22. FLUCHTEN

Als der Morgen dämmerte und wieder ein paar Sonnenstrahlen in unsere Höhle krochen, bemerkte ich, dass London fort war. Wahrscheinlich hielt er wieder nach den anderen Ausschau. Ich streckte mich, um meinen steifen Rücken etwas zu dehnen, dann erhob ich mich von meinem Lager, weil ich Stimmen hörte. Sofort waren meine Wehwehchen vergessen. Angestrengt horchend eilte ich zum Höhlenausgang.

»Der Tunnel kann nicht mehr benutzt werden. Es gelang uns zu fliehen, aber sie folgten uns meilenweit anhand der Blutspur, bis Davan uns fand und die Cokyrier mit einer falschen Fährte ablenkte. Ich denke, es muss ihm gelungen sein, denn uns hat niemand überrannt.«

Ich schob die Deckung der Zweige auseinander und stolperte ins gleißende Tageslicht hinaus, weil ich erkannt hatte, dass es der Hauptmann war, der da sprach.

Als meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte ich Galen, der sich zerlumpt und erschöpft am Zügel eines dunkelbraunen Pferdes festhielt. Hinter ihm standen London und Cannan zu beiden Seiten des Tieres und banden die Beine eines Reiters von den Steigbügeln los. Noch bevor ich sein Gesicht sah, wusste ich, dass es Steldor war. Weil er nicht mehr festgebunden war, sackte er in Richtung seines Vaters herab, der ihn auffing und unter den Schultern fasste, während London um das Pferd herumging, um Steldors Beine zu nehmen.

»Galen, bring das Pferd weg«, befahl Cannan, und der elend aussehende Haushofmeister gehorchte. Da erst sah ich den dunklen, verkrusteten Fleck auf dem Widerrist des Tieres, der über dessen Schulter und die ganze Vorderhand hinunterreichte.

London und Cannan kamen auf mich zu. Sie trugen Steldor, der kaum noch bei Bewusstsein war, und ich bog rasch die Zweige auseinander, damit sie den Unterschlupf leichter betreten konnten. Sie brachten ihn ans äußerste Ende, wo das Licht am besten war, und ich folgte ihnen. Bevor sie ihn ablegten, breitete ich rasch noch ein paar Tierhäute auf dem Boden aus und warf einen Blick auf Miranna, die glücklicherweise immer noch schlief.

»Wir haben versucht, die Blutung zu stoppen«, sagte Cannan, der jetzt an einer Seite Steldors kniete, zu London. Sie schlugen die beiden Umhänge zurück. Der eine gehörte Steldor, der andere stammte von seinem Vater. »Aber wir mussten weiter. Ich habe keine Ahnung, wie viel Blut er verloren haben mag.«

London zog seinen Dolch aus der Scheide und schnitt die Reste von Steldors inzwischen dunkelrotem Hemd auf. Dadurch wurde die blutdurchtränkte Bandage sichtbar, die der Hauptmann und Galen um seine Taille gewickelt hatten. Die Verletzung befand sich an seiner rechten Seite, aber das Blut hatte sich auf seinem ganzen Rumpf, der Hose und den beiden Umhängen ausgebreitet. Wenn ich jetzt auch noch an das Blut dachte, das auf dem Pferd geklebt hatte, konnte ich kaum glauben, dass er überhaupt noch am Leben war.

Ich stand nur wenige Schritte hinter London, als dieser mit einer raschen Bewegung auch noch den Verband aufschnitt. Obwohl ich den Blick abwandte, spürte ich an Londons gespannter Haltung, dass es schlimm sein musste.

»Wir konnten nichts anderes tun als etwas daraufbinden und versuchen, die Blutung so zu stoppen. Um die Wunde zu säubern oder gar zu nähen, fehlte uns die Zeit«, sagte Cannan düster, fast zornig, als er meines Schreckens gewahr wurde. »Sie waren zu dicht hinter uns.«

Ich folgerte aus seinen Worten, dass Galen und er versucht hatten, mit Stofffetzen Druck auf die Wunde auszuüben. Ohne ein Wort begann London, die Stoffstücke abzunehmen. Steldor holte scharf Luft, biss die Zähne zusammen, schrie aber nicht. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn trösten oder lieber in Ruhe lassen sollte. Die beiden über ihn gebeugten Männer nahmen mir die Sicht auf die Wunde, doch Steldors gequälte Miene und sein keuchender Atem ließen mich folgern, dass London entschlossen war, die Wunde auch noch vom letzten Faden zu säubern.

