»Dies ist die Geschichte eines Tales, dessen Anblick für vie-
le Menschen eine große Verheißung war …« Mit der Mei-
sterschaft des großen Erzählers beschreibt John Steinbeck
einen fruchtbaren, von sanften Hügeln umgebenen Land-
strich in Kalifornien: das Tal des Himmels. Trotz dieses
Namens ist es Schauplatz irdischer Versuchungen, Nöte
und Leidenschaften. Steinbeck entwirft eine Fülle unver-
geßlicher Gestalten – Tularecito mit den Pflanzerhänden
und dem Kinderverstand, Raymond Bank mit seiner selt-
samen Passion für Hinrichtungen oder die beiden Schwe-
stern Lopez, die gottergeben den Pfad des Lasters einschla-
gen – und läßt in der Verknüpfung ihrer Schicksale die
Grundmuster menschlicher Existenz sichtbar werden. »Er
erweist sich einmal mehr als überlegener Beobachter dieser
Welt und ihrer Bewohner. Was er auch schreiben mag,
immer überbordet er von Einfällen«, schreibt ›Die Welt-
woche‹ (Zürich), »und so ist auch hier jedes Kapitel eine
abgerundete Novelle, die sich trefflich ins Ganze fügt und
von denen jede einzelne einem weniger gedrängt Schrei-
benden Stoff zu einem vollen Roman liefern würde.«
John Ernst Steinbeck, amerikanischer Erzähler deutsch-
irischer Abstammung, geboren am 27. Februar 1902 in Pa-
cific Grove bei Salinas, wuchs in Kalifornien auf. 1918–24
Studium der Naturwissenschaften an der Stanford Uni-
versity, Gelegenheitsarbeiter, danach freier Schriftsteller in Los Gatos bei Monterey. Im 2. Weltkrieg Kriegsberichter-statter, 1962 Nobelpreis für Literatur, gestorben am 20. De-
zember 1968 in New York.
John Steinbeck
Das Tal des Himmels
Roman
Deutsch von Hans Ulrich Staub
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe
Februar 2002
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
www.dtv.de
© 1932 und 1960 John Steinbeck
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
›The Pastures of Heaven‹
© 1997 der deutschsprachigen Ausgabe:
Paul Zsolnay Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien
Deutsche Erstveröffentlichung: Zürich 1954
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagbild: ›Garden Scene‹ (1919) von Thomas Hart Benton
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany • isbn 3-423-12951-4
I
Dies ist die Geschichte eines Tales, dessen Anblick für
viele Menschen eine große Verheißung war. Manche
träumten davon, einmal an diesen Ort zurückzukehren,
dessen Schönheit sie einst geschaut hatten, um für immer
dort zu bleiben.
Als um das Jahr 1776 die Carmelo-Mission von Alta
California aufgebaut wurde, geschah es, daß eines Nachts
sich etwa zwanzig kaum bekehrte Indianer gegen die neue
Religion erhoben und am Morgen aus ihren Hütten ver-
schwunden waren. Dieses kleine Schisma war nicht nur
ein schlechtes Vorbild für die andern Bekehrten, sondern
es drohte auch die Arbeitsdisziplin in den Lehmgruben
der Mission zu beeinträchtigen, wo die Adobe-Ziegel her-
gestellt wurden. Nach kurzer gemeinsamer Beratung der
kirchlichen und militärischen Behörden wurde ein spani-
scher Korporal mit einem Trupp Reiter ausgeschickt, um
die verirrten Schäfchen in den Schoß der Kirche zurück-
zuführen. Die Reiter folgten den Abtrünnigen auf mühe-
vollen Wegen das Carmel-Tal hinauf und in die Berge,
die jenseits des Tales liegen. Die Suche war um so schwie-
riger, als die Flüchtlinge ihre Spuren meisterhaft zu ver-
wischen wußten. Eine Woche verging, bis die Soldaten sie
endlich in einem farnbewachsenen Canon entdeckten, wo
sie sich an einem Fluß auf dem Talboden niedergelassen
hatten und noch immer in einem Schlaf der Erschöpfung
lagen.
Das durch die lange Suche aufgebrachte Militär rüttelte
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die Schlafenden unsanft wach, band sie an eine lange
dünne Kette und achtete nicht auf das Geheule und
Wehklagen, das alsbald den Canon erfüllte. Dann machte
sich die Kolonne auf den Heimweg nach Carmel, wo die
armen Ketzer Gelegenheit zu tätiger Reue in den Lehm-
gruben finden sollten.
Am späten Nachmittag des zweiten Tages ihrer Heim-
kehr geschah es, daß ein junges Reh von den Reitern auf-
geschreckt wurde und in voller Flucht hinter einem Hü-
gelkamm verschwand. Hatte der Korporal den vielen an-
deren Tieren, denen sie auf ihrer Expedition begegnet wa-
ren, kaum Beachtung geschenkt, so spürte er nun plötzlich
ein eigenartiges Verlangen, dem Reh zu folgen. Er löste
sich aus der Kolonne, und sein schweres Pferd kletterte
mühsam den steilen Abhang hinauf. Stechpalmen und
Kakteen zerstachen ihm Gesicht und Hände, aber eine
wachsende Unruhe trieb ihn hinter seinem Opfer her.
Nach ein paar Augenblicken kam er oben auf der Höhe
des Kammes an und blieb vor Staunen wie angewurzelt
stehen: Zu seinen Füßen lag ein langes Tal grünen Weide-
landes, auf dem ganze Rudel von Rehen friedlich ästen.
Prachtvolle Eichen warfen ihre Schatten auf die üppigen
Auen, und ein Kranz sanfter Hügel schützte das Tal eifer-
süchtig gegen Wind und Nebel.
Der in harter Zucht geschulte Korporal vermochte an-
gesichts solcher Schönheit seiner Ergriffenheit kaum Herr
zu werden. Dieser bärtige, ungefüge Vertreter der Zivili-
sation, der braune Rücken blutig zu peitschen gewohnt
war und in männlich-räuberhafter Gier eine neue Rasse
für Kalifornien zu zeugen liebte, dieser Mann glitt ganz
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benommen aus dem Sattel und nahm ehrfürchtig seinen
Helm vom Haupt.
»Heilige Mutter Gottes«, flüsterte er, »das ist wahrhaf-
tig das Tal des Himmels, das uns der Herr verheißen hat.«
Seinen Nachkommen ist heute kaum mehr anzumerken,
daß ihre Ahnen einst mit eingeborenen Mädchen gezeugt
worden sind, und die heilige Ergriffenheit, welche sich
des streitbaren Ahnherrn beim Anblick des neuen Landes
bemächtigte, ist längst im Schatten der Legende versun-
ken. Was aber blieb, ist der Name, den er dem lieblichen
Tal zwischen den sanften Hügeln gegeben hat. Denn es
heißt noch immer »Tal des Himmels« bis auf den heuti-
gen Tag.
Zufolge irgendeines königlichen Versehens blieb es
lange unbekannt und wurde von keiner Landakte erfaßt.
Längst waren alle umliegenden Gebiete als Faustpfand
oder Heiratsgut in den Besitz spanischer Edelleute ge-
langt, als es noch immer vergessen und herrenlos hinter
seinen schirmenden Hügeln lag.
Nur der spanische Korporal, der es entdeckt hatte,
konnte es nicht vergessen und träumte zeitlebens davon,
einmal wieder hinzufinden. Denn wie alle gewalttätigen
Männer sehnte er sich insgeheim nach ein wenig Frieden,
bevor es zu Ende war, und nach einem Häuschen am
Fluß und nach Vieh, das man nachts die Mäuler an den
Mauern reiben hörte. Nachdem ihn eine Indianerin mit
der Beulenpest angesteckt hatte und sein Gesicht schon
von den ersten Zeichen der Zersetzung heimgesucht wor-
den war, schlossen ihn die Gefährten in eine finstere
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Scheune ein, um die weitere Verbreitung der Pest zu ver-
hindern. Seine letzten Worte galten einem Tal von himm-
lischer Schönheit, als ob sein Geist schon die Schwelle
zum Jenseits überschritten habe. Dann starb er eines
friedlichen Todes, denn die Pest, welche das Äußere so
furchtbar zerstört, ist ihrem Gastgeber am Ende ein guter
Freund.
Viele Jahre nach seinem Tode zogen einige Siedlerfa-
milien in das »Tal des Himmels« und errichteten Zäune
und pflanzten die ersten Obstbäume. Da das Land nie-
mandem zu Eigentum war, gab es viel Streit bei der Ver-
teilung. Hundert Jahre danach lebten schon an die zwan-
zig Familien dort auf zwanzig kleinen Höfen. In der Tal-
mitte stand eine einfache Schenke, welche zugleich als
Kaufladen und Postbüro diente. Und eine Meile weiter
oben im Tal erhob sich ein Schulhaus, dessen Holzplan-
ken durch Messerkerben und Spuren von Nagelschuhen
verziert waren.
So lebten die Familien gedeihlich und in Frieden. Der
Boden war gut und mühelos zu bearbeiten, und die
Früchte ihrer Felder und Gärten wurden als die schönsten
und besten von ganz Kalifornien gepriesen.
II
Die Leute im »Tal des Himmels« waren überzeugt, daß
auf der Battle-Farm ein Fluch liege, und die Kinder
glaubten, das alte Haus sei voll von Gespenstern. Nie-
mand begehrte den Hof, obgleich fruchtbares und gutbe-
wässertes Land dazu gehörte, und niemand wollte in dem
alten Hause wohnen; denn Land und Häuser, die einmal
geliebt und bebaut und bewohnt und dann am Ende ver-
lassen worden sind, machen immer einen traurigen und
drohenden Eindruck. Die Bäume, die um ein verlassenes
Haus herum wachsen, sind düster, und die Schatten, die
sie auf die Erde werfen, haben unheimliche Formen.
Seit fünf Jahren hatte die Battle-Farm nun leergestan-
den. Das Unkraut wucherte mit Feiertagsenergie und oh-
ne Furcht vor der Hacke und wurde allmählich so hoch
wie kleine Bäume. Die Obstbäume rundum waren knor-
rig und ineinander verwachsen. Früchte trugen sie viele,
aber sie wurden kleiner und kleiner. Brombeerstauden
rankten sich um die Wurzeln der Bäume und verschluck-
ten die herabfallenden Früchte. Und das Haus selber, ein
viereckiges, solid gebautes, zweistöckiges Gebäude, war
einmal recht ansehnlich gewesen, aber eine merkwürdige
Vergangenheit hatte eine unerträglich einsame Atmo-
sphäre darin hinterlassen. Unkraut warf die Dielen der
Veranda auf, und die Mauern waren grau verwittert.
Kleine Buben, jene Vortrupps im Feldzug der Zeit gegen
die Werke des Menschen, hatten die Fensterscheiben her-
ausgebrochen und die beweglichen Gegenstände wegge-
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tragen. Die Buben sind überzeugt, daß alle Arten und
Sorten beweglicher Gegenstände, die nicht einem offen-
sichtlichen Eigentümer gehören und die man deshalb
nach Hause nehmen kann, zu irgendeinem nützlichen
Zweck verwendet werden können. Und so hatten sie das
Haus vollständig ausgeplündert, die Brunnen mit allen
möglichen Abfällen und mit Unrat angefüllt und später,
als sie heimlich auf dem Heuboden richtigen Tabak
rauchten, sogar die alte Scheune bis auf den Grund nie-
dergebrannt. Das Feuer wurde allgemein der Fahrlässig-
keit von Landstreichern zugeschrieben.
Die verlassene Farm lag fast in der Mitte des engen Ta-
les. Auf beiden Seiten grenzte sie an die besten und reich-
sten Gehöfte der Gegend. Es war ein unnützer, wüster
Schandfleck zwischen zwei vorbildlich bebauten, schönen
Grundstücken. Die Leute des Tales betrachteten die Batt-
le-Farm als eine Stätte unermeßlichen Übels, denn die Er-
innerung an ein schreckliches Unglück und ein unent-
wirrbares Geheimnis lastete darauf.
Zwei Generationen Battles lebten auf der Farm. George
Battle kam im Jahre 1863 vom nördlichen Teil des Staates
New York nach dem Westen; er war noch jung, als er in
das Tal einwanderte, kaum der Militärpflicht entwachsen.
Seine Mutter gab ihm das Geld, um das Land zu kaufen
und das zweistöckige Haus zu bauen. Als das Haus fertig
war, ließ George seine Mutter nachkommen. Die alte
Frau, die geglaubt hatte, die Welt sei zehn Meilen außer-
halb ihres Dorfes zu Ende, machte sich auf den Weg. Un-
terwegs sah sie sagenhafte Städte – New York, Rio, Bue-
nos Aires –, und vor Patagonien starb sie. Eine Schiffswa-
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che nähte sie, mit drei Gliedern der Ankerkette zwischen
den Füßen, in ein Stück Segeltuch und warf sie in den
grauen Ozean. Dabei hatte sich Mutter Battle ihr Leben
lang nach einem kleinen Plätzchen in der überfüllten Er-
de ihres heimatlichen Friedhofes gesehnt.
George Battle schaute sich nach einer Frau um. In Sali-
nas fand er Miss Myrtle Cameron, eine Jungfer von fünf-
unddreißig Jahren, mit einem kleinen Vermögen. Miss
Myrtle war bis dahin unverheiratet geblieben, weil sie ein
wenig der Epilepsie unterworfen war, einer Krankheit, die
damals »fits« genannt und allgemein einer Abneigung sei-
tens der Gottheit zugeschrieben wurde. George Battle
nahm die Epilepsie in Kauf. Er wußte wohl, daß er nicht
alles haben konnte. Myrtle wurde seine Frau und gebar
ihm einen Sohn, und nachdem sie zweimal versucht hat-
te, das Haus anzuzünden, wurde sie in einem kleinen Pri-
vatgefängnis, genannt Lippman-Sanatorium, in San José
interniert. Dort verbrachte sie den Rest ihres Daseins mit
dem Häkeln eines symbolischen Lebens Christi aus
Baumwollgarn. Hernach wurde das große Haus auf der
Battle-Farm von einer Reihe übelgelaunter Haushälterin-
nen regiert – Haushälterinnen, von denen es im Zeitungs-
inserat heißt: »Wwe. 45, sucht Stellung als Haush. auf
Farm. Gute Köchin. Zwecks Heir.« Eine nach der anderen
zog ein; in den ersten Tagen waren sie sanft und ein we-
nig traurig, dann erfuhren sie von Myrtle und verwandel-
ten sich zur Stunde in Furien mit zornsprühenden Augen,
die im Hause herumtobten und sich gleichermaßen be-
trogen und vergewaltigt fühlten.
