18
Als wir dann alle im Speisesaal hinter unseren Stühlen standen, war Maxon jedoch nirgendwo zu sehen. Die Königin kam alleine herein. Wir knicksten, als sie Platz nahm, und ließen uns dann selbst auf unseren Stühlen nieder.
Ich hielt nach leeren Plätzen Ausschau, aber keines von den Mädchen fehlte.
Am Nachmittag hatte ich mir das Gespräch mit Maxon noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Dass ich keine echten Freundinnen hatte, war nicht verwunderlich – ich war eine hundsmiserable Freundin.
Jetzt kamen Maxon und der König herein, und wir standen erneut auf. Maxon trug zwar seine Anzugjacke, aber seine Haare waren immer noch zerzaust, was mir gut gefiel. Sein Vater und er schienen gerade ein intensives Gespräch zu führen. Maxon gestikulierte lebhaft, und der König nickte zustimmend, sah aber etwas erschüttert aus. Als sie zum Kopfende des Tisches traten, klopfte König Clarkson seinem Sohn mit ernster Miene auf den Rücken, und als er sich dann uns zuwandte, sah er plötzlich erfreut aus. »Ach du liebe Güte, meine Damen, bitte nehmen Sie Platz«, sagte der König freundlich, küsste seine Gattin auf den Kopf und setzte sich.
Nur Maxon blieb stehen.
»Meine Damen, ich habe eine Ankündigung zu machen.«
Alle sahen ihn erwartungsvoll an.
»Ich weiß, dass Ihnen allen für die Teilnahme am Casting eine Aufwandsentschädigung zugesichert wurde.« Seine Stimme klang so souverän und fest, wie ich sie bislang nur einmal gehört hatte – an jenem Abend, als er mir die Erlaubnis gab, in den Garten zu gehen. Es gefiel mir, wenn er so entschieden auftrat. »Es gibt nun jedoch einige Etatänderungen. Zweier und Dreier werden ab sofort keine Entschädigung mehr erhalten, Vierer und Fünfer einen etwas reduzierten Betrag.«
Einigen Mädchen blieb vor Schreck der Mund offen stehen. Die Bezahlung war ein Teil der Bedingungen für die Teilnahme am Casting gewesen. Celeste beispielsweise kochte sichtlich vor Wut. Wenn man schon viel Geld besaß, gewöhnte man sich wohl daran, es zu sammeln. Und die Vorstellung, dass jemand wie ich etwas erhielt, was ihr nicht zustand, trieb sie vermutlich zur Raserei.
»Ich möchte mich hiermit für sämtliche Unannehmlichkeiten entschuldigen. Die Hintergründe für diese Entscheidung werde ich morgen Abend im Bericht vom Capitol erläutern. Diese Neuregelung ist unumstößlich – wer ein Problem mit der neuen Regelung hat und deshalb seine Teilnahme am Casting beenden möchte, kann nach dem Essen abreisen.«
Maxon setzte sich und suchte erneut das Gespräch mit dem König, der jedoch mehr an seinem Essen interessiert zu sein schien als an den Worten seines Sohnes. Ich war etwas enttäuscht, weil meine Familie nun weniger Geld bekam, aber zumindest ging sie nicht ganz leer aus. Ich versuchte mich auf das Essen zu konzentrieren, überlegte aber fieberhaft, was das alles zu bedeuten hatte. Und damit war ich natürlich nicht allein. Man hörte im ganzen Saal Raunen und Murmeln.
»Was geht denn hier vor sich?«, fragte Tiny leise.
»Vielleicht soll es ein Test sein«, mutmaßte Kriss. »Manche Mädchen sind bestimmt nur wegen des Geldes hier.«
Ich sah, wie Fiona Olivia anstupste und mit dem Kopf auf mich wies. Schnell wandte ich mich ab, damit die beiden nicht bemerkten, dass ich sie beobachtet hatte.
Die Mädchen ergingen sich in Theorien, und ich behielt Maxon im Auge. Ich versuchte, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, damit ich an meinem Ohr zupfen konnte, aber er schaute nicht in meine Richtung.
Mary und ich waren alleine in meinem Zimmer. An diesem Abend würde ich im Bericht vom Capitol Gavril und der gesamten Nation gegenübertreten. Und natürlich würden alle Mädchen dabei sein und sich gegenseitig beurteilen. Nervosität war gar kein Ausdruck für den Zustand, in dem ich mich befand. Ich zappelte herum, während Mary mir Fragen stellte, die Gavril sich vielleicht ausgedacht haben könnte.
Wie gefiel es mir im Palast? Was war die romantischste Sache, die Maxon bislang für mich getan hatte? Fehlte mir meine Familie? Hatte ich Maxon schon geküsst?
Bei dieser Frage warf ich Mary einen prüfenden Blick zu. Bislang hatte ich schnelle Antworten gegeben, aber ich merkte, dass sie die letzte Frage aus reiner Neugierde gestellt hatte. Ihr Lächeln sprach Bände.
»Nein! Also, das geht nicht!« Ich bemühte mich, aufgebracht zu klingen, aber es war zu witzig, um sich zu ärgern. Ich musste schmunzeln, und Mary kicherte. »Also wirklich«, sagte ich streng zu ihr. »Gehen Sie mir sofort aus den Augen. Irgendwas putzen oder so!«
Mary lachte lauthals, und bevor ich sie zur Ordnung rufen konnte, kamen Anne und Lucy mit einem Kleidersack hereingestürzt.
Lucy war so aufgeregt, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte, und Annes Gesichtsausdruck wirkte ziemlich verschwörerisch.
