gab. »Ich sterbe mit meinem Volk.«

Es folgte neuerliches Schweigen, dann wechselte Cannan das Thema. »Wir werden das besprechen, sobald die Kundschafter zurück sind. Destari, Euer/Dein Bericht?«

Ich erinnerte mich daran, dass der Elitegardist etwas hatte sagen wollen, als Steldor die Auseinandersetzung mit seinem Vater begonnen hatte.

»Sir, ich habe an unsere Notfallstrategie gedacht. Wenn es ein paar Männern gelingen würde, die Ziele zu erreichen, dann wäre jetzt wohl der Moment dafür gekommen.«

»Ihr habt recht«, sagte Cannan, und ich hörte, wie er sich wieder setzte. »Trotzdem wäre es ein Wagnis, Männer in dieser Situation loszuschicken. Der Palast ist umstellt, und in der Stadt wimmelt es von feindlichen Soldaten. Und so gern ich dem cokyrischen Sieg etwas von seiner Süße nehmen würde, so dringend muss ich meine Männer, insbesondere meine Stellvertreter, mit anderen Aufgaben betrauen. Ich kann keine Soldaten zu einer so gefährlichen Mission entsenden, wenn es nicht absolut notwendig ist.«

»Ja, Sir.«

Vom Gang her waren Geräusche zu hören, als dann die Tür zum zweiten Mal auf- und wieder zuging, wusste ich, dass der kräftige Gardist gegangen war, um einen Auftrag zu erfüllen.

Niemand sprach mehr, sodass ich annahm, Steldor und sein Vater waren allein zurückgeblieben. Als das Schweigen andauerte, erhob ich mich, setzte vorsichtig meine nackten Füße auf den Boden und schob die Tür ein winziges Stückchen auf, um in das Dienstzimmer hineinsehen zu können.

Steldor hatte sich auf den gepolsterten Sessel in der entferntesten Ecke gesetzt. Sein Kopf ruhte an der Lehne und er hielt die Augen offen, obwohl es ihm sichtlich an Schlaf mangelte. Cannan saß, wie ich es vermutet hatte, hinter seinem Schreibtisch und hatte den Blick auf seinen Sohn gerichtet. Ich konnte nicht enträtseln, was im Kopf eines Mannes, der für die Sicherheit so vieler Menschen die Verantwortung trug, vorgehen mochte.

»Du solltest schlafen«, sagte der Hauptmann schließlich, doch Steldor antwortete mit keinem Wort. Cannan sprach ihn nicht noch einmal an, sondern wartete geduldig auf eine Reaktion. Als Steldor schließlich das Wort ergriff, klang seine Stimme gequält.

»Vater, was wird mit uns geschehen?«

Cannan hielt einen Augenblick lang inne, und ich sah, wie er die Zähne zusammenbiss. Dann antwortete er so ehrlich, wie er es vermochte.

»Wenn der Overlord eintrifft, wird er unsere Kapitulation verlangen, und seine Bedingungen werden gnadenlos sein. Er wird die führenden Köpfe Hytanicas foltern und töten – dich, falls du noch da bist; Alera, sofern sie zugegen ist. Vielleicht beginnt er auch mit Adrik und Elissia, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Darüber hinaus … ich weiß es nicht.«

Mein Puls begann bei Cannans Worten zu rasen, und ich fürchtete, der Schrecken, der mich durchfuhr, würde mir das Herz zerreißen und mir so einen gnädigeren und weniger schmerzhaften Tod bereiten. Steldors Brust hob und senkte sich einige Male heftig, während er die Worte seines Vaters überdachte. Dann drehte er den Kopf so zur Seite, dass weder Cannan noch ich sein Gesicht sehen konnten.

»Und dich auch?«

Der Rest der Frage blieb unausgesprochen, aber Cannan verstand auch so. Er wartete, bis sein Sohn ihn wieder anblickte, und in dem Moment, als er das tat, da wusste ich, dass der junge König Hytanicas zumindest für den Moment nicht mehr tapfer sein konnte.

»Wahrscheinlich.«

Dieses eine Wort traf mich fast so hart wie Steldor, und ich schlich mit einem seltsamen Geräusch in den Ohren auf die Liege zurück. Wie viele von uns würden einen langsamen, quälenden Tod sterben? Cannan hatte mir Mut bescheinigt, aber der genügte nicht, um ein solches Ende würdevoll zu ertragen. Und wie sollte das meinen Eltern gelingen? Oder überhaupt irgendjemand? Endlich verstand ich den Grund für die schrecklichen Mythen, die sich um den Overlord rankten. Endlich begriff ich die Furcht und den Schrecken, die die bloße Erwähnung seines Namens auslösten.