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In der nächsten Woche wimmelte es bei uns von Beauftragten der Königsfamilie, die mich für das Casting vorbereiten sollten. Eine grässliche Frau war dabei, die offenbar glaubte, ich hätte die Hälfte der Angaben auf meiner Bewerbung erfunden, sowie ein Wachmann vom Palast, der mit Soldaten Sicherheitsvorkehrungen traf und unser Haus durchcheckte. Offenbar musste ich nicht erst im Palast mit Rebellenangriffen rechnen. Na super.
Wir bekamen zwei Anrufe von einer Frau namens Silvia, die salopp und förmlich zugleich wirkte und sich erkundigte, ob wir irgendetwas bräuchten. Mein Lieblingsgast war ein magerer Mann mit Ziegenbart, der Maß nahm für meine neue Garderobe. Ich wusste nicht, ob es mir gefallen würde, die ganze Zeit so formelle Kleidung wie die Königin tragen zu müssen, aber gegen Abwechslung hatte ich nichts einzuwenden.
Der letzte Besucher dieser Art kam am Mittwochnachmittag, zwei Tage vor meiner geplanten Abreise. Er sollte sämtliche offiziellen Anordnungen mit mir durchgehen. Der Mann war unfassbar dünn, seine fettigen schwarzen Haare waren nach hinten gekämmt, und er schwitzte ständig. Als er hereinkam, fragte er als Erstes, ob wir uns irgendwo ungestört unterhalten könnten. Das war bereits der erste Hinweis darauf, dass etwas im Argen war.
»Wie wär’s mit der Küche?«, schlug Mom vor.
Der Mann tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab und warf einen Blick auf May. »Der Raum ist einerlei. Ich denke nur, Ihre jüngere Tochter sollte sich indessen anderswo aufhalten.«
Was hatte er wohl zu sagen, das nicht für Mays Ohren bestimmt war?
»Mama?«, fragte May gekränkt.
»May, mein Schatz, geh und arbeite an deinem neuesten Bild. Du hast deine Arbeit letzte Woche ein bisschen vernachlässigt.«
»Aber?…«
»Ich geh mit dir raus, May«, bot ich an, als ich die Tränen in ihren Augen bemerkte.
Draußen im Flur, als wir außer Hörweite waren, umarmte ich sie.
»Keine Sorge«, flüsterte ich. »Heute Abend erzähl ich dir alles. Versprochen.«
Man muss ihr zugutehalten, dass sie reif genug war, wenigstens jetzt nicht auf und ab zu hopsen. Stattdessen nickte sie nur ernsthaft und trollte sich in ihre Malecke in Dads Arbeitszimmer.
Mom kochte Tee, und wir ließen uns alle am Küchentisch nieder. Der Dürre legte einen Stapel Blätter und einen Stift neben einen Ordner mit meinem Namen, rückte alles zurecht und begann dann zu sprechen.
»Es tut mir leid, dass ich so sehr auf Diskretion bestehen muss, aber im Vorfeld muss ich einige Punkte ansprechen, die für jüngere Menschen ungeeignet sind.«
Mom und ich wechselten einen raschen Blick.
»Miss Singer, das mag sich hart anhören, aber seit letztem Freitag gelten Sie als Eigentum von Illeá. Sie sind nun verpflichtet, besonders sorgsam auf Ihren Körper zu achten. Hier habe ich ein Merkblatt für Sie zusammengestellt, das wir gleich gemeinsam durchgehen werden. Sie müssen dann auch einige Formulare unterschreiben. Und ich muss Sie darüber informieren, dass Sie umgehend vom Casting ausgeschlossen werden, sollten Sie diese Anordnungen nicht befolgen. Haben Sie das verstanden?«
»Ja«, sagte ich argwöhnisch.
»Bestens. Fangen wir also dem leichten Teil an. Das hier sind Vitamine. Da Sie eine Fünf sind, gehe ich davon aus, dass Ihnen nicht immer ausreichend Lebensmittel zur Verfügung stehen. Sie müssen täglich eine von diesen Pillen nehmen. In den Tagen vor der zweiten Runde müssen Sie das alleine schaffen, im Palast werden Sie dann Hilfe bekommen.« Er reichte mir eine große Flasche und ein Formular, auf dem ich den Erhalt bestätigen musste.