»Die Klinge hat seine unterste Rippe getroffen und muss von da abgerutscht und tiefer eingedrungen sein«, murmelte der Gardist. »Der Stich ist tief, und die Klinge war gezackt, sonst hätte sie sein Fleisch beim Rausziehen nicht derart zerfetzt.« Nachdem er seine Untersuchung beendet hatte, sah London den Hauptmann nachdenklich an. »Wir müssen diese Blutung stoppen.«

Cannan stand auf und sah sich um, bis sein Blick auf die brennenden Scheite des Feuers fiel.

»Wir könnten sie mit einer glühenden Klinge ausbrennen.«

London schüttelte den Kopf. »Wir hätten Probleme, sie exakt aufzubringen. Die Gefahr, ihm weitere Verletzungen zuzufügen, wäre zu groß. Aber ich weiß, was funktionieren wird.«

Sein Ton ließ mich innehalten. Er klang, als gefiele ihm selbst nicht, was er nun vorhatte. Er erhob sich und gab dem soeben eingetroffenen Galen Anweisungen.

»Bring alles, was wir zur Wundversorgung haben. Wir brauchen Alkohol. Reichlich Alkohol. Verbände und etwas zum Nähen. Wasser und noch mehr Alkohol.«

Galen nickte und verwirrt irrte sein Blick durch die Höhle. Ich winkte ihm, mir zu folgen, während ich schon auf dem Weg zu unseren Vorräten war. London ging sich inzwischen die blutigen Hände waschen.

»Gib ihm zu trinken«, sagte London dann und warf Cannan eine Weinflasche zu.

Der Hauptmann hockte sich auf seine Fersen, berührte Steldor an der Schulter und sah in das gequälte Gesicht seines Sohnes.

»Ich muss dich ein wenig aufrichten, damit du schlucken kannst.«

Steldor nickte und zuckte zusammen, als Cannan die Hände unter seine Achseln schob und ihn vorsichtig so weit hochzog, dass er sich an die Brust seines Vaters lehnen konnte. Dann stützte der Hauptmann seinen bleichen Sohn, während er trank. Galen und ich suchten alles Nötige zusammen und legten es neben Steldor auf den nackten Boden.

»Wir werden eine Weile warten, damit der Wein seine Wirkung tut«, sagte London, als er wieder zu uns trat. »Außerdem brauche ich noch etwas Zeit zum Experimentieren. Denn was ich vorhabe, muss sehr präzise ausgeführt werden.«

Er durchquerte die Höhle und ging zu seinem Reisesack. Dann kam er mit dem Beutelchen zurück, von dem wir alle wussten, dass es das explosive Pulver enthielt. Er begab sich an eine Stelle, an der Steldor ihn nicht sehen konnte, einige Schritte hinter dem Hauptmann, nahe der Feuerstelle. Dort öffnete er den Beutel und holte eine kleine Menge des grauen Pulvers mit den Fingern heraus und streute es vorsichtig auf einen flachen Stein vor sich. Als er merkte, dass ich ihm zusah, gab er mir eine kurze Erklärung.

»Das ist alles, was ich noch übrig habe, aber mehr als genug, um die Wunde zu veröden. Ich muss nur herausfinden, wie viel ich dafür benötige. Es muss genug sein, um die Wunde zu verschließen, darf aber auch nicht zu reichlich verwendet werden, damit es ihn nicht in Stücke reißt.«

Cannan wandte sich bei diesen Worten um. Verstehend setzte er die Flasche noch ein wenig steiler an Steldors Lippen, sodass ein wenig Wein aus dessen Mundwinkeln lief.

Ich vermochte mich im Moment nicht auf meinen Gemahl zu konzentrieren, so fasziniert war ich von Londons Tätigkeit. Galen, der jetzt alle Utensilien beisammen hatte, kam ebenfalls herüber, um besser sehen zu können. Er erbleichte, als ihm klar wurde, was der Hauptmannstellvertreter vorhatte.

