15
Das Abendessen war eine Enttäuschung. Ich musste meinen Zofen unbedingt sagen, dass sie beim nächsten Kleid mehr Platz für das Essen lassen sollten.
Die drei warteten in meinem Zimmer darauf, mich umzuziehen, aber ich erklärte ihnen, dass ich das Kleid noch eine Weile anbehalten wollte. Weil ich die beengende Kleidung sonst nicht schnell genug loswerden konnte, kam Anne als Erstes darauf, dass Maxon mich besuchen würde.
»Sollen wir heute länger bleiben? Kein Problem«, sagte Mary hoffnungsvoll. Aber nach den Erfahrungen bei Maxons Spontanbesuch fand ich es am besten, die Mädchen so früh wie möglich wegzuschicken. Außerdem wollte ich nicht, dass sie mich beobachteten, während ich auf ihn wartete.
»Nein, nein. Ich komme schon zurecht. Sollte ich später Schwierigkeiten mit meinem Kleid haben, klingle ich.«
Etwas widerstrebend zogen die drei sich zurück und überließen mich dem Warten. Ich wusste nicht, wann Maxon kommen würde, und wollte nicht anfangen zu lesen, wenn ich womöglich gleich wieder aufhören musste. Und beim Klavierspielen abzubrechen, fühlte sich auch nicht gut an. Schließlich legte ich mich einfach aufs Bett und gab mich meinen Gedanken hin. Ich dachte an die liebe Marlee und merkte, dass ich kaum etwas über sie wusste. Dennoch glaubte ich, dass sie aufrichtig war und ich ihr vertrauen konnte. Dann dachte ich an die anderen Mädchen, die künstlich und falsch wirkten, und fragte mich, ob Maxon diese Unterschiede spüren konnte.
Im Umgang mit Frauen schien der Prinz erfahren und unerfahren zugleich zu sein. Er verhielt sich wie ein Gentleman, doch sobald Frauen ihm nahekamen, geriet er in Verwirrung. Offenbar wusste er, wie man eine Dame behandelt, aber ein Rendezvous brachte ihn aus der Fassung.
Er war so anders als Aspen.
Aspen.
Die Erinnerungen an ihn brachen so heftig über mich herein, dass ich sie nicht wegdrängen konnte. Aspen. Was machte er wohl gerade? In Carolina nahte die Sperrstunde. Wenn er heute jobbte, würde er wohl noch arbeiten. Oder aber er war mit Brenna oder einem anderen Mädchen zusammen, mit dem er sich vielleicht inzwischen eingelassen hatte. Ein Teil von mir sehnte sich danach, es zu wissen … aber ein anderer Teil litt unerträgliche Schmerzen.
Ich blickte auf das Pennyglas. Nahm es in die Hand und ließ die Münze darin herumrollen. Sie war so einsam.
»Ich auch«, flüsterte ich. »Ich auch.«
War es dumm von mir, dieses Glas aufzubewahren? Alles andere hatte ich Aspen zurückgegeben – wieso hatte ich diesen Penny behalten? Würde das alles sein, was mir von Aspen blieb? Ein Penny in einem Glas, den ich eines Tages meiner Tochter zeigen konnte, wenn ich ihr von meinem ersten Freund erzählte – einer geheimen Liebe, von der niemand wusste.
Ich hatte nicht viel Zeit, mich meinen Grübeleien hinzugeben. Bald hörte ich ein energisches Klopfen und lief zur Tür.
Ich riss sie auf, und Maxon sah mich überrascht an.
»Wo sind denn Ihre Zofen geblieben?«, fragte er und spähte an mir vorbei ins Zimmer.
»Ich habe sie nach dem Abendessen weggeschickt.«
»Machen Sie das immer so?«
»Ja, natürlich. Ich kann mich schließlich selbst ausziehen, besten Dank auch.«
Maxon zog die Augenbrauen hoch und lächelte. Ich lief rot an. Das war nicht sehr dezent ausgedrückt.
»Nehmen Sie eine Jacke mit. Es ist kühl draußen.«
Wir gingen den Flur entlang. Ich war noch in meinen eigenen Gedanken, und dass es nicht zu Maxons Stärken gehörte, ein Gespräch zu eröffnen, wusste ich mittlerweile. Aber ich hatte mich gleich bei ihm eingehakt und war nun froh über diese vertraute Geste.