Ich musste mich beherrschen, um nicht zu lachen. Wer brauchte denn wohl Hilfe beim Schlucken einer Pille?
»Ich habe auch den Bericht von Ihrem Arzt dabei«, fuhr der Dürre fort. »Es sieht alles gut aus. Sie scheinen gesundheitlich in bester Verfassung zu sein – er sagte allerdings, Sie würden in letzter Zeit schlecht schlafen?«
»Äm, na ja … ich war ein bisschen aufgeregt.« Das entsprach sogar der Wahrheit: Die Tage vergingen wie im Fluge mit Vorbereitungen für das Casting, aber nachts, wenn alles still wurde, dachte ich an Aspen. Dann konnte ich nicht verhindern, dass er sich in meinen Kopf drängte. Und er wollte anscheinend auch nicht mehr daraus verschwinden.
»Verstehe. Ich habe Schlafmittel bei mir, falls Sie etwas brauchen. Wir möchten, dass Sie gut ausgeruht sind.«
»Nein, ich will –«
»Doch«, fiel Mom mir ins Wort. »Tut mir leid, Schatz, aber du siehst erschöpft aus. Geben Sie ihr bitte ein Schlafmittel.«
»Gut, Ma’am.« Der Dürre machte eine Notiz in meiner Akte. »Weiter. Ich weiß, das ist eine sehr persönliche Frage, aber ich muss das mit jeder Teilnehmerin besprechen und möchte Sie bitten, unbefangen zu sein.« Er hielt inne. »Ich brauche einen Beweis dafür, dass Sie noch Jungfrau sind.«
Mom fielen fast die Augen aus dem Kopf. Deshalb war May also rausgeschickt worden.
»Ist das Ihr Ernst?« Ich konnte nicht fassen, dass sie wirklich danach fragten. Sie hätten wenigstens eine Frau schicken können?…
»Ich fürchte, ja. Falls dem nicht so sein sollte, müssten wir das sofort wissen.«
Uuh. Und das mit meiner Mutter im Raum. »Ich kenne die Gesetze, Sir, und ich bin nicht dumm. Natürlich bin ich noch Jungfrau.«
»Erwägen Sie Ihre Antwort bitte sehr sorgfältig. Sollte sich herausstellen, dass Sie lügen?…«
»Um Himmels willen, America hatte noch nie einen Freund!«, warf meine Mutter ein.
»Genau.« Ich klammerte mich an diesen Strohhalm und hoffte, dass das Gespräch damit beendet war.
»Sehr gut. Sie müssten die Aussage dann auf diesem Formular mit Ihrer Unterschrift bestätigen.«
Ich verdrehte die Augen, kam seiner Aufforderung aber nach. Ich war froh, dass es Illeá noch gab, weil das Land beinahe dem Erdboden gleichgemacht worden wäre. Doch all diese Vorschriften waren beengend. Es kam mir vor, als würde ich von unsichtbaren Ketten gefesselt und bekäme keine Luft mehr. Gesetze, die einem vorschrieben, wen man lieben durfte, und Formulare über Jungfräulichkeit – unerträglich.
»Jetzt muss ich die Verhaltensregeln mit Ihnen durchgehen. Sie sind simpel, und es sollte Ihnen nicht schwerfallen, sie einzuhalten. Unterbrechen Sie mich gerne, wenn Sie Fragen haben.«
Er sah mich an.
»Mach ich«, murmelte ich.
»Erstens: Sie dürfen den Palast nicht verlassen, ohne sich vorher beim Prinzen persönlich abzumelden. Zweitens: Nicht einmal der König oder die Königin können Sie zum Verlassen des Palastes zwingen. Drittens: Sie können dem Prinzen zwar Ihr Missfallen kundtun, aber er allein trifft die Entscheidung darüber, wer im Palast bleibt und wer ihn verlässt.
Viertens: Sie haben keinen freien Zugang zum Prinzen. Er wird sich mit Ihnen treffen, wann er das wünscht. Wenn Sie jedoch mit ihm in größerer Gesellschaft sind, verhält sich das anders. Aber Sie können ihn nur sehen, wenn Sie eingeladen wurden.