London holte ein kleines Stück Holz, das an einem Ende glühte, aus dem Feuer und berührte damit das auf den Stein gestreute Pulver. Es knallte und zischte, verlosch aber fast sofort. Also nahm er für den nächsten Versuch ein wenig mehr von dem flüchtigen Stoff. Und so verfuhr er mehrmals, bis er ziemlich genau zu wissen meinte, welche Menge ihren Zweck erfüllen und dabei nicht zu großen weiteren Schaden anrichten würde. Dann trat er an Steldors Seite.

»Ihr müsst ihn festhalten«, sagte er zum Hauptmann, der seinen Sohn gerade wieder hinlegte.

»Alkohol«, verlangte er von Galen und streckte eine Hand danach aus. »Ich muss das desinfizieren, bevor ich anfange.«

Galen reichte ihm eine Flasche und der Elitegardist goss großzügig Wein in die Wunde, was dafür sorgte, dass Steldor sich vor Schmerz wand und stöhnte. Ich erinnerte mich daran, dass bei mir Kratzer und kleinere Schnittwunden als Kind so gesäubert worden waren. Schon die Reinigung eines aufgeschlagenen Knies hatte schrecklich gebrannt, daher schauderte ich bei dem Versuch, mir die Schmerzen vorzustellen, die Steldor soeben zu ertragen hatte.

London griff nach einem Lappen, tauchte ihn in den Eimer, den Galen bereitgestellt hatte, und wischte getrocknetes und frisches Blut fort, damit er besser sehen würde, was er tat. Als er damit fertig war, gab er Galen das rot verfärbte Tuch und nahm sein Säckchen zur Hand.

»Ich werde ganz vorsichtig vorgehen«, versicherte er Steldor, als er merkte, wie sich die Atmung des jungen Königs beschleunigte. »Und ich werde es noch nicht anzünden. Ich streue es erst an die richtige Stelle.«

Steldor schnitt eine Grimasse, während London das Pulver sorgsam in seinem aufgeschlitzten Bauch deponierte. Schließlich stand er auf und ging zum Feuer, um sich einen Span zu holen, der an einem Ende glühte. Wieder kniete er sich neben den jungen Mann und nickte Cannan und London zu.

»Haltet ihn.«

Meine Unsicherheit, ob ich versuchen sollte, Steldor Beistand zu leisten, verflüchtigte sich, und ich ließ mich neben ihm zu Boden gleiten, um seinen Kopf in meinen Schoß zu legen. Während Cannan links neben Steldor blieb und Galen zu seinen Füßen, begann ich mit den Händen das Haar meines Gemahls zu streicheln. Der Hauptmann öffnete seinen eigenen Ledergürtel, faltete ihn zusammen und schob ihn Steldor zwischen die Zähne. Dann beugte er sich über ihn, um seine Arme niederzuhalten, während Galen seine Beine fixierte.

»Bring’s hinter dich«, knurrte Steldor. Nach dieser Ermutigung berührte London mit dem glühenden Holz das Pulver, das mit einem lauten Knall aufflammte, bevor es sich zischend in Rauch auflöste.

Steldor hätte seinen Aufschrei mit nichts verhindern können. Als der Übelkeit erregende Geruch von verbranntem Fleisch meine Nase erreichte, wehrte mein Gemahl sich wie irr gegen die Griffe von Cannan und Galen. Gleichzeitig brüllte er so laut, dass ich mir durchaus vorstellen konnte, Cokyrier würden uns hören und aufspüren. In gewisser Hinsicht war es sogar gut, dass Steldor so viel Blut verloren hatte – wäre er davon nicht so geschwächt gewesen, hätten zwei Männer ihn wohl niemals niederhalten können.

Cannan schien fast so sehr zu leiden wie sein Sohn, und ich fühlte meine Hände, die Steldors Gesicht umfassten, tränennass werden. Diese Tränen waren meine eigenen. Irgendwann erstarben die Schreie des Königs, und er fiel in eine willkommene Ohnmacht.

Weder der Hauptmann noch der Haushofmeister rührten sich, bis das Pulver ganz erloschen war, obwohl Steldor nun reglos dalag. London ließ noch einige Zeit verstreichen, bis er nachsah, ob die Wunde weiterhin blutete. Als es nicht danach aussah, verlangte er erneut nach Wein, um den nun verödeten klaffenden Schnitt nochmals zu desinfizieren.

Ich hatte Steldors Wunde immer noch nicht aus der Nähe betrachtet, weil ich zu viel Angst vor meiner eigenen Reaktion hatte. London schien das zu spüren und gab mir leise die Erlaubnis, mich zurückzuziehen.

