gespannt und kalt. Pat lauschte. Hörte er die Geräusche

aus der Stube? Das Quietschen der Schaukelstühle, das

angestrengte Atmen alter Leute? Irgendwo im Haus

krachte es. Pat fuhr zusammen, obgleich er Geräusche

erwartet hatte. Sein Kopf und seine Beine wurden feucht

von kaltem Schweiß. Geräuschlos und elend schlich er

aus dem Bett und an die Stubentür und drehte den

Schlüssel. Dann kroch er wieder ins Bett und lag zitternd

unter den Decken. Die Nacht war totenstill geworden. Pat

fühlte sich entsetzlich einsam.

Am anderen Morgen erwachte er mit dem kalten Ge-

fühl, daß es gewisse Pflichten zu erfüllen gab. Er versuch-

te sich zu erinnern. Was war es denn? Natürlich. Es war

die Bibel, die nicht richtig auf dem Tisch lag. Das sollte in

Ordnung gebracht werden. Und die Vase mit den Im-

mortellen, auch die sollte aufgestellt und hernach das

ganze Haus gereinigt werden. Pat wußte, daß das alles ge-

tan werden müßte. Aber er sträubte sich dagegen, die ver-

schlossene Tür zu öffnen. Er schauderte, wenn er daran

dachte, was er sehen würde, sobald er sie aufschloß – die

beiden Schaukelstühle, zu beiden Seiten des Ofens einen;

die Kissen auf den Stühlen und darin die Eindrücke von

den Körpern seiner toten Eltern. Pat kannte die Gerüche

der Salben, des Staubs, der verwelkten Blumen, die ihn

auf der anderen Seite der Tür erwarteten. Allein, die Sa-

che war seine Pflicht. Sie mußte getan werden.

Er machte Feuer und bereitete das Frühstück. Plötz-

206

lich, als er den Kaffee trank, fiel ihm eine Möglichkeit der

Rechtfertigung ein, die er früher nicht gekannt hatte. Die

ungewöhnlichen Gedanken, die ihn auf einmal bedräng-

ten, erstaunten ihn, weil sie dreist und sehr einfach wa-

ren.

»Wozu soll ich denn eigentlich hineingehen?« fragte er

sich. »Es ist ja gar niemand da, dem es etwas ausmachen

könnte, ob ich hineingehe oder nicht. Niemand wird es

wissen. Wenn ich nicht will, brauche ich gar nicht dort

hineinzugehen.« Er kam sich vor wie ein Junge, der die

Schule schwänzt, um in einem tiefen, kühlen Wald zu

bummeln. Allerdings, sogleich drang die klägliche Stim-

me der Mutter an seine Ohren. Sie war mit seiner Freiheit

nicht einverstanden. »Pat sollte endlich das Haus auf-

räumen. Pat kümmert sich um nichts.«

Pat wurde von der Freude der Auflehnung durch-

strömt. »Du bist ja tot!« sagte er zu der Stimme. »Du bist

nur etwas, was ich mir einbilde. Niemand kann mehr er-

warten, daß ich etwas tue, was ich nicht tun will. Nie-

mand wird wissen, ob ich es tue oder nicht. Daß du’s

weißt: Dort hinein gehe ich nicht; dort hinein gehe ich

nie mehr!«

Und solange sein Widerspruchsgeist noch wach war,

eilte er an die Tür, zog den Schlüssel aus dem Schloß und

schleuderte ihn in das hohe Unkraut hinter dem Haus.

Dann machte er an allen Fenstern mit Ausnahme der Kü-

chenfenster die Läden zu und vernagelte sie mit langen

Stiften.

Die Freude über seine neue Freiheit dauerte nicht lan-

ge. Tagsüber hielt ihn die Arbeit auf der Farm beschäftigt,

207

aber bevor der Tag zu Ende war, sehnte er sich nach den

vielen Pflichten und Aufgaben, die jeweils die Abend-

stunden verschlungen und die Zeit verkürzt hatten. Er

fürchtete sich, ins Haus zu gehen, und er fürchtete sich

vor den Schaukelstühlen mit den unordentlichen Kissen

und der verschobenen Bibel auf dem Tisch. Er hatte zwei

alte Gespenster eingeschlossen, aber ihre Macht, ihn zu

belästigen, hatte er nicht ausgetilgt.

An einem Abend, nachdem er das Nachtessen gekocht

hatte, saß er neben dem Herd. Wie ein wüster Nebel

überfiel ihn eine entsetzliche Einsamkeit. Wieder horchte

er auf die verstohlenen Geräusche in dem alten Haus, auf

das Flüstern und auf das leise Klopfen und Knarren. Er

horchte so angespannt, daß er nach einer Weile im ande-

ren Zimmer die Schaukelstühle hörte, und einmal meinte

er zu hören, wie jemand den Deckel von einem Salben-

topf schraubte. Pat hielt es nicht mehr länger aus. Er ging

hinaus in die Scheune, spannte ein Pferd ein und fuhr in

den Laden des »Tals des Himmels«. Drei Männer saßen

um den dickbauchigen Ofen herum und studierten ge-

dankenverloren seine eisernen Verzierungen. Sie machten

Platz, so daß Pat einen Stuhl näher schieben konnte. Kei-

ner der drei Männer sah ihn an, denn einen Mann in

Trauer behandelt man mit der gleichen Schonung wie ei-

nen Krüppel. Pat rutschte auf seinem Stuhl zurecht und

starrte den Ofen an: »Erinnert mich daran, daß ich noch

Mehl kaufe, bevor ich gehe«, sagte er.

Die Männer wußten wohl, was er damit meinte. Sie

wußten, daß er kein Mehl brauchte, aber jeder von ihnen

hätte unter ähnlichen Umständen einen ähnlichen Vor-

208

wand bereit gehabt. T. B. Allen öffnete die Ofentür und

spuckte in die Kohlen. »Anfänglich muß ein solches Haus

recht einsam sein«, bemerkte er. Pat war für die Bemer-

kung dankbar, obwohl sie einen gesellschaftlichen Lapsus

bedeutete.

»Ich wollte dann noch Tabak und ein paar Gewehrpa-

tronen haben, Mr. Allen«, sagte er, gleichsam als Ent-

schädigung für das erlösende Wort.

Von da an änderte Pat seine Lebensgewohnheiten. Ent-

schlossen suchte er die Gesellschaft anderer Männer.

Tagsüber arbeitete er auf dem Felde, aber abends konnte

man ihn überall dort finden, wo zwei oder mehr Leute

beisammen waren. Wenn ein Tanzabend oder eine Feier

im Schulhaus veranstaltet wurde, kam Pat als einer der

ersten und blieb, bis der letzte Mann nach Haus gegangen

war. Er saß im Hause von John Whiteside, wenn sich die

Nachbarn dort versammelten. An Wahltagen blieb er an

der Urne, bis sie geschlossen wurde. Wo immer eine

Gruppe von Leuten sich traf, war Pat mit dabei. Allmäh-

lich entwickelte er beinahe einen Instinkt, der ihm die

Entdeckung von allem und jedem, was Leute anziehen

mußte, ermöglichte.

Pat war ein einfacher Mann mit großer Nase und kräf-

tigem Kinn und schlenkerndem Gang. Seine Gestalt paßte

ebensowenig in Kleider hinein wie diejenige des jungen

Lincoln, dem er auffallend glich. Seine Nasenlöcher und

Ohren waren groß und haarig. Sie sahen aus, wie wenn

sich kleine pelzige Tierchen darin versteckt hätten. Pat

hatte nie etwas zu sagen; er wußte, daß er wenig zu den

Versammlungen beitrug, die er besuchte, und er versuch-

209

te, diesen Mangel durch allerlei Gefälligkeiten und kleine

Arbeiten wettzumachen. Am liebsten half er bei der Or-

ganisation von gesellschaftlichen Anlässen. Er ließ sich

gern in das Organisationskomitee für Tanzabende wäh-

len, denn dann konnte er die anderen Komiteemitglieder

aufsuchen und mit ihnen die Pläne besprechen; und er

konnte ganze Abende lang beim Schmücken des Schul-

hauses helfen oder im Tal umherfahren und bei der einen

Familie Stühle, bei der anderen Geschirr borgen. Wenn es

gelegentlich einmal an einem Abend nirgends eine Zu-

sammenkunft gab, die er hätte besuchen können, fuhr er

in seinem Fordlastwagen nach Salinas und sah sich hin-

tereinander zwei Filmvorführungen an. Nach jenen er-

sten zwei Nächten entsetzlicher Einsamkeit verbrachte er

nie mehr einen einzigen Abend in seinem verriegelten

Haus. Die Erinnerung an die Bibel, an die wartenden

Stühle und die jahrealten Gerüche erschreckten ihn.

Zehn Jahre lang fuhr Pat Humbert im Tal umher auf

der Suche nach Gesellschaft. Er ließ sich in die Schulpfle-

ge wählen; er schrieb sich bei den Freimaurern und bei

den Old Fellows von Salinas ein, und niemand erinnerte

sich, daß er je einmal an einer Zusammenkunft gefehlt

hätte.

Trotzdem er sich nach Gesellschaft sehnte, wurde Pat

nie ein Teil einer Gruppe, der er sich anschloß. Er war

einfach dabei; er hängte sich an und sagte nichts, wenn er

nicht gefragt wurde. Die Leute des Tales hielten seine

Anwesenheit für unvermeidlich. Sie nützten ihn schamlos

aus und wußten kaum, wieviel Freude sie ihm damit be-

reiteten.

210

Wenn die Zusammenkünfte vorüber waren, wenn Pat

schließlich nichts anderes mehr übrigblieb, als nach Hau-

se zu gehen, fuhr er in den Hof, stellte seinen Ford in die

Scheune und ging dann rasch ins Bett. Er bemühte sich

mit wenig Erfolg, die entsetzlichen Räume auf der ande-

ren Seite der Tür zu vergessen. Oft streifte ihr Bild seine

Gedanken. In allen Ecken und auf allen Möbeln mußten

dicker Staub und häßliche Spinnweben liegen. Wenn das

Bild ihn überfiel und seine Verteidigung durchbrach, be-

vor er eingeschlafen war, zitterte Pat in seinem Bett in der

Küche und wandte sämtliche Kniffe und Mittel an, die er

kannte, um sich einzuschläfern.

Weil Pat das Haus so sehr haßte, ließ er es verkommen.

Das alte Gebäude lag vernachlässigt und vermodernd da.

Eine weiße Banksiarose, die jahrelang nur ein kleiner, ver-

kümmerter Busch gewesen war, erwachte plötzlich zu

neuem Leben und kletterte über die Vorderfront des Hau-

ses hinauf. Sie überwucherte die Veranda und hängte Gir-

landen über die verrammelten Fenster und lange Zweige

von den Dachrinnen herunter. Im Laufe der zehn Jahre

war das Haus zu einem riesigen Rosenhügel geworden.

Leute, die auf der Oberlandstraße vorbeifuhren, hielten

an, um die Pracht dieser Banksia zu bestaunen. Pat wußte

kaum, daß er eine solche Pflanze hatte. Sie wuchs an sei-

nem Haus hinauf, und wenn er die nötige Energie auf-

brachte, dachte er nicht an sein Haus.

Die Humbert-Farm war eine gute Farm. Pat trug um

das Land Sorge; er hegte und pflegte es und löste Geld

daraus, und weil seine Auslagen gering waren, konnte er

nach und nach mehrere tausend Dollar auf die Bank tra-

211

gen. Er liebte die Farm um ihretwillen, aber er liebte sie auch, weil sie ihn tagsüber vor seinen Ängsten bewahrte.

Wenn er arbeitete, konnte ihm das Entsetzen vor der

lähmenden Einsamkeit und Verlorenheit nichts antun.

Sein Hauptinteresse galt den Beeren. Die langen Reihen

aufgebundener Ranken standen die Landstraße entlang.

Jahr für Jahr konnte Pat früher als irgend jemand im Tale

seine Beeren auf den Markt bringen.

Pat war vierzig Jahre alt, als die Familie Munroe in das

Tal zog. Er hieß sie als Nachbarn willkommen. Für ihn

bedeutete der Einzug der neuen Nachbarn in die Battle-

Farm ein Haus mehr, wo er einen Abend verbringen

konnte. Und da Bert Munroe ein freundlicher und leutse-

liger Mann war, hatte er Freude, wenn Pat vorbeikam. Pat

war ein guter Bauer. Bert fragte ihn oft um Rat. Pat sah –

und vergaß auch sogleich wieder –, daß Mae Munroe ein

hübsches Mädchen war; besondere Beachtung schenkte er

ihr nicht. Er dachte überhaupt selten an Leute als Indivi-

duen; meist dachte er an sie als eine Art Gegengift gegen

seine Einsamkeit, als Ausweg und Zuflucht vor den einge-

schlossenen Gespenstern.

Eines Nachmittags, als der Sommer nahte, arbeitete Pat

an seinen Beeten. Er kauerte zwischen den Stauden und

lockerte mit einer Hacke die Erde um die Wurzeln herum.

Die Beeren hatten kräftig angesetzt und wuchsen rasch,

und die Blätter waren blaßgrün und zart. Pat arbeitete

gemächlich und zufrieden. Die Arbeit machte ihm Freude,

und vor dem Abend fürchtete er sich nicht, denn er war

zu den Monroes zum Nachtessen eingeladen. Langsam

drang er zwischen den Beerenreihen vor. Dann hörte er

212

auf der Straße Stimmen, und er erkannte sie. Obwohl er

hinter den Stauden versteckt war, wußte er, daß Mrs.

Munroe und ihre Tochter Mae an seinem Hause vorbei-

spazierten. Plötzlich hörte er Mae entzückt ausrufen:

»Mama, schau!« Pat unterbrach seine Arbeit, um bes-

ser hinzuhören. »Schau, diese Rose! Ist sie nicht wunder-

schön?«

»Ja, die ist hübsch«, sagte Mrs. Munroe.

»Weißt du, woran sie mich erinnert?« fuhr Mae weiter.

»An die Postkarte mit dem allerliebsten Haus im Ver-

mont. Onkel Keller hat sie geschickt, du weißt doch. Dies

Haus hier mit den vielen Rosenblüten sieht genau wie das

Haus auf der Karte aus. Oh, das möchte ich einmal in-

wendig sehen!«

»Da wirst du wohl lange warten müssen. Mrs. Allen hat

gesagt, daß niemand im Tal das Haus betreten hat, seit

Pats Vater und Mutter gestorben sind, und das ist jetzt

zehn Jahre her. Sie hat nicht gesagt, wie das Innere aus-

sieht.«

»Aber mit einer solchen Rose an der Außenseite muß

das Haus auch innen sehr hübsch sein. Glaubst du, Mr.

Humbert würde es mir einmal zeigen?« Dann waren die

Frauen außer Hörweite.

Als sie gegangen waren, richtete sich Pat auf und sah

seine Rose an. Er hatte noch gar nie bemerkt, wie schön

sie war – wie ein riesiger Heuhaufen aus grünen Blättern

mit tausend weißen Rosen. »Es ist hübsch«, sagte er leise.