Mit fünfzig war George Battle ein alter Mann, von der
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Arbeit gebeugt, starrköpfig und freudlos. Seine Augen
schauten kaum von dem Boden auf, den er so geduldig
hegte und pflegte. Seine Hände waren hart und schwarz
und rissig wie die Fußsohlen eines Bären. Und seine Farm
war schön. Die Obstbäume waren geputzt und gepflegt
und glichen sich wie Brüder. Das Gemüse wuchs kräftig
und saftig in schnurgeraden Reihen. Das Haus war außen
und innen sauber. Das obere Stockwerk war unbewohnt;
vor dem Haus blühten die schönsten Blumen. Dieser Hof
war wie das Gedicht eines stummen Menschen. Mit un-
endlicher Geduld schmückte der Mensch seinen Garten
und wartete auf eine Sylphide. Es kam nie eine Sylphide,
aber der Garten war immer bereit und geschmückt. In
den vielen Jahren, als sein Sohn heranwuchs, beachtete
ihn George kaum. Einzig die Bäume und die grünen Ge-
müsereihen beachtete er; die waren wichtig. Als John, sein
Sohn, in einem Wohnwagen als Missionar auszog, ver-
mißte er ihn kaum. Er arbeitete weiter und beugte seinen
Körper Jahr für Jahr tiefer über die Erde. Seine Nachbarn
sprachen nicht mit ihm, weil er sie nicht anhörte. Seine
Hände waren ewig gekrümmt, wie kleine Röhren, die
knapp um die Stiele der Geräte paßten. Er starb, als er
fünfundsechzig Jahre alt war, an Altersschwäche und ei-
nem Husten.
Dann kam John Battle nach Hause und übernahm die
väterliche Farm. Von seiner Mutter hatte er die Epilepsie
und den frommen Wahnsinn geerbt. Johns Leben war ein
ewiges Ringen mit Teufeln. In seinem Wohnwagen war er
von Versammlung zu Versammlung gezogen, hatte mit
den Händen herumgefuchtelt, Teufel heraufbeschworen
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und sie dann verflucht. Als er zu Hause war, ließen ihn
die Teufel nicht in Ruhe. Nach wie vor verlangten sie sei-
ne volle Aufmerksamkeit. Die Gemüsereihen vereinsam-
ten, wuchsen freiwillig noch ein paarmal und erlagen
dann dem Unkraut. Langsam kehrte das Land zurück in
den Urzustand, aber die Teufel wurden mächtiger und
aufdringlicher. Zum Schutz gegen sie stickte John Battle
kleine Kreuze aus weißem Faden auf Kleider und Hut
und, so gewappnet, führte er einen zähen, verbissenen
Krieg gegen die schwarzen Legionen. In der grauen
Dämmerung schlich er mit einem Stock bewaffnet im
Hof herum. Er stürzte sich in das Unterholz, schlug mit
dem Stock um sich und brüllte Schmähworte, bis die
Teufel aus ihrem Versteck vertrieben waren. Nachts
kroch er durch das Dickicht und belauschte seine Feinde;
wo immer er ihnen begegnete, stürmte er furchtlos auf sie
ein und schwang seine Waffe. Tagsüber schlief er im
Haus, denn wenn es hell ist, wirken die Teufel nicht.
Eines Tages, im zunehmenden Zwielicht, schlich sich
John vorsichtig an einen Fliederbusch heran. Der Busch
stand im Hinterhof, und John hatte erfahren, daß er eine
Versammlung von bösen Geistern beherberge. Als er so
nahe war, daß die Dämonen nicht mehr entwischen
konnten, sprang er auf und warf sich mit einem entsetzli-
chen Geheul in das harmlose Gebüsch. Von seinen
Stockhieben gestört, klapperte schläfrig eine Schlange
und hob den flachen, harten Kopf. John ließ den Stock
fallen und begann zu zittern, denn der scharfe, trockene
Warnruf der Klapperschlange ist ein lähmendes Ge-
räusch. John warf sich auf die Knie und begann zu beten.
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Plötzlich schrie er auf: »Das ist die verdammte Schlange!
Heraus, Teufel!« Und mit gierig greifenden Händen
sprang er sie an. Die Schlange traf ihn am Hals, dreimal,
dort, wo ihn keine Kreuze schützten. Er rührte sich kaum
mehr, und nach ein paar Minuten war er tot.
Die Nachbarn fanden ihn erst, als die Bussarde anfin-
gen, sich aus den Lüften niederzustürzen. Was sie fanden,
erfüllte sie mit Grauen vor der Battle-Farm.
Dann lag der Hof zehn Jahre brach. Die Kinder sagten,
das Haus sei voll von Gespenstern, und schlichen sich
nachts hinaus, um sich zu erschrecken. Etwas Unheimli-
ches, Lähmendes lag über dem alten Haus mit den leeren,
glotzenden Fenstern. Der weiße Anstrich blätterte in lan-
gen Schuppen ab, und die Schindeln auf dem Dach
krümmten sich und sprangen. Felder und Wiesen verwil-
derten vollständig. Die Farm gehörte einem entfernten
Vetter der Battles, aber er hatte sie überhaupt nie gesehen.
Im Jahre 1921 übernahmen die Mustrovics die Battle-
Farm. Ihr Kommen war unerwartet und wie von einem
Geheimnis umwittert. Eines Morgens waren sie einfach
da, ein alter Mann und eine alte Frau, skelettartige Leut-
chen mit zäher gelber Haut, die über den vorstehenden
Backenknochen gespannt und glattgescheuert war. Weder
der Mann noch seine Frau verstanden ein Wort Englisch.
Die Verbindung mit dem Tal wurde durch ihren Sohn
hergestellt, einen großgewachsenen Mann mit den glei-
chen vorstehenden Backenknochen und kurzgeschore-
nem Haar, das ihm weit in die Stirne wuchs, und mit
sanften dunklen Augen. Er sprach gebrochen Englisch
und sagte nur das Allernötigste.
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Im Laden fragten ihn die Leute vorsichtig aus, aber sie
erhielten keine Auskunft.
»Wie steht’s denn eigentlich mit den Gespenstern?«
fragte T. B. Allen, der Ladenbesitzer. »Wir haben immer
gedacht, in Eurem Hause spukt’s. Habt Ihr noch keine
angetroffen?«
»Nein«, sagte der junge Mustrovic.
»Natürlich, der Hof ist mehr als recht, wenn man den
Wust los wird.«
Mustrovic kehrte ihm den Rücken und lief davon.
»Also, irgend etwas stimmt da nicht mit diesem Haus«,
sagte T. B. Allen. »Alle, die drin wohnen, können nicht
reden!«
Die alten Mustrovics sah man selten, der junge aber
arbeitete von früh bis spät auf dem Felde. Ganz allein
säuberte er das Land, pflanzte Gemüse und schnitt die
Bäume. Zu jeder Tagesstunde konnte man ihn sehen; er
arbeitete fieberhaft, rannte fast von einer Arbeit zur näch-
sten und machte ein Gesicht, als hätte er erwartet, die Zeit
würde stillstehen, bevor die erste Ernte unter Dach war.
Die ganze Familie wohnte und schlief in der Küche des
großen Hauses. Alle übrigen Zimmer waren abgeschlos-
sen und leer. Die Fensterscheiben blieben zerbrochen,
einzig die Löcher in den Küchenfenstern verklebten sie
mit Fliegenpapier. Um das Äußere des Hauses kümmer-
ten sie sich überhaupt nicht. Aber dank der verzweifelten
Anstrengungen des jungen Mannes wurde das Land wie-
derum schön. Zwei Jahre lang rackerte er sich ab und kul-
tivierte den Boden. Im ersten Grau der Morgendämme-
rung trat er aus dem Hause, und das letzte Abendlicht
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war am Erlöschen, wenn er wieder im Haus verschwand.
Eines Morgens bemerkte Pat Humbert, als er in den
Laden fuhr, daß kein Rauch aus dem Schornstein des
Mustrovicschen Hauses stieg. »Das alte Haus schaut wie-
der verlassen aus«, sagte er zu Allen. »Natürlich, außer
diesem Burschen hat man nie jemanden gesehen, aber
jetzt ist sicher wieder etwas geschehen. Es sieht ganz so
aus, als ob das Haus leer wäre.«
Drei Tage lang schauten die Nachbarn besorgt auf den
Schornstein der Battle-Farm. Sie wollten nichts überstür-
zen und sich am Ende lächerlich machen. Aber am vier-
ten Tag gingen Pat Humbert und T. B. Allen und John
Whiteside hinaus, um nachzuschauen. Das Haus war un-
heimlich still. Es schien wirklich verlassen. John Whitesi-
de klopfte an die Küchentür. Das Haus blieb totenstill.
John drückte auf die Klinke. Die Tür flog auf. Die Küche
war peinlich sauber; der Tisch war für drei Personen ge-
deckt. Das Frühstück aus Haferbrei, Spiegeleiern und
Brot war bereit. Die Speisen waren schimmelig. Ein paar
Fliegen wanderten planlos im Licht umher, das durch die
offene Tür eintrat. Pat Humbert rief: »Jemand da?« Er
wußte, daß niemand antworten würde.
Dann durchsuchten sie das Haus von oben bis unten,
aber es war leer. Möbel fanden sie nur in der Küche; alle
anderen Räume waren nackt und kahl. Die Battle-Farm
war verlassen, war plötzlich und unvermittelt verlassen
worden.
Später, als der Sheriff benachrichtigt wurde, fand auch
er nichts, was das Geheimnis hätte lüften können. Die
drei Mustrovics hatten, als sie einzogen, bar bezahlt; und
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als sie wieder auszogen, hinterließen sie keine Spur. Nie-
mand hatte sie gesehen, als sie weggingen, und niemand
sah sie je wieder. Nicht einmal ein Verbrechen gab es im
Lande, womit man sie hätte in Zusammenhang bringen
können. Plötzlich, eines Morgens, als sie sich eben zum
Frühstück setzen wollten, waren sie verschwunden. Viele,
unzählige Male wurde der Fall Mustrovic im Laden be-
sprochen, aber niemand konnte je eine einleuchtende Lö-
sung vorbringen.
Und wiederum wurde das Land die Beute von Unkraut
und Wust. Abermals krochen die wilden Brombeerranken
in die Äste der Obstbäume. In kürzester Zeit, als ob sie es
durch Übung gelernt hätte, war die Farm allenthalben
gänzlich verwildert. Man verkaufte sie an eine Immobili-
engesellschaft in Monterey, und die Leute im »Tal des
Himmels«, ob sie es zugaben oder nicht, waren überzeugt,
daß auf der Battle-Farm ein Fluch lag. »Das Land ist nicht
schlecht«, pflegten sie zu sagen, »aber ich würde es nicht
annehmen, auch wenn es mir geschenkt würde. Ich weiß
nicht, wo es fehlt, aber etwas an diesem Haus ist nicht ge-
heuer; dort spukt’s.« Und manche von ihnen waren nicht
weit davon entfernt, wirklich an Gespenster zu glauben.
Ein angenehmes Schaudern ging durch die Leute im »Tal
des Himmels«, als sie vernahmen, daß die Battle-Farm
wieder bewohnt werden sollte. Pat Humbert brachte das
Gerücht in den Laden, nachdem er Automobile vor dem
alten Haus gesehen hatte, und T. B. Allen, der Ladenbe-
sitzer, verbreitete es weit herum. T. B. malte sich alle Ein-
zelheiten über den neuen Besitzer aus und teilte sie seinen
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Kunden mit, als vertrauliche Mitteilungen selbstverständ-
lich, die er alle mit »man sagt« eröffnete. »Man sagt, der
Kerl, der die Battle-Farm gekauft hat, sei einer, der im
Lande umherzieht und Gespenstern nachstöbert, um
über sie zu schreiben.« Mit seinem »man sagt« deckte sich
Allen den Rücken, wie die Zeitungen, wenn sie etwas als
»es wird behauptet« melden.
Bevor Bert Munroe auf seinem neuen Hofe eingezogen
war, zirkulierten ein Dutzend Geschichten über ihn im
Tal. Als er dann kam, wußte er bald, daß ihm seine neuen
Nachbarn nachstarrten, obgleich er sie nie dabei ertappte.
Dieses heimliche Anstarren ist unter den Leuten auf dem
Lande zu einer großen Kunst entwickelt. Und dabei ent-
geht ihnen nichts. Sie nehmen jedes sichtbare Flecklein
wahr, mustern die Kleidung und lernen sie auswendig,
stellen Augenfarbe und Nasenform, Gang und Haltung
fest und einigen sich auf drei oder vier Adjektive, die un-
sere ganze Erscheinung und Persönlichkeit umschreiben
– und alleweil meinen wir, sie hätten uns überhaupt noch
gar nicht gesehen.
Bert Munroe kaufte also die Battle-Farm und begann
unverzüglich den Hof zu säubern. Eine Schar Zimmerleu-
te machte sich im Haus an die Arbeit, schleppte sämtliche
Möbel ins Freie und verbrannte sie, riß Wände heraus
und errichtete neue, solidere und deckte das Dach mit
Asbestschindeln. Dann wurden alle Räume frisch tape-
ziert, und zuletzt erhielt die Außenwand einen sauberen
Anstrich von hellgelber Farbe.
Bert selbst schnitt die Reben und Spalierbäume am
Haus, dann die Obstbäume im Hof, um Licht und Sonne
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hereinzulassen. Nach drei Wochen hatte das alte Haus je-
de Spur seines spukhaften Aussehens verloren und sah
aus wie hunderttausend andere Landhäuser im Westen.
Sobald die Farbe innen und außen trocken war, trafen
die neuen Möbel ein: gepolsterte Stühle und ein Sofa, ein
emaillierter Ofen, Eisenbetten (in Holzimitation gestri-
chen und höchsten Komfort bietend), Spiegel mit ge-
schnitzten Rahmen, Wiltonteppiche und Reproduktionen
von Gemälden eines modernen Künstlers, der offenbar
dem Blau vor allen anderen Farben den Vorzug gab.
Mit den Möbeln kamen Mrs. Munroe und die drei
jüngeren Monroes. Mrs. Munroe war eine rundliche Frau
und trug einen randlosen Zwicker an einem Band um den
Hals. Sie war eine gute Hausfrau. Sie ließ die neuen Mö-
bel unzählige Male verschieben und umstellen, bis sie
endlich befriedigt war; war sie aber befriedigt, nachdem
sie einen Stuhl oder Tisch oder eine Kommode mit zuge-
kniffenen Augen gemustert, dann zustimmend genickt
und gelächelt hatte, dann blieb das Stück für immer ge-
nauso stehen. Einzig bei der Frühjahrsreinigung durfte es
von seinem Platz verschoben werden.
Ihre Tochter Mae war ein hübsches Mädchen mit wei-
chen, runden Wangen und vollen Lippen. Mae war schön
gewachsen, aber eine niedliche Wölbung unter dem Kinn
deutete an, daß sie dereinst einmal, wie ihre Mutter,
plump sein würde. Ihre Augen waren freundlich und un-
schuldig, nicht intelligent, aber keineswegs dumm. All-
mählich würde sie das Ebenbild ihrer Mutter werden: ei-
ne gute Hausfrau, eine Mutter gesunder Kinder, eine bra-
ve, zufriedene Gattin.