»Was ist los?«, fragte ich, als Lucy einen überschwänglichen Hofknicks vor mir machte.
»Wir haben Ihr Kleid für die Sendung fertig genäht, Miss«, antwortete sie.
Ich runzelte die Stirn. »Schon wieder ein neues? Wieso kann ich denn nicht das blaue tragen? Das ist doch noch ganz neu, und ich finde es wunderbar.«
Die drei warfen sich bedeutsame Blicke zu.
»Was ist da drin?«, fragte ich und wies auf den Kleidersack, den Anne an den Haken neben dem Spiegel gehängt hatte.
»Wir reden viel mit den anderen Zofen, Miss«, begann Anne. »Und man hört so mancherlei. Wir wissen, dass nur Sie und Lady Janelle zwei Treffen mit Seiner Majestät hatten, und wie wir gehört haben, gibt es wohl einen Zusammenhang zwischen Ihnen beiden.«
»Und was soll das sein?«, fragte ich.
»Uns ist zu Ohren gekommen«, fuhr Anne fort, »dass Lady Janelle gehen musste, weil sie schlecht über Sie geredet hat. Der Prinz fand das nicht gut und hat sie sofort nach Hause geschickt.«
»Was?« Ich schlug die Hand vor den Mund vor Schreck.
»Wir sind ganz sicher, dass Sie sein Lieblingsmädchen sind, Miss. Das sagen alle«, seufzte Lucy schwärmerisch.
»Das muss ein Missverständnis sein«, sagte ich. Anne zuckte unbekümmert die Achseln und lächelte. Meine Meinung schien sie nicht zu interessieren.
Dann fiel mir wieder ein, wie das Gespräch begonnen hatte. »Und was hat das alles mit meinem Kleid zu tun?«
Mary trat zu Anne und zog den Kleidersack auf. Behutsam entfernten sie ihn, und zum Vorschein kam ein umwerfendes rotes Kleid. Es schimmerte im Abendlicht, das durchs Fenster fiel.
»Meine Güte, Anne«, sagte ich staunend. »Sie haben sich wirklich selbst übertroffen.«
Sie nickte bescheiden. »Danke, Miss. Aber wir haben alle drei daran gearbeitet.«
»Es ist wunderschön. Den Zusammenhang sehe ich allerdings trotzdem noch nicht.«
»Ich sagte ja schon, dass viele Leute im Palast Sie für die Favoritin des Prinzen halten«, erklärte Anne. »Er äußert sich sehr positiv über Sie und zieht Ihre Gesellschaft der anderer Mädchen vor. Das scheint auch den anderen Erwählten aufgefallen zu sein.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Wir arbeiten an den Kleidern meist in einer großen Werkstatt. Es gibt dort ein Stofflager und einen Raum, in dem Schuhe hergestellt werden. Die anderen Zofen sind auch dort. Für heute Abend haben alle ein blaues Kleid bestellt. Es herrscht die Meinung vor, dass die anderen Sie nachahmen wollen, weil Sie das blaue Kleid fast täglich tragen.«
»Und Lady Tuesday und Lady Natalie haben heute ganz wenig Schmuck angelegt«, warf Lucy ein. »So wie Sie.«
»Außerdem haben alle schlichtere Kleider bestellt, in dem Stil, den Sie gut finden«, ergänzte Mary.
»Aber das erklärt nicht, weshalb Sie mir nun ein rotes Kleid genäht haben«, wandte ich ein.
»Damit Sie auffallen natürlich«, antwortete Mary. »Oh, Lady America, wenn er Sie wirklich mag, dann müssen Sie aus der Masse herausragen. Sie waren so großherzig mit uns, vor allem mit Lucy.« Wir schauten alle Lucy an, die bekräftigend nickte. »Sie?… Sie sind so beeindruckend. Sie wären eine gute Prinzessin.«
Ich überlegte, wie ich ungeschoren davonkommen könnte und nicht im Mittelpunkt stehen müsste.
»Aber wenn die anderen recht haben?«, sagte ich. »Wenn Maxon mich tatsächlich deshalb mag, weil ich nicht so aufgetakelt bin? Dann ruiniert ihr doch alles, wenn ihr mich in so was Pompöses steckt!«
»Ab und an muss jedes Mädchen glamourös sein. Und wir kennen Maxon schon fast sein ganzes Leben lang. Er wird dieses Kleid lieben«, sagte Anne so überzeugt, dass mir kein Einwand mehr einfiel.
Ich wusste nicht, wie ich meinen Zofen erklären sollte, dass der Prinz und ich nur gute Freunde waren. Das brachte ich einfach nicht übers Herz. Überdies musste ich den Schein wahren, wenn ich hierbleiben wollte. Und das wollte und musste ich. Für meine Familie.
»Also gut. Ich probiere es an«, sagte ich mit einem Seufzer.
Lucy hopste förmlich auf und ab vor Aufregung, bis ich ihr zu verstehen gab, dass sich das nicht schickte. Ich ließ ihr Kunstwerk über meinen Kopf gleiten, und die drei legten letzte Hand an. Mary probierte aus, welche Frisur am besten mit dem Kleid harmonierte, und binnen einer halben Stunde war ich bereit zum Auftritt.
Für diese Sendung war das Set im Aufnahmestudio verändert worden: Die Königsfamilie saß auf der einen Seite, wir auf der anderen, wie beim letzten Mal. Doch die Bühne befand sich diesmal seitlich, und in der Mitte standen zwei Stühle mit hohen Lehnen. Auf einem lag ein Mikrofon für das Interview mit Gavril. Mir wurde schon beim bloßen Anblick flau im Magen.