»Es ist wie ein hübsches Haus in Vermont. Es ist wie ein

Vermonter Haus, und … ja, hübsch ist es, das ist wahr.«

Dann, als ob er durch die Rose und durch die Mauern

213

hindurch gesehen hätte, tauchte das Bild des Salons vor

ihm auf. Er machte sich wieder an die Arbeit zwischen

den Beerenstauden, um so rasch als möglich die Gedan-

ken an sein Haus zu vergessen. Aber Maes Worte hallten

in seinem Kopf wider: »… muß das Haus auch innen

hübsch sein …« Pat versuchte sich vorzustellen, wie das

Innere eines Vermonter Hauses aussah. Er kannte John

Whitesides Haus, das solid und prächtig war; und wie alle

anderen Leute des Tales hatte er die komfortable Innen-

einrichtung von Bert Monroes Haus bewundert. Aber ein

hübsches Haus, eins, das man wirklich hübsch nennen

konnte, hatte er noch nie gesehen. Keines von all den

Häusern, die er kannte, war so, wie Mae es sich vorgestellt

haben mochte. Er erinnerte sich an eine Illustration in ei-

ner Zeitschrift; ein Zimmer, eine Art Halle oder so etwas,

mit weißem Holzwerk, poliertem Boden und einer brei-

ten Treppe; es könnte Mount Vernon gewesen sein. Jenes

Bild hatte ihn stark beeindruckt. Vielleicht hatte Mae

Munroe so etwas gemeint?

Er wollte, er könnte die Postkarte mit dem Vermonter

Haus sehen; aber natürlich, wenn er fragte, ob er sie se-

hen dürfe, merkten sie ja, daß er zugehört hatte. Mehr

und mehr überkam Pat ein heftiges Verlangen, ein hüb-

sches Haus zu sehen, das dem seinen ähnlich sah. Er legte

die Hacke nieder und stellte sich vor sein Haus. Wahrhaf-

tig, die Banksiarose war prächtig. Sie hing wie ein Balda-

chin über die Veranda und ließ Wolken von weißen Ster-

nen über die verrammelten Fenster herunterhängen. Auf

einmal wunderte sich Pat, wie es möglich war, daß er sie

vorher gar nicht gesehen hatte.

214

An jenem Abend tat er etwas, daran zu denken er vor-

her gar nicht imstande gewesen wäre. Er wollte zu Bert

Munroe, und unter der Tür entschloß er sich, umzukeh-

ren und auf einen geselligen Abend zu verzichten. »Ich

muß ein Geschäft in Salinas besorgen«, erklärte er. »Ich

riskiere, Geld zu verlieren, wenn ich nicht unverzüglich

hinfahre.«

In Salinas ging er schnurstracks in die Volksbibliothek.

»Haben Sie ein Buch mit hübschen Vermonter Häu-

sern?«, fragte er die Bibliothekarin.

»Bücher nicht; aber wahrscheinlich finden Sie einige in

den illustrierten Zeitschriften. Kommen Sie! Ich zeige Ih-

nen, wo Sie suchen müssen.«

Als es Zeit wurde, um die Bibliothek zu schließen,

mußten sie ihn mahnen, so vertieft war Pat. Er hatte

mancherlei Bilder von Interieurs gefunden, aber so hatte

er sie sich im Leben nie vorgestellt. Die Zimmer waren

nach bestimmten Plänen eingerichtet; jedes Ornament,

jedes einzelne Möbelstück, sogar die Böden und Wände,

alles paßte zusammen und war ein Teil eines Planes. Beim

Anblick der Bilder hatte sich in Pat ein seltsam tiefer Sinn

für Anordnungen, für Formen und Farben geregt. Er

verstand diese Bilder; er hatte nur nicht gewußt, daß man

Zimmer so einrichten konnte, so als einheitliches Ganzes.

Die Zimmer, die er bis dahin gesehen hatte, waren Er-

gebnisse einer zufälligen, wahllosen Anhäufung von Ge-

genständen gewesen. Tante Sophie schickte eine Vase;

Vater kaufte einen Stuhl. Man baute einen Ofen in den

offenen Kamin, weil er das Zimmer besser heizte. Die

Sperry Flour Company gab einen großen Wandkalender

215

heraus, und Mutter ließ ein Bild einrahmen. Irgendein

Versandhaus schickte den Prospekt einer neuen Art Lam-

pe. Man kaufte die Lampe. So wurden die Zimmer einge-

richtet. Aber nach den Bildern, die Pat mit fiebrigen Au-

gen betrachtete, hatte jemand eine Idee gehabt, und alles

in diesen Zimmern war ein Teil dieser Idee. Kurz bevor

die Bibliothek geschlossen wurde, stieß Pat auf zwei Bil-

der. Das eine zeigte ein Zimmer, wie er es kannte, und

nebenan war dasselbe Zimmer, mit einer Idee darin. Das

herkömmliche Durcheinander war ausgeräumt; es war

statt dessen planmäßig eingerichtet, und es sah aus wie

ein gänzlich neues Zimmer. Man erkannte es kaum wie-

der. Zum erstenmal in seinem Leben hatte es Pat eilig,

nach Hause zu kommen. Er wollte im Bett liegen und

überlegen, denn eine seltsame, ganz neue Idee begann

sich langsam in sein Bewußtsein vorzudrängen.

Von Schlaf war in jener Nacht keine Spur. Pats Kopf

war voll von Plänen. Einmal stand er auf und zündete die

Lampe an, um einen Blick in sein Sparheft zu werfen.

Kurz vor Tagesanbruch kleidete er sich an und bereitete

sein Frühstück, und während er aß, wanderten seine Au-

gen unablässig zu der verschlossenen Tür hinüber. In sei-

nen Augen strahlte eine schelmische Freude.

»Es wird dunkel sein dort drin«, sagte er halblaut. »Ich

muß die Läden aufbrechen, bevor ich hineingehe.«

Als endlich das Tageslicht kam, nahm er ein Stemmei-

sen und ging um das Haus herum und sprengte die ver-

nagelten Läden auf. Die Salonfenster rührte er vorder-

hand nicht an, denn er wollte der Rose nicht weh tun.

Schließlich ging er in die Küche zurück und blieb vor der

216

verschlossenen Tür stehen. Sekundenlang erschien vor

ihm das alte Bild und hielt ihn zurück. »Aber es wird nur

ein paar Sekunden dauern«, redete er sich zu. »Ich werde

hineingehen und sogleich alles herausreißen.« Das

Stemmeisen krachte im Schloß. Die Tür sprang weit auf

und kreischte jämmerlich in den rostigen Angeln, und ein

furchtbarer Anblick lag vor ihm. Ein dichter Schleier von

Spinnweben lag wie ein Nebel über dem Zimmer; ein muf-

figer, grauer Gestank strömte heraus. Dort standen die

Schaukelstühle neben dem rostigen Ofen. Selbst unter dem

dicken Staubbelag waren die kleinen Vertiefungen in den

Kissen noch sichtbar. Aber das war nicht das Schlimmste.

Pat wußte, wo der Mittelpunkt seiner Ängste lag. Rasch

schritt er durch das Zimmer und wischte sich die Spinn-

weben aus den Augen. Der Salon war dunkel, denn die Lä-

den waren noch zu. Aber Pat mußte nicht nach dem Mar-

mortisch tasten; er wußte genau, wo er stand. Hatte ihn

nicht dieser Tisch zehn Jahre lang gepeinigt? Er hob Bibel

und Tisch miteinander auf, rannte durch die Küche hinaus

und warf beides in den Hof.

Das Schlimmste war vorüber. Jetzt konnte er gemächli-

cher vorgehen. Mit dem Tisch war die Angst aus dem

Haus entfernt. Die Fenster waren festgeklemmt, und Pat

mußte das Stemmeisen anwenden, um sie aufzuzwängen.

Zuerst flogen die Schaukelstühle hinaus; sie hüpften und

tanzten, als sie auf den Boden aufschlugen; dann folgten

die Bilder, der Kaminschmuck, die Vorhänge, die Matten,

die ausgestopften Vögel und die Vasen. Als alles kunter-

bunt vor den Fenstern auf einem häßlichen Haufen lag,

riß Pat den Teppich vom Fußboden und zerrte ihn auch

217

durchs Fenster. Schließlich schleppte er Eimer voll Was-

ser herein und spritzte Wände und Decken gründlich ab.

Zuletzt warf er die Stühle hinaus. Übermütig schlug er

ihnen die Beine aus. Die Arbeit erfüllte ihn mit einem Ge-

fühl intensivster Freude. Während das Wasser in die alte,

dunkle Tapete eindrang, warf er draußen im Hof sämtli-

che Möbel auf einen Haufen und zündete sie an. Altes,

muffiges Stoffzeug und lackiertes Holz glimmten trotzig

und verbreiteten einen faulen Gestank von Staub und

Feuchtigkeit. Erst als Pat einen Kessel voll Petroleum dar-

überschüttete, loderten die Flammen auf. Der Tisch und

die Stühle krachten, als ihre Geister in den Flammen er-

löst wurden. Mit grimmiger Genugtuung schaute Pat zu.

»Ihr mußtet ja all die Jahre hindurch dort drin sitzen,

nicht wahr?« rief er. »Ihr dachtet, ich werde nie den Mut

aufbringen, euch anzuzünden. Da seht ihr! Ich wollte nur,

ihr könntet dasein und sehen, was ich jetzt tun werde, ihr

faules, stinkendes Gerümpel!« Der grüne Teppich ver-

brannte und hinterließ eine rote, flockige Asche. Alte Va-

sen und Krüge barsten in der Hitze. Pat hörte das Zischen

von Mentholöl und Medizinen, die sich aus den bersten-

den Töpfen und Flaschen in das Feuer ergossen. Er kam

sich vor wie einer, der sich am Tode seines Erzfeindes

weidet. Erst als der ganze Haufen zu Asche verbrannt war,

ging er wieder ins Haus. Inzwischen war die Tapete genü-

gend durchtränkt worden und ließ sich in langen, breiten

Bändern abreißen.

Am Nachmittag fuhr Pat nach Salinas und kaufte

sämtliche Zeitschriften über Innenarchitektur, die er auf-

treiben konnte. Am Abend, nach dem Essen, blätterte er

218

sie alle durch. Endlich fand er das Zimmer. Einige andere Vorlagen wären unter Umständen auch in Frage gekommen; diese aber zeigte genau das, was er gesucht hatte.

Und er konnte das Zimmer sehr leicht nachmachen.

Wenn er die Trennungswand zwischen Salon und Stube

herausbrach, bekam er einen dreißig Fuß langen und

fünfzehn Fuß tiefen Raum. Die Fenster mußten verbrei-

tert, der Kamin vergrößert, der Boden mit Glaspapier be-

handelt, gebeizt und poliert werden. Pat wußte, daß er

diese Arbeiten alle selber ausführen konnte. »Morgen

fange ich an«, sagte er, und seine Hände lechzten nach

Arbeit. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Sie findet,

es sei hübsch, so wie es ist«, überlegte er. »Ich muß auf

der Hut sein. Ich darf nicht riskieren, daß sie herausfin-

det, daß ich es erst jetzt ändere. Dann würde sie ja wissen,

daß ich sie das wegen des Vermonter Hauses sagen hörte.

Ich muß verhindern, daß die Leute etwas merken. Sie

würden fragen, weshalb ich es tue.« Weshalb tat er es

denn? Weshalb änderte er sein Haus? Er fragte es sich sel-

ber. »Aber das geht sie einen Pfifferling an«, dachte er

weiter. »Ich brauche den Leuten gar nicht zu sagen, war-

um. Ich habe meine Gründe. Die behalte ich für mich.

Bei Gott, ich arbeite nachts! Dann sieht mich niemand.«

Pat lachte leise vor sich hin. Die Idee, heimlich sein Haus

zu renovieren, entzückte ihn. Er konnte hier allein und

ungestört arbeiten, und niemand würde ihn sehen. Nie-

mand würde etwas davon merken. Und dann, wenn alles

fertig eingerichtet war, konnte er ein paar Leute einladen

und so tun, als sei es immer so gewesen. Niemand würde

sich erinnern, wie es gewesen war.

219

Und fortan teilte er sein Leben so ein: Tagsüber arbei-

tete er auf der Farm wie immer, und abends eilte er ins

Haus mit einem Gefühl erwartungsvoller Freude. Das

Bild des fertigen Zimmers war in der Küche aufgehängt.

Zwanzigmal am Tage schaute Pat es an. Während er Fen-

sterbänke einbaute, französisch-graue Tapeten aufklebte,

das Holzwerk mit mattgelber Emailfarbe überstrich,

konnte er mühelos das fertige Zimmer vor sich sehen.

Wenn er etwas brauchte, fuhr er spät am Abend nach Sa-

linas und brachte das Material mit Einbruch der Dunkel-

heit nach Hause. Er arbeitete bis Mitternacht, und dann

ging er überglücklich zu Bett.

Die Leute des Tales vermißten ihn an ihren Zusam-

menkünften. Im Laden fragten sie ihn aus, aber er hatte

eine Ausrede bereit. »Ich nehme einen dieser Fernkurse«,

erklärte er, »und jetzt studiere ich abends.« Die Männer

lächelten. Auf die Dauer war allzuviel Einsamkeit nicht

gut für einen Mann, das wußten sie. Junggesellen auf

Bauernhöfen wurden früher oder später immer etwas

verschroben.

»Was studierst du denn, Pat?«

»Was? Oh! Ich mache einen Kurs, einen … Baukurs.«

»Du solltest heiraten, Pat. Du bist nicht mehr der jüng-

ste.«

Pat wurde bis über die Ohren rot. »Unsinn!« sagte er.

Allmählich, während er an seinem neuen Wohnzim-

mer arbeitete, entwickelte er in Gedanken eine Art Thea-

terstück, und das verlief so: Das Zimmer war fix und fer-

tig. Alle Möbel standen dort, wo sie hingehörten. Das

Feuer brannte fröhlich; die Lampen warfen verschwom-

220

mene Lichter auf den polierten Boden und auf das helle

Holz der Möbel. »Jetzt gehe ich zu ihr hinüber und sage so

ganz beiläufig: ›Wie ich höre, lieben Sie Vermonter Häu-

ser.‹ Nein! Das kann ich nicht sagen; ich sage … ›Gefallen

Ihnen die Vermonter Häuser? Nun, ich habe zu Hause ein

Wohnzimmer, das einem Vermonter Zimmer ganz ähn-

lich sieht.‹« Die Einleitung befriedigte ihn nie ganz. Es fiel ihm schwer, den richtigen Wortlaut zu finden, der ihr Interesse für sein Zimmer wecken würde. Schließlich über-

sprang er dann jeweils diesen Teil und dachte, er würde

später schon noch etwas Passendes finden.

Dann trat er in die Küche. An der Küche änderte er

nichts; das andere Zimmer würde eine um so größere

Überraschung sein. Sie stand in der Küche, vor der Tür.

Pat trat neben sie und warf die Tür zu. Das Zimmer war

eher dunkel, aber doch irgendwie voll von gedämpftem

Licht. Das Feuer im Kamin strömte einen breiten roten

Schimmer aus, und die Lampen spiegelten sich auf dem

Boden. Man konnte die Chintzvorhänge und den dicken

Tiger auf dem Wandbehang am Kaminaufsatz erkennen.

Das Zinngerät glühte mit verhaltener Pracht. Es war alles

so warm und gemütlich. Pats Brust zog sich wohlig zu-

sammen.

Und sie stand also unter der Tür … was sagte sie wohl?

Nun, wenn sie das gleiche empfand wie er, sagte sie viel-

leicht überhaupt nichts. Vielleicht war ihr auch fast zum

Weinen. Das war eigenartig, dieses volle, gute Gefühl, als

ob man im nächsten Augenblick weinen müßte. Viel-

leicht stand sie einfach da, zwei, drei Minuten lang, und

schaute sprachlos. Und dann würde Pat sagen: »Wollen

221

Sie nicht eintreten und sich ein Weilchen setzen?« Und

das würde natürlich den Bann brechen. Sie würde los-

plappern, über das Zimmer, in komischen, schmachten-

den, kurzen Sätzen. Aber Pat wäre nüchtern und würde

alles als etwas ganz Selbstverständliches hinnehmen. »Ja,

es hat mir immer irgendwie ganz gut gefallen«, sagte er.