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In ihrem neuen Kämmerchen steckte sie alte Carnets
de Bal in den Spiegel. An die Wände hängte sie gerahmte
Fotografien von ihren Freundinnen in Monterey, und auf
das Nachttischchen legte sie das Fotoalbum und das Ta-
gebuch. Das Tagebuch hatte ein kleines Schloß und barg
völlig uninteressante Aufzeichnungen von Bällen, Parties,
Rezepten für allerlei Zuckergebäck und harmlosen
Schwärmereien für gewisse junge Herren. Mae wählte
und schneiderte ihre eigenen Vorhänge: eine Bettgardine
aus geblümter Kretonne und blaßrosarote Tüllvorhänge
vor den Fenstern, um das Licht zu dämpfen. Auf dem
Bettüberwurf aus gerafftem Satin breiteten sich fünf bun-
te Kissen aus neben einer langbeinigen französischen
Stoffpuppe mit kurzgeschnittenen gelben Haaren und ei-
ner Zigarette aus Stoff zwischen den schlaffen Lippen.
Diese Puppe war gleichsam ein Beweis dafür, daß Mae
gewisse Dinge, welche sie nicht ganz billigte, großzügig zu
dulden bereit war. Mae glaubte, daß die Puppe die Ver-
körperung ihrer Aufgeschlossenheit war. Und Mae liebte
Freunde mit einer »Vergangenheit«. Denn dadurch, daß
sie solche Freunde hatte und ihnen zuhören durfte, wur-
de in ihrem Herzen jedes Bedauern über ihr eigenes, ta-
delloses Leben erstickt. Mae war neunzehn Jahre alt und
dachte alleweil nur ans Heiraten. Wenn sie mit Jünglin-
gen ausging, schwatzte sie mit einiger Rührung von Idea-
len. Was Ideale wirklich waren, wußte sie allerdings
kaum; mit solch unbestimmbaren Dingen aber schien ir-
gendwie die Art der Küsse auf der Heimfahrt von Parties
zusammenzuhängen.
Jimmie Munroe war siebzehn und, da er soeben die
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High-School abgeschlossen hatte, ungemein zynisch. In
Gegenwart seiner Eltern war er gewöhnlich mürrisch und
verstockt. Er wußte, daß er ihnen seine Welterfahrung
nicht anvertrauen durfte; sie hätten ihn nie verstanden.
Sie gehörten zu einer Generation, welche von Sünden
und Heldentaten nichts wußte. Jimmie war fest ent-
schlossen, sein Leben der Wissenschaft zu widmen. Etwas
anderes kam nicht in Frage. Aber den Eltern sagte er
nichts davon, denn sie wären nicht sehr begeistert gewe-
sen. Unter »Wissenschaft« verstand Jimmie Radioappara-
te, Flugzeuge und Archäologie. Er malte sich aus, wie er
in Peru goldene Vasen ausgraben würde. Er träumte von
einer zellenartigen Werkstatt, in welche er sich einschlie-
ßen und woraus er eines Tages, nach Jahren stummen
Leidens und allgemeiner Verkennung und Verachtung
seitens der Außenwelt, auftauchen würde, um die Öffent-
lichkeit mit einem neuen Flugzeugtyp von revolutionärer
Konstruktion und verheerender Geschwindigkeit zu
überraschen.
Jimmies Zimmer im neuen Haus war denn auch von
Anfang an ein entsetzliches Durcheinander von kleinen
Maschinen und Apparaten: einem Kristall-Radio mit
Kopfhörer, einem handgetriebenen Dynamo, der ein
Morsegerät mit Strom belieferte, einem Messingfernrohr
und zahllosen Bestandteilen und Bruchstücken von allen
möglichen anderen »Geräten«. Jimmie besaß eine gehei-
me Schatzkiste, eine schwere eichene Kiste mit einem rie-
sigen Vorhängeschloß. Darin hielt er eine halbe Büchse
Dynamitkapseln, einen alten Revolver, eine Schachtel
Melachrino-Zigaretten, drei Apparate, genannt »Lustige
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Witwe«, eine kleine Flasche Pfirsichschnaps, einen dolch-
ähnlichen Brieföffner, vier Bündel Briefe von vier ver-
schiedenen Verehrerinnen, sechzehn Lippenstifte, die er
von Tanzpartnerinnen stibitzt hatte, und eine Karton-
schachtel mit Andenken an laufende Liebschaften verbor-
gen. In der Schachtel lagen kunterbunt durcheinander
verdorrte Blumen, Taschentücher und Knöpfe und, am
wertvollsten von allem, ein Strumpfband mit schwarzen
Spitzen. Wie er zu diesem Strumpfband gekommen war,
hatte Jimmie vergessen. Nicht vergessen hatte er aber –
und das war viel angenehmer –, bei welcher Gelegenheit
er es gestohlen hatte. Bevor er seine Schatzkiste aufschloß,
drehte er immer den Schlüssel der Zimmertür herum.
Auf der High-School war er nicht besser und nicht
schlechter gewesen als manche seiner Altersgenossen.
Bald nachdem er ins »Tal des Himmels« gezogen war,
fand er, daß sein Sündenregister einmalig sei. Er begann,
sich als eine Art bekehrten Wüstlings zu betrachten, al-
lerdings nicht so bekehrt, als daß er sich nicht dann und
wann hätte einen Rückfall gestatten dürfen. Sein bewegtes
Leben verschaffte ihm bei den jüngeren Mädchen des Ta-
les einen gewaltigen Vorteil. Jimmie war ein hübscher,
schlanker, gutgewachsener Junge mit dunklen Augen und
Haaren.
Manfred, der jüngste Sohn – gewöhnlich Manny ge-
nannt –, war sieben Jahre alt und ein ernstes Kind, dessen
Gesicht durch geschwollene Lymphdrüsen entstellt war.
Man hatte davon geredet, sie entfernen zu lassen, und der
Gedanke an die Operation jagte dem Kind eine panische
Angst ein. Als seine Mutter dies sah, sprach sie von der
22
Operation nur noch, wenn er nicht gehorchen wollte. Mr.
und Mrs. Munroe betrachteten Manny als tiefsinniges
Kind, vielleicht sogar als ein kleines Genie. Meist spielte
er allein für sich, oder dann saß er stundenlang da und
starrte ins Leere. Seine Mutter nannte es »Träumen«. Erst
viele Jahre später fanden sie heraus, daß der Kleine nicht
wie andere Kinder war. Die Lymphdrüsenschwellungen
hatten seine geistige Entwicklung gehemmt. Manny war
ein lieber, fügsamer Junge, den man leicht zum Gehor-
chen einschüchtern konnte. Wenn man ihn aber einmal
zu sehr eingeschüchtert hatte, wurde er hysterisch und
verlor jede Selbstbeherrschung. Einmal schlug er so lange
die Stirn auf den Boden, bis ihm das Blut in die Augen
rieselte.
Bert Munroe war in das »Tal des Himmels« gezogen,
weil er des jahrelangen Kampfes gegen eine Macht, die
ihn unweigerlich immer besiegt hatte, überdrüssig ge-
worden war. Er hatte alles mögliche unternommen und
jedesmal versagt, nicht etwa infolge eigener Unfähigkeit,
sondern auf Grund von Mißgeschicken, deren Verhütung
außer seiner Macht gestanden hatte. Es waren – einzeln
betrachtet – ganz einfach unglückliche Zufälle gewesen;
aber Bert, der sie als Glieder einer langen Kette sah, nann-
te sie Schläge eines Schicksals, das ihm den persönlichen
Erfolg nicht gönnte. Und nun hatte er es satt, dieses na-
menlose Etwas, welches alle Straßen zum Erfolg ver-
schloß, weiterhin zu bekämpfen. Bert war erst fünfund-
fünfzig, aber er wollte sich ausruhen; er war halbwegs
überzeugt, daß ein Fluch auf ihm lag.
Vor Jahren einmal hatte er am Rande der Stadt eine
23
Garage eröffnet. Das Geschäft blühte; das Geld floß hau-
fenweise herein. Als er sich sicher wähnte, wurde die
Staatsstraße verlegt, und er stand im Leeren. Etwa ein
Jahr später verkaufte er die Garage und erwarb einen Spe-
zereiladen. Wiederum war er anfänglich erfolgreich. Er
konnte die Schulden abzahlen und begann Geld auf die
Bank zu tragen, aber ein Warenhaus eröffnete einen
Preiskrieg gegen ihn, und das war das Ende dieses Ge-
schäftes. Bert war ein empfindsamer Mann, und solche
Vorfälle waren ihm ein dutzendmal zugestoßen. Immer
dann, wenn der Erfolg sicher schien, traf ihn der Fluch.
Sein Selbstvertrauen schwand. Als der Krieg ausbrach,
war sein Mut fast gebrochen. Er wußte, daß man am
Krieg Geld verdienen konnte, aber er zögerte, nachdem er
so oft vom Mißerfolg betroffen worden war.
Er mußte sich lange zureden, bevor er sich in ein Ge-
schäft mit Bohnen einließ, die der kriegsbedingten Ver-
sorgungslage wegen bald im Preise steigen würden. Im
ersten Jahr verdiente er fünfzigtausend Dollar, im zweiten
hunderttausend. Im dritten Jahr schloß er über Tausende
von Morgen Verträge ab, bevor die Bohnen überhaupt
gesteckt waren. Er garantierte zehn Cents für das Pfund.
Für achtzehn Cents hätte er sie weiterverkaufen können.
Im November war der Krieg zu Ende, und Bert verkaufte
die ganze Ernte für vier Cents das Pfund.
Danach war er überzeugt, daß sein Fluch Wirklichkeit
sei. Er war so abgeschlagen, daß er sich kaum mehr unter
die Leute wagte. Er arbeitete im Garten, pflanzte ein we-
nig Gemüse und brütete über die Gemeinheit des Schick-
sals nach. Langsam, während mehrerer Jahre des Still-
24
stands, wuchs in seinem Herzen eine starke Sehnsucht
nach der Scholle. Dort lag, überlegte er, die einzige Hoff-
nung. Als Bauer war ihm vielleicht vergönnt, etwas auf-
zubauen, das ihm sein Schicksal nicht mißgönnen konn-
te. Auf einer kleinen Farm, dachte er weiter, konnte er
vielleicht doch noch ein wenig Frieden und Sicherheit
finden.
Eine Immobiliengesellschaft in Monterey bot die Batt-
le-Farm zum Verkauf an. Bert schaute sie an, erkannte,
was sich daraus machen ließ, und kaufte sie. Seine Familie
war anfänglich nicht einverstanden, aber als Bert den Hof
gesäubert, elektrisches Licht und das Telefon eingerichtet
und das Haus mit neuen Möbeln ausgestattet hatte, wa-
ren Mrs. Munroe und die Kinder nahezu begeistert. Mrs.
Munroe war froh über jede Neuerung, die Berts Nieder-
geschlagenheit ein Ende bereitete. Kaum hatte Bert die
Battle-Farm gekauft, war er ein ganz anderer Mensch.
Seine trüben Gedanken waren verflogen. Der Fluch war
weggewischt. Bert fühlte sich befreit und erlöst. Der ge-
quälte Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht, und er
ging wieder aufrecht. Er wurde ein leidenschaftlicher
Bauer. Er studierte unzählige Bücher über landwirtschaft-
liche Fragen, stellte einen Knecht an und arbeitete von
früh bis spät. Jeder Tag brachte Neues, dessen er sich
herzlich freute. Jedes neue Pflänzlein, das aus dem Boden
schaute, war eine Bestätigung seiner Genesung. Bert war
zufrieden und zuversichtlich, und weil er wieder Vertrau-
en hatte, fiel es ihm leicht, sich mit den Männern des Ta-
les anzufreunden und ihre Achtung zu gewinnen.
Es ist nicht leicht, sich rasch in einer ländlichen Ge-
25
meinde einzuleben. Die Leute im Tal hatten der Ankunft
der Monroes mit gemischten Gefühlen entgegengesehen.
In der Battle-Farm spukte es. Daran hatten sie immer ge-
glaubt, auch jene, die nach außen hin darüber lächelten.
Und jetzt kam ein Mann und zeigte ihnen, daß sie sich
getäuscht hatten. Noch mehr, dieser Mann verlieh der
ganzen Gegend ein neues Gesicht, indem er den unseligen
Hof in ein harmloses, fruchtbares Stück Land umwandel-
te. Die Leute hatten sich an die Gespenster ebenso ge-
wöhnt wie an den Fluch und das Unkraut auf dem dürren
Boden. Insgeheim ärgerten sie sich über die Veränderung.
Auf Grund seines Taktgefühls und seiner zuversichtli-
chen Freundlichkeit belehrte sie Bert in kurzer Zeit eines
Besseren. In drei Monaten hatten sie ihn als rechtschaffe-
nen Mann, als Nachbarn, der borgte und verlieh, aner-
kannt. Und nach sechs Monaten wurde er in die Schul-
pflege gewählt. Seine Beliebtheit beruhte weitgehend auf
seiner Zufriedenheit, die ihn wie ein sonniger Tag erfüll-
te, seitdem er sich vor den bösen Geistern sicher wußte.
Hinzu kam, daß er freigiebig und gütig war. Es freute ihn,
wenn er seinen Nachbarn helfen durfte, und – was viel
wichtiger ist – er zögerte nicht, sie um die vielen kleinen
täglichen Freundesdienste zu bitten.
Kurz nach seinem Einzug ins Tal verriet er einigen
Bauern den Grund, weshalb er gekommen war, und sie
bewunderten die Offenheit, mit der er von sich erzählte.
Im Laden hatte T. B. Allen die übliche Frage gestellt. »In
Eurem Haus haben sich merkwürdige Dinge ereignet,
und wir haben eigentlich immer geglaubt, es ist verflucht.
Seid Ihr noch keinem Gespenst begegnet?« Bert lachte.
26
»Nimm das Futter aus dem Haus, so ziehn die Ratten
aus!« sagte er. »Ich habe die Düsterkeit und den Moder-
geruch herausgenommen – von dem leben ja die Gespen-
ster, nicht wahr?«
»Also, das muß ich sagen«, gab T. B. zu, »Ihr habt ein
hübsches Haus daraus gemacht. Es gibt kaum ein schöne-
res im Tal …«
Dann verfinsterte sich Berts Stirn, als ihm ein Gedanke
durch den Kopf ging, und er sagte: »Ich habe viel Pech
gehabt. Ich habe manche Geschäfte ausprobiert, aber je-
desmal ohne Erfolg.« Dann plötzlich lachte er über einen
neuen Gedanken. »Und was tu’ ich? Ich kaufe mir ausge-
rechnet ein Haus, auf dem ein Fluch liegen soll. Und jetzt
habe ich gedacht, vielleicht haben mein Fluch und der
Fluch des Hauses sich am Kragen genommen und umge-
bracht. Weg sind sie jedenfalls, dessen bin ich sicher.«
Die Männer lachten mit, und T. B. Allen schlug mit
der Hand auf den Ladentisch und rief: »Ausgezeichnet!
Aber wißt Ihr was? Vielleicht haben Ihr Fluch und der
Fluch des Hauses geheiratet und sich in ein Erdloch ver-
zogen, wie zwei Klapperschlangen. Und wer weiß, bevor
wir etwas Böses gedacht haben, tauchen auf einmal hau-
fenweise junge Flüchlein auf und kriechen auf den Wei-
den herum!«
Alle Anwesenden brachen in schallendes Gelächter aus,
und T. B. prägte sich die Szene Wort für Wort ein, so daß
er sie in anderer Gesellschaft wiederholen konnte. Es ist
beinahe wie der Dialog in einem Theaterstück, dachte er.