»Wenn Sie Ihre Zofen abends nicht bei sich haben wollen, muss ich einen Wachposten vor der Tür aufstellen«, sagte Maxon.
»Nein! Ich brauche keinen Babysitter.«
Er kicherte. »Der würde nur vor Ihrer Tür stehen, Sie würden ihn gar nicht bemerken.«
»Doch, sehr wohl«, widersprach ich. »Ich würde spüren, dass er da ist.«
Maxon stieß einen gespielt gequälten Seufzer aus. Ich war so mit meiner Widerrede beschäftigt, dass ich das Raunen erst bemerkte, als die drei schon ganz nahe waren. Celeste, Emmica und Tiny gingen an uns vorbei zu ihren Zimmern.
»Die Damen«, sagte Maxon und nickte ihnen zu.
Es war wohl naiv anzunehmen, dass uns niemand sehen würde. Ich merkte, wie ich rot anlief, obwohl ich nicht genau wusste, weshalb.
Die Mädchen knicksten und gingen weiter. Ich warf einen Blick über die Schulter, als wir zur Treppe kamen. Emmica und Tiny sahen uns neugierig nach. Sie würden den anderen bestimmt sofort Bericht erstatten. Und die anderen Mädchen würden mich dann morgen aushorchen. Aus Celestes Augen schienen förmlich Flammen zu lodern. Sie fühlte sich vermutlich persönlich hintergangen.
Ich wandte den Blick ab und sagte das Erste, was mir in den Sinn kam.
»Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass die Mädchen, die sich bei dem Angriff so gefürchtet haben, dann doch hierbleiben würden.« Wer überlegt hatte, zu flüchten, wusste ich nicht, aber den Gerüchten zufolge gehörte Tiny auf jeden Fall dazu. Sie war schließlich ohnmächtig geworden. Jemand hatte auch Bariels Namen erwähnt, aber das musste ein Irrtum sein. Sie war viel zu versessen auf die Krone.
»Sie glauben gar nicht, wie erleichtert ich darüber war«, sagte Maxon, und es hörte sich aufrichtig an.
Das überraschte mich, aber ich konnte nicht gleich antworten, weil ich mich auf meine Füße konzentrieren musste. Ich hatte keine Übung darin, mit hohen Absätzen eine Treppe hinunterzugehen. Aber immerhin konnte ich mich an Maxon festhalten, falls ich stolperte.
»Ich hätte eher gedacht, das sei hilfreich für Sie«, bemerkte ich, als wir unten angekommen waren. »Ich meine, es muss sehr schwierig sein, von so vielen Mädchen eines auszusuchen. Wenn Ihnen per Zufall welche abgenommen werden, haben Sie doch weniger Mühe, oder?«
Maxon zuckte die Achseln. »Könnte man so sehen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht so empfinde.« Er sah irgendwie gekränkt aus. »Guten Abend, die Herren«, grüßte er die Wachen, die uns, ohne zu zögern, die Tür zum Garten öffneten. Ich erwog, Maxons Angebot, die Wachen zu informieren, doch anzunehmen. Die Vorstellung, dem Palast so einfach entkommen zu können, war verlockend.
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich, als er mich zu einer Bank führte – unserer Bank – und auf den Platz mit Blick zum Palast wies. Maxon setzte sich mir zugewandt auf die andere Seite.
Er schien zu zögern, doch dann holte er tief Luft und sagte: »Vielleicht war ich zu eingebildet, als ich mir dachte, ich sei es wert, dass man für mich ein Risiko eingeht. Nicht dass ich jemanden in Gefahr bringen wollte!«, fügte er rasch hinzu. »Das meine ich nicht. Sondern … ich weiß nicht. Können Sie alle nicht auch sehen, in welche Gefahr ich mich begebe?«
»Ähm – nein. Sie haben Ihre Eltern, die Sie beraten können, und wir alle leben nach Ihrem Terminplan. In Ihrem Leben ist alles wie vorher, aber unseres hat sich über Nacht komplett verändert. Wieso sollten Sie sich durch uns in Gefahr begeben?«
Maxon sah erschüttert aus.