Tatsächlich sah man überall schimmernde Kleider in Blautönen, einige in Grün, andere in Violettschattierungen. Als ich Celestes Blick sah, beschloss ich, mich möglichst lange von ihr fernzuhalten.
Kriss und Natalie, die gerade ihr Make-up noch einmal überprüft hatten, gingen an mir vorbei. Beide sahen unzufrieden aus, obwohl Natalies Miene immer schwer zu deuten war. Kriss’ Kleid hob sich zum Glück auch etwas von den anderen ab. Es war durchzogen von zarten weißen Streifen, die wie Wellen aus Eis wirkten.
»Du siehst umwerfend aus, America«, sagte sie, aber es klang eher wie ein Vorwurf als wie ein Kompliment.
»Danke. Dein Kleid ist auch fantastisch.«
Kriss strich über den Stoff, an dem es eigentlich nichts zu glätten gab. »Ja, mir gefällt es auch.«
Natalie berührte meine Schulter. »Was ist das für ein Material? Das wird unglaublich schimmern im Scheinwerferlicht.«
»Weiß ich gar nicht«, antwortete ich achselzuckend. »Als Fünfer kriegt man so was sonst nie zu Gesicht.« Ich blickte an mir hinunter. Meine Zofen hatten mir noch ein zweites Kleid aus diesem Stoff genäht, aber ich hatte mir den Namen nicht gemerkt.
»America!«
Celeste war plötzlich neben mir aufgetaucht und lächelte mich an.
»Hallo, Celeste.«
»Könntest du bitte mal mitkommen? Ich brauche Hilfe.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, zog sie mich hinter den dunkelblauen Vorhang, der als Hintergrund diente.
»Zieh das Kleid aus«, befahl sie mir und öffnete den Reißverschluss ihres eigenen Kleids.
»Was?«
»Ich will dein Kleid. Zieh es sofort aus. Mist! Verdammtes Teil«, fluchte sie, als sich ihr Reißverschluss verhakte.
»Vergiss es«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen. Doch ich kam nicht weit, weil Celeste mir ihre Fingernägel in den Arm schlug und mich zurückriss.
»Autsch!«, schrie ich und hielt meinen Arm. Er war gerötet, aber wenigstens sah ich keine Blutspuren.
»Halt den Mund und zieh das Kleid aus! Auf der Stelle.«
Ich blieb stehen, wild entschlossen, nicht nachzugeben. Celeste musste endlich kapieren, dass sie nicht der Mittelpunkt der Welt war.
»Ich kann es dir auch selbst ausziehen«, drohte sie mit eisiger Stimme.
»Ich fürchte mich nicht vor dir, Celeste«, erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dieses Kleid ist für mich genäht worden, und ich werde es auch tragen. Wenn du dir in Zukunft ein Kleid aussuchst, solltest du vielleicht nicht mich kopieren, sondern einfach du selbst sein. Oh, aber warte mal, dann würde Maxon wohl merken, was du für eine Schlange bist, und dich heimschicken, wie?«
Ohne zu zögern, streckte Celeste die Hand aus, riss einen meiner Ärmel zur Hälfte ab und ging weg. Ich keuchte erschrocken, war aber zu verblüfft, um zu reagieren. Das Stück Stoff hing lose herunter, und in diesem Moment hörte ich Silvia rufen, dass wir unsere Plätze einnehmen sollten. Ich richtete mich auf und marschierte so aufrecht wie möglich nach vorne.
Marlee hatte mir den Platz neben sich frei gehalten und sah mich entsetzt an, als sie meinen Zustand bemerkte.
»Was ist mit deinem Kleid passiert?«, flüsterte sie.
»Celeste«, sagte ich nur angewidert.
Emmica und Samantha, die vor uns saßen, drehten sich um.
»Sie hat dein Kleid zerrissen?«, fragte Emmica.
»Ja.«
»Geh zu Maxon und sag es ihm«, bat mich Emmica. »Dieses Mädchen ist ein wandelnder Albtraum.«
»Ich weiß«, erwiderte ich seufzend. »Beim nächsten Treffen sag ich es ihm.«
»Wer weiß, wann das sein wird«, warf Samantha ein. Sie sah traurig aus. »Ich hatte gedacht, dass wir viel mehr Zeit mit ihm verbringen würden.«
»Heb den Arm, America«, sagte Marlee und schob den abgerissenen Ärmel mit geschickten Händen in die Naht zurück. Emmica entfernte ein paar lose Fäden. Das Kleid sah jetzt fast unbeschädigt aus, und die Spuren von Celestes Nägeln waren zum Glück auf meinem linken Arm, den die Kamera nicht im Bild haben würde.
Es war kurz vor Sendebeginn. Gavril ging seine Notizen durch, und die Königsfamilie kam herein. Maxon trug einen dunkelblauen Anzug und eine Anstecknadel mit dem Nationalwappen am Revers. Er wirkte elegant und gelassen.
»Guten Abend, die Damen«, rief er schwungvoll.
»Guten Abend, Eure Majestät«, antworteten alle im Chor.
»Nur damit Sie Bescheid wissen: Ich mache eine kurze Ankündigung und stelle dann Gavril vor. Eine nette Abwechslung – sonst stellt er immer mich vor!« Maxon lachte, und wir taten es ihm gleich. »Sie sind bestimmt ein bisschen nervös, aber das ist nicht nötig. Seien Sie einfach ganz Sie selbst. Das Volk von Illeá möchte Sie kennenlernen.« Er sah mich ein paarmal an, während er sprach, aber sein Blick war ausdruckslos, und mein Kleid schien er auch nicht zu bemerken. Meine Zofen würden enttäuscht sein.