III
Edward Wicks wohnte in einem kleinen, düsteren Häu-
schen am Rande der Überlandstraße im »Tal des Him-
mels«. Hinter seinem Haus lagen ein Pfirsichgarten und
ein Gemüsefeld. Edward Wicks besorgte die Pfirsiche,
und seine Frau und seine schöne Tochter pflegten das
Gemüse und machten die Erbsen, Bohnen und frühen
Erdbeeren für den Markt in Monterey bereit.
Edward Wicks hatte ein derbes, braunes Gesicht und
kleine, kalte Augen ohne Wimpern. Er war bekannt als
der schlaueste Mann im ganzen Tal, der gewagte Geschäf-
te abschloß und nie zufriedener war, als wenn er ein paar
Cents mehr als die Nachbarn aus seinen Pfirsichen her-
ausschlagen konnte. Ab und zu, wenn es ging, handelte er
mit Pferden und betrog dabei ein wenig. Seines Scharf-
sinns wegen hatte er sich die Achtung der Mitbürger er-
worben, aber seltsamerweise wurde er nicht reicher. Al-
lein, es machte ihm Spaß so zu tun, als würde er öfters
Geld anlegen. An den Schulpflegesitzungen fragte er die
anderen Mitglieder um Rat über Aktien und Dividenden
und erweckte dadurch den Eindruck, als hätte er bedeu-
tende Ersparnisse. Die Leute im Tal nannten ihn »Shark«
(Haifisch).
»Shark?« sagten sie. »Oh, ich glaube, der hat seine
zwanzigtausend, vielleicht noch mehr. Shark ist nicht auf
den Kopf gefallen!«
Und die Wahrheit war, daß Shark im Leben nie mehr
als fünfhundert Dollar auf einmal besessen hatte.
28
Aber er galt als ein wohlhabender Mann, und das gefiel
ihm über alles. Es machte ihm so viel Vergnügen, daß er
mit der Zeit seinen imaginären Reichtum als Wirklichkeit
betrachtete. Er einigte sich auf fünfzigtausend Dollar und
führte ein dickes Hauptbuch, in welchem er Zinsen er-
rechnete und darin er seine diversen Kapitalanlagen ein-
trug. Und diese Eintragungen waren die größte Freude
seines Lebens.
In Salinas wurde eine Ölgesellschaft gegründet mit
dem Zweck, im südlichen Teil von Monterey Erdöl zu
bohren. Als Shark Kunde von der neugegründeten Gesell-
schaft erhielt, ging er hinüber zu John Whiteside und un-
terhielt sich mit ihm über den Wert ihrer Aktien. »Ich in-
teressiere mich für diese South County Ölgesellschaft«,
sagte er.
John Whiteside, der als eine Art Experte in solchen
Angelegenheiten galt, sagte: »Der Bericht der Geologen
klingt nicht schlecht. Es war ja schon lange bekannt, daß
es in dieser Gegend Öl geben soll. Natürlich, gar zuviel
würde ich nicht hineinstecken.«
Shark faltete die Unterlippe mit dem Finger und dach-
te nach. Dann sagte er: »Ich habe da zehntausend herum-
liegen, die nicht eintragen, was sie sollten. Und jetzt habe
ich mir überlegt … die Sache macht einen guten Ein-
druck. Es scheint, daß es sich lohnt, wenn ich sie etwas
gründlicher anschaue. Ich wollte bloß vorher sehen, was
Ihr davon haltet.«
Aber Shark war bereits entschlossen. Als er nach Hause
kam, holte er das Hauptbuch hervor und hob zehntau-
send Dollar von seinem Bankkonto ab. Dann trug er ein-
29
tausend Aktien der South County Ölgesellschaft in die Ef-
fektenkolonne ein. Von jenem Tage an verfolgte er fie-
berhaft die Börsenberichte. Wenn der Preis seiner Aktien
ein wenig stieg, war er zufrieden und aufgeräumt, und
wenn der Preis fiel, setzte sich ihm ein würgender Klum-
pen in den Hals. Einmal, als die South-County-Aktien
plötzlich stark in die Höhe gingen, war Shark so über-
glücklich, daß er in den Laden ging und eine schwarze
Marmoruhr kaufte, mit Onyxsäulen beidseits des Ziffer-
blattes und einem bronzenen Pferd darüber. Die Männer
im Laden tuschelten untereinander, Shark führe offenbar
etwas Großes im Schilde.
Eine Woche später verschwand die Gesellschaft von
der Bildfläche. Als Shark davon hörte, eilte er nach Hau-
se, schlug sein Hauptbuch auf und trug unter dem Datum
des Vortages den Verkauf sämtlicher Aktien mit zweitau-
send Dollar Profit ein.
Pat Humbert fuhr an jenem Tag von Monterey zurück
und hielt auf der Straße vor Sharks Haus an. »Wie ich hö-
re, seid Ihr mit der South County hereingefallen«, be-
merkte er beiläufig.
Shark lächelte gutmütig. »Aber Pat, für was haltet Ihr
mich denn eigentlich? Vor zwei Tagen habe ich verkauft.
Ihr solltet doch wissen, daß ich kein Anfänger bin! Ich
wußte schon, daß diese Aktien faul waren. Aber ich wuß-
te auch, daß sie steigen würden, damit die Gesellschafter
ohne Verlust auflösen konnten. Als sie verkauften, wußte
ich, was ich zu tun hatte.«
»Donnerwetter«, sagte Pat voll Bewunderung und Ehr-
furcht. Und als er im Laden die Nachricht verbreitete,
30
nickten die Männer und fragten sich, wie hoch wohl
Sharks Vermögen gestiegen sein konnte. Und sie sagten,
sie wollten nicht gern in ein Geschäft gegen ihn verwik-
kelt sein.
Um diese Zeit borgte Shark vierhundert Dollar von ei-
ner Bank in Monterey und kaufte einen alten Fordson-
Traktor.
Allmählich wurde sein Ruf als weitsichtiger Mann mit
gesundem Urteil so groß, daß niemand im »Tal des
Himmels« daran dachte, Aktien oder ein Stück Land oder
auch nur ein Pferd zu kaufen, ohne vorher Shark Wicks
um Rat zu fragen. Auf alle Probleme ging er ein, und am
Ende, nach sorgfältigster Prüfung, erteilte er verblüffend
gute Ratschläge.
In einigen Jahren wies sein Hauptbuch ein Vermögen
von hundertfünfundzwanzigtausend Dollar auf, das er in
klugen und kühnen Transaktionen erworben hatte. Wohl
bemerkten seine Nachbarn, daß er wie ein armer Mann
lebte; um so mehr aber achteten sie ihn, denn der Reich-
tum hatte ihm den Kopf nicht verdreht. Natürlich, denn
Shark war kein Narr. Seine Frau und seine schöne Toch-
ter besorgten weiterhin das Gemüse für den Markt in
Monterey, und Shark nahm sich der tausend Pflichten im
Pfirsichgarten an.
Sharks Leben war nüchtern und ohne Romantik. Mit
neunzehn Jahren lud er Katherine Mullock für drei Tanz-
abende ein, weil sie zu haben war. Das war der Anfang,
und dann heiratete er sie, weil ihre Familie und die Nach-
barn es von ihm erwarteten. Katherine war nicht hübsch,
aber sie hatte die kräftige Frische eines jungen Unkrauts
31
und die gezügelte Lebenslust einer jungen Stute. Nach der
Heirat verlor sich die Frische und die Lebenslust, wie bei
einer Pflanze, wenn sie einmal befruchtet ist. Ihr Gesicht
wurde schlaff, ihre Hüften wurden breiter, und sie be-
gann das zweite Leben – das Leben der Arbeit.
Shark behandelte sie weder zart noch grob. Er be-
herrschte sie mit derselben ruhigen Unerbittlichkeit, die
er im Umgang mit Pferden anwendete. Härte wäre ihm
ebenso ungeschickt und verfehlt vorgekommen wie Ver-
zärtelung. Er sprach nie mit Katherine als mit einem
Menschen; er teilte weder seine Gedanken noch Wünsche
noch Mißerfolge mit ihr; er verschwieg seinen papiernen
Reichtum und äußerte sich nie über die Pfirsichernte. Ka-
therine hätte sich gewundert und beunruhigt, wenn er je
von sich geredet hätte. Ihr Leben war genug ausgefüllt
ohne die zusätzliche Belastung durch Gedanken und Pro-
bleme eines anderen Menschen.
Das braune Haus war das einzig Unschöne auf der
Wicks-Farm. Abfall und Unrat der Natur verschwinden
im Verlaufe jeden Jahres in den Boden hinein, aber der
Menschen Unrat ist von längerer Dauer. Der Platz vor
dem Haus war mit alten Säcken, mit Papierfetzen, Glas-
scherben und Drahtrollen übersät. Die einzige Stelle auf
der ganzen Farm, wo Gras und Blumen nicht wachsen
wollten, war der hartgestampfte Boden um das Haus her-
um, weil er von dem Seifenwasser, das aus zahllosen Kü-
beln dort ausgeschüttet wurde, unfruchtbar und unan-
sehnlich geworden war. Shark bewässerte seinen Baum-
garten, aber um sein Haus herum wollte er nicht gutes
Wasser vergeuden. Dafür konnte er keinen Grund sehen.
32
Als Alice geboren wurde, strömten die Frauen des Ta-
les mit der festen Absicht herbei, die Schönheit des Säug-
lings zu preisen. Als sie sahen, daß es wirklich ein schönes
Kind war, wußten sie nicht, was sagen. Jene weiblichen
Ausrufe des Entzückens, deren einziger Zweck darin be-
steht, jungen Müttern zu versichern, daß die abscheuli-
chen Würmer in ihren Armen tatsächlich Menschen sind,
die nicht zu Ungeheuern aufwachsen werden, verloren
ihre Bedeutung. Und Katherine betrachtete ihr Kind mit
Augen, in welchen der Ausdruck künstlicher Begeiste-
rung, womit die meisten Frauen ihre Enttäuschung er-
sticken, völlig fehlte. Als Katherine gesehen hatte, daß ihr
Kind schön war, füllte sich ihr Herz mit Staunen und mit
Furcht und Besorgnis. Die Tatsache von Alices Schönheit
war zu wunderbar, um ohne Vergeltung zu bleiben. Hüb-
sche Säuglinge, sagte sich Katherine wieder und wieder,
sind schon manchmal häßliche Männer und Frauen ge-
worden. Indem sie dies sagte, schüttelte sie einen Teil der
Besorgnis von sich, als ob sie das Schicksal bei seinen
Streichen ertappt und durch ihre Vorahnungen seiner
vollen Macht beraubt habe.
An jenem ersten Besuchstag hörte Shark eine der Frau-
en zu einer andern in ungläubigem Ton sagen: »Aber ich
sage dir, es ist wirklich ein hübsches Kind. Man würde es
gar nicht für möglich halten!«
Shark ging in die Schlafkammer zurück und betrachtete
seine kleine Tochter sehr lange. Draußen im Baumgarten
brütete er über die Sache. Das Kind war ohne Zweifel
schön. Es war Unsinn zu denken, daß er oder Katherine
oder irgend jemand aus der Verwandtschaft damit zu tun 33
hatte, denn selbst für ganz gewöhnliche Leute waren sie alle
ziemlich häßlich. Zweifellos war ihm da etwas sehr Kostba-
res geschenkt worden, und weil kostbare Dinge sehr be-
gehrt sind, mußte Alice behütet werden. Wenn er an Gott
dachte, glaubte Shark natürlich an ihn als an jenes schat-
tenhafte Wesen, das alles tat, was er nicht verstehen konnte.
Alice wuchs heran und wurde mit jedem Tag schöner. Ihre
Haut war so zart und glänzend wie blühender Mohn; ihr
Haar war schwarz und hatte die zarte Lebendigkeit von
Farnstielen; ihre Augen waren rätselhaft verschleierte
Himmel. Man schaute dem Kind in die ernsten Augen und
dachte: »… etwas liegt dort drin verborgen, das ich kenne;
etwas, das ich verloren oder … etwas, das ich mein Leben
lang gesucht habe …« Dann warf Alice den Kopf herum
und »… sieh da! es ist nur ein liebliches kleines Mädchen!«
Shark sah, wie die Leute seine Tochter musterten. Er
sah die Männer erröten, wenn sie ihr in die Augen schau-
ten, und er sah die kleinen Buben wie Tiger raufen, wenn
Alice zugegen war.
In jedem männlichen Gesicht meinte er Begierde zu le-
sen. Oft, wenn er im Obstgarten arbeitete, quälte er sich
mit der Vorstellung, Zigeuner wollten sein kleines Mäd-
chen stehlen. Ein dutzendmal am Tag warnte er Alice vor
gefährlichen Dingen – vor den Hinterhufen der Pferde,
vor der Höhe der Zäune, vor der Gefahr, die in den Be-
wässerungskanälen lauerte, und vor dem reinen Selbst-
mord, eine Straße zu überqueren, ohne sich vorher nach
beiden Seiten zu vergewissern, daß keine Autos kamen.
Jeden Nachbarn, jeden Hausierer und, am schlimmsten
34
von allen, jeden Fremdling verdächtigte er als Kindesräu-
ber. Wenn Landstreicher im »Tal des Himmels« gemeldet
wurden, ließ er das Kind nicht aus den Augen. Harmlose
Touristen wunderten sich über die Grimmigkeit, mit der
er sie von seinem Land verwies.
Katherine wurde durch die zunehmende Schönheit ih-
rer Tochter in den Befürchtungen bestärkt. Das Schicksal
lauerte. Es wartete ausgiebig, und das konnte nur bedeu-
ten, daß es sich zu einem verheerenden Schlag rüstete.
Katherine wurde zur Sklavin ihrer Tochter, verwöhnte sie
und erwies ihr stündlich kleine Dienste von der Art, wie
man sie einer Invaliden erweist, die nicht mehr lange lebt.
Obwohl Shark und Katherine ihre Tochter anbeteten
und in ständiger Angst um sie lebten und, Geizhälsen
gleich, sich eifersüchtig an ihrer Schönheit weideten, wuß-
ten sie, daß Alice ein unglaublich einfältiges und rück-
ständiges Mädchen war. Sharks Ängste wurden durch die-
se Erkenntnis nur noch vergrößert, denn er war über-
zeugt, daß Alice sich nie allein helfen konnte und daß sie
für jeden, der es auf sie abgesehen hatte, eine leichte Beute
sein würde. Katherine hingegen war nicht unglücklich we-
gen Alices Dummheit, denn ihrer Dummheit wegen war
Alice oft auf die Hilfe der Mutter angewiesen. Und indem
sie ihr half, bewies Katherine ihre Überlegenheit und
vermochte, wenigstens teilweise, die große Kluft zwischen
sich und ihrem Kind zu überbrücken. Katherine war froh
über jede neue Schwäche, die sie an ihrem Kind entdeck-
te, denn jedesmal fühlte sie, wie sie ihr näherkam und zu-
gleich an Würde zunahm.