»Natürlich habe ich meine Eltern an der Seite, America. Aber wissen Sie, wie peinlich es ist, wenn sie einen dabei beobachten, wie man versucht ein Mädchen zu finden? Und nicht nur die eigenen Eltern, sondern das ganze Land! Und das Ganze nicht mal auf normalem Weg.
Und Sie leben nach meinem Terminplan? Wenn ich nicht bei Ihnen allen bin, bin ich mit dem Militär, mit neuen Gesetzen und Haushaltsplänen beschäftigt, ganz auf mich allein gestellt, während mein Vater mich dabei beobachtet, wie ich Fehler mache, weil ich nicht über seine Erfahrung verfüge. Und mich dann verbessert. Bei alldem habe ich die ganze Zeit nichts anderes als Sie – also alle Erwählten, meine ich – im Kopf. Sie sind alle so überwältigend und zugleich beängstigend für mich!«
Er gestikulierte aufgeregt herum, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte – fuchtelte mit den Händen und strich sich durch die Haare.
»Und Sie glauben, mein Leben hätte sich nicht verändert? Glauben Sie denn, ich habe eine Chance, unter diesen Mädchen eine Seelenverwandte zu finden? Ich kann froh sein, wenn ich eine Frau finde, die mich den Rest ihres Lebens ertragen kann. Und womöglich habe ich sie schon nach Hause geschickt, weil ich mich auf meine Intuition verlassen habe und dass es schon funkt, wenn ich ihr gegenüberstehe. Gespürt habe ich zwar noch nichts, aber was, wenn meine Erwählte mich dann beim ersten Anzeichen von Problemen verlässt? Oder wenn ich überhaupt niemanden finde? Was dann, America?«
Maxon klang aufgebracht, aber auch ehrlich verzweifelt. Er wollte wirklich wissen, was er tun sollte, wenn er unter diesen Mädchen keines finden würde, das er lieben konnte. Noch größere Sorgen machte ihm offenbar die Befürchtung, selbst nicht liebenswert zu sein.
»Also, ich glaube, dass Sie Ihre Seelenverwandte in dieser Gruppe finden werden, Maxon. Ganz ehrlich.«
»Wirklich?« Der Prinz klang hoffnungsvoll.
»Ganz bestimmt.« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, und allein diese Berührung schien ihn zu trösten. Ich fragte mich, wie oft er überhaupt von jemandem berührt wurde. »Wenn Ihr Leben wirklich so durcheinander ist, wie Sie sagen, dann muss Ihre Liebste hier irgendwo auf Sie warten. Meiner Erfahrung nach findet wahre Liebe immer unter ungewöhnlichen Umständen statt.« Ich lächelte matt.
Das schien ihn zu beruhigen, und auch mich selbst trösteten meine Worte. Weil ich an sie glaubte. Und wenn ich diese Liebe selbst schon nicht haben konnte, so konnte ich doch zumindest Maxon auf den Weg zu ihr führen.
»Ich hoffe, dass Marlee und Sie zusammenfinden. Sie ist unglaublich lieb«, sagte ich.
Maxons Blick war seltsam. »Scheint so.«
»Wie? Ist lieb nicht gut?«
»Doch, doch.«
Er äußerte sich nicht weiter dazu.
»Wonach halten Sie Ausschau?«, fragte er plötzlich.
»Wie?«
»Ihr Blick ist ganz unruhig. Ich merke, dass Sie mir zuhören, aber Sie scheinen nach irgendetwas zu suchen.«
Ich merkte, dass er recht hatte. Meine Augen suchten den Garten, die Fenster, sogar die Mauern ab. Ich fühlte mich verfolgt.
»Menschen?… Kameras?…« Ich schüttelte den Kopf und starrte in die Dunkelheit.
»Wir sind alleine, bis auf den Wachposten dort.« Maxon deutete auf den einsamen Mann neben der Tür. Tatsächlich konnte ich niemanden entdecken, und auch in den erleuchteten Fenstern war kein Mensch zu sehen. Das hatte ich zwar selbst schon festgestellt, aber die Bestätigung war beruhigend.
Ich merkte, wie ich mich ein wenig entspannte.
»Sie mögen es nicht, beobachtet zu werden, wie?«, fragte Maxon.