»Viel Glück«, rief der Prinz noch, bevor er zum Podium ging.
Ich nahm an, dass diese Ankündigung mit seinem Statement von gestern zu tun hatte, konnte mir aber noch keinen Reim darauf machen. Maxons kleines Geheimnis lenkte mich ab, und ich war nicht mehr so aufgeregt, als die Nationalhymne erklang und die Kameras auf Maxons Gesicht schwenkten. Seit meiner Kindheit kannte ich den Bericht vom Capitol und wusste, dass der Prinz sich noch nie mit einer direkten Ansprache ans Volk gewandt hatte. Ich bedauerte es, dass ich keine Gelegenheit gehabt hatte, ihm auch viel Glück zu wünschen.
»Guten Abend, liebe Bürgerinnen und Bürger von Illeá. Dies ist ein aufregender Abend für uns alle, da wir nun endlich mehr über die im Casting verbliebenen fünfundzwanzig jungen Frauen erfahren werden. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich für Sie alle freue, dass Sie diese großartigen jungen Damen gleich kennenlernen werden. Und gewiss werden Sie auch feststellen, dass eine von ihnen hervorragend geeignet sein wird, Prinzessin und damit auch künftiges Oberhaupt unseres Staates zu werden.
Doch bevor wir dazu kommen, möchte ich Ihnen ein neues Projekt vorstellen, das von größter Wichtigkeit für mich ist. Durch die jungen Damen, die nun im Palast wohnen, habe ich Kontakt bekommen zur großen Welt außerhalb der Palastmauern, die ich nur selten zu Gesicht bekomme. Ich habe von guten und schönen Dingen, aber auch von schlimmen Umständen erfahren. Durch die Unterhaltungen mit den Erwählten habe ich ein anderes Verständnis von meinem Volk gewinnen können. Das Leiden der unteren Kasten ist mir dabei so bewusst geworden wie nie zuvor, und ich möchte etwas dagegen unternehmen.«
Wie bitte?
»Es wird mindestens drei Monate dauern, bis ich meine Pläne in die Tat umsetzen kann, aber etwa mit Beginn des neuen Jahres werden Sie in allen Bürgerämtern dieses Landes eine öffentliche Essensausgabe vorfinden. Sämtliche Angehörigen der Kasten Fünf, Sechs, Sieben und Acht können sich dort jeden Abend eine kostenlose und nahrhafte Mahlzeit abholen. Sie sollten wissen, dass jede der Erwählten einen Teil ihres Entgelts geopfert hat, um dieses wichtige Projekt zu fördern. Diese Unterstützung werden wir vielleicht nicht für unbegrenzte Zeit aufrechterhalten können, haben jedoch die Absicht, dies so lange wie irgend möglich zu tun.«
Dankbarkeit und Hochachtung drohten mich zu überwältigen. Ich beherrschte mich mühsam, doch ein paar Tränen rannen dennoch aus meinen Augenwinkeln. An mein Make-up dachte ich zwar noch, aber die Rührung war stärker.
»Es ist meine feste Überzeugung, dass ein gutes Staatsoberhaupt die Bürger nicht hungern lassen darf. Das Volk von Illeá besteht zu großen Anteilen aus den unteren Kasten, denen wir zu lange zu wenig Beachtung geschenkt haben. Deshalb schreite ich jetzt zur Tat und bitte auch andere, mir zur Seite zu stehen. Die Angehörigen der Kasten Zwei, Drei, Vier … die Straßen, auf denen Sie fahren, entstehen nicht von selbst. Ihre Häuser werden nicht von Zauberhand geputzt. Sie haben nun die Gelegenheit, diese Leistungen anzuerkennen, indem Sie Ihrem Bürgeramt Geld spenden.«
Maxon hielt kurz inne und fuhr dann dort: »Die Angehörigen der oberen Kasten sind von Geburt an gesegnet, und es ist an der Zeit, Ihrer Dankbarkeit dafür Ausdruck zu geben. Ich werde Sie alle über die weitere Entwicklung dieses Projekts auf dem Laufenden halten und danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben. Und nun zum eigentlichen Anlass dieser Sendung. Meine Damen und Herren: Mr Gavril Fadaye!«
Alle klatschten, obwohl sich die Begeisterung einiger sichtlich in Grenzen hielt. Der König sah ernüchtert aus, wohingegen die Königin vor Stolz strahlte. Auch die diversen Berater schienen sich nicht im Klaren zu sein, ob sie das Projekt begrüßen sollten oder nicht.
»Vielen Dank für diese Einführung!«, sagte Gavril, als er auf die Bühne stürmte. »Eine Meisterleistung! Wenn der Prinzenjob Sie mal nicht mehr ausfüllt, Eure Majestät, dann sollten Sie eine Karriere als Entertainer erwägen!«
Maxon lachte laut, als er zu seinem Platz ging. Die Kameras waren nun auf Gavril gerichtet, aber ich beobachtete die Königsfamilie. Ich konnte nicht verstehen, weshalb Maxons Eltern so unterschiedlich reagierten.