Er sagte es laut, während er weiterarbeitete. »Es ist wahr,

ich habe gedacht, das Zimmer ist eigentlich recht hübsch.

Erst letzthin ist mir dann der Gedanke gekommen, daß

Sie es vielleicht gern einmal sehen möchten.«

Das Spiel endete so: Mae saß im großen Lehnstuhl vor

dem Feuer. Ihre runden, hübschen Hände lagen in ihrem

Schoß. Sie saß schweigend da, und allmählich trat ein

seltsam verträumter Blick in ihre Augen … Pat ging im-

mer nur so weit. Weiter wagte er nicht zu denken. Wenn

er an diesem Punkt anlangte, wurde er befangen. Wenn

er weitergegangen wäre, wäre er sich vorgekommen wie

einer, der durch ein Fenster in ein Zimmer hineinspäht,

wo zwei Leute allein sein wollen. Der entscheidende Au-

genblick, der das Herz höher schlagen machte, war das

Aufwerfen der Tür, wenn sie auf der Schwelle stand und

von der Pracht des Zimmers überwältigt war.

Nach drei Monaten war das Zimmer fertig. Pat steckte

das Bild in die Brieftasche und fuhr nach San Francisco.

In einer Möbelhandlung breitete er das Bild auf einem

Pult aus und sagte: »Solche Möbel will ich.«

»Natürlich keine Originale, nicht wahr?«

»Was heißt ›Originale‹?«

»Alte Stücke. Originalmöbel. Die würden Sie nicht un-

ter dreißigtausend Dollar bekommen.«

222

Pat erschrak. Sein Zimmer schien in sich zusammen-

zustürzen. »Oh! Das hab’ ich allerdings nicht gewußt!«

»Wir können Ihnen von allem hier Nachbildungen

machen lassen«, schlug der Verkäufer vor.

»Ah! Das wäre besser. Natürlich. Ausgezeichnet. Was

würden denn solche Nachbildungen kosten?«

Ein weiterer Verkäufer wurde hereingerufen, und zu-

sammen machten sie eine Liste aller auf dem Bild ange-

gebenen Artikel; Ziertischchen, Ausziehtisch, Stühle: ein

Windsorstuhl, ein Rohrsessel mit Stabrückenlehne, ein

Ohrensessel, eine Kaminbank; Stoffläufer, Chintzvorhän-

ge, Lampen mit Milchglasglocken und Kristallgehänge,

ein Glasschrank mit bemaltem Porzellan, zinnerne Ker-

zenstöcke und Wandleuchter.

»Ich schätze, alles in allem würde Sie das um die drei-

tausend kosten, Mr. Humbert.«

Pat überlegte. Wozu sollte er schließlich sein Geld spa-

ren? »Wie rasch können Sie die Sachen liefern?« fragte er.

Ungeduldig wartete Pat auf das Eintreffen der Möbel.

In der Zwischenzeit scheuerte er den Boden des neuen

Zimmers, bis er glänzte wie ein dunkler See. Er ging

rückwärts aus dem Zimmer und wischte noch die letzten

Spuren seiner Schuhe fort. Und dann endlich trafen die

Kisten und Verschläge im Frachtdepot von Salinas ein.

Viermal mußte Pat mit dem Fordlastwagen hin- und her-

fahren, bis er alles abgeholt und in seiner Scheune unter-

gebracht hatte. Er machte die Transporte nachts, wenn

ihn niemand sehen konnte, und freute sich über sein

heimliches Tun.

In der Scheune packte er die Sachen aus. Dann trug er

223

Stühle und Tische ins Haus und stellte sie, mit unzähligen

Blicken auf die Vorlage, an die vorgeschriebenen Plätze.

In jener Nacht, spät, loderte noch ein mächtiges Feuer im

Kamin, und die Milchglaslampen warfen gedämpfte Lich-

ter und Schatten. Der dicke Tiger auf dem Kaminaufsatz

schien im Widerschein der tanzenden Flammen zu zit-

tern.

Pat ging in die Küche und machte die Tür zu. Dann

öffnete er sie langsam wieder und blickte hinein. Das

Wohnzimmer strahlte eine wohlige Wärme aus. Das

Zinngerät war noch prächtiger, als er es sich vorgestellt

hatte. Die Porzellanteller im Glasschrank funkelten. Pat

blieb eine Weile unter der Tür stehen und versuchte, den

richtigen Ton in seine Stimme zu legen. »Es hat mir ei-

gentlich immer recht gut gefallen«, sagte er so beiläufig

und selbstverständlich wie möglich. »Jetzt ist mir, erst vor

ein paar Tagen, eingefallen, daß Sie es vielleicht einmal

sehen möchten.« Ein schrecklicher Gedanke schoß ihm

durch den Kopf. »Allein darf sie aber doch nicht kom-

men! Kein anständiges Mädchen darf nachts das Haus ei-

nes Junggesellen betreten. Die Leute würden ja über sie

reden, und überhaupt, sie würde bestimmt nicht kom-

men.« Pat war bitter enttäuscht. »Ihre Mutter wird mit-

kommen müssen. Vielleicht … vielleicht wird sie aber nicht

im Weg sein. Sie könnte doch hier stehenbleiben, abseits,

wo sie nicht stört.«

Jetzt, da alles bereit war, war Pat wie gelähmt. Der Zeit-

punkt, um sie einzuladen, war gekommen. Aber Abend

für Abend verstrich unverrichteterdinge; immer wieder

schob er es hinaus. Statt dessen wiederholte er sein Spiel

224

so oft, daß er am Ende bis ins kleinste Detail wußte, wie

sie aussehen, wo sie stehen und was sie sagen würde. Er

hatte verschiedene Möglichkeiten einstudiert; auf alles,

was sie sagen konnte, hatte er seine Antwort bereit. Eine

Woche verstrich, aber zu dem Besuch, der ihm die Mög-

lichkeit bieten würde, sie zu sich einzuladen, hatte er sich

noch nicht aufgerafft.

Endlich, eines Nachmittags, faßte er sich ein Herz. »Ich

kann es nicht ewig hinausschieben«, sagte er entschlossen.

»Heute abend gehe ich.« Nach dem Nachtessen zog er

seinen besten Anzug an und machte sich auf den Weg.

Berts Haus lag nur eine Viertelmeile entfernt. Er würde

sie auf einen der nächsten Abende einladen, nicht auf

heute, denn er wollte, daß das Feuer brannte und die

Lichter angezündet waren, wenn sie zu ihm kam. Die

Nacht war kühl und dunkel, und Pat stolperte in dem

dicken Staub auf der Straße. Ärgerlich stellte er sich vor,

wie seine so schön geputzten Schuhe aussehen mußten.

In Berts Haus brannten alle Lichter. Vor dem Garten-

tor standen zahlreiche Autos. »Eine Party«, dachte Pat.

»Dann frage ich sie halt ein andermal. Vor so vielen Leu-

ten würde ich’s nicht übers Herz bringen.« Einen Augen-

blick überlegte er, ob er nicht lieber umkehren sollte.

»Aber nein, ich gehe trotzdem hinein. Ohnehin würde es

sich komisch machen, wenn ich sie das erstemal, das ich

sie seit Monaten sehe, gleich zu mir einladen würde. Am

Ende würde sie noch Verdacht schöpfen.«

Als er ins Haus trat, kam ihm Bert Munroe entgegen

und streckte ihm die Hand hin. »Pat Humbert!« rief er.

»Pat, wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?«

225

»Ich habe an diesem Abendkurs herumstudiert.«

»Gut, daß du kommst. Ich wäre morgen bei dir vorbei-

gekommen. Die Neuigkeit wirst du auch vernommen ha-

ben.«

»Neuigkeit?«

»Mae und Bill Whiteside heiraten am Samstag. Ich

wollte dich fragen, ob du nicht bei der Hochzeit helfen

würdest. Wir machen keine große Sache, nur ein Büfett,

zu Hause, weißt du. Im Schulhaus hast du ja auch immer

geholfen, bevor dich diese Studierkrankheit gepackt hat.«

Er nahm Pat am Arm und wollte ihn den Gang hinunter-

führen. Aus dem Zimmer am anderen Ende des Ganges

tönten die Stimmen von zahlreichen Gästen.

Pat blieb stehen. Nicht umsonst hatte er wochenlang

geübt, gleichgültig zu tun. Er bot alles auf, was er gelernt

hatte, und sagte: »Das ist aber fein, Mr. Munroe. Ich will

gern ein wenig helfen. Am Samstag, sagen Sie? Ja, das

paßt mir. Nein, jetzt kann ich nicht bleiben. Ich muß so-

fort in den Laden fahren.« Er gab Bert nochmals die

Hand und schritt langsam zur Tür hinaus.

In seinem Elend wollte er sich an einem dunklen Ort,

wo ihn niemand sehen konnte, verkriechen. Seine Schrit-

te führten ihn automatisch heimwärts. Das alte Haus war

dunkel und öde, als er in den Hof trat. Er ging in die Scheune und kletterte die kurze Leiter hinauf und warf

sich ins Heu. Er fühlte sich hohl und leer und entsetzlich

enttäuscht. Vor allen Dingen wollte er nicht sein Haus

betreten. Er fürchtete, er würde die Tür wieder abschlie-

ßen. Und dann, in all den kommenden Jahren, würden

zwei verwirrte Gespenster in seinem schönen Wohnzim-

226

mer wohnen, und Pat, in der Küche, müßte sich alleweil

vorstellen, wie sie nachdenklich in das Gespenst eines

Feuers starrten.

XI

Als Richard Whiteside, Anno 50, in den Westen kam,

prüfte er die Möglichkeiten der Goldgräberei und verwarf

dann den Gedanken, sich damit eine Existenz zu schaffen.

»Die Erde gibt nur eine Goldernte«, sagte er. »Wenn diese

eine Ernte unter tausend Pächtern aufgeteilt wird, ernährt

sie keinen sehr lange. Das ist eine unkluge Art zu wirt-

schaften.«

Darauf fuhr Richard in den Feldern und Hügeln von

Kalifornien umher und suchte einen ganz bestimmten

Platz, der ihm vorschwebte, wo er für Kinder, die noch

gar nicht geboren waren, und für deren Kinder und Kin-

deskinder ein Haus errichten wollte. In jenen Tagen fühl-

te sich selten jemand in Kalifornien für seine Nachkom-

men verantwortlich.

Am Abend eines strahlend schönen Tages fuhr er in

seinem Zweispänner auf die Anhöhe der kleinen Hügel,

welche das »Tal des Himmels« umrahmen. Er brachte die

beiden Füchse zum Stehen und sah in das grüne Tal hin-

unter. Und augenblicklich wußte Richard, daß er gefun-

den hatte, was er suchte. Auf seinen Fahrten durch das

Land war er auf manchen schönen Flecken Erde gesto-

ßen, aber hier zum erstenmal wußte er, ohne sich zu be-

sinnen, daß er nicht mehr weitersuchen mußte. Er erin-

nerte sich an die Kolonisten aus Athen und aus Lakedä-

monien, die, sehr vagen Orakeln folgend, neue Länder ge-

sucht hatten; und er dachte an die Azteken, die ihren

Adlern nachhetzten und sich von ihnen zu neuen Gefil-

228

den führen ließen. Er sagte vor sich hin: »Also, wenn es

jetzt irgendein Zeichen gäbe, wäre alles perfekt. Ich weiß,

das ist der Ort, aber so ein kleines Himmelszeichen wäre

hübsch. Man könnte sich immer daran erinnern. Man

könnte den Kindern davon erzählen.« Er schaute zum

Himmel hinauf. Der Himmel war wolkenlos, und nir-

gends war ein Vogel zu sehen. Da erhob sich leise das zar-

te Lüftchen, das abends von den Hügeln weht, und die

Eichen machten verstohlene kleine Gebärden gegen das

Tal, und irgendwo weiter unten am Abhang wurde eine

Handvoll Blätter von einem kleinen Wirbelwind gepackt

und talabwärts gewirbelt, und Richard lachte vor sich hin.

»Antwort! Ein Wink der Götter! Ein kleines Winklein,

zugegeben, aber so manche schöne Stadt ist eines solchen

Zeichens wegen, das nicht deutlicher als dieses war, ent-

standen!«

Nach einer kurzen Weile stieg er vom Wagen und

spannte die Pferde aus. Er fesselte ihnen die Füße und

ließ sie mit kleinen vorsichtigen Schritten auf das Gras

neben der Straße treten. Richard packte Brot und Speck

aus und aß. Dann rollte er auf dem Gras am Hügelabhang

die Decken aus, und als die Dämmerung zunahm, legte er

sich auf sein Lager und starrte gedankenverloren in das

»Tal des Himmels« hinunter. Dort lag sein Heim. Weit

unten, in der Nähe eines Eichenhaines, dort war der

Platz. Dahinter erhob sich ein kleiner Hügel mit einem

winzigen, von dichtem Gestrüpp überwachsenen Täl-

chen, das vermutlich einen Bach beherbergte. Die Be-

leuchtung nahm rasch ab und wurde zauberhaft. Richard

sah ein stattliches weißes Haus mit einem hübschen Gar-

229

ten und daneben den weißen Turm des Wasserhauses. In

den Fenstern des Hauses leuchteten kleine gelbe Lichter,

kleine gelbe Fünklein von freundlichen Lichtern. Die

breite Haustür ging auf, und ein kleines Rudel Kinder

sprang auf die Veranda heraus … wenigstens ein halbes

Dutzend Kinder. Sie blickten suchend in die zunehmende

Dunkelheit und an den Hügel hinauf, wo Richard auf den

Decken lag. Sie guckten ein Weilchen, dann gingen sie ins

Haus zurück und machten die Tür hinter sich zu. Als die

Tür zuging, verschwanden das Haus und der Garten und

der weiße Turm. Richard seufzte zufrieden und wickelte

sich in die Decken. Am Himmel funkelten Millionen

Sterne.

Eine ganze Woche lang fuhr Richard wie gehetzt im

Tal herum. Er kaufte zweihunderfünfzig Morgen Land; er

fuhr nach Monterey und ließ den Titel heraussuchen und

den Kauf verbuchen, und als das Land wirklich ihm ge-

hörte, ging er zu einem Architekten.

Es dauerte sechs Monate, bis sein Haus gebaut und

wohnlich eingerichtet, ein Brunnen gebohrt und das hohe

Wasserhaus darüber errichtet war. Während des ganzen

ersten Jahres, nachdem er das Land gekauft hatte, waren

Arbeiter auf Richards Hof beschäftigt. Der Boden blieb

einstweilen unberührt.

Ein Nachbar, der über dieses Vorgehen beunruhigt

war, fuhr herüber und stellte den neuen Besitzer zur Re-

de. »Wird Ihre Familie bald nachkommen, Mr. Whitesi-

de?« fragte er.

»Ich habe keine Familie«, sagte Richard. »Meine Eltern

sind tot, und eine Frau habe ich nicht.«

230

»Für was zum Teufel bauen Sie dann ein solch großes

Haus?«

Richards Gesicht wurde ernst. »Weil ich hier wohnen

werde. Ich bin hierhergekommen, um zu bleiben. Meine

Kinder und ihre Kinder und Kindeskinder werden in die-

sem Haus wohnen. Ein ganzer Haufen junger Whitesides

wird hier geboren werden, und manche werden hier ster-

ben. Wenn man ihm gebührend Sorge trägt, steht dieses

Haus fünfhundert Jahre.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte der Nachbar.