Als Alice vierzehn Jahre alt wurde, kam zu den vielen
35
Sorgen ihres Vaters eine neue hinzu. Bis dahin hatte er
nur den Tod und die Verunstaltung seiner Tochter be-
fürchtet, nun aber packte ihn beim Gedanken an den
Verlust ihrer Keuschheit eine wahnsinnige Angst. Er trug
den Gedanken ständig mit sich herum, und allmählich
vereinigten sich alle seine Befürchtungen in dieser einen
entsetzlichen Vorstellung. Shark ging so weit, daß er die
mögliche Verführung bald als Verstümmelung, bald auch
als gänzlichen Verlust seiner Tochter betrachtete. Und
von da an verdächtigte er jeden beliebigen Mann oder
Jungen, dem er in der Nähe seines Landes begegnete.
Die Vorstellung wurde zu einem Alpdruck. Hundert-
mal gebot er seiner Frau, Alice nie aus den Augen zu las-
sen. »Man weiß nie, was passieren könnte!« drohte er
immer und immer wieder, und dabei funkelten aus sei-
nen fahlen Augen die schwärzesten Verdächtigungen.
»Man weiß nie, was passieren könnte!« Die geistige
Schwerfälligkeit seiner Tochter vergrößerte seine Angst.
Jeder könnte sie zugrunde richten, dachte er. Jeder, der
mit ihr alleingelassen würde, könnte sie mißbrauchen.
Und sie konnte sich nicht wehren, weil sie so einfältig
war. Kein Mann hat je eine läufige Hündin eifersüchtiger
gehütet, als Shark seine Tochter überwachte.
Nach einiger Zeit war Shark nicht mehr zufrieden,
wenn er sich nicht von ihrer Reinheit überzeugen konnte.
Jeden Monat quälte er seine Frau. Er kannte die Tage bes-
ser als sie. »Wie steht’s?« fragte er beinahe gierig.
Katherine antwortete geringschätzig: »Noch nicht.«
Und ein paar Stunden später sagte er ungeduldig: »Und
jetzt?«
36
Er fragte und fragte, bis Katherine endlich antwortete:
»Natürlich. Es ist alles in Ordnung. Was glaubst du denn
eigentlich?«
Diese Antwort beruhigte dann Shark genau einen Mo-
nat lang, aber seine Wachsamkeit verringerte er nicht.
Alice war noch keusch, also mußte sie auch noch über-
wacht werden.
Shark wußte, daß seine Tochter eines Tages heiraten
würde. Wenn er daran dachte, versuchte er, den Gedan-
ken zu vergessen, denn ihre Verheiratung war ihm ebenso
zuwider wie ihre Verführung. Sie war etwas Kostbares,
etwas, das man erhalten und hegen mußte. Es war nicht
eine Frage der Moral, sondern der Ästhetik. War sie ein-
mal nicht mehr keusch, so hörte sie auch auf, das kostba-
re Ding zu sein, das er so vergötterte. Er liebte sie nicht wie ein Vater sein Kind, sondern so, wie einer einen
Schatz liebt. Er weidete sich am Besitz eines schönen, sel-
tenen Schatzes. Allmählich, derweil er Monat für Monat
seine Frage wiederholte – »Wie steht’s« –, wurde diese
Keuschheit zu einer Art Symbol für ihre Gesundheit, ihre
Erhaltung und ihre Unversehrtheit.
Eines Tages, als Alice sechzehnjährig war, trat Shark
mit verstörtem Gesicht vor seine Frau. »Weißt du, ganz
sicher wissen wir ja nie, ob sie wirklich unberührt ist.
Sollten wir nicht … ich meine, man könnte sie vom Arzt
untersuchen lassen.«
Einen Augenblick starrte ihn Katherine fassungslos an
und versuchte zu verstehen, was er sagen wollte. Dann
wurde sie zum erstenmal in ihrem Leben zornig. »Du bist
ein schmutziger, mißtrauischer Schurke!« rief sie. »Mach,
37
daß du ’rauskommst! Und wenn du noch einmal davon
anfängst, lauf ich davon!«
Shark war etwas verblüfft über den Zornausbruch,
doch keineswegs beunruhigt. Immerhin gab er den Ge-
danken an eine ärztliche Untersuchung seiner Tochter
auf und begnügte sich mit der allmonatlichen Befragung.
Unterdessen wuchs Sharks Papiervermögen. Nacht für
Nacht, wenn Katherine und Alice zu Bett gegangen wa-
ren, nahm er das dicke Buch hervor und schlug es unter
der tiefhängenden Lampe auf. Dann kniff er die Augen
zu, und sein derbes Gesicht nahm einen verschlagenen
Ausdruck an, und er plante weiter an seinen Kapitalanla-
gen und rechnete Zinsen aus. Wenn er telefonisch Aktien
bestellte, bewegten sich seine Lippen leicht. Ein finsterer
und doch mitleidiger Ausdruck huschte über sein Ge-
sicht, wenn er die Hypothek auf einem guten Hof kün-
digte. »Ich tu’s nicht gern«, flüsterte er dann, »aber ihr
dürft nicht vergessen, Leute – Geschäft ist Geschäft!«
Shark tauchte die Feder ins Tintenfaß und trug die
Kündigung in sein Hauptbuch ein. »Kopfsalat«, überlegte
er dann; »alles setzt jetzt auf Kopfsalat. Der Markt wird
überflutet werden. Mir scheint, Kartoffeln wären nicht
ungünstig … hier zum Beispiel, das ist geeigneter Boden.«
Er vermerkte in seinem Buch, daß er dreihundert Morgen
Kartoffeln angepflanzt hatte. Sein Auge wanderte die Ko-
lonne entlang. Auf der Bank lagen dreißigtausend Dollar
auf Zins. Das war ungeschickt. Das Geld war sozusagen
nutzlos. Shark dachte angestrengt nach. Er wunderte sich,
wie wohl die San José Building and Loan stand. Sie be-
zahlte sechs Prozent. Es wäre gefährlich, überstürzt und
38
ohne sich gebührend zu erkundigen, etwas zu unterneh-
men. Als er in jener Nacht sein Buch weglegte, beschloß
er, John Whiteside zu konsultieren. »Schließlich«, dachte
er besorgt, bevor er einschlief, »kommt es vor, daß gerade
solche Gesellschaften Konkurs machen.«
Bevor Bert Munroe und seine Familie in das Tal zogen,
verdächtigte Shark sämtliche Männer und Jünglinge des
Tales der bösen Absicht, seiner Tochter nachzustellen. Als
er aber den jungen Jimmie Munroe gesehen hatte, kon-
zentrierte er alle seine Befürchtungen und Verdächtigun-
gen auf ihn.
Der Junge war schlank, nicht übertrieben, aber gerade
so, wie man es gerne sieht, und er hatte ein hübsches Ge-
sicht. Seine Augen strahlten jene beleidigende Keckheit
aus, welche die jungen Herrchen sich auf der High-
School aneignen. Jimmie trinke Gin, munkelte man. Und
er trug Stadtkleider aus Wollstoff – nie Overalls, wie sie
die Bauern trugen. Sein Haar glänzte ölig, und sein ganzes
Benehmen war so geschniegelt und keck, daß die Mäd-
chen im »Tal des Himmels« kicherten und sich in Verle-
genheit und Bewunderung zierten, wenn sie ihn sahen.
Jimmie schaute die Mädchen mit zynischen Augen an. Er
gab vor, ein schlimmer Junge zu sein. Er wußte, daß die
jungen Mädchen auf junge Männer mit Vergangenheit
hereinfielen. Jimmie hatte eine Vergangenheit. Er war
mehrere Male im Riverside Dance Palace betrunken ge-
wesen; er hatte wenigstens schon hundert Mädchen ge-
küßt und dreimal in den Weidenbüschen am Salinasfluß
sündhafte Abenteuer mit Mädchen gehabt. Jimmie be-
39
mühte sich, in seinem Gesichtsausdruck etwas von seiner
wüsten Vergangenheit zu verraten, aber er traute seinem
Aussehen nicht recht, und so setzte er eine Reihe kleiner,
häßlicher Gerüchtlein in Umlauf, die dann auch tatsäch-
lich wie Spatzen im Tale herumflatterten.
Shark Wicks vernahm die Gerüchte. Und er begann
Jimmie Munroe zu hassen, weil er sich vor seiner Ge-
wandtheit mit Frauen fürchtete. Wie hätte sich seine schö-
ne, einfältige Alice gegen einen solchen Burschen wehren
können, dachte Shark.
Bevor Alice überhaupt wußte, daß es einen Jimmie
Munroe gab, verbot ihr Shark, ihn zu sehen. Er sprach
mit solcher Heftigkeit, daß sich in dem schwerfälligen
Gehirn des Mädchens etwas wie leise Neugier regte.
»Daß ich dich nur ja nie mit diesem Jimmie Munroe
erwische!« drohte Shark.
»Wer ist denn dieser Jimmie Munroe, Papa?«
»Das kann dir gleich sein. Ich sage dir nur eins: Laß
dich nicht mit ihm erwischen! Hörst du! Ich zieh dir die
Haut vom Leibe, wenn du ihn nur anschaust.«
Shark hatte Alice nie geschlagen, so gut wie er nie eine
kostbare Vase zerschlagen hätte. Selbst sie zu streicheln
wagte er nicht, aus Furcht, er könnte eine Spur hinterlas-
sen. Strafe war nie notwendig. Alice war immer ein bra-
ves, gefügiges Kind gewesen. Bosheit entspringt meist ei-
nem Gedanken oder einem Streben. Beides kannte sie
nicht.
Und abermals fragte er: »Hast du etwa mit diesem
Jimmie Munroe gesprochen?«
»Nein, Papa.«
40
»Daß ich dich nur nie dabei ertappe!«
Nach unzähligen Wiederholungen der Drohung kroch
langsam ein fester Wunsch in die spärlichen Zellen von
Alices Gehirn, der Wunsch, diesen Jimmie Munroe ein-
mal zu sehen. Einmal sogar träumte sie von ihm, was be-
weist, wie tief sie der Gedanke beschäftigte. Im Traum
kam ein Mann, der aussah wie einer der bunten Indianer
auf den Kalenderblättern und der Jimmie hieß, in einem
prächtigen Auto auf sie zugefahren und schenkte ihr ei-
nen riesigen, saftigen Pfirsich. Als sie in den Pfirsich biß,
tropfte ihr der Saft über das Kinn, und das brachte sie in
Verlegenheit. Dann wurde sie von ihrer Mutter geweckt,
weil sie geschnarcht hatte. Katherine war froh, daß Alice
schnarchte. Es war eine der ausgleichenden Unzuläng-
lichkeiten ihrer Tochter, obwohl es sich keineswegs für
eine Dame schickte.
Shark Wicks erhielt ein Telegramm. Es lautete: »Tante
Nellie gestern nacht entschlafen. Beerdigung Samstag.«
Shark stieg in seinen Ford und fuhr hinüber zu John
Whiteside, um ihm zu sagen, daß er an der Schulpflege-
sitzung fehlen würde. John Whiteside war der Schriftfüh-
rer. Bevor er wieder wegfuhr, machte Shark ein besorgtes
Gesicht: »Eigentlich hätte ich Euch noch gern gefragt, was
Ihr von der San José Building and Loan Company haltet.«
John Whiteside lächelte: »Über die kann ich Euch nicht
viel Neues sagen.«
»Nun, es ist eben so: Ich habe da dreißigtausend auf
der Bank liegen, für drei Prozent, und nun habe ich ge-
dacht, wenn ich gerade etwas wüßte, könnte ich vielleicht
etwas mehr Zins einbringen.«
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John Whiteside spitzte den Mund und blies sachte und
schlug mit dem Zeigefinger auf die Lippen. »Dann würde
ich meinen, Building and Loan wäre zu riskieren.«
»Ah, aber so mache ich meine Geschäfte nicht. Riskieren
tu ich nichts«, unterbrach ihn Shark. »Wenn ich in einer
Sache nicht einen garantierten Profit sehe, lasse ich mich
nicht auf sie ein. Das Riskieren überlasse ich andern.«
»Das war doch nur so eine Redensart, Mr. Wicks. Die
Building-and-Loan-Gesellschaften gehen ja im allgemei-
nen nicht unter, und gute Zinsen bezahlen sie auch.«
»Ich will der Sache nachgehen«, sagte Shark abschlie-
ßend. »Ich fahre nach Oakland zu Tante Nellies Beerdi-
gung, und im Vorbeiweg schaue ich mir die Gesellschaft
in San José an.«
Shark fragte noch verschiedene andere Nachbarn um
Rat, und an jenem Abend im Laden wurde abermals sein
Vermögen verhandelt. »Also, eines ist sicher«, sagte zum
Schluß T. B. Allen, »Shark Wicks ist ein schlauer Fuchs.
Er fragt jeden um Rat, aber er läßt sich nichts vorschwat-
zen und geht der Sache selber nach.«
Am Samstagmorgen ging Shark nach Oakland und ließ
zum erstenmal in seinem Leben Frau und Tochter allein.
Am Samstagabend kam Tom Breman vorbei, um Kathe-
rine und Alice zu einem Tanzabend im Schulhaus abzu-
holen.
Erschrocken und verwirrt sagte Katherine: »Oh, ich
glaube, Mr. Wicks hätte keine Freude, wenn wir gingen.«
»Aber er hat es Euch doch nicht verboten?«
»Nein, das nicht, aber … bis jetzt ist er eben noch nie
fortgewesen. Ich glaube nicht, daß er es gern hätte.«
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»Er hat doch einfach gar nicht daran gedacht«, beharr-
te Tom Breman. »Kommen Sie! Ziehen Sie Ihre besten
Kleider an!«
Und Alice sagte: »Komm, Mama, gehen wir doch!«
Katherine wußte, daß ihre Tochter sich so leicht ent-
schließen konnte, weil sie in ihrer Einfalt keine Furcht vor
den Folgen kannte. Alice war nicht imstande, sich auszu-
denken, was geschehen würde, wenn Shark wieder zu
Hause war. Katherine dachte an die Wochen endloser,
qualvoller Auseinandersetzungen. »Ich kann nicht verste-
hen, warum du überhaupt gehen konntest«, hörte sie ihn
sagen, »wenn ich doch nicht da war. Als ich fortging, war
ich der Meinung, ihr beide würdet zu Hause bleiben. Und
kaum habe ich euch den Rücken gekehrt, lauft ihr davon
und geht tanzen.« Und dann diese Fragen! »Mit wem hat
Alice getanzt? Nun – was hat er gesagt? Warum hast du es
nicht gehört? Du hättest dabeisein sollen.« Shark würde
nicht zornig sein, nein, aber wochenlang davon reden,
einfach immer wieder von derselben Geschichte reden,
bis sie das Tanzen verabscheute. Und wenn dann der kri-
tische Tag des Monats kam, würden seine ewigen Fragen
wie Mücken umherschwirren, bis er sicher war, daß Alice
kein Kind erwartete …
»Bitte, Mama«, bettelte Alice, »laß uns gehen! Wir sind
ja noch nie allein ausgegangen.«
In Katherines Herzen regte sich Mitleid. Das arme
Kind hatte in seinem Leben noch nie allein sein dürfen.
Noch nie hatte es mit einem Jungen Unsinn geschwatzt,
weil es von seinem Vater nie außer Hörweite gelassen
worden war.