»Was haben wir heute für ein grandioses Programm für Sie, meine Damen und Herren!«, rief Gavril. »Sie werden Einblick bekommen in das Leben der Erwählten. Wir wissen, dass Sie alle es kaum erwarten können, die jungen Damen kennenzulernen und zu erfahren, wie es denn so läuft mit Prinz Maxon – und deshalb werden wir heute Abend einfach danach fragen! Beginnen wir mit?…«, Gavril warf einen Blick auf seine Notizkarten, »Miss Celeste Newsome aus Clermont!«
Celeste erhob sich manieriert von ihrem Platz in der ersten Reihe und stolzierte die Stufen zur Bühne hinunter. Sie küsste Gavril wahrhaftig auf beide Wangen, bevor sie sich niederließ. Ihre Antworten waren vorhersehbar, ebenso wie die von Bariel nach ihr: Beide spielten ihre Reize aus und beugten sich häufig vor, damit die Kameras Einblick in ihr Dekolleté bekamen. Ihr Auftritt wirkte gekünstelt. Ich beobachtete auf den Monitoren, wie sie beide immer wieder zu Maxon blickten und ihm zublinzelten. Bariel leckte sich auch immer wieder betont die Lippen, und wenn Marlee und ich uns einen Blick zuwarfen, mussten wir rasch wegschauen, um nicht zu lachen.
Andere benahmen sich weniger auffällig. Tiny machte einen schüchternen Eindruck, und ihre Stimme klang piepsig. Aber ich wusste, dass sie eigentlich in Ordnung war und nun inständig hoffte, dass Maxon sie wegen ihres zurückhaltenden Auftretens in der Öffentlichkeit nicht aussortieren würde. Emmica und Marlee wirkten beide überzeugend; allerdings wurde Marlees Stimme vor Begeisterung und Aufregung beim Sprechen immer höher.
Gavril stellte unterschiedliche Fragen, aber zwei kamen bei jedem Interview vor: Wie finden Sie Maxon? Und: Sind Sie das Mädchen, das den Prinzen angeschrien hat? Mir graute vor der Vorstellung, dem ganzen Land erzählen zu müssen, dass ich den künftigen König beleidigt hatte. Wenigstens war nur dieses eine meiner Vergehen bekannt geworden.
Alle Mädchen taten stolz kund, dass sie den Prinzen nicht angeschrien hätten. Und alle antworteten, sie fänden Maxon nett. Fast alle Erwählten benutzten dieses Wort: nett. Celeste fügte noch hinzu, Maxon sei attraktiv. Bariel bezeichnete ihn als ungemein kraftvoll, was ich absolut grausig fand. Gavril fragte einige Mädchen, ob Maxon sie schon geküsst habe. Alle erröteten und verneinten die Frage. Nach dem viertem Nein wandte sich Gavril zu Maxon.
»Sie haben noch keine der jungen Damen geküsst?«, fragte er erschüttert.
»Sie sind doch erst seit zwei Wochen hier!«, antwortete Maxon. »Für welche Sorte Mann halten Sie mich eigentlich?« Sein Tonfall war locker, aber die Frage schien ihm unangenehm zu sein. Mir kam der Gedanke, dass er möglicherweise noch gar keine Erfahrung mit Küssen hatte.
Samantha beschloss ihr Interview mit den Worten, dass sie ihre Zeit im Palast sehr genieße. Danach rief Gavril mich auf, und die Erwählten applaudierten wie für alle anderen auch. Ich warf Marlee ein nervöses Lächeln zu, als ich aufstand. Auf dem Weg zur Bühne konzentrierte ich mich auf meine Füße. Als ich Gavril die Hand geschüttelt und mich auf dem Stuhl niedergelassen hatte, merkte ich, dass ich von dort aus Maxon gut im Blick hatte. Er zwinkerte mir zu, als ich das Mikrofon ergriff, und ich wurde sofort ruhiger – ich musste hier keine große Schlacht schlagen.
Aus der Nähe konnte ich Gavrils Anstecknadel genau erkennen. Nicht nur das Forte-Zeichen war darauf eingraviert, sondern auch ein kleines X in der Mitte, sodass eine Art Stern entstand. Es sah wunderschön aus.
»America Singer. Ein interessanter Name. Gibt es dazu eine Geschichte?«
Ich seufzte erleichtert. Das war eine einfache Frage.
»Ja, die gibt es tatsächlich: Als meine Mutter mit mir schwanger war, habe ich sie wohl ziemlich oft getreten. Sie sagte daraufhin, ich würde eine Kämpferin werden, und gab mir den Namen des Landes, das so hart gekämpft hat, um zu überleben. Das ist ein wenig sonderbar, aber sie hat ja recht behalten – der Kampf zwischen ihr und mir geht immer weiter.«
Gavril lachte. »Ihre Mutter scheint eine temperamentvolle Frau zu sein.«
»Ist sie. Meinen Trotz habe ich auch von ihr geerbt.«
»Aha, Sie sind also trotzig? Und manchmal vielleicht ein bisschen aufbrausend?«
Ich sah, wie Maxon sich die Hände vor den Mund hielt, um sein Lachen zu verbergen.
»Na ja, manchmal.«
»Und wenn Sie so aufbrausend sind, haben Sie dann vielleicht auch unseren Prinzen angeschrien?«
Ich seufzte. »Ja, das war ich. Und meine arme Mutter kriegt jetzt bestimmt einen Herzanfall.«
Maxon rief Gavril zu: »Sie soll die ganze Geschichte erzählen!«
Gavril schaute rasch zwischen uns hin und her. »Ach so? Na, dann erzählen Sie doch mal die ganze Geschichte!«
Ich versuchte, Maxon finster anzublicken, aber die Lage war so verworren, dass es mir nicht gelang.
»Am ersten Abend«, begann ich, »war ich … ein bisschen durcheinander und wollte unbedingt nach draußen an die frische Luft. Aber die Wachen wollten mich nicht in den Garten lassen. Mir wurde schwindlig, und ich wäre in den Armen eines Wachmanns fast ohnmächtig geworden. Da kam Prinz Maxon hinzu und ließ die Tür für mich öffnen.«
»Aha«, kommentierte Gavril und legte abwartend den Kopf schief.