»Was Sie da sagen, klingt sehr schön, aber so gehen wir

hier draußen nicht vor. Wir stellen eine kleine Hütte auf,

und wenn dann der Boden etwas einträgt, vergrößern wir

die Hütte. Es ist nicht gut, wenn man zuviel in ein Haus

hineinsteckt. Es kommt vor, daß man einen anderen Ort

suchen möchte.«

»Aber daran denke ich gar nicht!« rief Richard. »Ich

will gar keinen anderen Ort suchen, und aus diesem

Grund baue ich ja dieses Haus da, gleich von Anfang an.

Es soll so stark und dauerhaft sein, daß weder ich noch

meine Nachkommen ausziehen können. Wenn ich sterbe,

lasse ich mich hier begraben, als Vorsichtsmaßregel, denn

kein Mann zieht gern vom Grab seiner Väter fort.« Dann

wurde seine Stimme sanfter. »Ei, Mann, seht Ihr denn

nicht, was ich tue? Ich begründe eine Dynastie. Ich lege

das Fundament für eine Familie und für einen Familien-

sitz, der, wenn nicht ewig, so doch viele hundert Jahre be-

stehen soll. In den Räumen dieses Hauses werden meine

Nachkommen wohnen; in diesen Räumen werden Kinder

zur Welt kommen, deren Großväter noch gar nicht gebo-

231

ren sind. Daran denke ich jetzt, derweil das Haus ent-

steht. Ich will den Keim einer Tradition in mein Haus

hineinbauen.« Richards Augen funkelten, als er so sprach.

Das Hämmern der Zimmerleute unterstrich seine Rede.

Der Nachbar wußte nicht recht, ob er es mit einem

Wahnsinnigen zu tun hatte, aber er empfand etwas wie

Ehrfurcht vor seinem Wahnsinn. Er verspürte ein Be-

dürfnis, seine Ehrfurcht in irgendeiner Form zu bekun-

den. Wäre er nicht Amerikaner gewesen, so hätte er mit

zwei Fingern den Rand seines Hutes berührt. Die beiden

erwachsenen Söhne dieses Mannes waren ausgezogen und

fällten Holz, irgendwo, dreihundert Meilen weit weg, und

seine Tochter hatte geheiratet und lebte in Nevada. Seine

Familie war auseinandergefallen, bevor sie überhaupt an-

gefangen hatte, eine Familie zu sein.

Richard Whiteside baute sein Haus aus Redwood, das

sehr hart und unverwüstlich ist. Er ließ es im Stil der fei-

nen Landhäuser von Neuengland konstruieren, aber als

Tribut an das Klima im »Tal des Himmels« ließ er das

ganze Gebäude rundherum mit einer breiten Veranda

versehen. Das Dach wurde provisorisch mit Schindeln

gedeckt, aber sobald seine Bestellung in Boston eingetrof-

fen und ein Schiff mit dem Material zurückgekommen

war, wurden die Schindeln heruntergerissen und durch

Schieferplatten ersetzt. Dieses Dach war für Richard be-

sonders wichtig und von symbolischer Bedeutung. Für

die Leute des Tales wurde das Schieferdach die Sehens-

würdigkeit des Landes. Mehr als alles andere war das

Schieferdach der Grund, weshalb Richard Whiteside der

erste Bürger des Tales wurde. Dieser Mann war seßhaft;

232

er wußte, was er wollte, und sein Heim war und blieb hier.

Er hatte nicht die Absicht, wegzulaufen und dem ersten

besten neuen Goldfeld nachzujagen. Denn sein Dach war

ja aus Schiefer. Und überdies war er ein gebildeter Mann.

Er war in Harvard gewesen. Er hatte Geld, und er hatte

das Vertrauen, ein großes, stattliches Haus im Tal zu bau-

en. Er würde über sein Land herrschen. Er war der Grün-

der und Vater einer großen Familie, und er hatte ein

Schieferdach auf seinem Haus. Um dieses Schieferdaches

willen wurde das »Tal des Himmels« von den ansässigen

Leuten um so mehr geschätzt und verehrt. Wäre Richard

ein Politiker gewesen, mit einem Bedürfnis nach Amt und

Würde, er hätte keinen schlaueren Schachzug tun kön-

nen, als dieses Schieferdach zu errichten. Im Regen

schimmerte es schwärzlich, und in der Sonne war es ein

stählerner Spiegel.

Und erst als das Haus fix und fertig war, wurden zwei

Knechte angestellt, um die Obstgärten anzulegen und die

Felder für die erste Saat vorzubereiten. Eine kleine Herde

Schafe knabberte das Gras an der Halde hinter dem Haus.

Richard wußte, daß seine Vorbereitungen abgeschlossen

waren. Er war bereit für eine Frau. Als von einem entfern-

ten Verwandten ein Brief kam mit der Nachricht, er und

seine Frau und seine erwachsene Tochter seien in San

Francisco eingetroffen, da wußte Richard auch, daß er

sich nicht weiter nach einer Frau umschauen mußte. Be-

vor er nach San Francisco fuhr, war er entschlossen, diese

Tochter zu heiraten. Es war das, was er suchte. Es bestand

keine Gefahr für die Nachkommen, wenn er dieses Mäd-

chen heiratete.

233

Obschon sich Richard in der herkömmlichsten Form

um Alicia bewarb, war die Sache von Anfang an abge-

macht. Alicia war froh, der Herrschaft ihrer Mutter zu

entrinnen und ein eigenes Haushaltsreich anzutreten. Das

große Haus im »Tal des Himmels« war wie für sie ge-

schaffen. Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden

darin, als sie schon sämtliche Gestelle in der Speisekam-

mer mit perforiertem Papier ausgekleidet hatte, Papier

von der Art, wie es Richard aus der Speisekammer seiner

Mutter in Erinnerung hatte. Alicia leitete den Haushalt in

dem alten, vertrauten, starren Rhythmus – Wäsche am

Montag, Bügeln am Dienstag, und so weiter; Teppiche

zweimal jährlich herausnehmen und klopfen; Konfitüren

und Tomaten und Pickles einmachen, jedes zu seiner

Zeit, und schön geordnet im Keller versorgen … Die Farm

gedieh, Schafe und Vieh vermehrten sich; Nelken aller

Art und Stockrosen verbreiteten sich im Garten, um ein-

mal im Jahr zu blühen. Und Alicia erwartete ein Kind.

Richard hatte vorausgesehen, daß es so kommen wür-

de. Das Haus Whiteside begann zu leben. Die Dynastie

war begründet. Die Kamine auf dem Dach waren um die

Krone schön schwarz geworden. Der Kamin im Wohn-

zimmer rauchte gerade genug, um das ganze Haus mit

dem köstlichen Duft von Holzrauch zu erfüllen. Die gro-

ße Meerschaumpfeife, die ihm sein Schwiegervater ge-

schenkt hatte, verfärbte sich von dem neuen kreideartigen

Weiß zu einem kräftigen, sahnefarbenen Gelb.

Als die Schwangerschaft dem Ende entgegenging, be-

handelte Richard seine Frau beinahe wie eine Leidende.

Abends, wenn sie vor dem Feuer saßen, hüllte er ihr die

234

Beine in eine wollene Decke. Er war ängstlich besorgt, daß nicht vor der Geburt etwas passieren würde. Sie besprachen das Bildnis, das Alicia vor Augen halten sollte,

um das Aussehen des Erstgeborenen zu beeinflussen; und

um Alicia zu überraschen, ließ Richard aus San Francisco

einen kleinen Abguß in Bronze von Michelangelos ›Da-

vid‹ kommen. Alicia errötete über seine Nacktheit, aber

bald liebte sie ihren David leidenschaftlich. Wenn sie sich

zu Bett legte, stand die Figur auf dem Nachttisch. Tags-

über trug sie ihn von Zimmer zu Zimmer; wo immer sie

arbeitete, war der David dabei, und abends stand er auf

dem Kaminsims im Wohnzimmer. Oft, wenn sie seine

zarten, feinen Glieder betrachtete, kroch ein winziges Lä-

cheln, ein Fragen und Verstehen über ihr Gesicht. Sie war

durchaus davon überzeugt, daß ihr Kind wie der David

aussehen würde.

Richard saß neben ihr und streichelte ihr die Hand.

Alicia ließ das kräftige und doch sanfte Streicheln gern

geschehen. Richard sprach ruhig und leise zu ihr. »Der

Fluch ist beseitigt«, sagte er. »Weißt du, Alicia, deine und

meine Leute lebten einst hundertdreißig Jahre lang zu-

sammen in einem Haus. Von jenem Herd aus wurde un-

ser Blut mit dem guten, ehrlichen Blut von Neuengland

vermengt. Mein Vater hat mir einmal erzählt, daß drei-

undsiebzig Kinder in jenem Haus geboren wurden. Unse-

re Familie vermehrte sich bis zur Zeit meines Großvaters.

Mein Großvater hatte nur ein Kind, meinen Vater, und

dann war auch ich ein einziges Kind. Das war die größte

Enttäuschung in meines Vaters Leben. Er starb, als er erst

sechzig Jahre alt war, Alicia, und ich war sein einziges

235

Kind. Als ich fünfundzwanzig Jahre zählte und noch kaum

richtig zu leben begonnen hatte, brannte das alte Haus

nieder. Ich weiß nicht, wie das Feuer entstand.« Sacht leg-

te er Alicias Hand auf die Armlehne des Stuhles, so sacht

und behutsam, als sei sie ein schwaches, kleines Tierlein.

Eine glühende Kohle war aus dem Feuer auf den Boden

gerollt. Richard warf sie auf das Feuer zurück und ergriff

abermals Alicias Hand. Auf dem Kaminsims stand der

David. Alicia lächelte ihm leise zu.

»In alten Zeiten gab es einen Brauch«, fuhr Richard

weiter. Seine Stimme wurde sanft und leise und kam von

weit weg, als spräche er aus jenen alten Zeiten. Später, als

sie älter war, konnte Alicia an der Stellung seines Kopfes,

am Ton seiner Stimme und an seinem Gesichtsausdruck

voraussehen, wenn er sich anschickte, von den alten Zei-

ten zu erzählen. Denn die alten Zeiten von Herodot, von

Xenophon und von Thukydides, jene längst vergangenen

Tage waren für ihn etwas Persönliches. In dem unkundi-

gen Westen waren die Geschichten des Herodot so neu,

wie wenn sie Richard selber erfunden hätte. Jedes Jahr las

Richard den ›Persischen Krieg‹, die ›Peloponnesischen

Kriege‹ und die ›Anabasis‹.

»In den alten Zeiten«, sagte er und streichelte Alicias

Hand etwas kräftiger, »wenn die Bewohner einer Stadt

Unglück erlitten und glaubten, sie hätten sich einen Fluch

oder gar die Ungunst einer Gottheit zugezogen, luden sie

ihre sämtliche bewegliche Habe auf Schiffe und segelten

fort, um eine neue Stadt aufzubauen. Die alte Stadt ließen

sie leer und offen für jedermann; der sich darin niederlas-

sen wollte.«

236

»Reichst du mir bitte mein Figürchen, Richard?« bat Ali-

cia. »Manchmal halte ich es gern in der Hand.« Er sprang

auf und legte ihr den David in den Schoß.

»Hör zu, Alicia: Es waren nur zwei Kinder in den bei-

den letzten Generationen vor der Zerstörung des alten

Hauses. Ich war der einzige meiner Generation. Und so

packte ich meine Sachen und lud sie auf ein Schiff und

segelte gen Westen, um ein neues Heim zu gründen. Du

mußt verstehen, daß es hundertdreißig Jahre gedauert

hatte, bis das Heim, das ich verlor, soweit aufgebaut war.

Und ich konnte es nicht ersetzen. Ein neues Haus auf

dem alten Land wäre nur ein behelfsmäßiger und für

mich schmerzlicher Ersatz gewesen. Als ich dieses Tal

fand, wußte ich, daß hier der Platz für den neuen Famili-

ensitz ist. Und jetzt beginnen die Generationen zu wach-

sen. Ich bin sehr glücklich, Alicia.«

Sie drückte seine Hand, dankbar, daß sie ihn glücklich

machen durfte. »Und weißt du«, sagte er plötzlich, »als

ich zum erstenmal in das Tal kam, sah ich sogar ein

Omen. Ich fragte die Götter, ob das der Ort ist, und sie

antworteten bejahend. Ist das gut, Alicia? Soll ich dir von

den Himmelszeichen und von meiner ersten Nacht auf

dem Hügel am Rande des Tales erzählen?«

»Erzähl es mir morgen abend«, sagte sie. »Ich bin mü-

de. Es ist besser, wenn ich mich jetzt zur Ruhe lege.« Er

stand auf und nahm die Decke von ihren Knien, und Ali-

cia stützte sich schwer auf seinen Arm, als er sie die Trep-

pe hinaufführte. »Es ist etwas Geheimnisvolles, Wunder-

bares in diesem Haus, Alicia. Es ist die Seele; der Erstge-

borene der neuen Rasse.«

237

»Er wird wie meine Statue aussehen«, sagte Alicia.

Als Richard seine Frau sorgsam zugedeckt hatte, so daß

sie sich nicht erkälten konnte, ging er zurück in das

Wohnzimmer. Er hörte Kinder im Hause. Mit trippeln-

den Füßen rannten sie die Treppen auf und ab; draußen

auf der Veranda tuschelten sie. Bevor er zu Bett ging, leg-

te Richard die drei dicken Bücher auf das oberste Bücher-

gestell.

Die Geburt war sehr schwer. Als es vorüber war und

Alicia blaß und erschöpft in ihren Kissen lag, brachte ihr

Richard den kleinen Sohn und legte ihn neben sie. »Ja«,

sagte sie zufrieden, »er sieht wie meine Statue aus. Ich

hab’s ja gewußt. Und natürlich heißt er David.«

Der Arzt aus Monterey kam ins Wohnzimmer herun-

ter und setzte sich zu Richard ans Feuer. Er zog die Au-

genbrauen zusammen und drehte einen Ring an seinem

dritten Finger um und um. Richard machte eine Flasche

Brandy auf und schenkte zwei kleine Gläser ein. »Diesen

Toast trink’ ich auf meinen Sohn.«

Der Arzt hielt sein Glas unter die Nase und schnüffelte

wie ein Pferd. »Verdammt feiner Schnaps. Den trinken

Sie besser auf Ihre Frau.«

»Natürlich.« Sie tranken. »Aber jetzt auf meinen

Sohn.«

Der Arzt tauchte beinahe die Nase in das Glas. »Trin-

ken Sie denn nun auch noch auf Ihre Frau.«

»Warum?« fragte Richard überrascht.

»Als eine Art Dankopfer«, sagte der Arzt grimmig.

»Um ein Haar wären Sie jetzt Witwer.«

Richard stürzte das starke Getränk hinunter. »Das ist

238

mir neu. Ich dachte … das hab’ ich gar nicht gewußt. Ich

dachte, die erste Geburt sei immer schwerer?«

»Füllen Sie nochmals nach!« sagte der Arzt. »Sie wer-

den keine Kinder mehr kriegen.«

Richard schenkte nicht fertig ein. »Was meinen Sie

damit? Selbstverständlich werde ich noch mehr Kinder

haben.«

»Nicht von dieser Frau, nein. Sie ist fertig. Noch ein

Kind und Sie haben keine Frau mehr!«

Richard saß völlig regungslos auf seinem Stuhl. Das lei-

se Kindergeplapper, das er in den vergangenen Monaten

überall in seinem Hause gehört hatte, war plötzlich ver-

stummt. Fast schien ihm, als hörte er ihre kleinen Füße

verstohlen zur Haustür hinaus und die Treppe hinunter-

huschen.