Fünftens: Man erwartet nicht, dass Sie sich mit den anderen Teilnehmerinnen gut verstehen, aber Sie dürfen keine Konflikte heraufbeschwören oder den anderen Mädchen Schaden zufügen. Wenn Sie dabei erwischt werden, dass Sie einer Konkurrentin körperlichen Schaden zufügen, sie bestehlen oder vorsätzlich deren Beziehung mit dem Prinzen stören, kann Prinz Maxon Sie vom Casting ausschließen.
Sechstens: Sie dürfen ausschließlich mit dem Prinzen in einem romantischen Verhältnis stehen. Wenn Sie an jemand anderen Liebesbriefe schreiben oder sich im Palast mit jemand anderem als Prinz Maxon einlassen, gilt das als Hochverrat und wird mit dem Tode bestraft.«
Jetzt verdrehte Mom die Augen, aber das war nun die einzige Regel, die mir tatsächlich Sorgen machte.
»Siebtens: Wenn Sie in irgendeiner Weise gegen das geschriebene Gesetz Illeás verstoßen, werden Sie gemäß der Strafprozessordnung bestraft. Ihr Status als eine der Erwählten erhebt Sie nicht über das Gesetz.
Achtens: Sie dürfen nur die Kleidung tragen und nur die Nahrung zu sich nehmen, die Ihnen im Palast zugeteilt wird. Diese Regel gehört zu den Sicherheitsvorschriften und wird strengstens überprüft.
Neuntens: Freitags versammeln sich alle zum Bericht aus dem Capitol. Gelegentlich werden – immer mit Vorankündigung – Kameraleute oder Fotoreporter im Palast sein, denen Sie gestatten werden, Ihr Leben mit dem Prinzen zu dokumentieren.
Zehntens: Für jede Woche, die Sie im Palast verbringen, wird Ihre Familie eine Entschädigung erhalten. Den ersten Scheck erhalten Sie gleich bei meinem Aufbruch. Sollten Sie nicht im Palast bleiben, werden Ihnen Coaches behilflich sein, sich wieder in Ihr altes Leben nach dem Casting einzugewöhnen.
Elftens: Sollten Sie es in die Riege der Top Ten schaffen, gehören Sie zur Landeselite. Dann wird man Sie in die Lebensbedingungen und Verpflichtungen einer Prinzessin einführen. Vorher ist es Ihnen jedoch nicht gestattet, derartige Informationen einzuholen.
Und schließlich zwölftens: Ab jetzt sofort gehören Sie der Kaste Drei an.«
»Drei?«, riefen Mom und ich zugleich aus.
»Ja. Nach dem Casting ist es für die Bewerberinnen oft schwierig, in ihr altes Leben zurückzukehren. Zweiern und Dreiern gelingt es meist mühelos, aber Vierer und niedrigere Kasten tun sich häufig schwer damit. Sie sind jetzt eine Drei, aber der Rest Ihrer Familie gehört weiterhin den Fünfern an. Sollten Sie jedoch als Siegerin aus dem Casting hervorgehen, werden Sie und Ihre Familie als Angehörige des Königshauses in den Status von Einsern erhoben.«
»Eins«, flüsterte Mom ehrfurchtsvoll.
»Und dreizehntens: Falls Sie die Erwählte werden, heiraten Sie Prinz Maxon, werden Prinzessin von Illeá und haben damit sämtliche Rechte und Verpflichtungen, die mit diesem Rang einhergehen. Haben Sie das verstanden?«
»Ja.« Dieser Teil, so gewichtig er sich auch anhörte, schien mir am leichtesten zu ertragen.
»Bestens. Wenn Sie dann bitte hier unterschreiben würden, dass Sie über alle Regeln informiert wurden. Und, Mrs Singer, bestätigen Sie bitte hier mit Ihrer Unterschrift den Erhalt des Schecks.«
Die Höhe der Summe sah ich nicht, aber meiner Mutter stiegen Tränen in die Augen. Mir graute davor weggehen zu müssen, andererseits war ich ohnehin sicher, dass ich in Kürze wieder hier sein würde. Und dann würde allein dieser Scheck unsere Lage für ein ganzes Jahr beträchtlich verbessern. Außerdem würde ich nach meiner Rückkehr sicher viele Aufträge haben. Aber würde ich als Drei überhaupt noch singen dürfen? Falls ich mich dann für einen Dreier-Beruf entscheiden müsste, überlegte ich weiter, würde ich wohl Lehrerin werden. Dann könnte ich wenigstens anderen Musik beibringen.