»Ja, und dann folgte er mir, um sicherzugehen, dass es mir auch gut ging. Aber ich war so gestresst, dass ich ihn dann als eingebildet und oberflächlich bezeichnet habe.«
Gavril lachte in sich hinein. Ich schaute über seine Schulter zu Maxon, der Mühe hatte, seinen Lachanfall unter Kontrolle zu halten. Am peinlichsten fand ich allerdings, dass auch Maxons Eltern lachten. Zu den Mädchen schaute ich nicht hinüber, aber ich hörte ein paar kichern. Das hatte sein Gutes. Vielleicht würden sie mich jetzt endlich nicht mehr als Bedrohung betrachten. Ich war einfach nur jemand, den Maxon unterhaltsam fand.
»Und der Prinz hat Ihnen verziehen?«, fragte Gavril, nachdem er sich gefasst hatte.
»Ja. Hat mich auch gewundert«, antwortete ich achselzuckend.
»Da Sie beide sich ja jetzt gut verstehen – was haben Sie denn schon alles zusammen gemacht?«, setzte Gavril das Interview nun planmäßig fort.
»Wir gehen meistens im Garten spazieren. Der Prinz weiß, dass ich gerne draußen bin. Dort unterhalten wir uns dann.« Nach den Schilderungen der anderen Mädchen, die von Theaterabenden, Jagdausflügen und gemeinsamen Ausritten erzählt hatten, klang das recht kläglich.
Doch nun wurde mir auch klar, warum Maxon in der letzten Woche so viele Verabredungen absolviert hatte: Damit die Mädchen Gavril etwas zu erzählen hatten. Ich fand es immer noch seltsam, dass Maxon nicht mit mir darüber gesprochen hatte, aber nun wusste ich zumindest, weshalb er keine Zeit für mich gehabt hatte.
»Das klingt sehr entspannend. Ist der Garten das, was Ihnen am Palast am besten gefällt?«
Ich lächelte. »Vielleicht schon. Aber das Essen ist auch so köstlich, also?…«
Gavril lachte wieder. »Sie sind die letzte verbliebene Fünf unter den Erwählten, nicht wahr? Glauben Sie, dass Ihre Kaste ein Hindernis für Ihre mögliche Wahl zur Prinzessin ist?«
Ich antwortete, ohne eine Sekunde zu zögern. »Nein!«
»Alle Achtung! Das nenne ich Kampfgeist!« Gavril wirkte erfreut über meine leidenschaftliche Reaktion. »Sie glauben also, dass Sie alle anderen Konkurrentinnen aus dem Feld schlagen werden? Dass Sie Siegerin des Castings werden?«
Ich versuchte mich zu erklären. »Nein, nein. Das meine ich damit nicht. Ich halte mich nicht für besser als die anderen Mädchen – ich finde sie alle großartig. Es ist nur so … ich bin mir sicher, dass Maxon niemanden wegen seiner Herkunft ausschließen würde.«
Ein erschrockenes Raunen lief durch die Reihen, und ich dachte kurz über meine Worte nach. Es dauerte einen Moment, bis ich meinen Fehler bemerkte: Ich hatte nur »Maxon« gesagt. Bei einem Privatgespräch mit den Mädchen war das okay. Aber in der Öffentlichkeit war es ohne Zusatz des Titels viel zu informell. Und ich hatte das gerade live vor den Augen der ganzen Nation geäußert.
Ich warf einen Blick auf Maxon, aber er sah nicht wütend aus, sondern lächelte gelassen. Mir jedoch war mein Fauxpas so peinlich, dass ich puterrot anlief.
»Aha, Sie scheinen unserem Prinzen ja schon recht nahezustehen. Sagen Sie mir, wie finden Sie Maxon denn eigentlich?«
Auf diese Frage hatte ich mir vorher schon diverse Antworten überlegt. Ich hatte die Absicht, mich über sein Lachen lustig zu machen oder darüber zu reden, welchen Kosenamen ihm seine künftige Frau wohl geben würde. Es schien mir, als müsse man diese Frage von der witzigen Seite angehen, damit sie nicht so langweilig war. Aber als ich aufschaute, um zu antworten, sah ich Maxons Gesicht.
Er interessierte sich wirklich für meine Antwort.
Und ich konnte mich einfach nicht über ihn lustig machen. Nicht jetzt, da er mein Freund war und ich Gelegenheit hatte, aufrichtig meine Meinung zu äußern. Ich konnte nicht witzeln über den Mann, der mich davor bewahrte, mit gebrochenem Herzen zu Hause herumzusitzen, der meiner Familie Törtchen schickte und der sofort besorgt angerannt kam, wenn ich um ein Treffen bat.
Vor einem Monat noch hatte ich ihn im Fernsehen als steife, distanzierte, langweilige Person erlebt – als jemanden, den zu lieben ich mir schwer vorstellte. Und er hatte zwar keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann, den ich liebte, aber er hatte es wahrlich verdient, geliebt zu werden.
»Maxon Schreave ist der Inbegriff des Guten. Er wird ein großartiger König werden. Er lässt Mädchen, die Kleider tragen müssten, in Jeans herumlaufen, und wird nicht mal böse, wenn ihn jemand, der ihn nicht kennt, vollkommen falsch einschätzt.« Ich warf einen kurzen Blick auf Gavril, der mich anlächelte. Und Maxon sah sehr gespannt aus. »Das Mädchen, das er heiratet, wird er glücklich machen. Und was auch mit mir geschieht: Ich werde es als Ehre erachten, seine Untertanin zu sein.«
Ich sah Maxon schlucken und senkte den Blick.
