Als sie weiterging, starrte er ihr nach. Auf dem ganzen

Heimweg stellte sie sich vor, wie er in der Nacht herum-

suchte. Das Bild gefiel ihr. Vielleicht sogar fand er wirk-

lich seine Gnome und lebte und sprach mit ihnen. Mit

ein paar andeutenden Worten hatte sie sein Leben un-

wahrscheinlich und sehr wunderbar gemacht und von

dem albernen Leben um ihn herum abgesondert. Sie be-

neidete ihn beinahe um sein Suchen.

Am Abend zog Tularecito die Jacke an und holte die

Schaufel. Pancho überraschte ihn, als er aus dem Werk-

schuppen trat. »Wohin gehst du, Kleiner Frosch?« fragte er.

Tularecito war über die Verzögerung beunruhigt und

scharrte ungeduldig mit den Füßen. »Ich gehe hinaus in

die Nacht. Ist das etwas Neues?«

»Aber wozu die Schaufel? Suchst du vielleicht Gold?«

Das Gesicht des Jungen wurde hart. Er hatte etwas sehr

Ernstes im Sinn.

»Ich gehe nach den kleinen Leuten graben, die in der

Erde wohnen.«

Jetzt war Pancho von Entsetzen erfüllt. »Geh nicht,

Kleiner Frosch! Hör auf deinen alten Freund, deinen Ge-

vatter, und geh nicht! Draußen im Salbeibusch habe ich

dich aufgelesen und vor den Teufeln gerettet, deinen An-

gehörigen. Du bist jetzt ein kleiner Bruder Jesu. Geh nicht

zurück zu deinen Leuten! Hör auf einen alten Mann,

Kleiner Frosch!«

Tularecito starrte unverwandt auf den Boden und ver-

69

suchte, seine alten Gedanken mit dieser neuen Kunde zu

vereinbaren. »Du hast es gesagt; sie sind meine Leute!«

rief er. »Ich bin nicht wie die anderen in der Schule und

hier! Ich weiß das. Ich habe Sehnsucht nach meinen eige-

nen Leuten, die tief in der kühlen Erde leben. Wenn ich

an dem Loch eines Eichhörnchens vorbeikomme, will ich

hineinkriechen und mich verstecken. Meine Leute sind

wie ich, und sie haben mich gerufen. Ich muß heimgehen

zu ihnen, Pancho.«

Pancho schreckte zurück und hielt gekreuzte Finger

hoch. »So geh denn zum Teufel, deinem Vater! Ich bin

nicht gut genug, dieses Übel zu besiegen. Dazu braucht es

einen Heiligen. Aber sieh! Ich mache das Kreuz gegen

dich und gegen alle von deinesgleichen!« Und er machte

das Kreuz in die Luft vor sich.

Tularecito lächelte traurig, kehrte sich um und stapfte

davon in die Hügel.

Tularecitos Herz schlug heftig vor Freude über seine

Heimkehr. Sein ganzes Leben lang war er ein Ausgesto-

ßener gewesen, ein einsamer Fremder, und jetzt ging er

heim. Wie immer hörte er die Stimmen der Erde – das

weitenfernte Läuten der Kuhglocken, das Flüstern der

Wachteln, das kleine Winseln eines Coyoten, die nächtli-

chen Stimmen von Millionen von Insekten. Aber Tulare-

cito lauschte auf ein anderes Geräusch, die Bewegung von

zweibeinigen Geschöpfen und die gedämpften Stimmen

der verborgenen Leute.

Einmal hielt er an und rief: »Mein Vater, ich bin zu dir

gekommen!«, aber er hörte keine Antwort. In die Löcher

der Eichhörnchen flüsterte er: »Wo seid ihr, meine Leute?

70

Es ist nur Tularecito, der zu euch gekommen ist.« Aber

niemand antwortete. Und noch schlimmer: Er spürte die

Nähe der Gnome nicht; er wußte, daß hinter einem

Busch eine Wildkatze ein Kaninchen anpirschte, obwohl

er sie nicht sehen konnte, aber von den Gnomen erhielt

er kein Zeichen.

Ein weißer Mond stieg aus den Hügeln auf.

»Jetzt kommen die Tiere hervor, um zu fressen«, sagte

Tularecito in dem papiernen Flüstern der Einfältigen.