»Alera, er bemerkt unsere Anwesenheit nicht mehr. Und ich denke, Miranna braucht dich gerade mehr als er.«

Nach einem unsicheren Blick auf Cannan, der schwach nickte, bettete ich Steldors Kopf behutsam auf sein Lager aus Tierfellen. Dabei fiel mein Blick auf den Talisman in Form eines Wolfskopfes, den er immer trug. Er lag verrutscht auf seiner Brust und war blutbefleckt. Weil ich wusste, wie viel er ihm bedeutete, hatte ich plötzlich das Bedürfnis, ihn zu hüten.

»Darf ich das an mich nehmen?«, sagte ich zu Cannan und strich mit den Fingern über die Kette.

»Er ist Euer Gemahl, also könnt Ihr es ruhig nehmen.«

Ich nickte und nahm ihm den Talisman ab. Nach einem letzten Blick auf Steldors hübsches Gesicht erhob ich mich und ging den Anhänger waschen, bevor ich ihn um meinen Hals legte.

Miranna war offenbar aufgewacht, als wir uns um Steldor gekümmert hatten. Jetzt saß sie da und presste noch immer die Hände auf ihre Ohren, obwohl die Schreie längst verstummt waren. Ich ging zu ihr und versuchte, sie, so gut ich es vermochte, zu trösten, auch wenn sie kein Interesse an einem Gespräch zeigte. Inzwischen nähte London die Wunde zu. Galen stand auf, um ein sauberes Hemd und neue Decken zu holen. Die anderen beiden versuchten anschließend, Steldor notdürftig von Blut und Schmutz zu reinigen und es ihm ein wenig bequemer zu machen. Nachdem sie seinen Bauch frisch verbunden hatten, hoben sie den immer noch bewusstlosen König vorsichtig auf und betteten ihn auf sauberen Tierhäuten links neben dem Feuer. Schließlich deckten sie ihn noch zu.

Während London, Cannan und Galen sich wuschen und ihre mit Blut und Ruß verschmutzten Kleider wechselten, beeilte ich mich, Grütze zu kochen. Sie versammelten sich, um jeder eine Schüssel mit dem unansehnlichen Brei in Empfang zu nehmen und schlangen diesen wortlos noch im Stehen herunter. Zu meinem Erstaunen begann Galen danach zu schwanken. Ich fürchtete schon, meine Kochkünste wären so schlecht, dass er davon krank wurde.

»Schlaf ein wenig, Galen«, befahl Cannan und fasste den jungen Mann am Arm, damit er nicht fiel. Mir war klar, dass die vermeintliche Krankheit, unter der er litt, nur die reine Erschöpfung war.

Galen nickte, zwang sich jedoch noch so lange wach zu bleiben, um sich ein paar Decken und Felle an der linken Höhlenwand auszubreiten, in der Nähe von Davans Lager, aber nur ein paar Schritte von Steldor entfernt. Dann schlief er, noch bevor er sich richtig hingelegt hatte, und ich wusste, dass er sehr lange schlafen würde.

In dieser friedlichen Atmosphäre winkte London Cannan, ihn zum Eingang zu begleiten. Ich warf noch rasch einen Blick auf Miranna, die sich mit einer Schüssel Grütze auf ihr Lager zurückgezogen hatte, dann folgte ich den beiden. Die Männer bemerkten mein Näherkommen, aber glücklicherweise versuchte keiner von ihnen, mich fortzuschicken. London lehnte sich an die Höhlenwand und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er die Frage stellte, die auch mich schon die ganze Zeit über gequält hatte.

»Was ist passiert?«

»Wir waren kaum aus dem Tunnel, als die Cokyrier uns angriffen. Drei von ihnen kamen auf einen von uns, aber Steldor und Galen kämpften für zwanzig. Als der letzte Cokyrier gefallen war, konnte Galen drei ihrer Pferde einfangen. Damit gelang uns die Flucht, bevor der Feind unsere Verfolgung aufnehmen konnte. Erst da entdeckten wir, was vorher nur Steldor gemerkt hatte – dass er schwer verwundet war.«