»Nein, ich bleibe gern im Schatten. Ich kenne es nicht anders, wissen Sie.« Ich wich seinem Blick aus und zog mit dem Finger die Muster in der Steinbank nach.
»Daran müssen Sie sich ab jetzt gewöhnen. Wenn Sie von hier weggehen, werden Sie für den Rest Ihres Lebens im Licht der Öffentlichkeit stehen. Meine Mutter spricht immer noch von einigen Frauen, die damals mit ihr das Casting durchlaufen haben. Die werden heutzutage alle als bedeutende Persönlichkeiten betrachtet. Immer noch.«
»Na toll!«, stöhnte ich. »Ich kann ihn kaum erwarten, den Rest meines Lebens.«
Maxons Miene war entschuldigend, aber ich musste den Blick abwenden. Weil mir erneut bewusst wurde, was dieser dumme Wettbewerb für mich bedeutete und dass ich nie wieder ein normales Leben führen würde. Das war einfach nicht gerecht?…
Doch dann rief ich mich zur Ordnung. Ich sollte meinen Ärger nicht an Maxon auslassen. Er war im Grunde ebenso ein Opfer dieser Umstände wie wir Erwählten, nur unter ganz anderen Vorzeichen. Ich seufzte und sah ihn wieder an. Er sah jetzt entschlossen aus, als habe er gerade eine Entscheidung getroffen.
»Dürfte ich Sie etwas Persönliches fragen, America?«
»Vielleicht«, sagte ich ausweichend.
Er lächelte freudlos.
»Es ist nur … nun ja, ich merke, dass Sie sich hier überhaupt nicht wohlfühlen. Sie mögen die Regeln nicht und die Öffentlichkeit und die Kleidung und … nein, das Essen mögen Sie.« Wir lächelten beide. »Sie vermissen schmerzlich Ihr Zuhause und Ihre Familie … und wohl auch noch andere Menschen. Ihre Gefühle sind absolut greifbar.«
»Ja.« Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß.«
»Aber Sie sind bereit dazu, hierzubleiben und todtraurig zu sein und Ihr Heimweh auszuhalten, anstatt zurückzufahren. Warum?«
Ich spürte einen Kloß im Hals und schluckte ihn hinunter.
»Ich bin nicht todtraurig. Und Sie wissen auch, weshalb.«
»Nun gut, manchmal scheint es Ihnen ein wenig besser zu gehen«, räumte er ein. »Ich sehe Sie lächeln, wenn Sie mit einigen der Mädchen sprechen, und bei den Mahlzeiten wirken Sie sehr zufrieden. Dennoch sehen Sie oft sehr traurig aus. Würden Sie mir erzählen, warum? Die ganze Geschichte?«
»Es ist einfach nur eine von vielen gescheiterten Liebesgeschichten«, erwiderte ich. »Nichts Besonderes, glauben Sie mir.« Bitte nicht drängen, ich möchte nicht weinen.
»Ob sie mir nun gefällt oder nicht – ich möchte zu gern eine andere Liebesgeschichte außer der meiner Eltern hören. Eine, die außerhalb dieser Mauern und Regeln und Vorgaben stattgefunden hat?… Bitte?«
Ich hatte dieses Geheimnis so lange mit mir herumgetragen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, es nun in Worte zu fassen. Und es tat so weh, an Aspen zu denken. Konnte ich seinen Namen überhaupt aussprechen? Ich holte tief Luft. Maxon war doch jetzt mein Freund. Er bemühte sich so sehr, nett zu mir zu sein. Und er hatte sich mir ja auch offenbart?…
»In der Welt dort draußen«, begann ich und deutete über die Mauern hinweg, »sorgen die Kasten bis zu einem gewissen Grad füreinander. Es gibt zum Beispiel drei Familien, die meinem Vater pro Jahr mindestens ein Gemälde abkaufen, und ich habe Familien, die mich immer beauftragen, an Weihnachten für sie zu singen. Das sind unsere Mäzene, die uns unterstützen.