»Vielen Dank, Lady America Singer.« Gavril stand auf und schüttelte mir die Hand. »Als Nächstes sehen wir Lady Tallulah Bell.«
Was die Mädchen nach mir sagten, hörte ich nicht mehr, obwohl ich weiterhin auf die beiden Stühle starrte. Meine Antworten waren viel offener ausgefallen, als ich beabsichtigt hatte. Ich wagte es nicht mehr, zu Maxon hinüberzuschauen. Stattdessen durchlebte ich das Interview wieder und wieder.
Gegen zehn Uhr abends klopfte es an meiner Zimmertür. Ich riss sie auf, und Maxon verdrehte die Augen.
»Sie sollten abends unbedingt eine Zofe hier haben.«
»Maxon! Oh, es tut mir so leid. Ich wollte Sie nicht vor der ganzen Nation nur beim Vornamen nennen. Das war so dumm von mir.«
»Glauben Sie vielleicht, ich sei böse auf Sie?«, fragte der Prinz, als er hereinkam und die Tür hinter sich schloss. »America, Sie sprechen mich so oft ohne Titel an, dass das irgendwann einfach passieren musste. Die Umstände waren zwar nicht ideal dafür«, fügte er mit nachsichtigem Lächeln hinzu, »aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus.«
»Wirklich nicht?«
»Nein, absolut nicht.«
»Uff! Ich habe mich furchtbar blöde gefühlt während der Sendung. Und ich kann nicht fassen, dass ich diese Geschichte erzählen musste!« Ich boxte ihn spielerisch in den Arm.
»Das war doch der beste Teil der gesamten Sendung! Meine Mutter hat sich prächtig amüsiert. Als sie jung war, benahm man sich noch zurückhaltender als Tiny, und Sie gehen hin und nennen mich oberflächlich … sie fand das umwerfend komisch.«
Na toll. Nun hielt mich auch noch die Königin für absonderlich.
Wir gingen auf den Balkon. Ein sachter warmer Wind trug den Duft von Tausenden von Blüten herbei. Der Vollmond strahlte hell und verlieh Maxons Gesicht einen geheimnisvollen Schimmer.
»Freut mich ja, dass Sie das so unterhaltsam fanden«, sagte ich und strich über das Geländer.
Maxon lehnte an der Wand und sah sehr entspannt aus. »Sie sind immer unterhaltsam. Daran müssen Sie sich gewöhnen.«
Hmm. Und er lernte allmählich, witzig zu sein.
»Also … was Sie da gesagt haben?…«, setzte Maxon zögernd an.
»Was genau meinen Sie? Als ich darüber gesprochen habe, wie ich Sie beleidigt habe? Oder dass ich mit meiner Mutter streite? Oder dass ich wegen des Essens hier bin?« Ich verdrehte die Augen.
Er lachte. »Als Sie über mich gesprochen haben?…«
»Ach so. Was ist damit?« Diese Sätze waren mir plötzlich noch peinlicher als alles andere. Ich blickte nach unten und zwirbelte an meinem Kleid herum.
»Ich finde es toll, dass Sie authentisch wirken wollten, aber so weit hätten Sie gar nicht gehen müssen.«
Mein Kopf fuhr hoch. Wie kam er bloß auf diese Idee?
»Das habe ich nicht um der Show willen gesagt, Maxon. Wenn man mich vor einem Monat nach meiner ehrlichen Meinung über Sie gefragt hätte, wäre die Antwort anders ausgefallen. Aber jetzt kenne ich Sie, und alles, was ich über Sie gesagt habe, ist meine aufrichtige Überzeugung. Und dabei habe ich noch nicht mal alles gesagt.«
Er blieb stumm, aber ein stilles Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»Danke«, sagte er dann.
»Gerne. Jederzeit.«
Maxon räusperte sich. »Er wird auch glücklich sein.« Er löste sich von der Wand und trat neben mich.
»Wie?«
»Ihr Freund. Wenn er Vernunft annimmt und Sie anfleht, zu ihm zurückzukommen«, sagte Maxon in nüchternem Tonfall.
Ich lachte bitter. So etwas kam in meiner Welt nicht vor.
»Er ist nicht mehr mein Freund. Und er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Schluss ist zwischen uns.« Den leicht hoffnungsvollen Unterton in meiner Stimme nahm aber selbst ich wahr.
»Ausgeschlossen«, widersprach Maxon. »Inzwischen wird er Sie in der Sendung gesehen und sich wieder Hals über Kopf in Sie verliebt haben. Obwohl ich sagen muss, dass Sie viel zu gut sind für diesen Kerl.« Er hörte sich gelangweilt an, als habe er so etwas schon tausendmal erlebt.
»Und überhaupt«, fuhr Maxon dann mit etwas erhobener Stimme fort. »Wenn Sie nicht wollen, dass ich in Sie verliebt bin, dürfen Sie nicht mehr so hinreißend aussehen. Gleich morgen früh werde ich Ihren Zofen sagen, dass sie Ihnen ein paar Kartoffelsäcke zusammennähen sollen.«
Ich boxte ihn in den Arm. »Ach, seien Sie still, Maxon.«
»Das ist mein Ernst. Sie sind viel zu schön. Wenn Sie gehen, werde ich Ihnen ein paar Wachen als Bodyguards mitgeben müssen. Sie werden alleine nicht mehr überleben können, Sie armes Ding.« Sein Mitleid war gespielt.