»So betrinken Sie sich doch, wenn Ihnen so zumute

ist«, lachte der Arzt bitter.

»Wie meinen Sie? Oh! Nein, nein, das könnte ich

nicht!«

»Dann geben Sie mir wenigstens noch einen Schluck,

bevor ich gehe, die Heimfahrt wird kalt sein.«

Richard wartete ein halbes Jahr, bevor er seiner Frau

sagte, sie könne keine Kinder mehr haben. Er wollte ihr

Zeit lassen, um neue Kräfte zu schöpfen. Er wollte ihr den

Schock der bitteren Wahrheit so lange wie möglich erspa-

ren. Als er endlich zu ihr sprach, drückte ihn die Schuld

des Geheimnisses. Alicia hatte ihr Kind auf dem Schoß

und neigte sich ab und zu zu ihm hinunter, um eines der

ausgestreckten Fingerchen in den Mund zu nehmen. Das

Kind lächelte zu seiner Mutter hinauf. Die Sonne strahlte

239

zum Fenster herein. In der Ferne hörte man einen der

Knechte schimpfen. Alicia blickte auf und sagte langsam:

»Es ist Zeit, daß wir ihn taufen, findest du nicht auch, Ri-

chard?«

»Ja. Ich werde in Monterey das Nötige veranlassen.«

Sie sah ihn nachdenklich an und sagte zögernd: »Wäre

es zu spät, um ihm einen andern Namen zu geben?«

»Nein, natürlich nicht. Aber warum willst du ihn denn

umtaufen? Weißt du einen besseren Namen?«

»Ja. Ich möchte ihn John taufen. John ist ein Name aus

dem Neuen Testament …« Sie blickte ihm forschend ins

Gesicht. »… Und dann ist es auch der Name meines Va-

ters. Mein Vater wird sich freuen, wenn sein Enkel seinen

Namen trägt. Und weißt du, der Name einer Statue hat

mich eigentlich nie ganz befriedigt, obwohl es die Statue

des Knaben David ist. Wenn die Statue Kleider anhätte …«

Richard gab sich keine Mühe, ihrer Logik zu folgen.

Statt dessen stürzte er sich mitten in sein Geständnis. In

ein paar Sekunden war alles vorüber. Er hatte nicht er-

wartet, daß es so rasch gehen würde. Alicia lächelte. Es

war ein sanftes, seltsames Lächeln, das ihn verwirrte.

Ganz gleich, wie gut er Alicia in den folgenden Jahren

noch kennenlernte: dieses Lächeln, das ein wenig fragend

und ein wenig traurig und auch ein wenig geheimnisvoll

klug war, verstand er nie. Sie zog sich hinter dieses Lä-

cheln zurück. Es sagte: »Wie dumm du bist! Wie dumm

ihr Männer seid! Ich weiß doch Dinge, die, wenn ich sie

dir verraten würde, dein ganzes Wissen lächerlich er-

scheinen ließen.« Das Kind streckte ihr seine steifen Fin-

gerchen ins Gesicht. »Wart ein Weilchen, Richard«, sagte

240

sie. »Die Ärzte wissen nicht alles. Wart nur ein wenig, ein

paar Jahre vielleicht, und wir werden bestimmt noch

mehr Kinder haben.« Sie hob das Kind von ihrem Schoß

und drückte es innig an sich. Richard ging hinaus und

setzte sich auf die Stufen vor der Haustür. Das Haus hin-

ter ihm erwachte wieder, und seine Kinder kamen zurück

und trippelten fröhlich umher. Und es gab viele Arbeiten

zu verrichten. Seit sechs Monaten war die Buchshecke um

den Garten nicht mehr geschnitten worden. Schon lange

hatte er im Seitenhof einen viereckigen Platz freigelegt für

einen Rasen, den er noch nicht angesät hatte. Und Alicia

mußte ein freies Plätzlein zum Trocknen der Windeln

haben. Richard streckte die Hand aus und streichelte das

Treppengeländer neben sich, als sei es der gebogene Hals

eines Pferdes.

In wenigen Monaten waren Richard und Alicia White-

side die angesehenste Familie des Tales geworden. Sie wa-

ren gebildet, sie hatten eine prächtige Farm, und wenn

auch nicht reich, so waren sie doch an Geld nicht knapp.

Das wichtigste war: Sie lebten komfortabel in einem

schönen Haus. Das Haus war das Sinnbild seiner Bewoh-

ner. Es war geräumig, für jene Zeit recht reich ausgestat-

tet, warm, gastfreundlich und hell. Seine Größe zeugte

von einem gewissen Wohlstand, aber es war die weiße

Farbe, der oft erneuerte und immer saubere weiße An-

strich, der das Haus über die andern Heimstätten des Ta-

les erhob wie ein Rheinschloß über sein Dorf. Es war das

weiße Haus, das die anderen Familien im Tal bewunder-

ten, und seitdem es stand, fühlten sie sich sicherer. Es

verkörperte Autorität und Kultur und ein gesundes Urteil

241

und Manierlichkeit. Die Nachbarn sahen dem Hause an,

daß Richard Whiteside ein Gentleman war, der nichts

Gemeines noch Grausames noch Törichtes tun konnte.

Sie waren stolz auf das Haus, so wie die Landpächter ei-

ner Grafschaft auf ihr Herrschaftshaus stolz sind. Zuge-

geben, einige Nachbarn waren reicher als Richard White-

side, aber die wußten, daß sie nie imstande wären, ein

solches Haus zu bauen, selbst wenn sie es in allen Einzel-

heiten nachgeahmt hätten. Das Haus war vor allem ande-

ren der Grund, weshalb Richard Whiteside eine Art au-

ßerordentlicher Schiedsrichter des Tales wurde, zunächst

in Fragen des Geschmacks und des gesellschaftlichen Be-

nehmens, später auch in eigentlichen Auseinandersetzun-

gen und kleineren Rechtsangelegenheiten. Mehr und

mehr wurden die Nachbarn von seinem gesunden Urteil

abhängig. Umgekehrt erfüllte ihn das Vertrauen der

Nachbarn mit väterlichen Gefühlen für das Tal. Als er äl-

ter wurde, betrachtete er nach und nach alles, was seine

Nachbarn und überhaupt das ganze Tal betraf, als seine

persönlichen Angelegenheiten, und die Leute waren stolz,

daß es so war.

Fünf Jahre verstrichen, bis Alicia aus einem untrügli-

chen Gefühl wußte, daß sie bereit war, um wieder ein

Kind zu haben. »Ich hole den Arzt«, schlug Richard vor,

als sie es ihm sagte. »Der wird entscheiden, ob es nicht zu

gefährlich ist.«

»Nein, Richard, tu es nicht! Die Ärzte wissen das nicht.

Wir Frauen kennen uns selbst viel besser als die Ärzte.«

Richard gehorchte, weil er sich vor dem, was der Arzt sa-

gen würde, fürchtete. Und er dachte: »Gott und die Natur

242

haben dieses unfehlbare Wissen in die Frau hineingelegt,

auf daß die Menschheit sich vermehren möge.«

In den ersten sechs Monaten ging alles gut, dann aber

wurde Alicia schwer krank. Als schließlich der Arzt geholt

wurde, war er so zornig, daß er mit Richard kein Wort

mehr redete. Die Entbindung war entsetzlich; Richard saß

im Wohnzimmer, klammerte sich an die Armlehnen sei-

nes Stuhles und horchte auf das schwache Schreien in der

Schlafkammer über sich. Sein Gesicht war grau. Nach vie-

len Stunden verstummte das Schreien. Richard war so

von der Erwartung gelähmt, daß er gar nicht aufblickte,

als der Arzt zu ihm ins Zimmer trat.

»Geben Sie mir die Flasche!« sagte der Arzt müde und

sehr böse. »Trinken wir auf einen gottverlassenen Toren!«

Richard blieb schweigend sitzen. Nach einer Weile sag-

te der Arzt: »Die Frau lebt.« Seine Stimme war weniger

streng. »Der Himmel weiß warum, aber sie lebt. Was sie

durchgemacht hat, hätte einen ganzen Zug Soldaten um-

gebracht. Diese schwachen Frauen! ›Schwache‹ sagt man!

Dabei haben sie eine übermenschliche Kraft und Tapfer-

keit. Das Kind ist tot.« Und dann wollte er etwas sagen,

was Richard für die Mißachtung seiner früheren Anord-

nungen strafte. »Was von dem Kind übriggeblieben ist,

lohnt sich nicht zu begraben!« Er kehrte sich um und lief

aus dem Haus. Es ärgerte ihn, daß er Richard Whiteside

so tief bemitleidete.

Alicia war leidend. Soweit John Whiteside sich später er-

innern konnte, hatte sein Vater immer die Mutter auf den

Armen von einem Zimmer ins andere getragen. Alicia

243

sprach nur selten, aber in ihren Augen war fast immer das

seltsame kluge Lächeln. Und trotz ihres geschwächten

Zustandes regierte sie ihr Haus erstaunlich gut. Vor jeder

Mahlzeit holten die derben Landmädchen, die sich in ih-

rem Haushalt auf ihre eigene Ehe vorbereiteten, bei ihr

die erforderlichen Ratschläge und Befehle. Von ihrem

Bett oder von ihrem Schaukelstuhl aus ordnete und plan-

te Alicia alles.

Jeden Abend trug Richard sie hinauf zu Bett. Wenn sie

in den weißen Kissen lag, zog er einen Stuhl heran und

saß ein Weilchen bei ihr und streichelte ihr die Hand, bis

sie schläfrig war. Jeden Abend fragte Alicia: »Bist du zu-

frieden, Richard?«

Und er antwortete: »Ich bin zufrieden.« Und dann er-

zählte er ihr von der täglichen Arbeit auf der Farm und

von den Leuten im Tal. Es war etwas wie ein täglicher

Rapport über alles, was sich so ereignete. Während er er-

zählte, trat das Lächeln in ihre Augen und verweilte, bis

die Augen zufielen und er das Licht ausblies.

An Johns zehntem Geburtstag wurde zu seinen Ehren

eine Kindergesellschaft veranstaltet. Von überall her aus

dem Tal kamen Kinder und trippelten auf den Zehenspit-

zen durch das große Haus und starrten die Herrlichkeiten

an, von denen sie erzählen gehört hatten. Alicia saß auf

der Veranda. »Warum seid ihr denn so leise, Kinder?«

fragte sie. »Das ist doch nicht nötig. Springt umher und

amüsiert euch!« Aber das konnten die Kinder nicht; in

dem Whitesideschen Hause konnten sie nicht springen

und lärmen. Dann hätten sie ebensogut in der Kirche

lärmen können. Als sie aber durch sämtliche Zimmer ge-

244

wandert waren, konnten sie die Spannung nicht mehr

länger aushalten. Plötzlich verzog sich die ganze Schar in

die Scheune, und von dort drang ihr übermütiges Ge-

schrei zurück auf die Veranda, wo Alicia saß und still vor

sich hinlächelte.

An jenem Abend, als sie im Bett lag, fragte sie: »Bist du

zufrieden, Richard?«

Sein Gesicht strahlte noch von der Freude an den vie-

len Kindern, und er antwortete: »Ja, Alicia, ich bin zufrie-

den.«

»Du mußt dich nicht sorgen, Richard, wegen der Kin-

der«, sagte sie dann weiter. »Hab noch ein Weilchen Ge-

duld, und alles wird gut sein.« Dies war das große, allum-

fassende Wissen Alicias: »Wart ein Weilchen; kein

Schmerz kann der Linderung durch ein bißchen Zeit wi-

derstehen.« Richard wußte, daß dieses Wissen ihm über-

legen war.

»Es dauert nicht mehr so lange«, fuhr Alicia weiter.

»Was denn?«

»Denk doch … John. Er ist jetzt zehn. In zehn Jahren

ist er verheiratet, und dann … siehst du? Lehre ihn, was

du weißt! Deine Familie ist gesichert, Richard.«

»Ja, ich weiß; dem Haus kann nichts passieren. Ich

fange jetzt an, John aus Herodot vorzulesen. Er ist alt ge-

nug.«

John Whiteside vergaß nie, wie sein Vater ihm aus den

drei großen Büchern vorgelesen hatte – Herodot, Thuky-

dides und Xenophon. Die Meerschaumpfeife war schön

gleichmäßig rötlich-braun geworden. »Die ganze Ge-

schichte der Menschen ist hier drin«, sagte Richard zu

245

seinem Sohne. »Alles, was die Menschheit zu tun fähig ist,

steht in diesen drei Bänden aufgezeichnet. Die Liebe und

der Haß, die dumme Falschheit und Kurzsichtigkeit,

Heldenmut und Größe und Traurigkeit der menschlichen

Rasse – alles findest du hier drin. Du kannst die Zukunft

nach diesen Büchern beurteilen, John, denn nichts kann

sich ereignen, das sich nicht schon einmal ereignet hat

und in diesen Büchern aufgezeichnet worden ist. Im Ver-

gleich zu diesen ist die Bibel nur ein sehr unvollständiger

Bericht über ein kaum bekanntes Volk.«

Und John erinnerte sich, wie unendlich viel seinem

Vater das Haus bedeutet hatte – das Haus als Symbol ei-

ner Familie, als eine Art Tempel über dem Herd.

John Whiteside verbrachte sein letztes Jahr in Harvard,

als sein Vater unerwartet an einer Lungenentzündung

starb. Die Mutter schrieb ihm und bat, er solle erst nach

Hause kommen, wenn er sein Studium beendet hätte.

»Du könntest hier nichts tun, was nicht schon getan wor-

den ist«, schrieb sie. »Und es war deines Vaters Wunsch,

daß du fertig studierst.«

Als er schließlich heimkam, fand er eine stark gealterte

Mutter. Sie war für immer ans Bett gefesselt. John saß ne-

ben dem Bett und ließ sich von der Mutter aus den letz-

ten Tagen seines Vaters erzählen.

»Er dachte oft an dich, John«, sagte Alicia. »Und ein-

mal sagte er: ›Sag meinem Sohn, daß es seine Pflicht ist,

uns fortbestehen zu lassen. Ich will in den kommenden

Generationen weiterleben.‹ Und kurz darauf begann er

irre zu reden.« John blickte zum Fenster hinaus auf den

runden Hügel hinter dem Haus. »Zwei Tage lang phanta-

246

sierte dein Vater. Und die ganze Zeit sprach er von Kin-

dern … nichts als von Kindern. Er hörte sie auf den

Treppen, er spürte, wie sie an seinen Bettüchern zupften.

Er wollte sie auf die Arme nehmen und an sich drücken,

John. Und dann, kurz bevor er tot war, ließen ihn die

Träume in Ruhe. Er war glücklich. ›Ich habe die Zukunft

gesehen‹, sagte er. ›Ich habe viele, viele Kinder gesehen.

Ich bin zufrieden, Alicia.‹«

John blieb regungslos sitzen und starrte ins Leere. Und

dann stützte sich Alicia plötzlich auf die Ellbogen und sah

ihren Sohn herausfordernd an. Nie vorher hatte sie sich

irgendeiner Sache widersetzt; immer hatte sie die Lösung

aller Probleme der Zeit anheimgestellt, jetzt aber war sie

ungeduldig und sagte in einem seltsam strengen Ton:

»Heirate! Ich will es noch erleben. Heirate, John, eine

kräftige, gesunde Frau, die dir Kinder gebären kann. Ich

konnte nach dir keine mehr haben. Ich hätte mein Leben

geopfert, wenn ich noch ein einziges Kind hätte haben

dürfen. Hol dir eine Frau, bald! Ich will sie noch sehen.«

Dann sank sie in die Kissen zurück, aber ihre Augen wa-

ren unglücklich, und das Lächeln in ihrem Gesicht war

erloschen.