Der Dürre packte seine Papiere ein, erhob sich und bedankte sich für den Tee und unsere Zeit. Nun würde ich vor meiner Abreise nur noch einen Gesandten des Königshauses treffen, und zwar einen Begleiter, der mich zum Flughafen bringen würde. Und danach … war ich ganz auf mich allein gestellt.
Unser Gast fragte, ob ich ihn zur Tür begleiten würde, und Mom meinte, das sei ihr recht, sie müsse ohnehin mit den Vorbereitungen für das Abendessen anfangen. Ich wollte nicht mit dem Dürren alleine sein, aber es war zum Glück nur ein kurzer Weg durch den Flur.
»Eine Sache noch«, sagte er, als seine Hand schon am Türknauf war. »Das ist nicht direkt eine Regel, aber es wäre nicht klug von Ihnen, sich zu widersetzen. Wenn Prinz Maxon etwas mit Ihnen machen möchte, lehnen Sie niemals ab. Egal, worum es sich handelt. Abendessen, Ausflüge, Küsse oder mehr als Küsse – weisen Sie ihn nicht zurück.«
»Wie bitte?« Derselbe Mann, dem ich gerade schriftlich meine Jungfräulichkeit hatte bestätigen müssen, verlangte nun von mir, dass ich sie jederzeit dem Prinzen opferte?
»Ich weiß, das klingt … unziemlich. Aber es schickt sich nicht, dem Prinzen etwas abzuschlagen. Guten Abend, Miss Singer.«
Ich war fassungslos und entsetzt. Laut Landesgesetz muss man warten bis zur Heirat, bevor man Sex haben darf. Damit schränkt man die Verbreitung von Krankheiten ein und trägt gleichzeitig dazu bei, dass die Kasten sich nicht vermischen. Wenn man ertappt oder gar schwanger wird, wandert man ins Gefängnis und wird automatisch zu einer Acht. Der bloße Verdacht genügt bereits, dass man einige Tage in einer Zelle zubringt. Und nun das. Hatte ich mich nicht gerade schriftlich einverstanden erklärt, dass man mich bei Verstoß gegen die Gesetze Illeás bestrafen würde? Ich war außer mir vor Wut. Ich stand nicht über dem Gesetz, hatte der Dürre gesagt. Aber der Prinz offenbar schon. In diesem Moment fühlte ich mich schmutzig und niedriger als eine Acht.
»Hier ist jemand für dich, America«, flötete meine Mutter. Ich hatte die Klingel auch gehört, beeilte mich aber nicht, zur Tür zu kommen. Autogrammjäger konnte ich nicht mehr ertragen.
Ich bog um die Ecke im Flur. Und da stand Aspen, einen Strauß Wiesenblumen in den Händen.
»Hallo, America.« Seine Stimme klang tonlos und förmlich.
»Hallo, Aspen«, krächzte ich.
»Dieser Strauß ist von Kamber und Celia. Sie wünschen dir Glück.« Er trat zu mir und reichte mir den Strauß. Blumen von seinen Schwestern, nicht von ihm.
»Wie reizend!«, rief Mom aus. Ich hatte fast vergessen, dass sie auch da war.
»Wie schön, dich zu sehen, Aspen.« Ich versuchte mich ebenso neutral anzuhören wie er. »Ich habe gerade ein furchtbares Durcheinander beim Packen veranstaltet. Sag, könntest du mir vielleicht beim Aufräumen helfen?«
In Anwesenheit meiner Mutter konnte er mir das nicht abschlagen. Sechser lehnen Arbeit grundsätzlich nicht ab. In dieser Hinsicht waren wir gleich.
Er atmete aus, nickte und folgte mir in einigem Abstand. Ich musste daran denken, wie oft ich mir das schon erträumt hatte: dass Aspen mit mir auf mein Zimmer gehen würde. Doch nun, da sich mein Wunsch erfüllte, konnten die Umstände kaum schlimmer sein.
Ich öffnete die Tür und blieb stehen. Aspen schaute ins Zimmer und lachte laut.