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»Gut«, sagte sie atemlos. »Wenn Mr. Breman so gut
sein möchte zu warten, bis wir fertig sind, gehen wir.« Sie
fühlte sich sehr tapfer, weil sie Sharks Mißtrauen schürte.
Zuviel Schönheit ist für ein Mädchen auf dem Lande
ein beinahe ebenso großer Nachteil wie Häßlichkeit.
Wenn die Burschen Alice anschauten, wurden ihre Hän-
de und Füße plötzlich schwer und steif und ihre Köpfe
rot. Nichts konnte sie dazu bringen, Alice auch nur anzu-
reden, geschweige mit ihr zu tanzen. Statt dessen tanzten
sie eifrig mit weniger hübschen Mädchen, lärmten und
taten sich hervor wie befangene Kinder. Wenn Alice nicht
hinschaute, starrten sie sie an, wenn sie aber den Kopf
wandte, schlenderten sie scheinbar gleichgültig davon,
um den Anschein zu erwecken, als hätten sie sie über-
haupt nicht bemerkt. Und Alice, die nichts anderes kann-
te, war sich ihrer Schönheit kaum bewußt. Sie hatte sich
beinahe damit abgefunden, daß sie beim Tanz immer ein
Mauerblümchen sein würde.
Elegant, gleichgültig und vornehm gelangweilt stand
Jimmie Munroe an die Wand des Schulzimmers gelehnt,
als Katherine und Alice eintraten. Jimmies Hosen hatten
den modernsten Schnitt, und seine Lackschuhe waren
über den Zehen eckig und breit wie Backsteine. Ein
schwarzer, waagrechter Schlips flatterte am Kragen seines
weißen Seidenhemdes, und sein Haar war prachtvoll ge-
scheitelt. Jimmie war ein Stadtjunge. Er glitt umher wie
ein lässiger Habicht. Bevor Alice den Mantel ausgezogen
hatte, stand er neben ihr. In seinem schläfrigen Tonfall,
den er auf der High-School gelernt hatte, forderte er:
»Tanzen, Baby?«
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»Hm?« sagte Alice.
»Möchtest du mit mir tanzen?«
»Oh! Tanzen?« Alice schaute ihn mit großen Augen an,
die so viele Geheimnisse und Versprechen bargen, daß
die Frage nicht einfältig, sondern schalkhaft und entzük-
kend wirkte und gleichzeitig auf andere Dinge anspielte,
welche sogar den Puls des zynischen Jimmie höher schla-
gen ließen.
»Tanzen?« meinte er gehört zu haben, »nur tanzen?«
Und trotz aller High-Schoolerfahrung schnürte sich
Jimmies Hals zusammen; seine Hände und Füße machten
nervöse Bewegungen, und das Blut stieg ihm in den Kopf.
Alice wandte sich an ihre Mutter, die bereits mit Mrs.
Breman in ein Gespräch über Haushaltsangelegenheiten
verwickelt war.
»Mama«, fragte Alice, »darf ich tanzen?«
Katherine lächelte. »Aber natürlich«, sagte sie. »Amü-
sier dich! Heute darfst du.«
Jimmie fand, Alice tanze schlecht. Als die Musik auf-
hörte, schlug er vor: »Hier drin ist es zu warm. Gehen wir
etwas spazieren«, und er führte sie am Arm ins Freie, in
den Schatten der Weidenbäume auf dem Schulplatz.
Eine Frau, die auf der Treppe vor dem Schulhaus ge-
standen hatte, ging hinein und flüsterte Katherine etwas
ins Ohr. Katherine sprang auf und eilte hinaus. »Alice!«
rief sie verzweifelt. »Alice! Komm sofort herein!«
Als die beiden Ausreißer aus dem Schatten auftauch-
ten, fiel Katherine über den Jungen her. »Lassen Sie die
Hände von meiner Tochter, verstanden! Passen Sie auf,
sonst geschieht etwas!«
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Jimmies Männlichkeit schmolz dahin. Es war ihm, als
hätte er eine Ohrfeige bekommen. Er war wütend, aber er
konnte nichts dagegen tun.
Katherine führte ihre Tochter zurück ins Schulhaus.
»Hat dir nicht dein Vater verboten, mit Jimmie Munroe
zu gehen?« sagte sie. Katherine war zu Tode erschrocken.
»War denn das Jimmie Munroe?« flüsterte Alice.
»Natürlich. Was habt ihr dort draußen gemacht?«
»Geküßt«, sagte Alice.
Katherine war fassungslos. »Mein Gott!« jammerte sie.
»Mein Gott, was soll ich nur tun?«
»Ist das denn schlimm, Mama?«
Katherine zögerte. »N-ein, natürlich nicht«, stammelte
sie. »Küssen ist … ist gut. Aber sag um Gottes Willen dei-
nem Vater nichts davon. Auch nicht, wenn er dich fragt.
Er … er würde wahnsinnig. Und jetzt bleibst du hier bei
mir, bis wir nach Hause gehen, und geh nie, nie mehr in
die Nähe dieses jungen Munroe! Bitte, Alice, du mußt
verstehen. Vielleicht wird dein Vater nichts erfahren.
Mein Gott, hoffentlich erfährt er nichts!«
Am Montag traf Shark Wicks mit dem Abendzug in
Salinas ein, fuhr mit dem Autobus bis zur Kreuzung am
Eingang zum »Tal des Himmels« und ging von dort zu
Fuß weiter.
Die Nacht war klar und mild und reich mit Sternen
behangen. Die gedämpften, geheimnisvollen Geräusche
von den Hügeln hießen ihn willkommen und weckten al-
le möglichen Gedanken und Träumereien, und Shark
vergaß ganz, daß er einen vier Meilen weiten Weg vor
sich hatte.
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Die Beerdigung hatte ihm sehr gefallen. Die Blumen
waren hübsch gewesen. Das Weinen der Frauen und das
behutsame feierliche Hin und Her der Männer hatten
Shark mit einem sanften Weh erfüllt, das gar nicht so un-
angenehm gewesen war. Selbst die Zeremonie in der Kir-
che, die niemand verstand und der niemand zuhörte, hat-
te wie eine süße, geheimnisvolle Betäubung auf ihn ge-
wirkt. Für eine Stunde hatte sich ihm die Religion geöff-
net, und in der Begegnung mit ihr hatte er den schläfrigen
Frieden von stark duftenden Blumen und Weihrauch und
die Glut der Beziehung zur Ewigkeit empfangen. Diese
Dinge waren von der überwältigenden Einfachheit der
kirchlichen Bestattung in seinem Innern geweckt worden.
Shark hatte seine Tante Nellie nie näher gekannt, aber
ihre Beerdigung hatte er voll und ganz genossen. Offen-
bar hatten seine Verwandten von seinem Wohlstand ver-
nommen, denn sie begegneten ihm mit Ehrfurcht und
Würde. Jetzt, auf dem Heimweg, dachte er wieder an alle
diese Dinge, und seine Freude ließ die Zeit rascher verge-
hen, verkürzte ihm den Weg und brachte ihn bald vor
den Laden des Tales. Shark ging hinein, denn er wußte,
daß er im Laden jemanden finden würde, der ihm über
alles, was sich in seiner Abwesenheit ereignet hatte, Be-
richt geben konnte.
T. B. Allen, der Ladenbesitzer, wußte alles, was sich im
Tal ereignete, und er verstand es, jede einzelne Neuigkeit
viel wichtiger zu gestalten, als sie war, indem er vorgab,
nur widerwillig darüber zu berichten. Das einfältigste Ge-
schwätz wurde spannend und interessant, wenn es von
T. B. erzählt wurde.
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Außer dem Besitzer war niemand im Laden. T. B. ließ
den Stuhl von der Wand auf seine vier Beine zurückfal-
len, und seine Augen funkelten erwartungsvoll.
»Ihr wart, scheint’s, verreist?« sagte er in einem Ton,
der zu Vertraulichkeiten ermunterte.
»Ja, nach Oakland«, sagte Shark. »Mußte an einer Be-
erdigung teilnehmen. Und dann habe ich auch gleich was
Geschäftliches erledigt.«
T. B. wartete auf Einzelheiten. Er wartete so lange, als
es der Anstand erforderte. Dann fragte er: »Und? Hat et-
was dabei herausgeschaut, Shark?«
»Vielleicht. Wenn man’s so nennen will. Ich habe eine
Gesellschaft angeschaut.«
»Geld hineingesteckt?« fragte T. B. respektvoll.
»Etwas.«
Beide Männer schauten zu Boden.
»Was Neues während meiner Abwesenheit?«
Sogleich änderte sich der Ausdruck im Gesicht des al-
ten Mannes. Man sah, daß er nicht gern sagen wollte, was
sich ereignet hatte. Man konnte in seinem Gesicht eine
natürliche Abneigung gegen jede Art von Skandal lesen.
Schließlich gestand er: »Party im Schulhaus.«
»Ja, das hab’ ich gewußt.«
T. B. wand sich. Sollte er Shark verraten, was er wußte
– denn vielleicht war es seine Pflicht, es ihm zu sagen –,
oder sollte er alles für sich behalten? Mit wachsender
Spannung verfolgte Shark sein inneres Ringen und sah
aufmerksam zu, was sich auf seinem Gesicht ereignete.
Shark kannte T. B. Allen sehr gut.
»Nun, was gibt’s?« forschte Shark.
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»Es soll bald eine Heirat geben.«
»Wirklich? Bei wem denn?«
»Ich denke, ziemlich in Eurer Nähe.«
»Wo?«
T. B. wehrte sich vergebens. »Bei Euch«, gestand er.
Shark lachte. »Bei mir?«
»Alice.«
Shark fuhr zusammen und starrte dem alten Mann ins
Gesicht. Dann trat er näher und stand drohend über ihm.
»Was soll das heißen? Sag, was soll das heißen – du!«
T. B. wußte, daß er zu weit gegangen war. Er duckte
sich. »Mr. Wicks! Tut nichts Unbesonnenes!«
»Ich will wissen, was du meinst. Ich will alles wissen!«
Shark packte T. B. bei den Schultern und schüttelte ihn.
»Es war ja nur am Samstag … im Schulhaus … beim
Tanz.«
»Alice ist tanzen gegangen?«
»J-ja.«
»Was hatte sie denn dort zu suchen?«
»Das weiß ich doch nicht. Nichts, sicher nichts.«
Shark hob ihn aus dem Stuhl und stellte ihn grob auf
die Füße. »Ich will alles wissen!« schrie er.
Der alte Mann stammelte: »Sie ist ja nur mit Jimmie
Munroe auf den Schulhof gegangen.«
Shark schüttelte ihn wie einen Sack. »Heraus mit der
Sprache! Was haben sie getan?«
»Ich weiß nicht, Mr. Wicks.«
»Was haben sie getan?«
»Also, Miss Burke … Miss Burke hat gesagt … sie ha-
ben sich geküßt.«
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Shark ließ den Sack fallen und setzte sich. Ein Gefühl
gänzlicher Verlorenheit überwältigte ihn. Entgeistert stier-
te er T. B. an, und seine Gedanken rangen mit der Vor-
stellung der Entweihung seiner Tochter. Es fiel ihm nicht
ein, daß die Sache bei einem Kuß aufgehört haben könn-
te. Er blickte hilflos im Laden herum. T. B. sah, wie seine
Augen den Gewehrschrank streiften.
»Nehmt Euch zusammen, Shark«, schrie er. »Die Ge-
wehre – gehören nicht Euch!«
Shark hatte die Gewehre gar nicht gesehen. Aber als er
das Wort hörte, sprang er auf, schob die Glastür beiseite
und nahm einen schweren Karabiner aus dem Schrank.
Er riß das Etikett weg und steckte eine Schachtel Patro-
nen in die Tasche. Dann eilte er wortlos in die Nacht hin-
aus. Und bevor seine Schritte verhallt waren, hing T. B.
am Telefon.
Shark war auf der Straße und ging eilends auf Bert
Monroes Haus zu. Hilflos und verwirrt jagten sich die
Gedanken in seinem Kopf. Er wußte nur eines: töten
wollte er Jimmie Munroe nicht. Er hatte überhaupt nicht
daran gedacht, ihn zu erschießen. Erst der Ladenbesitzer
hatte ihn auf die Idee gebracht. Und dann hatte er gedan-
kenlos gehandelt. Doch was nun? Er stellte sich vor, was er tun würde, wenn er zu den Monroes kam. Vielleicht
mußte er Jimmie Munroe erschießen. Vielleicht gestaltete sich die Sache so unglücklich, daß er gezwungen wurde,
einen Mord zu begehen, um sein Ansehen im »Tal des
Himmels« zu bewahren.
Er hörte ein Auto und trat in ein Gebüsch beiseite, als
der Wagen mit Vollgas vorbeidröhnte. Bald mußte er
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dort sein, und er haßte Jimmie Munroe nicht. Er haßte
überhaupt nichts, nur das hohle Gefühl, das sich seiner
bemächtigt hatte, als er vom Verlust von Alices Unschuld
hörte. Jetzt war seine Tochter tot; wenn er an sie dachte,
war sie tot.
In der Ferne sah er die Lichter von Berts Haus. Und
Shark wußte, daß er niemals Jimmie Munroe erschießen
könnte. Auch wenn er ausgelacht würde, könnte er den
Jungen nicht erschießen. Mord war für ihn unvorstellbar!
Er würde beim Gartentor hineinschauen und dann nach
Hause gehen. Vielleicht lachten ihn dann die Leute aus,
aber jemanden erschießen konnte er nicht.
Plötzlich trat ein Mann aus dem Schatten eines Gebü-
sches und rief ihn an: »Legt das Gewehr nieder, Wicks,
und haltet die Hände hoch!«
Shark legte den Karabiner auf den Boden. Er war plötz-
lich sehr müde. Er erkannte die Stimme des Hilfssheriffs.
»Hallo, Jack«, sagte er.
Dann standen rundherum Leute. Im Hintergrund
stand Jimmie mit verstörtem Gesicht. Auch Bert Munroe
fürchtete sich. Er sagte: »Warum wolltet Ihr Jimmie er-
schießen? Er hat Euch gar nichts zuleide getan. T. B. hat
mich angerufen. Ich muß Euch an einen Ort bringen, wo
Ihr kein Unheil anrichten könnt.«
»Einsperren könnt Ihr ihn nicht«, sagte der Hilfsshe-
riff. »Er hat nichts verbrochen. Aber vor Gericht könnt
Ihr ihn bringen und eine Friedensbürgschaft verlangen.«
»Dann werde ich das wohl tun müssen«, sagte Bert mit
zitternder Stimme.
»Verlangt aber eine hohe Kaution«, sagte der Sheriff
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weiter; »Shark ist ein reicher Mann. Und jetzt fahren wir
am besten gleich mit ihm nach Salinas, und Ihr könnt Eu-
re Klage einreichen.«
Am andern Morgen kam Shark Wicks nach Hause.
Völlig apathisch, wie im Traum, ging er ins Haus hinein
und warf sich auf sein Bett. Seine Augen waren schwer
und müde, aber er sperrte sie weit auf. Seine Arme lagen
lose wie die Arme einer Leiche neben seinem Körper.