Noch sechs Jahre lang blieb John unverheiratet. In die-

ser Zeit schrumpfte seine Mutter zu einem winzigen Ske-

lett zusammen, das ihre bläuliche, beinahe durchsichtige

Haut kaum verhüllte. Aber sie klammerte sich verbissen

an ihr Leben. Vorwurfsvoll folgten ihre Augen den Bewe-

gungen ihres Sohnes. John schämte sich, wenn ihn die

Mutter anschaute. Endlich kam einer seiner Studienka-

meraden in den Westen, um sich ein wenig umzusehen,

247

und brachte seine Schwester mit. Sie besuchten John und

wohnten einen Monat in seinem Hause. Am Ende des

Monats nahm Willa Johns Heiratsantrag an. Als er seiner

Mutter die Neuigkeit brachte, verlangte sie, mit dem

Mädchen allein gelassen zu werden. Eine halbe Stunde

später trat Willa mit rotem Gesicht aus dem Kranken-

zimmer.

»Was fehlt dir, Willa?« fragte John »Eigentlich nichts

… es ist alles gut; deine Mutter hat mich alles Mögliche

gefragt, und dann hat sie mich lange angeschaut.«

»Sie ist eben schon sehr alt«, erklärte John. Er ging in

Alicias Zimmer. Der fiebrige, besorgte Ausdruck war aus

ihrem Gesicht verschwunden, und das alte, wissende, zu-

friedene Lächeln war zurückgekehrt.

»Schon gut, John«, sagte sie. »Das Mädchen gefällt mir.

Ich hätte gern auf die Kinder gewartet, aber das kann ich

jetzt nicht mehr. Ich bin lange genug am Leben geblieben,

und jetzt bin ich müde.« Fast augenblicklich wich der

hartnäckige Wille aus ihrem Körper. In der Nacht wurde

Alicia bewußtlos, und drei Tage später starb sie friedlich

und sanft, als sei sie nur eingeschlummert.

Für John Whiteside bedeutete das Haus nicht mehr so

sehr ein Symbol als etwas wie die äußere Schale seines

Körpers. Mehr als sein Vater liebte er das Haus. So gut

wie seine Gedanken seinen Körper verlassen und in die

Ferne schweifen konnten, so konnte er auch das Haus

verlassen – aber ebenso sicher mußte er immer wieder

heimkehren. Alle zwei Jahre erneuerte er den weißen An-

strich; er besorgte den Garten und schnitt selber regelmä-

ßig die Buchshecke. Er bekleidete im Tal nicht die ein-

248

flußreiche Stellung seines Vaters. John war weniger streng,

weniger überzeugt von seinen Anschauungen. Wenn er

einen Streit schlichten mußte, war er zu sehr geneigt, auf

beiden Seiten etwas zu finden, das man gelten lassen muß-

te. Die große Meerschaumpfeife war nun dunkel gewor-

den, beinahe schwarz, mit einzelnen rötlichen Schattie-

rungen.

Willa Whiteside liebte das Tal von Anfang an. Alicia

war still und reserviert gewesen, und die Leute hatten sie

fast ein wenig gefürchtet. Sie hatten sie selten gesehen,

und wenn sie ihr einmal begegneten, war sie sanft und

gütig und großzügig und ängstlich besorgt gewesen, ihre

Gefühle nicht zu verletzen. Bei Alicia waren sich die Leute

immer vorgekommen wie Bauern, die im Schloß vorspra-

chen.

Willa ging gern die Frauen des Tales besuchen. Sie lieb-

te es, in ihren Küchen zu sitzen und mit ihnen eine Tasse

Tee zu trinken und über Haushaltsangelegenheiten zu

plaudern. Bald betrieb sie einen ausgedehnten Handel

mit Küchenrezepten. Bei ihren Besuchen trug sie ein klei-

nes Notizbuch mit sich, in das sie ihr anvertraute Ge-

heimnisse und Rezepte eintrug. Ihre Nachbarinnen nann-

ten sie Willa, und oft erwiderten sie ihre Besuche und

kamen am Vormittag in ihre Küche, um eine Tasse Tee

zu trinken. Vielleicht war es, wenigstens teilweise, ihr

fröhliches Wesen, das aus John einen geselligen, leutseli-

gen Mann machte. John verlor den Einfluß, den sein Va-

ter seiner Unnahbarkeit wegen behauptet hatte. Er hatte

seine Nachbarn gern. An warmen Sommernachmittagen

saß er auf seiner Veranda und bewirtete und unterhielt

249

ein paar Männer, die gerade nichts zu tun hatten. Auf

Johns Veranda fanden politische Versammlungen statt,

kleine Sitzungen, an denen über einem Glas Limonade

die Wahl- und Abstimmungsgeschäfte besprochen wur-

den. Die gesellschaftliche und politische Struktur des

ganzen Tales wurde auf dieser Veranda festgelegt, und

immer ging es dabei fröhlich und ungezwungen zu und

her. John betrachtete das Leben um sich herum mit einer

Art belustigter Ironie, und dank seiner Einstellung ver-

schwanden aus dem Tal die grimmigen politischen und

religiösen Meinungsverschiedenheiten, welche so oft

ländliche Gemeinschaften vergiften. Und wenn im Ver-

laufe der Diskussion irgendein scheinbar unlösbares, lo-

kales oder nationales Problem von großer Tragweite zur

Sprache kam, pflegte John seine drei dicken Bücher her-

vorzuholen und laut von einer ähnlichen Situation in der

antiken Welt vorzulesen. Für die alten Völker hegte er ei-

ne ebenso große Liebe wie sein Vater.

An Sonntagen luden sie das eine oder andere nachbar-

liche Ehepaar und vielleicht irgendeinen fahrenden Pre-

diger zum Mittagessen ein. Bis das Essen bereit war, hal-

fen die Frauen in der Küche. Bei Tische erfuhr der Predi-

ger, wie das erbarmungslose Feuer seiner Mission in der

Atmosphäre sanfter Toleranz langsam dahinschwand,

und das ging so weit, bis einmal, als der Nachtisch her-

eingebracht wurde und der saure Most getrunken war,

ein feuriger Baptist über einen harmlosen Witz auf Ko-

sten der totalen Immersion herzlich gelacht haben soll.

John freute sich über solche Dinge, aber der Mittel-

punkt seines Daseins war das Wohnzimmer. Die ledernen

250

Lehnstühle, deren Vertiefungen und Löcher die Konse-

quenzen einer gesunden Anatomie waren, waren ein Teil

von ihm selbst. An den Wänden hingen Bilder, mit denen

er aufgewachsen war – Stahlstiche von Waldtieren und

von Gemsen und Bergsteigern in den Schweizer Alpen.

Die Bilder waren so sehr mit seinem Leben verwachsen,

daß John sie gar nicht mehr sah, aber der Verlust eines

einzigen wäre ebenso schmerzlich gewesen wie die Am-

putation eines Armes oder Beines. Am Abend kam sein

größtes Vergnügen. In dem roten Backsteinkamin brann-

te ein kleines Feuer. John saß in seinem Stuhl und liebko-

ste seine große Meerschaumpfeife. Ab und zu rieb er den

polierten Pfeifenkopf an der Seite seiner Nase. Er las in

den ›Georgica‹ oder vielleicht ein Kapitel aus Varro über

die Landbestellung. Willa saß unter ihrer eigenen Lampe

und schürzte die Lippen und stickte Tellerdeckchen mit

Blumenmustern als Weihnachtsgeschenke für Verwandte

im Osten, die ihr auch Tellerdeckchen schenkten.

John schlug das Buch zu und ging an sein Pult. Der

Rolldeckel blieb immer stecken. Er weigerte sich aufzuge-

hen, und man mußte ihm gut zureden. Dann plötzlich

gab er nach und klapperte auf. Willa sah herüber, und der

Ausdruck qualvoller Konzentration wich aus ihrem Ge-

sicht. Immer, wenn sie eine heikle Arbeit verrichtete, trat

dieser Ausdruck in ihr Gesicht.

»Was um Himmels willen machst du, John?« rief sie.

»Nichts … ich suche etwas.«

Eine ganze Stunde arbeitete er am Pult. Dann sagte er:

»Du, Willa … hör mal!«

Er las ihr seine Verse vor und wartete schuldbewußt.

251

Willa schwieg taktvoll. Das Schweigen dauerte so lange,

bis es nicht mehr taktvoll war. Dann sagte sie:

»Nicht überwältigend, oder?« Er lachte einfältig.

»Nein, das ist es nicht.« Er zerknüllte das Papier und

warf es ins Feuer. »Ein paar Minuten glaubte ich, es wür-

de besser.«

»Was hast du denn gelesen, John?«

»Nun, ich habe ein wenig in meinem Virgil geblättert,

und dann dachte ich, jetzt probier’ ich’s doch auch wie-

der einmal, weil ich nicht … also, siehst du, es ist fast

unmöglich, etwas Schönes zu lesen, ohne dann nicht sel-

ber auch etwas Schönes schreiben zu wollen. Aber das ist

ja einerlei.« Er rollte den Pultdeckel herunter und zog ein

neues Buch aus dem Büchergestell.

Das Wohnzimmer war sein eigentliches Heim. Hier

war er ganz vollkommen und glücklich. Unter den Ro-

chesterlampen war jedes kleinste verstreute Partikelchen

von John Whiteside zu einem eindeutigen, scharfumris-

senen Ganzen vereinigt. Die meisten menschlichen Leben

verlaufen in einer Kurve, in der sich die einzelnen Stadien

deutlich unterscheiden: der ansteigende Ast des Ehrgei-

zes, ein abgerundeter Scheitel der Reife, ein sanft abstei-

gender Ast der Ernüchterung und Enttäuschung, und am

Ende das flach auslaufende Stück des Wartens auf den

Tod. John Whiteside lebte in einer geraden Linie. Er war

völlig ehrgeizlos; der Ertrag seiner Farm genügte nicht

nur für seinen Lebensunterhalt, sondern bezahlte ihm

auch die Knechte, die für ihn arbeiteten. Er begehrte

nicht mehr, als was er schon besaß oder was er sich mü-

helos verschaffen konnte. Er war einer der wenigen Men-

252

schen, die einen Augenblick genießen, wenn sie ihn in der

Hand halten. Und er wußte, daß er ein gutes, ein unge-

wöhnlich gutes Leben führte.

In seinem Leben fehlte nur eins. Er hatte keine Kinder.

Das Verlangen nach Kindern war in ihm fast so stark, wie

es in seinem Vater gewesen war, aber Willa bekam keine

Kinder, obgleich auch sie sich sehnlich ein paar ge-

wünscht hätte. Das Thema war etwas peinlich, und so

sprachen sie eigentlich nie darüber.

In ihrem achten Ehejahr wurde Willa infolge eines bio-

logischen oder vielleicht auch göttlichen Zufalls schwan-

ger und gebar nach normalen neun Monaten ein gesun-

des Kind.

Der Zufall ereignete sich nie wieder, aber sowohl Willa

wie John waren sehr, sehr dankbar für dieses eine Mal.

Mit der Geburt eines Sohnes erwachte das Bedürfnis nach

Selbst-Verewigung, das mehr oder weniger immer in

John geschlummert hatte, und drängte sich an die Ober-

fläche. Ein paar Jahre lang pflügte und eggte und walzte

er den Boden, und wenn er vorher seiner Farm nur ein

guter Freund gewesen war, so machten ihn jetzt die erwa-

chenden Pflichten gegenüber kommenden Generationen

zu einem Meister. Er legte die Saatkörner in die Erde und

wartete ungeduldig, bis die grünen Pflanzen hervorguck-

ten.

Willa blieb unverändert. Sie nahm ihr Kind als etwas

Selbstverständliches entgegen, taufte es William, nannte

ihn Bill und weigerte sich, ihn zu vergöttern. John sah in

dem Jungen eine große Ähnlichkeit mit seinem Vater,

obgleich das außer ihm niemand sah.

253

»Glaubst du, er ist aufgeweckt?« fragte John seine Frau.

»Du bist mehr um ihn herum als ich. Ist er intelligent?«

»Leidlich. Gerade normal wie alle anderen Kinder.«

»Mir scheint, er entwickelt sich so langsam«, sagte John

ungeduldig. »Es dauert so lange, bis er anfängt, Dinge zu

verstehen.«

An Bills zehntem Geburtstag öffnete John seinen dik-

ken Herodot und begann vorzulesen. Bill saß am Boden

und sah seinen Vater verständnislos an. Abend für Abend

las ihm John ein paar Seiten vor. Eines Abends, etwa nach

einer Woche, blickte er von seinem Buche auf und sah,

daß Willa lachte.

»Was ist denn los?« forschte er.

»Sieh unter deinen Stuhl!«

John bückte sich und sah unter den Stuhl. Bill lag auf

dem Boden und baute aus Streichhölzern ein Haus. Er

war so in seine Arbeit vertieft, daß er gar nicht merkte,

daß sein Vater zu lesen aufgehört hatte. »Hat er gar nicht

zugehört?«

»Nein. Kein Wort hat er gehört, seit er am ersten

Abend schon beim zweiten Abschnitt herausfand, daß es

ihn nicht interessiert.«

John schlug das Buch zu und stellte es auf das Gestell

zurück. Er wollte nicht zeigen, wie tiefer gekränkt war.

»Vielleicht ist er noch zu klein. Ich warte ein Jahr, dann

versuche ich es nochmals.«

»Es wird ihn nie interessieren, John. Er ist eben anders

als du und dein Vater.«

»Aber wofür interessiert er sich denn?« fragte John be-

stürzt.

254

»Für alles, was auch den anderen Buben im Tal gefällt

… Gewehre und Pferde und Hunde und Kühe. Er ist dir

entwischt, John, und ich glaube nicht, daß du ihn je wie-

der einfangen wirst.«

»Sag mir die Wahrheit, Willa: Ist er … dumm?«

»Nein, John«, sagte sie überlegend, »nein, dumm ist er

nicht. Im Gegenteil, in mancher Hinsicht ist er sogar här-

ter und gescheiter als du. Er ist einfach anders, eine ande-

re Art Mensch, und es ist besser, daß du das jetzt schon

einsiehst.«

John Whiteside spürte, wie sein Interesse für die Farm

langsam nachließ. Das Land war gesichert; Bill würde es

eines Tages bebauen. Und auch um das Haus brauchte er

sich keine Sorgen zu machen. Bill war kein Dummkopf.

Von klein auf beschäftigte er sich geschickt mit mechani-

schen Sachen. Er konstruierte kleine Karren, und zu

Weihnachten wünschte er sich Spielzeugmotoren und

Dampfmaschinen. Auch in einer anderen Hinsicht schlug

Bill aus der Art der Whitesides: Er war nicht nur ver-

schwiegen, sondern auch sehr geschickt in einem kauf-

männischen Sinn. Er verkaufte seine Besitztümer an ande-

re Buben, und wenn diese dann ihrer überdrüssig waren,

kaufte er sie zu einem geringeren Preise zurück. Kleine

Geldgeschenke multiplizierten sich in seinen Händen auf

geheimnisvolle Art. Es dauerte lange, bis John einsah, daß

er mit seinem Sohn nicht viel anfangen konnte. Als er

ihm ein Kalb schenkte und als Bill das Kalb unverzüglich

gegen einen Wurf Schweine eintauschte, die er aufzog

und verkaufte, lachte sich John heimlich aus.