»Hast du einen Spürhund für dich packen lassen?«
»Sei still! Ich hab nicht gleich gefunden, was ich suchte.« Ich musste wider Willen lächeln.
Er machte sich sofort an die Arbeit, stellte Sachen wieder auf und legte Kleider zusammen. Ich ging ihm zur Hand.
»Nimmst du diese Sachen nicht mit?«, flüsterte er.
»Nein. Ab morgen werde ich vom Königshaus eingekleidet.«
»Oh. Wow.«
»Waren deine Schwestern sehr enttäuscht?«
»Nein, gar nicht.« Aspen schüttelte erstaunt den Kopf. »Als sie dein Gesicht gesehen haben, sind alle fast durchgedreht vor Freude. Alle fanden dich immer schon so toll. Vor allem meine Mutter.«
»Ich mag sie auch sehr. Sie war immer so lieb zu mir.«
Wir verfielen in Schweigen, während in meinem Zimmer allmählich wieder Normalität einkehrte.
»Das Foto von dir?…«, sagte er, »… war wunderschön.«
Es schmerzte mich, dass er mir nun so ein Kompliment machte. Nach allem, was geschehen war.
»Das war für dich«, flüsterte ich.
»Was?«
»Es war … ich dachte, du würdest mir bald einen Heiratsantrag machen.« Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an.
Aspen schwieg einen Moment und dachte nach. Schließlich sagte er: »Das hatte ich erwogen, aber es spielt jetzt keine Rolle mehr.«
»Doch, sehr wohl spielt das eine Rolle. Wieso hast du mir das nicht gesagt?«
Er rieb sich den Nacken. Dann schien er eine Entscheidung zu treffen. »Ich habe gewartet«, antwortete er.
»Worauf?«
»Auf die Einberufung.«
Das war in der Tat ein wichtiger Punkt. Es ließ sich schwer sagen, ob man sich die Einberufung wünschen sollte oder nicht. Jeder männliche Bürger von Illeá über neunzehn Jahre kann sich zum Militär melden. Zweimal im Jahr werden per Los Soldaten rekrutiert, jeweils sechs Monate nach ihrem Geburtstag – für insgesamt drei Jahre.
Aspen und ich hatten natürlich darüber gesprochen, aber dem Thema keine große Beachtung geschenkt. Beide hatten wir wohl gehofft, dass die Einberufung, wenn wir sie geflissentlich ignorierten, das mit uns genauso machen würde.
Der große Vorteil, Militärdienst abzuleisten, besteht darin, dass man als Soldat automatisch zur Zwei wird. Man wird vom Staat ausgebildet und bis an sein Lebensende bezahlt. Der Nachteil ist, dass man nie im Voraus weiß, wo man landet. Sicher ist nur, dass man aus seiner Heimatgegend weggeschickt wird, weil Soldaten gegenüber den eigenen Leuten zur Nachsicht neigen. Eventuell wird man zur Palastwache oder zur Polizei in einer anderen Provinz versetzt. Man kann sich aber auch zur Armee melden und wird in den Krieg geschickt. Von diesen jungen Männern waren in der Vergangenheit allerdings nicht viele nach Hause zurückgekehrt.
Wenn ein Mann vor der Einberufung noch nicht verheiratet ist, wartet er meist ab. Im besten Fall würde er drei Jahre von seiner Frau getrennt. Im schlimmsten Fall wäre sie danach eine sehr junge Witwe.
»Ich wollte … dir das einfach nicht antun«, flüsterte Aspen.
»Das verstehe ich.«
Er richtete sich auf und wechselte das Thema. »Was nimmst du alles mit?«
»Eine Garnitur Kleider für den Tag, an dem sie mich vor die Tür setzen. Ein paar Fotos und Bücher. Man hat mir gesagt, meine Instrumente bräuchte ich nicht – im Palast sei alles vorhanden. Deshalb hab ich ja auch nur diese kleine Tasche hier.«
Im Zimmer herrschte jetzt wieder Ordnung, und meine Tasche kam mir aus irgendeinem Grund riesig vor. Der Blumenstrauß auf meinem Schreibtisch wirkte seltsam bunt zwischen all den farblosen Sachen im Zimmer. Vielleicht fand ich aber auch alles blasser als früher … jetzt, da alles zu Ende war.
»Das ist nicht viel«, sagte Aspen.