Stunde um Stunde lag er so da.
Katherine war im Garten, als er ins Haus hineinging.
Sie hatte ihn gesehen. Sie hatte eine grimmige Genug-
tuung empfunden, als sie seine herabhängenden Schul-
tern und die geknickte Haltung seines Kopfes sah; aber als
sie später in die Küche ging, um das Mittagessen zu ko-
chen, ging sie auf den Zehen und ermahnte Alice, keinen
Lärm zu machen.
Um drei Uhr ging Katherine in die Schlafkammer
nachschauen. »Alice ist nichts zugestoßen«, sagte sie un-
ter der Tür. »Warum hast du mich nicht gefragt, bevor du
etwas unternahmst?«
Shark blieb regungslos liegen und antwortete nicht.
»Glaubst du mir nicht?« Die plötzliche Teilnahmslo-
sigkeit ihres Mannes erschreckte sie. »Wenn du mir nicht
glaubst, rufe ich den Arzt. Augenblicklich gehe ich ihn
holen, wenn du mir nicht glauben willst.«
Ohne sie anzuschauen, sagte Shark leblos: »Ich glaube
dir.«
Als nun Katherine unter der Tür der Schlafkammer
stand und ihren Mann vor sich liegen sah, wurde sie von
einem Gefühl überflutet, das ihr noch nie begegnet war.
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Sie tat etwas, woran sie in ihrem Leben nie gedacht hatte.
Katherine Wicks setzte sich auf den Rand des Bettes und
legte mit sicherer Hand das Haupt ihres Mannes in ihren
Schoß. Sie tat es instinktiv, gefühlsmäßig, und das gleiche
Gefühl gab ihr ein, sie müsse die Stirn des Mannes strei-
cheln. Sharks Körper war schlaff und völlig apathisch.
Shark starrte unverwandt ins Leere, aber unter dem
sanften, rhythmischen Streicheln von Katherines Hand
löste sich allmählich seine Apathie, und er begann in ab-
gebrochenen Sätzen zu reden.
»Ich … habe kein Geld«, sagte seine eintönige Stimme.
»Sie haben mich vor den Richter geschleppt und … zehn-
tausend Dollar Kaution verlangt. Ich mußte es dem Rich-
ter sagen. Alle haben es gehört. Jetzt wissen sie es … alle …
ich habe kein Geld. Ich habe nie welches gehabt. Begreifst
du? Das Kassabuch … nichts als eine Lüge. Jede einzelne
Eintragung war gelogen. Ich habe alles erfunden. Und jetzt
wissen es alle. Ich mußte es dem Richter gestehen.«
Katherine strich ihm sanft über die Stirn, und das Ge-
fühl in ihrer Brust wuchs. Sie fühlte sich groß und stark,
viel mächtiger als die Welt. Die ganze Welt lag in ihrem
Schoß, und sie tröstete sie. Das Mitleid schien ihr eine
riesige Gestalt und Kraft zu verleihen; ihre lindernden
Brüste neigten sich dem Weh der Welt entgegen.
»Ich wollte niemandem weh tun«, fuhr Shark weiter.
»Ich hätt’ doch den Jimmie Munroe nicht erschossen! Sie
erwischten mich, bevor ich umkehren konnte. Sie mein-
ten, ich wollte ihn töten. Und jetzt wissen es alle. Ich habe
keinen Cent.« Kraftlos lag er da und starrte an die Decke
der Kammer.
53
Plötzlich wurde das Gefühl in Katherine zu einer
Macht, und die Macht durchströmte sie und erfüllte ih-
ren ganzen Körper. Im nächsten Moment wußte sie, was
sie war und was sie tun konnte. Sie war überglücklich und
sehr schön. »Du hast eben nie eine Chance gehabt«, sagte
sie sanft. »Dein ganzes Leben lang hast du dich auf dieser
alten Farm abgerackert. Du weißt gar nicht, ob du nicht
doch imstande bist, Geld zu verdienen. Ich glaube, du bist
dazu fähig. Ich weiß es. Du wirst es schaffen.«
Immer noch streichelte sie seine Stirn. Sie hatte ge-
wußt, daß sie Shark retten konnte. Das Wissen um ihre
Macht war in ihr geboren worden, dort, als sie auf dem
Bett saß, und sie wußte, daß ihr ganzes Leben wie eine
Vorbereitung auf diesen einen Augenblick gewesen war.
In diesem Augenblick war sie eine Göttin, eine Sängerin
des Schicksals. Sie war nicht erstaunt, als sie spürte, wie
die Kraft langsam in seinen Körper zurückkehrte.
»Wir werden das Tal verlassen«, sagte sie. »Wir verkau-
fen die Ranch und suchen etwas anderes, an einem ganz
anderen Ort. Dort wirst du die Chance finden, die du nie
gehabt hast. Du wirst sehen. Ich weiß, was du bist. Ich
glaube an dich.«
Die entsetzliche Leblosigkeit wich aus seinen Augen.
Sein Körper fand die Kraft, um sich zu drehen. Shark
blickte Katherine an und sah, wie schön sie in diesem Au-
genblick war, und derweil er sie anschaute, wurde er von
ihrem Mut durchdrungen. Shark preßte das Gesicht in
ihren Schoß.
Sie. neigte den Kopf und blickte auf seinen Nacken. Sie
hatte Angst, denn die Macht schwand aus ihrem Körper.
54
Plötzlich sprang Shark auf. Er hatte Katherine vergessen,
aber seine Augen strahlten die Kraft und Energie aus, die
sie ihm geschenkt hatte.
»Ich gehe!« rief er. »Bei Gott, ich gehe, sobald ich die
Ranch verkaufen kann. Dann werde ich es schaffen. Dann
zeig’ ich den Leuten, wer ich bin.«
IV
Tularecitos Herkunft ist in tiefes Dunkel gehüllt, und
seine Entdeckung ist eine mythische Legende, welche die
Leute im »Tal des Himmels« nicht glauben wollen, so gut,
wie sie an Gespenster zu glauben nicht geneigt sind.
Franklin Gomez hatte einen Knecht, einen mexikani-
schen Indianer namens Pancho. Alle drei Monate packte
Pancho seine Ersparnisse ein und fuhr nach Monterey,
um seine Sünden zu beichten, Buße zu tun, Absolution
zu empfangen und sich zu betrinken – und all das in der
genannten Reihenfolge. Falls er, wenn die Bars geschlos-
sen wurden, noch nicht im Gefängnis war, stieg er in sei-
nen Einspänner und schlief ein. Das Pferd zog ihn nach
Hause, wo er kurz nach Tagesanbruch eintraf, gerade
rechtzeitig, um noch das Frühstück einzunehmen, bevor
er sich wieder an die Arbeit begab. Pancho lag immer in
tiefem Schlaf, wenn er heimkam, und deshalb erregte er
so viel Aufsehen, als er eines Morgens in den Pferch ga-
loppierte und nicht nur hellwach war, sondern aus Lei-
beskräften brüllte.
Franklin Gomez zog hurtig die Kleider an und ging
hinaus und stellte seinen Knecht zur Rede. Pancho er-
zählte eine reichlich verworrene Geschichte voll von Wi-
dersprüchen; als aber der Knäuel aufgelöst war, lautete sie
etwa so: Pancho war nach Hause gefahren, stocknüch-
tern, wie immer. In der Nähe von Blakes Haus hörte er in
einem Salbeibusch neben der Straße ein kleines Kind
wimmern. Er brachte das Pferd zum Stehen und, ging
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nachschauen, denn Kindern begegnete man nicht oft auf
diese Weise. Und wirklich, in dem Busch lag ein winziges
Geschöpf. Es war etwa drei Monate alt, schätzte Pancho.
Er hob es auf und zündete ein Streichholz an, um zu se-
hen, was er eigentlich gefunden hatte, als – o Schreck und
Entsetzen! – das Kind ihm boshaft zuzwinkerte und in ei-
ner tiefen Stimme sagte: »Schau! Ich habe ganz scharfe
Zähne.« Pancho schleuderte das Ding von sich, sprang
mit einem Satz auf den Einspänner, schlug mit dem Griff
der Peitsche auf das Pferd ein, heulte wie ein Hund und
galoppierte nach Hause.
Franklin Gomez zupfte lange wortlos am Schnurrbart.
Pancho war auch unter dem Einfluß von Alkohol ge-
wöhnlich nicht hysterisch. Die Tatsache, daß er über-
haupt erwacht war, ließ wirklich vermuten, daß etwas in
jenem Busch drin war. Schließlich ließ Franklin Gomez
ein Pferd satteln, ritt hinaus und brachte das Kind auf
den Hof. Fast drei Jahre lang sagte es kein Wort mehr,
auch fand man, als man es untersuchte, keine Zähne; aber
keine der beiden Tatsachen konnte Pancho überzeugen,
daß es nicht doch jene erste grimmige Bemerkung ge-
macht hatte.
Das Kind hatte kurze, dicke Arme und lange, schlen-
kernde Beine. Sein riesiger Kopf saß ohne Hals zwischen
übermäßig breiten Schultern. Seines flachen Gesichtes
und seines merkwürdigen Körpers wegen wurde es auto-
matisch Tularecito, Kleiner Frosch, getauft, obgleich
Franklin Gomez es manchmal Coyote nannte, »denn«,
sagte er, »in dem Gesicht dieses Knaben liegt jene uralte
Weisheit, die man im Gesicht eines Coyoten findet«.
57
»Aber schauen Sie doch seine Beine an und die Arme
und die Schultern, Señor!« protestierte Pancho. Und so
blieb der Name Tularecito. Man hat nie herausgefunden,
wer das kleine Geschöpf ausgesetzt hatte. Franklin Gomez
nahm es im Patriarchat seiner Ranch auf, und Pancho
pflegte es. Pancho konnte aber nie eine gewisse Furcht
vor ihm loswerden. Weder die Jahre noch eine strenge
Buße wischten die Erinnerung an Tularecitos erste Be-
merkung aus.
Der Knabe wuchs rasch, aber sein Gehirn blieb im fünf-
ten Jahr stehen. Mit sechs Jahren konnte er die Arbeit ei-
nes Erwachsenen verrichten. Die langen Finger seiner
Hände waren stärker und geschickter als die Finger der
meisten Männer. Auf der Ranch machte man sich Tulare-
citos Finger zunutze. Zähe Knoten konnten ihnen nicht
lange widerstehen. Er hatte Pflanzerhände, feine Finger,
die nie ein junges Pflänzlein verletzten oder die Oberfläche
eines Pfropfzweigleins beschädigten. Waren sie grausam,
konnten seine Finger mühelos einem Truthahn den Hals
umdrehen. Tularecito hatte noch ein anderes eigenartiges
Talent: Mit dem Daumennagel konnte er erstaunlich
wahrheitsgetreue Tiere in Sandstein ritzen. Franklin Go-
mez hielt viele kleine Abbilder von Coyoten und Berglö-
wen, Hühnern und Eichhörnchen im Haus aufbewahrt.
Das zwei Fuß hohe Bild eines herabstoßenden Habichts
hing an einem Draht von der Decke des Eßzimmers. Pan-
cho, der den Jungen nie ganz als Mensch anerkannte, sah
– wie in vielen anderen diabolischen Zügen seines Wesens
– in seinem Talent einen untrüglichen Beweis für Tulare-
citos übernatürliche Abstammung. Die Leute im »Tal des
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Himmels« glaubten nicht an Tularecitos Abstammung
vom Teufel, aber dessenungeachtet war ihnen in seiner
Gegenwart nicht wohl. Seine Augen waren uralt und glanz-
los; in seinem Gesicht lag etwas von einem Höhlenmen-
schen. Mit seiner riesigen Körperkraft und seinen merk-
würdigen Veranlagungen war er nicht wie andere Kinder,
und Männer und Frauen fürchteten ihn ein wenig.
Nur etwas konnte Tularecito zornig machen: Wenn ir-
gend jemand, Mann, Frau oder Kind, ein von seinen
Händen geschaffenes Werk gleichgültig anfaßte oder zer-
brach, wurde er wütend. Dann funkelten seine Augen,
und er stürzte sich auf den Schänder. Dreimal, als dies ge-
schehen, band ihn Franklin Gomez an Händen und Fü-
ßen und ließ ihn liegen, bis seine übliche Gutmütigkeit
zurückgekehrt war.
Als er sechs Jahre alt war, ging Tularecito nicht in die
Schule. In den nächsten fünf Jahren befaßten sich der
Schulvorsteher und der Bezirksvisitator immer wieder
mit dem Fall. Franklin Gomez war auch der Meinung,
daß Tularecito die Schule besuchen sollte, und ging sogar
so weit, ihn mehrmals zu schicken, aber der Junge ging
nicht. Er fürchtete, daß die Schule unangenehm sein
würde, und so verschwand er einfach einen Tag lang. Erst
als er elf Jahre alt war und schon die Schultern eines Ge-
wichthebers und die Hände und Arme eines Erwürgers
hatte, fingen ihn die vereinten Kräfte des Gesetzes ein
und steckten ihn in die Schule.
Wie Franklin Gomez vermutet hatte, lernte Tularecito
überhaupt nichts. Dafür aber gab er unverzüglich Zeugnis
eines neuen Talentes. Er zeichnete ebenso gut, wie er in
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Sandstein ritzte. Als Miss Martin, die Lehrerin, seine
Kunstfertigkeit entdeckte, gab sie ihm ein Stück Kreide
und bat ihn, einen Umzug von Tieren auf die Wandtafel
zu zeichnen. Tularecito arbeitete lange über die Unter-
richtszeit hinaus, und am nächsten Morgen prangte eine
eigenartige Parade auf allen Wänden. Alle Tiere, die Tula-
recito je gesehen hatte, waren vertreten, und sämtliche
Vögel der Hügel flogen über sie her. Eine Klapperschlan-
ge verfolgte eine Kuh; ein Coyote mit stolz in die Luft ge-
strecktem Schwanz schnüffelte an den Hinterfüßen eines
Schweines. Da gab es Katzen, Ziegen, Schildkröten und
Maulwürfe, und alle waren bis in jede Einzelheit erstaun-
lich wahrheitsgetreu gezeichnet.
Miss Martin war von Tularecitos Genie überwältigt. Sie
lobte ihn vor der Klasse und gab über jedes der Tiere eine
kurze Lektion. In Gedanken sah sie sich geehrt und ge-
priesen als Entdeckerin und Förderin dieses Genies. »Ich
kann noch viel mehr zeichnen«, erbot sich Tularecito.
Miss Martin klopfte ihm auf die breite Schulter. »Und
das sollst du auch tun«, sagte sie. »Jeden Tag sollst du
zeichnen. Gott hat dir ein großes Talent geschenkt.«
Dann wurde ihr bewußt, daß sie soeben etwas sehr Be-
deutendes gesagt hatte. Sie lehnte sich über ihn und
schaute in seine harten Augen und wiederholte langsam:
»Es ist ein großes Talent, das dir Gott geschenkt hat.«
Dann schaute Miss Martin auf die Uhr und sagte: »Vierte
Klasse: Rechnen – an der Tafel!«
Die Vorschüler krochen aus den Bänken, nahmen
Schwämme und begannen die Tiere auszuwischen, um
Platz für ihre Zahlen zu machen. Sie hatten kaum ange-
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fangen, als Tularecito angriff. Es war ein großer Tag! Miss
Martin, unterstützt von der ganzen Schule, konnte ihn
nicht überwältigen, denn der aufgebrachte Tularecito hat-
te die Kraft eines Mannes und eines Verrückten zugleich.