»Der ist allerdings schlauer als ich«, sagte er zu Willa.

255

»Mein Vater schenkte mir einmal ein Kalb. Ich behielt es,

bis es an Altersschwäche starb. Bill ist irgendein Rück-

schlag auf einen Piraten oder so etwas. Seine Kinder wer-

den vermutlich Whitesides sein. Es ist ein kräftiges Blut.

Immerhin, ich wollte, er wäre nicht so verstockt. Man

weiß ja nie, was er treibt.«

Johns Lederstuhl und seine schwarze Meerschaumpfeife

und seine Bücher beanspruchten ihn wieder, und für die

Farm hatte er keine Zeit mehr. Er wurde zum Schriftfüh-

rer der Schulpflege gewählt. Und die Bauern versammel-

ten sich wieder häufiger auf seiner Veranda. Johns Haar

wurde weiß, und sein Einfluß im Tal wuchs, als er älter

wurde.

Das Haus Whiteside war ein wichtiger Bestandteil von

Johns Persönlichkeit. John und das Haus bildeten ein

harmonisches Ganzes. Wenn die Leute des Tales an ihn

dachten, sahen sie nicht den Mann allein auf dem Feld

oder auf einem Wagen oder im Laden; das Haus gehörte

mit in das Bild: John saß in seinem Lederstuhl und lächel-

te seinen dicken Büchern zu, oder er ruhte in einem Gar-

tenstuhl auf seiner breiten, einladenden Veranda, oder er

hatte eine Blumenschere in der Hand und einen kleinen

Korb am Arm und schnitt Blumen im Garten, oder er saß

am oberen Ende des Tisches im großen Eßzimmer und

tranchierte sorgfältig und kunstvoll einen Braten. John

und sein Haus gehörten zusammen. Im Westen ist ein

Haus, in dem zwei Generationen der gleichen Familie

gewohnt haben, ein altes Haus, und die Familie ist eine

Pionierfamilie. Und hier, im Westen, empfinden die Leu-

256

te eine eigenartige Mischung von Verehrung und Verach-

tung für alte Häuser. Es gibt sehr wenig alte Häuser im

Westen. Jene rastlosen Amerikaner, die das Land urbar

gemacht haben, sind nie imstande gewesen, sehr lange an

einem Ort zu verweilen. Sie haben behelfsmäßige, wackli-

ge Häuser aufgestellt und sind bald wieder weitergezogen

und haben etwas Neues gesucht. Alte Häuser sind fast

immer kalt und häßlich. – Als Bert Munroe seine Familie

auf die Battle-Farm im »Tal des Himmels« brachte,

brauchte er nicht lange, um die Sonderstellung, die John

Whiteside im Tal bekleidete, zu erkennen und zu verste-

hen. Sobald es ihm möglich war, schloß er sich den Män-

nern an, die sich auf Johns Veranda trafen. Berts Farm

grenzte an Johns Land. Kurze Zeit nach seinem Einzug

ins Tal wurde Bert in die Schulpflege gewählt, und das

brachte ihn sozusagen von Amtes wegen in näheren Kon-

takt mit John. Eines Abends bei einer Sitzung zitierte

John ein paar Zeilen aus Thukydides. Nach der Sitzung

wartete Bert, bis die anderen Schulpfleger gegangen wa-

ren.

»Was war das für ein Buch, aus dem Sie heute abend

vorgelesen haben, Mr. Whiteside?« fragt er.

»Meinen Sie den ›Peloponnesischen Krieg‹?« John hol-

te das Buch vom Gestell und gab es Bert.

»Ich dachte, ich möchte es eigentlich gern lesen, wenn

Sie es mir leihen wollten.«

Einen Augenblick zögerte John. Dann sagte er: »Natür-

lich … nehmen Sie es mit. Es gehörte meinem Vater.

Wenn es Ihnen gefällt, habe ich noch andere, die Sie viel-

leicht lesen mögen.«

257

Das war der Anfang einer gewissen Vertrautheit zwi-

schen den beiden Familien. Sie besuchten einander und

luden sich gegenseitig zum Essen ein. Bert borgte Werk-

zeuge von John.

Und dann, eines Abends, als die Familie Munroe schon

etwa anderthalb Jahre im Tale war, trat Bill Whiteside in

das Wohnzimmer seiner Eltern, tat, als hätte er eine Un-

glücksbotschaft zu verkünden, und sagte heiser: »Ich hei-

rate.«

»Was!« rief John. »Was zum … warum hast du uns

denn nie etwas davon gesagt? Wer ist es?«

»Mae Munroe.«

Erst jetzt wurde sich John bewußt, daß das eine gute

Nachricht und nicht das Geständnis eines Verbrechens

war. »Ei … du, das ist ja gut! Das freut mich. Mae ist ein

nettes Mädchen … nicht wahr, Willa?« Seine Frau wich

seinem Blick aus. Sie hatte an jenem Morgen Maes Mut-

ter besucht.

Bill stand steif und schwer in der Mitte des Zimmers.

»Wann ist die Hochzeit?« fragte Willa, und John hatte

das Gefühl, ihre Stimme sei hart und fast unfreundlich.

»Ziemlich bald; sobald das Haus in Monterey fertig

ist.«

John stand auf, nahm seine schwarze Meerschaumpfei-

fe von der Wand und zündete sie langsam an. Dann setzte

er sich wieder in seinen Stuhl. »Das ist etwas überra-

schend, Bill«, sagte er. »Warum hast du uns nie etwas da-

von gesagt?« Bill gab keine Antwort. »Du sagst, ihr werdet

in Monterey wohnen. Soll das heißen, daß du deine Frau

nicht zu uns bringen wirst? Willst du nicht in diesem

258

Hause wohnen und unser Land bebauen?« Bill schüttelte

den Kopf. »Schämst du dich wegen etwas, Bill?«

»Nein, Vater«, sagte Bill. »Ich schäme mich nicht. Ich

habe einfach nie gern über meine Angelegenheiten ge-

sprochen.«

»Findest du nicht, daß diese Angelegenheit auch uns

etwas betrifft, Bill?« fragte John bitter. »Du bist unsere

Familie. Deine Kinder werden unsere Enkel sein.«

»Mae ist in der Stadt aufgewachsen. Alle Freundinnen

wohnen in Monterey, verstehst du, Vater … Freundinnen

aus der Schule, und hier hat sie niemanden, und es ist

nichts los. Es gefällt ihr nicht hier draußen.«

»Ich verstehe.«

»Und deshalb, als sie sagte, sie möchte lieber in der Stadt

wohnen, kaufte ich einen Anteil an der Fordvertretung.

Das hab ich schon immer gewollt, irgendein Geschäft.«

John nickte langsam. Er hatte den ersten Ärger über-

wunden. »Ist es ganz ausgeschlossen, daß Mae einwilligen

würde, in diesem Haus zu wohnen? Wir haben so viel

Platz. Wir können ändern, was ihr nicht gefällt.«

»Aber es gefällt ihr ja nicht auf dem Land. Ihre Be-

kannten sind alle in der Stadt.«

Willas Mund war hart zusammengepreßt. »Sieh deinen

Vater an!« befahl sie grimmig.

John lächelte traurig. »Dann ziehst du eben in die

Stadt, Bill. Meinetwegen. Hast du auch genügend Geld?«

»Natürlich. Und sieh, Vater, wir lassen ein sehr großes

Haus bauen, das heißt, sehr groß für uns beide. Wir ha-

ben darüber gesprochen; wir dachten, vielleicht möchtet

ihr, du und Mutter, zu uns ziehen und bei uns wohnen.«

259

John lächelte tapfer weiter. »Und was soll dann aus

dem Haus und der Farm werden?«

»Darüber haben wir auch gesprochen. Du könntest das

Haus verkaufen, mühelos, für viel Geld, und davon könn-

tet ihr beide in der Stadt leben. In einer Woche könnte

ich dir alles glatt verkaufen.«

John seufzte und sank in die Kissen seines Stuhles.

Willa sagte: »Wenn ich wüßte, daß es etwas nützte,

würde ich dich mit einem Stock schlagen, Bill.«

John zog nachdenklich an seiner Pfeife. Nach einer

Weile sagte er leise: »Du kannst nicht für lange fortzie-

hen. Eines Tages wirst du ein Heimweh bekommen, dem

du nicht widerstehen kannst. Dieses Haus ist in deinem

Blut. Wenn du Kinder hast, wirst du einsehen, daß das

der einzige Ort ist, wo sie aufwachsen können. Du magst

für eine Weile fortgehen, aber fortbleiben kannst du

nicht. Wenn du in der Stadt bist, Bill, warten wir hier und

sehen nach dem Rechten und halten das Haus in Ord-

nung und besorgen den Garten. Du wirst zurückkom-

men. Deine Kinder werden im Garten spielen. Wir wer-

den auf sie warten. Als mein Vater starb, träumte er von

Kindern.« Er lächelte einfältig. »Das hätte ich bald verges-

sen.«

»Mit einem Stock könnte ich ihn durchhauen«, mur-

melte Willa.

Bill war verlegen, als er wortlos aus dem Zimmer ging.

»Er wird wiederkommen«, sagte John abermals, als Bill

gegangen war.

»Natürlich«, sagte Willa grimmig.

John sah sie mißtrauisch an. »Glaubst du das wirklich,

260

Willa? Du sagst es nicht bloß mir zuliebe? Ich würde mir

sehr alt vorkommen.«

»Was du für Ideen hast! Natürlich glaube ich es.«

Bill heiratete im Sommer und zog sofort in sein neues

Haus in Monterey. Im Herbst wurde John Whiteside

wieder rastlos wie damals, als Bill geboren wurde. Er

strich das Haus an, obwohl es eigentlich gar nicht nötig

war. Erbarmungslos schnitt er die Hecke im Garten.

»Das Land trägt zu wenig ein«, sagte er zu Bert Mun-

roe. »Ich habe es zu lange sich selbst überlassen. Ich

könnte viel mehr herausholen als bisher.«

»Ja«, sagte Bert. »Wir sind alle etwas gleichgültig in

dieser Hinsicht. Ich habe mich immer gefragt, weshalb

Ihr keine Schafe haltet. Mir scheint, der Hügel hinter dem

Haus würde eine ansehnliche Herde ernähren.«

»Zu meines Vaters Zeiten pflegten wir eine Herde

Schafe zu halten. Das ist schon lange her. Aber, wie ge-

sagt, ich habe die Farm vernachlässigt. Das Gestrüpp hat

sich sehr breit gemacht.«

»Verbrennt es doch!« sagte Bert. »Wenn Ihr es noch

diesen Herbst verbrennt, habt ihr im Frühjahr feines

Weideland.«

»Das ist eine gute Idee. Allerdings, die Stauden kom-

men fast bis an das Haus herunter. Da müßte ich denn

schon ein paar Männer haben, dir mir helfen.«

»Ich denke, es genügt, wenn ich komme und Jimmie

mitbringe. Ihr habt selber zwei Männer, und mich Euch

zusammen sind wir unser fünf. Wenn wir zuerst etwas

Regen abwarten und dann an einem Morgen beizeiten

beginnen, bevor der Wind kommt, riskieren wir nichts.«

261

Der Herbst setzte früh ein. Im Oktober waren die Wei-

denbäume an den Bächen im »Tal des Himmels« wie gelbe

Flammen. Hoch am Himmel, kaum zu erkennen, zogen

große Wildentenschwärme dem Süden zu, und die zah-

men Enten im Hof schlugen mit den Flügeln, streckten die

Hälse und schrien sehnsüchtig. Unruhig kreisten die Am-

seln über den Feldern; schon lag der erste Frost in der Luft.

John Whiteside bangte vor dem Winter. Von früh bis spät

arbeitete er im Obstgarten und half die Bäume schneiden.

Eines Nachts erwachte er und hörte auf dem Schiefer-

dach das Flüstern eines feinen Regens.

»Bist du wach, Willa?« fragte er leise.

»Natürlich.«

»Der erste Regen. Ich wollte, daß du es auch hörst.«

»Ich bin schon lange wach. Ich habe gehört, wie er

kam«, sagte sie behaglich. »Das hast du verpaßt. Du hast

geschnarcht.«

»Möglich. Jedenfalls wird er nicht lange dauern. Es ist

nur ein kleiner Schauer, um den Staub wegzuwaschen.«

Am Morgen schien die Sonne durch die frische, saube-

re Luft. Millionen kleiner Wassertröpflein glitzerten wie

Kristalle. John und Willa saßen noch beim Frühstück, als

Bert und Jimmie Munroe in die Küche traten.

»Morgen, Mrs. Whiteside! Morgen, John! Ich dachte,

nach diesem hübschen kleinen Regen könnten wir es wa-

gen, die Stauden zu verbrennen.«

»Das ist eine gute Idee. Setzt Euch und trinkt eine Tas-

se Kaffee!«

»Danke, John; wir haben eben erst ausgiebig gefrüh-

stückt.«

262

»Aber du, Jimmie; eine Tasse Kaffee?«

»Nein, danke, Mr. Whiteside.«

»Gut, dann wollen wir beginnen, bevor das Gras wie-

der trocken ist.«

John rief die beiden Knechte aus dem Obstgarten her-

bei. Dann ging er von außen durch die Falltür neben der

Hintertreppe in den Keller und holte eine Kanne Petro-

leum. Jeder der fünf Männer bekam ein paar nasse Säcke

in die Hand.

»Kein Wind«, sagte Bert. »Das ist günstig. Am besten

fangt ihr gerade hier an. Wir bleiben zwischen dem Feuer

und dem Haus, bis das Feuer ein Stück weit vorgedrun-

gen ist. Wir wollen lieber nichts riskieren.«

John zündete die Petroleumfackel an und schritt

langsam am Rande des Gestrüpps entlang. Die dürren

Stauden brannten augenblicklich. Die Flammen rasten

und loderten und fraßen sich gierig in die harzigen

Zweige hinein. Schritt für Schritt arbeiteten sich die

Männer hinter dem Feuer her, den kleinen, steilen Hü-

gel hinauf.

»Das sollte hier genügen!« rief Bert. »Das Feuer ist weit

genug vom Haus entfernt. Jimmie und ich fangen jetzt

von oben an.« Er schritt an den seitlichen Rand des Ge-

strüpps und begann den Hügel hinaufzusteigen. Jimmie

stieg ihm nach. In diesem Augenblick erhob sich ein klei-

ner Wirbelwind und tanzte und hüpfte lustig gegen das

Haus hinunter, machte einen koketten Sprung ins Feuer,

packte Funken und Asche und schleuderte sie gegen die

weißen Mauern. Dann, wie wenn sie ihres Spieles über-

drüssig geworden wäre, fiel die kleine Luftsäule in sich zu-

263

sammen. Bert und Jimmie rannten zurück zu den ande-

ren. Zusammen suchten alle fünf den Boden ab und zer-

traten mit den Schuhen jedes einzelne Fünklein. »Gut, das

haben wir beizeiten bemerkt!« sagte John. »Wegen einer

solchen läppischen Kleinigkeit könnte das ganze Haus ab-

brennen.«

Abermals stiegen Bert und Jimmie an den Hügel hin-

auf und legten Feuer in den oberen Rand des Gestrüpps.

John und seine Knechte arbeiteten hügelaufwärts und

blieben zwischen dem Feuer und dem Haus. Die Luft war

dick und blau und beißend. In einer Viertelstunde waren

fast alle Stauden verbrannt.

Plötzlich ertönte ein Schrei aus der Richtung des Hau-

ses. Durch den Rauch über den brennenden Stauden war

das Haus kaum sichtbar. Die Männer rannten hinunter.