Cannan schaute kurz beiseite und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich weiß nicht, wie der Junge danach noch weiterkämpfen konnte, aber wenn es ihm nicht gelungen wäre, hätte keiner von uns überlebt. Ich presste also rasch etwas auf die Wunde und verband sie notdürftig, dann ritten wir los. Wir wollten haltmachen und sie besser versorgen, sobald wir einen gewissen Abstand zwischen uns und den Feind gebracht hätten. Doch sie hatten unsere Fährte nahezu umgehend aufgenommen.«

Ich starrte den Hauptmann verblüfft an, der so sachlich von ihrem Leidensweg berichten konnte, als sei es eher eine Trainingseinheit gewesen als ein Kampf auf Leben und Tod. Sein Inneres musste in Aufruhr sein, doch von außen sah man ihm nichts davon an. Fest stand, dass Steldor sie gerettet hatte. Ich betete darum, dass London und Cannan dasselbe für ihn tun konnten.

»Galen und ich wechselten uns damit ab, kehrtzumachen und zu versuchen, die Cokyrier abzuwimmeln, doch das sind gut ausgebildete Fährtenleser. Unablässig verfolgten sie uns und kamen mit jeder Stunde, die verstrich, ein wenig näher. So wagten wir nicht, auf direktem Wege hierherzukommen, und wollten uns gerade trennen, als Davan uns fand. Dann versuchten wir es mit einer List und gaben ihm zwei unserer Pferde, denn die Cokyrier suchten ja nach drei Reitern. Er schnitt sich selbst in den Arm und blieb hinter uns zurück, um den Feind mit seiner Blutspur in die Irre zu leiten.« Der Hauptmann schwieg lange, bevor er fortfuhr. »Da Davan bis jetzt nicht wieder zu uns gestoßen ist, fürchte ich, dass sein Plan zu gut funktioniert hat. Vielleicht hat er unsere Leben gerettet, indem er seines verlor.«

Nachdem er mit seinem Bericht geendet hatte, herrschte bedrücktes Schweigen, denn die Verluste, die wir zu beklagen hatten und noch zu beklagen haben würden, waren schrecklich. Cannan schaute einen Moment lang zu seinem Sohn, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder London zu.

»Und wie ist Euch die Rückkehr nach Hytanica gelungen?«, fragte er in seinem unnachahmlich sachlichen Ton.

»Narian ließ mich frei – er ermöglichte mir die Flucht. Ich wurde im Tempel der Hohepriesterin festgehalten, denn sie glaubte wohl, sich meine Kooperationsbereitschaft durch Freundlichkeit sichern zu können. Zumindest wusste sie vom letzten Mal noch, dass Folter bei mir nicht funktionieren würde. Sie muss meine Anwesenheit vor dem Overlord geheim gehalten haben, denn sonst hätte er mich zweifellos getötet. Er und ich sind vor siebzehn Jahren nicht gerade in bestem Einvernehmen voneinander geschieden.«

Die Erwähnung von Narians Namen und die Tatsache, dass er London befreit hatte, bestätigte mir, woran ich nie ernsthaft gezweifelt hatte: die Unerschütterlichkeit seiner Liebe und seiner Loyalität gegenüber Hytanica, selbst wenn er auf der Seite des Overlord gekämpft hatte. Ich schloss einen Moment lang die Augen und holte tief Luft. Dabei wurde mir klar, dass London noch nie mehr über seine Gefangenschaft in Cokyri im Verlauf des letzten Krieges erzählt hatte.

»Ich hatte Miranna bereits gesehen und wusste, wo sie festgehalten wurde«, fuhr London fort. »Ohne sie zu fliehen, wäre für mich nicht infrage gekommen, also überwältigte ich ihre Bewacher und nahm sie mit. Sobald wir die Mauern des Tempels überwunden hatten, stahl ich ein Pferd und wir ritten, praktisch ohne zu rasten, nach Hytanica zurück.«

Ich nutzte das folgende Schweigen, um selbst eine Frage zu stellen.

»Was denkst du, ist ihr in Cokyri geschehen?«

London musterte mich einige Zeit, und ich hatte den Eindruck, er überlege, was mir zuzumuten sei, dann stieß er sich von der Wand, an der er lehnte, ab und stand vor mir.

»Lass mich dir berichten, was ich beobachtet habe. Miranna befand sich in den Händen der Hohepriesterin, und Nantilam gab ihr ein annehmbares Zimmer, anständiges Essen und eine akzeptable Behandlung. Sie wurde innerhalb der Tempelmauern in keinster Weise verletzt.«

»Das hast du beobachtet. Aber was glaubst du?« Mein Herz hämmerte vor Aufregung schmerzhaft in meiner Brust.