»Was soll ich tun?«, sagte ich grinsend. »Man kann doch nichts dafür, wenn man perfekt zur Welt kommt.« Dabei fächelte ich mir mit übertrieben dramatischer Geste Luft zu.
»Nein, Sie können wirklich nichts dafür.«
Ich kicherte. Erst dann fiel mir auf, dass Maxon meine Bemerkung offenbar nicht als Scherz aufgefasst hatte.
Ich blickte in den Garten und sah aus dem Augenwinkel, dass Maxon mich anschaute. Er stand jetzt ganz dicht neben mir. Als ich fragen wollte, was er denn betrachtete, merkte ich verblüfft, dass er mich wohl gerade küssen wollte.
Und ich war noch verblüffter, als er es wirklich tat.
Ich trat rasch einen Schritt zurück, und Maxon tat es mir gleich.
»Entschuldigung«, murmelte er und wurde rot.
»Was machen Sie da?«, flüsterte ich erschrocken.
»Es tut mir leid.« Der Prinz wandte sich beschämt ab.
»Warum haben Sie das getan?« Ich legte die Hand an die Lippen.
»Nur weil … nach dem, was Sie vorhin gesagt haben, und als Sie mich gestern sprechen wollten … Ihr ganzes Verhalten … da dachte ich mir, Ihre Gefühle hätten sich vielleicht geändert. Und ich dachte, Sie wüssten, dass ich Sie sehr gerne mag.« Er sah mich an. »Und … oje, war es schlimm? Sie sehen gar nicht glücklich aus.«
Ich bemühte mich um eine ausdruckslose Miene.
»Es tut mir schrecklich leid. Ich habe noch nie jemanden geküsst. Ich weiß gar nicht, wie es dazu kam. Ich war nur … bitte entschuldigen Sie, America.« Er seufzte schwer und fuhr sich durchs Haar.
Ich spürte plötzlich eine überraschende Wärme in mir.
Er hatte seinen ersten Kuss mit mir erleben wollen.
Ich dachte über den Maxon nach, den ich jetzt kannte – den Mann, der schöne Komplimente machte, der mir meinen Gewinn zugestand, obwohl ich die Wette verloren hatte, der mir verzieh, obwohl ich ihn emotional und physisch attackiert hatte – und ich merkte, dass mir das gar nichts ausmachte.
Ja, natürlich hatte ich noch Gefühle für Aspen. Aber wenn er nicht mehr mein Freund sein wollte – was hielt mich davon ab, mit Maxon zusammen zu sein? Doch nur meine Vorurteile über ihn, die sich inzwischen als unwahr erwiesen hatten!
Ich trat zu ihm und strich ihm über die Stirn.
»Was tun Sie da?«
»Ich lösche die Erinnerung. Ich glaube, wir können das besser.« Ich ließ die Hand sinken und lehnte mich neben ihm ans Geländer. Maxon rührte sich nicht von der Stelle … aber er lächelte.
»Ich glaube nicht, dass Sie die Geschichte verändern können, America«, sagte er. Aber in seinen Augen lag ein hoffnungsvoller Blick.
»Doch, natürlich kann man das. Und außerdem: wer soll das jemals erfahren außer uns beiden?«
Maxon betrachtete mich einen Moment lang sinnend. Er schien sich zu überlegen, ob er meinen Worten wirklich Glauben schenken durfte. Langsam entspannte sich sein Gesicht, und er sah zuversichtlicher aus. Wir schwiegen einen Moment, und ich musste wieder an meine Bemerkung von vorhin denken.
»Man kann doch nichts dafür, wenn man perfekt zur Welt kommt«, flüsterte ich.
Maxon wandte sich zu mir und umfasste meine Taille. Seine Nasenspitze stieß an meine. Dann streichelte er mir so behutsam die Wange, als wäre ich zerbrechlich.
»Nein, Sie können nichts dafür«, flüsterte er.
Seine Hand ruhte an meiner Wange, als er sich vorbeugte und mir einen hauchzarten Kuss gab.
Maxons Behutsamkeit gab mir das Gefühl, wunderschön zu sein. Ich spürte, wie aufgeregt, glücklich und ängstlich zugleich ihm jetzt zumute war. Und wie sehr er mich verehrte.
So fühlte man sich also als Dame.
Er wich ein bisschen zurück und fragte: »War das besser?«
Ich konnte nur nicken. Maxon sah aus, als wolle er gleich einen Salto machen. Und in meiner Brust fühlte sich irgendetwas genauso an. Das war alles so überraschend. So plötzlich, so überwältigend. Meine Verwirrung spiegelte sich offenbar auf meinem Gesicht, denn Maxons Miene wurde ernst.
»Darf ich etwas sagen?«
Ich nickte wieder.
»Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass Sie nun Ihren ehemaligen Freund vergessen werden. Ich weiß, was Sie durchgemacht haben und dass Sie nicht aus den üblichen Gründen hier sind. Ich weiß auch, dass Sie glauben, es gäbe Mädchen hier, die für mich und meine Lebensweise besser geeignet wären, und ich möchte Sie unter keinen Umständen zu irgendetwas drängen. Ich … ich würde nur gern wissen … ob es vielleicht möglich wäre?…«
Diese Frage war schwer zu beantworten. Wäre ich bereit, ein Leben zu führen, das ich mir niemals gewünscht hatte? Würde ich es bereitwillig ertragen, wenn er sich mit den anderen Mädchen traf, um auf Nummer sicher zu gehen? Würde ich einen Teil der Verantwortung übernehmen wollen, die er als Prinz zu tragen hatte? Würde ich ihn lieben können?
»Ja, Maxon«, flüsterte ich. »Es wäre möglich.«