Die Schlacht zerstörte das Schulzimmer, zerschlug Bänke,
verschüttete Ströme von Tinte, schleuderte Blumensträu-
ße umher; Miss Martins Kleider wurden zu Fetzen zerris-
sen, und die größeren Buben, auf denen das Hauptge-
wicht der Schlacht lastete, wurden arg verbeult und zu-
sammengehauen. Tularecito kämpfte mit Händen und
Füßen und Zähnen und mit dem Kopf. Er hielt sich an
keine ehrenhaften Regeln, und am Ende siegte er. Die
ganze Schule mit Miss Martin als Rückendeckung floh
aus dem Schulhaus und überließ es dem wütenden Tula-
recito. Als sie fort waren, schloß er die Tür und drehte
den Schlüssel um, wischte sich das Blut aus den Augen
und begann, seine zerstörten Tiere wiederherzustellen.
An jenem Abend sprach Miss Martin bei Franklin Go-
mez vor und verlangte, der Junge müsse geschlagen wer-
den.
Gomez zuckte die Achseln. »Muß ich ihn wirklich
durchprügeln, Miss Martin?«
Das Gesicht der Lehrerin war zerkratzt; ihr Mund war
bitter. »Selbstverständlich!« sagte sie. »Wenn Sie gesehen
hätten, was er heute angestellt hat, würden Sie nichts
mehr sagen. Der Junge muß gezüchtigt werden!«
Gomez zuckte abermals die Achseln und rief Tulareci-
to aus dem Schuppen herbei. Er nahm eine schwere Peit-
sche von der Wand, und Tularecito lächelte Miss Martin
freundlich zu, als ihn Franklin Gomez mit voller Wucht
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auf den Rücken schlug. Miss Martin machte unwillkür-
lich die Bewegung des Schlagens mit. Als es vorüber war,
tastete sich Tularecito mit langen, suchenden Fingern ab
und ging, immer noch lächelnd, in den Schuppen zurück.
Miss Martin hatte dem Ende der Züchtigung mit Ent-
setzen beigewohnt. »Aber er ist ja ein Tier!« schrie sie. »Es
war, wie wenn man einen Hund schlägt!«
Franklin Gomez ließ eine leichte Spur des Ärgers über
sie auf seinem Gesicht sehen. »Ein Hund hätte sich ge-
duckt und gewunden, Miss Martin«, sagte er. »Jetzt haben
Sie gesehen, was er ist. Sie sagen, er ist ein Tier, aber er ist ein gutes Tier. Sie geboten ihm, Tiere zu zeichnen, und
dann haben Sie seine Zeichnungen zerstört. Tularecito
mag das nicht …«
Miss Martin wollte ihn unterbrechen, aber er fuhr wei-
ter.
»Dieser kleine Frosch sollte nicht in die Schule gehen.
Er kann arbeiten, er kann mit den Händen wunderschöne
Sachen machen, aber er kann die einfachen kleinen Dinge
der Schule nicht lernen. Er ist nicht verrückt; er ist einer
von denen, die Gott nicht ganz fertig gemacht hat. Ich
habe das alles dem Schulvorsteher gesagt, und er antwor-
tete, das Gesetz verlange es, daß Tularecito zur Schule
geht, bis er achtzehn Jahre zählt. Das ist sieben Jahre von
heute an. Sieben Jahre lang wird mein kleiner Frosch in
der ersten Klasse sitzen, weil es das Gesetz so haben will.
Ich verstehe das nicht.«
»Einsperren sollte man ihn«, protestierte Miss Martin.
»Diese Kreatur ist gefährlich. Sie hätten ihn heute sehen
sollen!«
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»Nein, Miss Martin, man sollte ihn in Ruhe lassen. Er
ist nicht gefährlich. Niemand kann einen Garten besor-
gen wie er. Niemand kann so flink und so sorgfältig mel-
ken. Er ist ein guter Junge. Er kann ein wildes Pferd zäh-
men, ohne es zu reiten. Er kann einen Hund dressieren,
ohne ihn zu schlagen. Aber das Gesetz sagt, er muß in der
ersten Klasse sitzen und sieben Jahre lang ›K-A-T-Z-E,
Katze‹ wiederholen. Wenn er gefährlich wäre, hätte er
mich leicht töten können, als ich ihn schlug.«
Miss Martin fühlte, daß es Dinge gab, die sie nicht ver-
stehen konnte, und sie haßte Franklin Gomez deswegen.
Sie wußte, daß sie gemein und daß er gut gewesen war.
Am andern Tag, als sie in die Schule kam, stand Tulareci-
to vor ihr. Jedes freie Flecklein Wand war vollgezeichnet
mit Tieren.
»Haben Sie gesehen?« sagte er und strahlte sie über die
Schulter an. »Noch viel mehr! Und ich habe ein Buch mit
noch andern, aber es hat keinen Platz für sie an der
Wand.«
Miss Martin wischte die Tiere nicht aus. Die Schular-
beiten wurden auf Papier geschrieben, aber am Ende des
Schuljahres kündigte sie ihre Stelle, wobei sie schlechte
Gesundheit vorschützte.
Miss Morgan, die neue Lehrerin, war sehr jung und
sehr hübsch – zu jung und zu gefährlich hübsch, dachten
die älteren Männer des Tales. Einige der Burschen in den
oberen Klassen waren siebzehn Jahre alt. Man bezweifelte
ernstlich, daß eine so junge und so hübsche Lehrerin
Ordnung in der Schule zu halten vermochte.
Sie brachte eine heiße Begeisterung für ihren Beruf mit
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ins Tal. Die Schüler waren verblüfft, denn sie hatten sich
an alternde Jungfern gewöhnt, deren Gesichter ewig mü-
de Füße widerzuspiegeln schienen. Miß Morgan hatte
Freude am Lehren und verwandelte die Schule in eine
aufregende Stätte, wo ungewöhnliche Dinge geschahen.
Von Anfang an war Miss Morgan von Tularecito tief
beeindruckt. Sie wußte alles über ihn, hatte Bücher gele-
sen über seine Psychologie und Kurse besucht. Sie hatte
von der Schlacht im Schulzimmer gehört, und deshalb
umgrenzte sie am oberen Rand der Wandtafeln mit ei-
nem dicken Strich eine Fläche für seine Tiere, und als er
seinen Umzug fertiggezeichnet hatte, kaufte sie ihm von
ihrem Geld einen riesigen Zeichenblock und einen wei-
chen Bleistift. Von da an gab er sich nicht mehr mit Buch-
stabieren ab. Tag für Tag arbeitete er über dem Zeichen-
brett, und jeden Nachmittag überreichte er der Lehrerin
ein prachtvoll gezeichnetes Tier. Sie hing die Zeichnungen
an die Wände über den Tafeln. Die Schüler nahmen die
Neuerungen, welche Miss Morgan einführte, mit großer
Begeisterung entgegen. Der Unterricht wurde spannend,
und sogar jene Buben, welche sich als Quälgeister ein be-
neidenswertes Ansehen erworben hatten, träumten nicht
mehr so oft davon, das Schulhaus anzuzünden.
Miss Morgan führte etwas ein, was ihr die tiefste Ver-
ehrung der Schüler eintrug. Jeden Nachmittag las sie ih-
nen eine halbe Stunde vor. Sie las in Fortsetzungen ›Ivan-
hoe‹ und ›The Talisman‹, dann Geschichten von Zane
Grey und Jagderzählungen von James Oliver Curwood,
ferner ›The Sea Wolf‹ und ›Call of the Wild‹ – nicht Kin-
dergeschichten von der kleinen roten Henne und dem
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Fuchs und den Gänsen, sondern spannende, aufregende,
richtige Geschichten für Erwachsene.
Miss Morgan las gut vor. Auch die wilderen Buben
wurden langsam gewonnen, bis sie überhaupt nicht mehr
schwänzten, weil sie die Fortsetzungen nicht verpassen
wollten.
Aber Tularecito zeichnete sorgfältig weiter und hielt
nur ab und zu inne und blinzelte die Lehrerin an und ver-
suchte zu verstehen, weshalb wohl diese weitläufigen Er-
zählungen von unbekannten Leuten irgend jemanden in-
teressieren konnten. Für ihn waren es Berichte von tat-
sächlichen Ereignissen – oder warum hätte man sie sonst
niedergeschrieben? Die Geschichten waren wie der Un-
terricht. Tularecito hörte nicht zu.
Nach einiger Zeit hatte Miss Morgan das Gefühl, daß
sie die älteren Kinder etwas zu sehr bevorzugt hatte. Sie
selbst liebte Märchen und dachte gern an ganze Völker,
welche an Elfen und Feen glaubten und sie in der Folge
auch sahen. In demselben Kreis ihrer erprobten und ge-
bildeten Bekanntschaft sagte sie oft, daß »ein Teil der kul-
turellen Not Amerikas auf der einfältigen, abergläubischen
Verleugnung der Existenz von übernatürlichen Wesen be-
ruht«. Und eine Zeitlang widmete sie ihre halbe Stunde
am Nachmittag dem Vorlesen von Märchen.
Und das machte Tularecito aufhorchen. Als Miss Mor-
gan von Elfen und Heinzelmännchen, Feen und Wichten
und Wechselbälgen vorlas, fand seine Aufmerksamkeit
ein Ziel, und der Bleistift lag untätig in seiner Hand.
Dann las sie von Gnomen und ihren Eigenarten und Le-
bensgewohnheiten, und er ließ den Bleistift aus der Hand
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fallen und beugte sich weit nach vorn zur Lehrerin hin,
um jedes Wort aufzunehmen.
Nach der Schule mußte Miss Morgan eine Meile weit
gehen, bis sie an ihrem Wohnort war. Sie liebte es, den
Weg allein zu gehen, unterwegs mit einem Zweig Distel-
köpfe abzuschlagen und Steine ins Gebüsch zu werfen,
um die Wachteln aufzuscheuchen. Sie hätte gern einen
übermütigen, neugierigen Hund bei sich gehabt, der ihre
Freude geteilt und den Zauber von Erdlöchern und trip-
pelnden Pfoten auf dürren Blättern erkannt, der das Ge-
heimnisvolle des seltsamen, melancholischen Vogelge-
zwitschers und die Zartheit der Düfte, die die Erde ver-
stohlen verbreitete, verstanden hätte.
Eines Nachmittags kletterte Miss Morgan hoch über eine
Kreidewand hinauf, um ihre Initialen in den weißen Stein
einzuritzen. Auf dem Hinaufweg riß sie sich an einem Dorn
den Finger wund, und statt Initialen kratzte sie ein: »Hier
bin ich gewesen und habe das von mir hiergelassen«, und
preßte den blutigen Finger auf den porösen Kalkstein.
An jenem Abend schrieb sie in einem Brief: »Neben
dem Allernötigsten zum Leben und zur Vermehrung be-
darf der Mensch am meisten der Gelegenheit, irgendwel-
che Zeichen zu hinterlassen, einen Beweis vielleicht, daß
er wirklich gelebt hat. Er hinterläßt sein Zeichen auf Holz,
auf Stein oder im Leben anderer Menschen. Dieses tiefe
Bedürfnis existiert in jedem von uns, von dem Knaben,
der schmutzige Worte an die Wand einer öffentlichen
Toilette malt, bis zum Buddha, der sein Ebenbild in den
Geist seiner Rasse einätzt. Das Leben ist so unwirklich!
Ich glaube, wir zweifeln wirklich, ob wir existieren, und
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ziehen umher und versuchen zu beweisen, daß wir es
tun.« Eine Kopie dieses Briefes bewahrte sie auf.
Als sie an dem Nachmittag, da sie von den Gnomen
vorgelesen hatte, nach Hause ging, teilte sich plötzlich das
Gras neben der Straße, und der häßliche Kopf von Tula-
recito tauchte auf.
»Oh! Hast du mich aber erschreckt!« rief Miss Morgan.
»So solltest du die Leute nicht überfallen!«
Tularecito stand auf und lächelte verlegen und schlug
seinen Hut gegen das Bein. Plötzlich wurde Miss Morgan
von Angst ergriffen. Die Straße war vollständig verlassen
– sie hatte Geschichten von Idioten gelesen! Mit großer
Mühe meisterte sie ihre zitternde Stimme.
»Was … was willst du?«
Tularecito grinste und schlug noch heftiger mit dem
Hut an das Bein.
»Hast du dich einfach versteckt? … oder … willst du
etwas?«
Tularecito rang verzweifelt nach Worten; dann begann
er von neuem zu lächeln.
»Nun …? Wenn du nichts willst, gehe ich weiter.«
Miss Morgan war bereit, zu fliehen.
Tularecito stammelte: »Diese L-Leute …«
»Welche Leute?« fragte Miss Morgan mit erregter
Stimme. »Was für Leute meinst du?«
»Die Leute … i-im Buch …«
Dann lachte Miss Morgan erleichtert, bis sie spürte,
daß ihr Haar im Nacken in Unordnung geriet. »Ach so!
Du meinst … Du meinst die Gnome?«
Tularecito nickte.
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»Ja, und? Was soll ich dir von den Gnomen erzählen?«
»Ich habe noch keine gesehen«, sagte Tularecito. Seine
Stimme war tief und eintönig.
»Natürlich, die wenigsten Leute sehen sie.«
»Aber ich, ich wußte von ihnen.«
Miss Morgan war höchst erstaunt. »Wirklich? Wer hat
es dir denn gesagt?«
»Niemand.«
»Du hast sie noch nie gesehen, und niemand hat dir
von ihnen erzählt, und doch hast du gewußt, daß es
Gnome gibt? Wie ist denn das möglich?«
»Ich hab’s einfach gewußt. Habe sie gehört, vielleicht.
Wie Sie aus dem Buch vorlasen, habe ich sie gleich er-
kannt.«
Miss Morgan dachte: »Warum sollte ich vor diesem
seltsamen, unfertigen Kind die Gnome verleugnen? Wäre
sein Leben nicht reicher und glücklicher, wenn er an sie
glaubte? Und was könnte es schon schaden!«
»Hast du sie gesucht?« fragte sie.
»Nein. Nie. Ich hab’s einfach gewußt. Aber jetzt suche
ich.«
Miss Morgan war begeistert von dem Gespräch. Das
war Papier, auf das man schreiben mußte; das war ein
Stein, um etwas einzuritzen! Sie könnte eine wunderbare
Geschichte schreiben, dachte sie, eine Geschichte, die viel
wirklicher war, als je eine in einem Buch sein konnte.
»Wo willst du suchen?« fragte sie.
»Löcher graben!« sagte Tularecito trocken.
»Die Gnome kommen aber nur nachts hervor, Tulare-
cito. Du mußt in der Nacht suchen. Und du mußt zu mir
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kommen und es mir sagen, wenn du sie gefunden hast.
Willst du das tun?«
»Ich komme«, versprach er ernst.