London seufzte tief, bevor er zögernd fortfuhr.

»Na gut, lass mich dir sagen, was ich vermute. Als ich sie holen kam, war es Nacht, und ich trug einen schwarzen Umhang, und sie hatte Angst vor mir. Sie hat auf unserem Rückweg nach Hytanica sehr wenig gesprochen und noch weniger geschlafen, und sie hatte große Angst vor der Dunkelheit. All das bringt mich zu der Annahme, dass sie zunächst vor den Overlord gebracht worden ist. Ich glaube, dass sie so lange in seiner Gewalt war, bis er sie benutzt hat, um Druck auf Narian auszuüben. Vorher dürfte sie in seinem Kerker gewesen sein. Darüber hinaus will ich keine Spekulationen anstellen.«

Ich rang nach Atem, weil meine Lungen sich einfach nicht ausreichend weiten wollten.

»Sie wird sich erholen, mit der Zeit«, versprach er und war dabei der einzige Mensch, dem ich bereit war, das zu glauben.

Die beiden Männer sprachen weiter, während ich in den Unterschlupf zurückkehrte, um nach meiner Schwester zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis auch London kam und sich seinen Reisesack holte. Cannan gesellte sich zu mir.

»Wenn Steldor zu sich kommt, muss er essen. Weckt dann einfach Galen. Ich werde draußen Wache halten.«

Der Hauptmann sagte das in ganz normalem Ton, doch seine Augen flogen immer wieder zu seinem bewegungslos daliegenden Sohn. Ich wusste, dass er mindestens so müde sein musste, wie der Haushofmeister, der kaum noch auf seinen Beinen hatte stehen können, und ich fragte mich, was ihn wohl aufrecht hielt.

Doch ich nickte nur zustimmend, und Cannan und London gingen gemeinsam hinaus. London nahm seine Dolche, seinen Jagdbogen und Köcher mit. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriffen hatte, dass, da nun alle Männer entweder abwesend, beschäftigt oder außer Gefecht gesetzt waren, ich für den Moment die Verantwortung übernehmen musste.

Das tat ich gern, weil ich mich so zumindest nützlich machen konnte. Bislang war ich außer für die Haushaltsführung des Palastes noch nie für etwas verantwortlich gewesen und machte somit soeben eine ganz neue Erfahrung. Ich fühlte mich stark.

Das Brennholz war noch an der Wand gestapelt, aber fast alles andere war durcheinandergeworfen. Also räumte ich als Erstes die medizinischen Hilfsmittel weg, die wir zu Steldors rascher Versorgung gebraucht hatten. Ich hob auch das auf, was London nach dem Reinigen der Wunde auf den Boden geworfen hatte. Dann wickelte ich Bandagen wieder auf, korkte Flaschen zu und zog den Faden aus der Nadel, mit der London Steldor genäht hatte. Nachdem ich all diese Dinge aufgeräumt hatte, hob ich die blutigen Kleidungsstücke auf und warf sie ins Feuer. Ich wusste nicht, ob man die Umhänge waschen konnte, also legte ich sie erst einmal beiseite. Die Tierhäute waren ebenfalls blutbefleckt, konnten aber vielleicht auch gereinigt werden, also packte ich sie zu den Umhängen. Bei der Arbeit plauderte ich mit meiner Schwester und erzählte ihr einfach, was ich gerade tat. Ich hoffte, sie würde sich irgendwann vielleicht am Gespräch beteiligen.

»Hast du Hunger?«, fragte ich sie schließlich, weil ich wusste, dass sie am Morgen nicht viel gegessen hatte. »Ich sollte sowieso noch einmal Grütze kochen, falls Steldor aufwacht.«

Ich schaute zu meinem Gemahl, der neben dem Feuer lag, und bezweifelte, dass er in nächster Zeit zu Bewusstsein kommen würde.

»Nein«, murmelte Miranna und senkte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.«

Ich beobachtete sie und sah eine Träne auf den felsigen Boden tropfen.

»Mira, was hast du?«, drängte ich sie sanft und hoffte, sie würde mehr sagen.