»Ich habe noch nie viel gebraucht, um glücklich zu sein. Ich dachte, du wüsstest das.«
Er schloss die Augen. »Lass das bitte, America. Ich habe das Richtige getan.«
»Das Richtige? Aspen, du hast mir immer das Gefühl gegeben, dass wir es schaffen würden. Du hast dafür gesorgt, dass ich dich liebe. Und dann hast du mich zu diesem verdammten Wettbewerb überredet. Ist dir klar, dass ich jetzt quasi Freiwild bin für Prinz Maxon?«
»Was?« Er starrte mich an.
»Ich darf ihm keinen seiner Wünsche abschlagen. Keinen.«
Aspen sah gequält und wütend aus. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Auch dann, wenn … wenn er dich gar nicht heiraten will … könnte er?…?«
»Ja.«
»Es tut mir leid. Das wusste ich nicht.« Aspen holte ein paarmal tief Luft. »Aber wenn er dich erwählt … das wäre gut. Du hast es verdient, glücklich zu sein.«
Das war zu viel. Ich schlug ihm ins Gesicht. »Du Idiot!«, flüsterte ich wutentbrannt. »Ich hasse den Mann jetzt schon! Ich habe dich geliebt! Ich wollte dich – immer nur dich!«
Tränen stiegen ihm in die Augen, aber ich wollte jetzt kein Mitleid empfinden. Er hatte mich so sehr verletzt. Jetzt war er dran zu leiden.
»Ich sollte gehen«, sagte Aspen und wandte sich ab.
»Warte. Ich habe dich noch nicht bezahlt.«
»Du musst mich nicht bezahlen.« Er ging Richtung Tür.
»Aspen Leger, du bleibst jetzt auf der Stelle stehen!« Meine Stimme klang schneidend. Und Aspen blieb tatsächlich stehen, drehte sich um und schaute mich abwartend an.
»Übst du schon mal für die Zeit, in der du eine Eins bist?«, fragte er. Hätte ich seinen Blick nicht gesehen, hätte ich diese Bemerkung vielleicht als Scherz, nicht als Beleidigung empfunden.
Ich schüttelte stumm den Kopf, ging zum Schreibtisch und nahm das gesamte Geld heraus, das ich in letzter Zeit verdient hatte. Dann drückte ich es ihm in die Hand.
»Das nehme ich nicht an, America.«
»Doch, genau das wirst du tun. Ich brauche es nicht, aber du kannst es brauchen. Wenn du mich jemals auch nur ein bisschen geliebt hast, wirst du es nehmen. Hat dein Stolz nicht schon genug ruiniert zwischen uns?« Ich spürte, wie sich etwas in ihm verschloss. Er gab den Kampf auf.
»Also gut.«
»Und hier.« Ich holte hinter meinem Bett das Glas mit Pennys hervor und schüttete ihm die Münzen in die Hand. Ein widerspenstiger Penny, der offenbar klebrig war, blieb am Boden des Glases haften. »Die haben immer dir gehört. Gib sie aus.«
Nun besaß ich nichts mehr von ihm. Und wenn er diese Münzen ausgegeben hatte, würde er auch nichts mehr von mir besitzen. Ich spürte einen stechenden Schmerz in mir. Meine Augen wurden nass, und ich versuchte ruhig zu atmen, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Tut mir leid, Mer. Viel Glück.« Aspen verstaute das Geld und die Pennys in seinen Taschen und rannte hinaus.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass ich nach diesem Auftritt heftig und schmerzhaft schluchzen würde. Nicht, dass mir lediglich langsame kleine Tränen über die Wangen rannen.
Ich wollte das Glas ins Regal stellen, aber mein Blick fiel auf den letzten kleinen Penny. Ich löste ihn mit dem Zeigefinger vom Boden ab. Es klang hohl, als ich das Glas bewegte, und ich spürte das Echo dieses Lauts in meiner Brust. Ich wusste, dass ich noch nicht frei war von Aspen. Es vielleicht sogar niemals sein würde. Ich öffnete meine Reisetasche, packte das Glas hinein und verschloss sie wieder.
May kam hereingetappt, als ich eine dieser dummen Schlafpillen schluckte. Dann schlief ich ein, mit May in den Armen, und versank in wohltuende Dumpfheit.