Als sie näher kamen, sahen sie das Haus. Aus einem der

oberen Fenster schlug ein dicker, grauer, häßlicher

Rauchwirbel.

Willa kam ihnen über den verbrannten Boden entgegen-

gerannt. John blieb stehen, als er mit ihr zusammentraf.

»Ich hörte etwas im Keller!« rief sie. »Ich öffnete die

Kellertür in der Küche, und dann stand ich mitten drin.

Jetzt ist es überall im ganzen Haus!«

Bert und Jimmie stürmten auf sie zu. »Sind die Schläu-

che im Wasserhaus?« rief Bert.

John blickte langsam von seinem brennenden Hause

weg und sagte erstaunt: »Ich weiß nicht.«

Bert packte ihn am Arm. »Vorwärts! Worauf wollt Ihr

noch warten? Wir können noch einiges retten. Wenig-

stens ein paar Möbel.«

264

John begann zum Haus hinunterzuschlendem.

»Ich glaube, ich will gar nichts retten«, sagte er.

»Ihr seid verrückt!« rief Bert. Er rannte weiter und

suchte die Schläuche.

Jetzt züngelten einzelne Flammen durch den Rauch

aus dem Fenster. Aus dem Innern des Hauses kam der

Lärm eines wilden Feuers; das alte Gebäude kämpfte um

sein Leben.

John starrte unverwandt hin. Einer der Knechte lief

ihm nach. »Wenn nur dieses Fenster nicht offen wäre,

dann wäre noch Hoffnung«, sagte er kläglich. »Es ist so

trocken, dieses Haus. Und es zieht wie ein Kamin.«

John setzte sich auf den Sägebock vor dem Holzstall.

Willa sah ihn fragend an, dann stand sie schweigend ne-

ben ihm. Und im Haus tobte ein wütender Sturm.

Dann geschah etwas sehr Seltsames und sehr Grausa-

mes. Die vordere Hausmauer fiel wie eine Bühnenkulisse

nach außen, und dort, zwölf Fuß über dem Erdboden,

vom Feuer noch unberührt, war das Wohnzimmer. Alle

schauten zu, wie die langen Flammen in das Zimmer

schossen. Die Lederstühle zitterten und schrumpften in

der Hitze zusammen wie lebende Wesen. Das Glas der

Bilder klirrte, und die Stahlstiche verbrannten zu schwar-

zen Fetzen. Sie sahen die schwarze Meerschaumpfeife, die

über dem Kaminsims hing. Dann verschluckten die

Flammen das Zimmer. Das schwere Schieferdach stürzte

ein und zerschmetterte Mauern und Böden unter seinem

Gewicht. Das Haus war nur noch eine einzige, riesige, un-

förmige Wolke von Feuer und Rauch.

Bert war zurückgekommen und stand hilflos neben

265

John. »Es muß dieser Wirbelwind gewesen sein«, erklärte

er. »Ein Funke ist in den Keller geraten und in das Stein-

öl. Jawohl, das Öl ist schuld!«

John blickte auf und lächelte. Es war ein entsetztes, fast

blödes Lächeln. »Jawohl, das Öl ist schuld«, sagte er Bert

nach.

Das Feuer brannte gut, nachdem nun sein Sieg gewiß

war. Es war eine rasch wachsende, hoch in die Luft ra-

gende Wand von Flammen. Es glich in keiner Weise

mehr einem Haus. John Whiteside stand auf und streck-

te die Schultern und seufzte. Einen Augenblick verweil-

ten seine Augen auf einer Stelle im Feuer, fünfzehn Fuß

über dem Erdboden, wo sein Wohnzimmer gewesen

war. »Da ist nichts mehr zu wollen«, sagte er. »Alles aus!

Und ich glaube, ich weiß jetzt, wie einer Seele zumute

ist, wenn sie ihren Körper in der Erde verscharrt und für

immer verloren sieht. Gehen wir in Ihr Haus, Bert! Ich

will Bill anläuten. Wahrscheinlich hat er für uns ein

Zimmer.«

»Warum bleibt Ihr nicht bei uns? Wir haben ja Platz

genug.«

»Nein, danke; wir gehen zu Bill.« Noch einmal blickte

John zurück auf den brennenden Haufen. Willa streckte

die Hand aus, wie wenn sie ihren Mann führen wollte,

aber bevor sie ihn berührt hatte, zog sie den Arm zurück.

John sah die Gebärde und lächelte Willa zu. »Wenn ich

nur meine Pfeife hätte retten können«, sagte er.

»Allerdings«, sagte Bert, froh über das Stichwort. »Das

war die bestgefärbte Meerschaumpfeife, die ich je gesehen

habe. In den Museen haben sie Pfeifen, die kein bißchen

266

besser gefärbt sind. Die Pfeife muß sehr lange geraucht

worden sein.«

»Ja«, sagte John, »sehr, sehr lange. Und sie war sehr

angenehm zu rauchen.«

XII

Um zwei Uhr nachmittags verließ der Autobus mit

den Touristen die Station in Monterey für eine »Siebzig-

Meilen-Rundfahrt« um die Halbinsel. Als der große

Wagen die Straßen entlang rollte, staunten die Reisen-

den die prächtigen Häuser sehr reicher Leute an, die ihre

oft bizarre Pracht sichtbar allen Augen darboten. Sie

fühlten sich etwas gehemmt, als sie so durch die staubi-

gen Wagenfenster hinausguckten, ein wenig schüchtern

wie heimliche Lauscher, aber zugleich irgendwie bevor-

zugt. Der Wagen kroch durch die Stadt Carmel, dann

einen Hügel hinauf und hinüber auf die andere Seite,

zur braunen Kirche der Carmelo-Mission mit ihrer

schiefen Kuppel. Dort hielt der junge Chauffeur am

Straßenrand und streckte die Füße auf des Armaturen-

brett, derweil sich seine Passagiere durch die alte dunkle

Kirche führen ließen.

Als sie auf ihre Sitze zurückkehrten, waren einige der

Schranken, die so Reisende um sich legen, gebrochen.

»Haben Sie gehört?« sagte ein wohlhabender Mann.

»Der Führer sagte, die Kirche ist wie ein Schiff mit einem

Kiel aus Stein tief im Boden verankert. Das ist wegen der

Erdbeben – wie ein Schiff im Sturm, nicht wahr? Aber das

würde wohl kaum helfen.«

Ein junger Priester mit einem sauberen, rosigen Ge-

sicht und einer neuen Soutane, auf die er sichtlich stolz

war, antwortete zwei Reihen weiter hinten: »Es hat aber

schon etwas geholfen. Die Mission hat schon einige Erd-

268

beben überstanden. Trotzdem sie aus Lehm gebaut ist,

steht sie immer noch.«

Ein alter Mann – ein alter und gesunder Mann mit

lebhaften Augen – unterbrach ihn. »Es geschehen doch

seltsame Dinge«, sagte er. »Vor einem Jahr habe ich mei-

ne Frau verloren. Wir waren mehr als fünfzig Jahre ver-

heiratet.« Dann sah er sich lächelnd um und wartete auf

eine Antwort, die ihm niemand gab, und vergaß dabei die

seltsamen Dinge, die ihm widerfahren waren.

Ein junges Paar, auf der Hochzeitsreise, saß Arm in

Arm. Die junge Frau schmiegte sich an ihren Mann.

»Frage doch den Chauffeur, wohin wir jetzt fahren!«

Der Bus stieg langsam weiter, das Carmeltal hinauf, an

Obstgärten und Artischockenfeldern vorbei und eine rote

Klippe entlang, die mit wilden Reben überwachsen war.

Der Nachmittag ging langsam zur Neige, und die Sonne

sank tiefer zum Meer, dort, wo das Tal einmündete. Die

Straße trennte sich vom Carmelfluß und kletterte allein

weiter, bis sie oben auf dem schmalen Kamm den höch-

sten Punkt erreicht hatte. Hier steuerte der Chauffeur sei-

nen Wagen scharf gegen den Straßenrand, fuhr rückwärts

und vor und wieder zurück, viermal, bis der Wagen in die

entgegengesetzte Richtung wies. Dann stellte er den Motor

ab und wandte sich an seine Passagiere. »Weiter fahren

wir nicht. Aber bevor wir zurückkehren, strecke ich gern

ein wenig die Beine aus. Vielleicht wünscht der eine oder

andere auszusteigen und ein paar Schritte zu gehen.«

Sie erhoben sich von ihren Sitzen, etwas steif und froh,

daß sie sich strecken konnten, und dann standen sie am

Rande des Abhangs und blickten in das »Tal des Himmels«

269

hinunter. Die Luft war wie ein goldener Schleier im Licht

der letzten Sonnenstrahlen. Das Land unter ihnen war in

Vierecke von grünen Obstgärten und gelben Kornfeldern

und violetter Erde unterteilt. Von den stattlichen Bauern-

häusern in den hübschen Gärten stieg der Rauch der

Abendfeuer senkrecht zum Himmel, bis er vom Bergwind

weggewischt wurde. Kuhglocken läuteten leise, und ein

Hund bellte, so weit, weit weg, daß das Bellen nur wie ein

scharfes, kleines Flüstern an die Ohren der Reisenden

drang. Unterhalb des Grates, unter einer riesigen Eiche,

hatte eine Schafherde Zuflucht für die Nacht gefunden. »Es

heißt das ›Tal des Himmels‹«, erklärte der junge Chauf-

feur. »Sie pflanzen feines Gemüse dort unten und gute

Beeren und Früchte, und sie werden viel früher reif als an-

derswo.«

Die Passagiere sahen fasziniert ins Tal.

Der wohlhabende Mann räusperte sich. Seine Stimme

hatte einen prophetischen Ton. »Das sage ich euch: Eines

Tages wird es auch in diesem Tal große Häuser geben,

Häuser aus Stein, mit Gärten und Golfplätzen und gro-

ßen Toren und Gittern. Reiche Leute werden darin woh-

nen, Männer, die ihr Glück gemacht haben und des Ar-

beitens in der Stadt müde geworden sind und sich nach

einem stillen Plätzchen sehnen, wo sie sich einnisten und

ausruhen und etwas ergötzen können. Wenn ich das Geld

hätte, würde ich das ganze Tal kaufen. Dann würde ich es

behalten und eines Tages mit viel Gewinn verkaufen.« Er

machte eine Pause und fuhr mit der Hand durch die Luft,

gleichsam über das Tal. »Jawohl, und bei Gott, ich würde

selber dort unten wohnen.«

270

Seine Frau sagte: »Seht!« Er blickte schuldbewußt um

sich und sah beruhigt, daß ihm niemand zugehört hatte,

weil sie alle zu ergriffen waren.

Der purpurne Schatten des Hügels kroch in die Mitte

des Tales; irgendwo weit unten grunzte ein Schwein. Der

junge Ehemann hob die Augen und lächelte etwas ta-

delnd zurück. »Fast hätte ich mich vergessen«, hatte sein

Lächeln bedeutet, »fast hätte ich gewagt, auch daran zu

denken. Es wäre zu schön … aber natürlich, das geht ja

nicht.«

Und ihr Lächeln hatte geantwortet: »Nein, natürlich

nicht. Denk doch an den Ehrgeiz und was unsere Freunde

von uns erwarten! Und an den Namen, den du dir erst

machen mußt, damit ich stolz auf dich sein kann. Man

darf nicht vor der Verantwortung davonrennen und sich

in einem solchen Ort vergraben. Aber schön wäre es.«

Und beider Lächeln wurde sanfter und verweilte eines in

des anderen Augen.

Der junge Priester schlenderte ein paar Schritte abseits

von den anderen. Er flüsterte ein Gebet, als ob er das Tal

vor den drohenden Änderungen bewahren wollte, aber

die Gewohnheit hatte ihn gelehrt, beim Beten etwas ande-

res zu denken.

»Man könnte ein kleines Kirchlein bauen«, dachte er.

»Armut und üble Gerüche und Sorgen, das gäbe es nicht

dort unten. Meine Leute könnten mir kleine, gesunde

Sünden beichten, die mit der Sühne von einigen ›Gegrü-

ßet seist du, Maria‹ hinweggenommen würden. Es wäre

friedlich dort unten; es gäbe nichts Schmutziges, nichts

Grausames, dessen ich mich schämen müßte. Ich müßte

271

nie zweifeln und nie bereuen. Die Leute in jenen Häusern

würden mich lieben. Sie würden mich Vater nennen, und

ich wäre gerecht mit ihnen, wenn Gerechtigkeit ange-

bracht ist.« Er runzelte die Stirn und verwarf den Gedan-

ken. »Ich bin kein guter Priester. Ich werde mich bessern;

ich werde mich mit den armen Leuten, mit ihrem Ge-

stank und ihren Sorgen züchtigen. Ich darf mich Gottes

Tragödien nicht entziehen.« Und er dachte: »Vielleicht

aber wartet meiner ein solches Tal, wenn ich dereinst ge-

storben bin.«

Der alte Mann mit den lebhaften Augen starrte ins Tal,

und in seinen tauben Ohren rauschte die Stille des

Abends wie ein leichter Wind, der durch eine Zypresse

weht. Die entfernteren Hügel sah er nur verschwommen,

aber das goldene Licht und die purpurnen Schatten

konnte er unterscheiden. Sein Atem kam stockend, und

Tränen traten ihm in die Augen. Hilflos schlug er mit den

Händen gegen seine Hüften. »Ich habe nie Zeit gehabt,

um zu überlegen. Immer haben mich Sorgen beschäftigt,

und nie war Zeit genug, um über etwas nachzudenken.

Wenn ich dort hinunterziehen könnte; wenn ich dort le-

ben dürfte, nur ein Weilchen … ich würde über alle Din-

ge nachdenken, die sich in meinem Leben ereignet haben,

und vielleicht könnte ich sie zusammenreimen, sie zu

Ende denken, könnte ich etwas mit ihnen anfangen, sie

zusammenfügen zu einem Ganzen, das einen Sinn hat …

So ist alles nichts, alles lose Enden, alles unfertige herab-

hängende Fetzen. Dort unten würde mich nichts stören,

und ich könnte nachdenken.«

Der Chauffeur warf die Zigarette auf die Straße und

272

zertrat sie mit dem Schuh. »Einsteigen, meine Herrschaf-

ten!« rief er. »Wir müssen weiter.« Er half ihnen in den

Wagen und schlug die Türen hinter ihnen zu; aber sie

preßten sich an die Fenster und schauten hinunter in das

»Tal des Himmels«, wo die Luft blau geworden war wie

ein See und wo die Felder und Höfe langsam in der Stille

ausgelöscht wurden.

»Wißt ihr«, sagte der Chauffeur mit einem knabenhaf-

ten Lächeln, »ich denke jedesmal, es wäre eigentlich

schön, wenn man dort unten ein Häuschen hätte. Man

könnte sich eine Kuh und ein paar Schweine und einen

Hund oder zwei leisten. Man könnte von einer Farm ganz

gut leben.« Er trat auf den Anlasser, und einen Augen-

blick lang brüllte der Motor, dann drosselte er ihn. »Ihr

werdet vielleicht lachen über mich, wenn ich es sage, aber

jedesmal freue ich mich, dort hinunterzusehen und mir

dabei auszumalen, wie still und zufrieden man auf einem

kleinen Stück Land zu leben vermag.«

Langsam setzte sich der große Wagen wieder in Bewe-

gung. Der junge Fahrer steuerte ihn behende den Abhang

hinunter durch das langgezogene Carmeltal und der Son-

ne entgegen, die an der Mündung des Tales im Meer un-

terging.