Doch sie schluchzte nur ein-, zweimal auf. Es war so seltsam für mich, meine sonst immer so vergnügte Schwester weinen zu sehen, dass mir kein Wort des Trostes für sie einfiel. Also kniete ich mich nur neben sie und strich mit meinen Fingern durch ihre verfilzten Locken.

»Ich bin so durcheinander, Alera. Ich – ich weiß nicht, wo wir sind und warum. Ich weiß nicht einmal … Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist.«

»Wir sind ein ganzes Stück nördlich der Stadt, in einem Höhlenversteck«, erklärte ich und fühlte mich durch die Tatsache, dass sie wenigstens einen vollständigen Satz gesprochen hatte, ein wenig ermutigt. »Wir mussten uns hier in Sicherheit bringen. Unser Zuhause … Hytanica ist in die Hände der Cokyrier gefallen.«

»Und Vater und Mutter?«

Mein Hals schnürte sich zusammen, und ich biss mir auf die Lippe. Dann legte ich die Arme um ihre Schultern und wusste nicht, wie ich ihre Frage beantworten sollte. Ich wusste nicht einmal, wie ich sie mir selbst beantworten sollte. Nach einer Weile wiederholte sie die Frage und klang noch besorgter.

»Mama und Papa?«

»Sie mussten zurückbleiben«, presste ich hervor und bemühte mich, gefasst zu klingen, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen.

»Und was … was ist mit mir passiert?«, fragte sie traurig und kuschelte sich wie ein kleines Kind in meine Arme. »Alles ist so durcheinander. Ich erinnere mich noch daran, dass ich die Kapelle aufgesucht habe. Ich dachte … ich dachte, Temerson würde da sein. Aber es war alles dunkel … und jemand packte mich … und ich habe nach Luft gerungen.« Sie zitterte und die Tränen liefen ihr nur so über die Wangen. »Ich hatte solche Angst. Danach weiß ich nicht mehr viel, nur noch, dass ich zur Hohepriesterin kam. Und dass London mich mitgenommen hat.«

Ihre Stimme bekam einen hysterischen Ton, und ich hielt sie noch fester. Am liebsten hätte ich mit ihr geweint, aber ich nahm mich zusammen und legte stattdessen meine Gefühle in unsere Umarmung. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, versuchte ich, ihr gut zuzureden.

»Wir haben jetzt Anfang Februar, bald wird der Frühling kommen. Ich weiß, dass du dir das jetzt nicht vorstellen kannst, und bestimmt wird es noch eine Weile dauern, aber es ist vorbei, und du bist in Sicherheit. Und ich bin hier, um dir zu helfen.«

Sie antwortete nicht, aber ich blieb bei ihr, bis sie gleichmäßig atmete und schließlich wieder einschlummerte. Ich wünschte, ich hätte aufhören können, mich um sie zu sorgen, aber sie war immer müde und aß zu wenig.

Jetzt war ich als Einzige wache. Galen hatte sich, seit er auf sein Lager gefallen war, noch kein einziges Mal gerührt. Er lag mit offenem Mund halb auf der Seite, halb auf dem Bauch. Steldor hätte wie tot gewirkt, wenn sich seine Brust nicht rasch gehoben und gesenkt hätte.

Langsam schob ich meine Schwester von meinem Schoß und auf den Boden, bevor ich ein paar Tierfelle holte, die ich zwischen sie und den harten Höhlenboden stopfte. Danach nahm ich mir einen Kochtopf, den ich mit Wasser füllte, um Grütze zu kochen. Als ich mir Hafer holte, suchte ich Trockenfrüchte, die dem faden Brei etwas Geschmack geben würden. Ich entdeckte Rosinen und nahm eine großzügige Portion davon.

Ich kochte genug für Miranna und mich und noch ein wenig mehr, falls Steldor aufwachte. Dann goss ich eine Portion der wässrigen Mischung in eine Schale und streute ein paar Rosinen darüber. Ich aß schweigend und dachte darüber nach, dass das Ganze etwas eingedickt besser schmecken musste. Die Rosinen waren aber jedenfalls schon eine spürbare Verbesserung. Schließlich setzte ich mich mit dem Rücken an die Wand gegenüber von Galen, sodass ich Miranna und Steldor gleichzeitig im Blick hatte. Und dann gab ich mir Mühe, die Dinge zu glauben, die ich zuvor meiner Schwester gesagt hatte.