Nun, und wir selbst unterstützen eine Sechser-Familie. Wenn gerade etwas Geld für eine Putzhilfe übrig war oder wenn wir Hilfe bei irgendwelcher Büroarbeit brauchten, holten wir immer seine Mutter. Ich kannte ihn schon seit meiner Kindheit, aber er war älter als ich, eher wie mein älterer Bruder. Die beiden spielten immer ziemlich wild, deshalb hielt ich mich von ihnen fern.
Mein älterer Bruder Kota ist Künstler wie mein Vater. Vor einigen Jahren wurde eine Metallskulptur, an der er Jahre gearbeitet hatte, für sehr viel Geld verkauft. Vielleicht haben Sie damals von ihm gehört.«
»Kota Singer«, murmelte Maxon. Er überlegte, und dann sah ich, dass die Erinnerung einsetzte.
Ich warf die Haare über die Schultern und nahm meinen Mut zusammen.
»Wir haben uns riesig gefreut für Kota«, fuhr ich fort. »Er hatte wirklich schwer gearbeitet für dieses Kunstwerk. Und wir brauchten das Geld damals so bitter nötig, dass alle hell begeistert waren. Aber Kota behielt fast die ganze Summe für sich. Diese eine Skulptur machte ihn mit einem Schlag berühmt; von da an bekam er täglich Anrufe und Aufträge. Er hat inzwischen eine ewig lange Warteliste und verlangt horrende Summen für seine Arbeiten. Er kann es sich erlauben. Ich glaube, er ist ziemlich süchtig nach Ruhm. Fünfer haben selten solchen Erfolg.«
Unsere Blicke begegneten sich, und ich musste wiederum daran denken, dass ich ab jetzt immer im Licht der Öffentlichkeit stehen würde, ob ich nun wollte oder nicht.
»Jedenfalls beschloss Kota, sich von der Familie zu lösen, nachdem er berühmt geworden war. Meine ältere Schwester hatte gerade geheiratet, sodass uns bereits ihr Einkommen verloren gegangen war. Und dann verdient Kota wirklich gut und verlässt uns einfach.« Ich schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »So was macht man einfach nicht. Man verlässt seine Familie nicht. Man kann nur überleben, wenn man zusammenhält.«
Maxon schaute mich verständnisvoll an. »Er hat alles für sich behalten, weil er sich den Weg nach oben erkaufen wollte?«
Ich nickte. »Er wollte unbedingt Zweier werden. Wäre er mit einem Status als Drei oder Vier zufrieden, hätte er sich diesen Titel kaufen und uns überdies helfen können. Aber er ist wie besessen von diesem dummen Plan. Er kann sich ein gutes Leben leisten, aber er will unter allen Umständen diesen verdammten Status erreichen. Und er wird auch nicht innehalten, bevor er es geschafft hat.«
Nun schüttelte Maxon den Kopf. »Das kann ein ganzes Leben dauern.«
»Ich glaube, das ist ihm egal – solange dann auf seinem Grabstein steht, dass er ein Zweier war.«
»Ich vermute, Sie beide stehen sich nicht mehr nahe?«
Ich seufzte. »Nein, inzwischen nicht mehr. Aber zu Anfang dachte ich, dass ich einfach nur etwas falsch verstanden hätte. Ich dachte, Kota wäre ausgezogen, um unabhängig zu sein, nicht um uns zu verlassen. Damals war ich sogar noch auf seiner Seite. Als er sich sein Atelier und seine Wohnung einrichtete, habe ich ihm geholfen. Als Verstärkung rief Kota außerdem diese Sechser-Familie an, die auch für uns arbeitete. Der älteste Sohn hatte Zeit und kam ein paar Tage zum Helfen.«
Ich hielt inne, sah die Szene vor meinem inneren Auge.
»Ich packte gerade die Kisten aus … als er auftauchte. Unsere Blicke begegneten sich, und er wirkte gar nicht mehr so viel älter oder wilder auf mich. Wir hatten uns lange nicht gesehen – und wir waren jetzt keine Kinder mehr.
Den ganzen Tag lang berührten wir uns versehentlich beim Arbeiten. Er schaute mich an und lächelte, und ich fühlte mich, als sei ich zum ersten Mal richtig lebendig. Ich … ich war auf Anhieb verrückt nach ihm.«
Jetzt brach meine Stimme, und ein paar von den Tränen, die sich in mir angestaut hatten, fanden ihren Weg nach draußen.
»Wir wohnten nicht weit entfernt voneinander, und ich ging tagsüber oft spazieren, weil ich hoffte, ihn vielleicht zu treffen. Wenn seine Mutter zum Arbeiten zu uns kam, begleitete er sie manchmal. Dann schauten wir uns an – mehr war nicht möglich.« Ein kleines Schluchzen entwich meiner Kehle. »Er ist eine Sechs, ich eine Fünf, und es gibt Gesetze … und meine Mutter! Sie wäre so böse gewesen. Niemand durfte es erfahren, dass wir uns ineinander verliebt hatten.«
Meine Hände zuckten, als sich die Anspannung der langen Heimlichtuerei zu lösen begann.
»Dann fand ich kleine anonyme Zettel, die an mein Fenster geklebt waren. Darauf stand, dass ich wunderschön sei oder dass ich singen könne wie ein Engel. Ich wusste, dass sie von ihm stammten.
Am Abend meines fünfzehnten Geburtstags gab meine Mutter ein Fest für mich. Dazu lud sie auch seine Familie ein. Er nahm mich beiseite, gab mir eine Glückwunschkarte und sagte, ich solle sie erst lesen, wenn ich alleine sei. Als ich sie schließlich anschaute, standen weder sein Name noch Glückwünsche darin. Sondern nur ›Baumhaus. Mitternacht.‹«
Maxons Augen weiteten sich. »Mitternacht? Aber –«
»Ich habe regelmäßig gegen die Sperrstunde verstoßen.«
»Sie hätten im Gefängnis landen können, America«, sagte Maxon entsetzt.
Ich zuckte die Achseln. »Das war mir damals einerlei. Ich hatte das Gefühl, ich könne fliegen. Ich kannte seine Handschrift ja von all diesen Zetteln und war froh, dass es ihm gelungen war, alles geheim zu halten. Und nun hatte er sogar eine Möglichkeit für uns gefunden, miteinander alleine zu sein. Ich konnte gar nicht fassen, dass er wirklich mit mir alleine sein wollte.
An diesem Abend beobachtete ich das Baumhaus in unserem Garten von meinem Zimmer aus. Kurz vor Mitternacht sah ich jemanden die Leiter hinaufsteigen. Ich weiß noch, dass ich mir wahrhaftig noch mal die Zähne putzen ging, für alle Fälle. Dann schlich ich zur Hintertür raus und kletterte die Leiter hoch. Und da war er. Es war … kaum zu glauben.
Ich weiß nicht mehr, was wir als Erstes machten, aber es dauerte nicht lange, bis wir uns unsere Gefühle offenbarten. Und wir konnten gar nicht mehr aufhören zu lachen, weil wir so froh waren, dass wir beide gleich empfanden. In dieser Situation war es mir wirklich egal, ob ich gegen die Sperrstunde verstieß oder meine Eltern anlog. Und es war mir auch einerlei, dass ich eine Fünf war und er eine Sechs. Ich machte mir keine Sorgen um die Zukunft. Denn nichts konnte so wichtig sein wie die Tatsache, dass er mich liebte?… Und das tat er, Maxon, das tat er?…«
Wieder kamen mir die Tränen, und ich griff mir ans Herz, weil ich Aspen so sehr vermisste. Über ihn zu sprechen riss die alten Wunden wieder auf. Ich musste die Geschichte so schnell wie möglich zu Ende bringen.
»Zwei Jahre lang trafen wir uns heimlich. Aber so glücklich wir auch waren – er machte sich immer Sorgen wegen der Heimlichkeiten und weil er meinte, er könne mir nicht geben, was ich verdient hätte. Als wir die Mitteilung über das Casting bekamen, bestand er darauf, dass ich mich anmeldete.«
Maxon blieb der Mund offen stehen.
»Ich weiß. Es war so dumm. Aber es hätte ihn niemals losgelassen, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte. Und wirklich, ganz ehrlich, ich hätte niemals geglaubt, dass ich zu den Erwählten gehören würde. Wieso auch?«
Ich hob die Hände und ließ sie wieder sinken. Es verwunderte mich immer noch, dass ich nun hier saß.
»Von seiner Mutter habe ich dann gehört, dass er Geld sparte, um irgendein mysteriöses Mädchen zu heiraten. Ich war so aufgeregt. Daraufhin habe ich ein kleines Überraschungsessen für ihn gekocht, weil ich dachte, ich könne ihn damit verführen, mir endlich den Heiratsantrag zu machen, auf den ich so wartete.
Aber als er sah, wie viel Geld ich für das Essen ausgegeben hatte, regte er sich furchtbar auf. Er ist sehr stolz. Er wolle mich verwöhnen, sagte er; es sollte nicht umgekehrt sein. Ich glaube, in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass das niemals möglich sein würde. Deshalb hat er sich dann noch am selben Abend von mir getrennt.
Und in der Woche darauf erschien mein Name im Fernsehen?…«
Maxon flüsterte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Das letzte Mal habe ich ihn bei meiner Verabschiedung gesehen«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme. »Da war er mit einem anderen Mädchen zusammen.«
»WAS?!«, schrie Maxon.
Ich schlug die Hände vors Gesicht. Dann sprach ich stockend weiter. »Es macht mich wahnsinnig, weil ich weiß, dass immer irgendwelche anderen Mädchen hinter ihm her waren. Und dass er jetzt keinen Grund mehr hat, sie abzuweisen. Vielleicht ist er sogar mit diesem Mädchen von meiner Verabschiedung zusammen. Ich kann jedenfalls nichts daran ändern. Aber wenn ich mir vorstelle, ich wäre zu Hause und müsste das mitansehen … das … das kann ich einfach nicht, Maxon?…«
Ich weinte hemmungslos, und Maxon drängte mich nicht, damit aufzuhören. Als ich mich beruhigt hatte, sagte ich: »Ich hoffe aufrichtig, dass Sie eine Frau finden werden, ohne die Sie nicht leben wollen, Maxon. Und ich hoffe auch, dass Sie das niemals ausprobieren müssen.«
Auf Maxons Gesicht zeichnete sich mein eigener Schmerz ab. Er litt mit mir. Und er sah überdies wütend aus.
»Es tut mir leid, America. Ich?…« Er schluckte. »Ist es ein guter Moment, um Ihnen die Schulter zu tätscheln?«
Ich lächelte. »Ja. Jetzt wäre ein prima Moment.«
Er wirkte ein bisschen zögerlich, doch dann beugte Maxon sich vor und nahm mich behutsam in die Arme, anstatt nur meine Schulter zu berühren.
»Ich umarme sonst nur meine Mutter«, sagte er. »Mache ich das richtig?«
Ich lachte. »Bei einer Umarmung kann man nicht viel falsch machen.«
Wir schwiegen einen Moment. Dann sagte ich: »Aber ich kenne das. Ich umarme sonst auch niemanden außer meinen Eltern und meinen Geschwistern.«
Ich war völlig erschöpft nach dem langen Tag mit der aufwendigen Vorbereitung, der Sendung, dem Essen und den vielen Gesprächen. Es fühlte sich gut an, einfach im Arm gehalten zu werden. Manchmal strich Maxon mir leicht übers Haar. Er wirkte jetzt nicht mehr so unsicher und wartete geduldig, bis ich ruhiger wurde. Dann löste er sich vorsichtig von mir und sah mich an.
»America, ich verspreche Ihnen, Sie bis zum letztmöglichen Moment hierzubehalten. Ich soll wohl am Ende drei Frauen in die engere Wahl nehmen und dann eine von ihnen auswählen. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich die Anzahl auf zwei reduzieren und Sie bis dahin hier behalten werde. Sie müssen nicht abreisen, bevor es unumgänglich ist. Oder bevor Sie bereit dazu sind. Je nachdem, was zuerst geschieht.«
Ich nickte.
»Wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber ich finde Sie großartig«, sprach er weiter. »Und es schmerzt mich, dass Sie leiden. Wenn er hier wäre, würde ich?…« Er machte ein verbissenes Gesicht, dann seufzte er. »Es tut mir so leid, America.«
Er nahm mich erneut in seine Arme, und ich lehnte den Kopf an seine starke Schulter. Ich wusste, dass Maxon sein Versprechen halten würde. Und ich entspannte mich an diesem Ort, der vielleicht der letzte sein würde, an dem ich wahren Trost finden konnte.