»Jetzt kommen dann auch die Leute hervor.«

Am Rande eines kleinen Tals war das Gebüsch zu En-

de, und an seine Stelle trat ein Baumgarten. Die Bäume

waren üppig beblättert, der Boden war schön gepflegt. Es

war Bert Monroes Obstgarten. Oft, als das Land noch ver-

lassen war und von Gespenstern heimgesucht wurde, war

Tularecito nachts hingeschlichen und hatte sich unter den

Bäumen auf die Erde gelegt und mit zarten Fingern nach

den Sternen gegriffen. In dem Augenblick, als er in den

Baumgarten trat, wußte er, daß er nahe am Ziel war. Er

konnte sie nicht hören, aber er wußte, daß die Gnome in

der Nähe waren. Er rief sie, wieder und wieder, aber sie

kamen nicht zu ihm. »Vielleicht lieben sie das Mondlicht

nicht«, sagte er. Am Fuße eines großen Pfirsichbaumes

grub er sein Loch – drei Fuß breit und sehr tief. Die ganze

Nacht hindurch arbeitete er, hielt ab und zu inne und

horchte ein Weilchen und grub weiter, immer tiefer in

die kühle Erde hinein. Er hörte nichts, gar nichts, aber er

war sicher, daß er ihnen näher kam. Erst als die Morgen-

dämmerung nahte, unterbrach er die Arbeit und legte

sich in die Büsche und schlief ein.

71

Am Vormittag ging Bert Munroe hinaus, um nach ei-

ner Coyotenfalle zu schauen, und fand das Loch am Fuße

des Baumes. »Was zum Teufel!« sagte er. »Das muß von

den Kindern sein. Die wollen einen Tunnel graben, das ist

aber gefährlich! Das Loch kann sie verschütten, oder je-

mand fällt hinein und verletzt sich.« Er ging ins Haus zu-

rück und holte eine Schaufel und deckte das Loch zu.

»Manny«, sagte er zu seinem jüngeren Sohn, »hast du

im Baumgarten ein Loch gegraben?«

»Nein«, sagte Manny.

»Weißt du, wer es gegraben hat?«

»Nein!« sagte Manny.

»Jemand hat ein tiefes Loch gegraben. Das ist gefähr-

lich. Sag den Buben, das dürfen sie nicht, sonst werden sie

verschüttet.«

Die Nacht kam, und Tularecito trat aus dem Gebüsch

und wollte an seinem Loch weitergraben. Als er sah, daß

es zugedeckt war, knurrte er wütend, dann aber lachte er

und sagte glücklich: »Meine Leute sind hier gewesen. Sie

wußten nicht, wer es war, und sie fürchteten sich. Sie ha-

ben das Loch zugedeckt, wie die Maulwürfe es machen.

Ich will mich verstecken, und wenn sie wieder hervor-

kommen und das Loch zudecken wollen, sage ich ihnen,

wer ich bin. Dann werden sie mich lieben.«

Und Tularecito grub das Loch wieder auf und machte

es viel tiefer als zuvor, denn ein Teil der Erde war nun

locker. Kurz vor Tagesanbruch zog er sich ins Gebüsch

zurück und legte sich auf den Boden und wartete.

Bert Munroe ging vor dem Frühstück hinaus, um zu

sehen, ob seine Falle etwas gefangen hatte, und dann sah

72

er abermals das Loch unter dem Baum. »Die kleinen Teu-

fel!« rief er. »Was glauben die denn? Ich wette, da steckt

Manny dahinter!«

Er musterte das Loch einen Augenblick, und dann be-

gann er mit dem Schuh die Erde hineinzuschieben. Ein

wildes Fauchen schreckte ihn auf. Er warf sich herum.

Tularecito sprang mit seinen langen Beinen auf ihn los

und schwang die Schaufel wie eine Keule.

Als Jimmie Munroe seinen Vater zum Frühstück holen

wollte, fand er ihn leblos auf einem Erdhaufen liegen. Er

blutete aus dem Mund und an der Stirn. Aus dem Loch

kamen Schaufeln voll Erde geflogen.

Jimmie glaubte, jemand habe seinen Vater getötet und

schaufle ein Loch, um ihn zu begraben. Zu Tode er-

schrocken rannte er nach Hause und rief durch das Tele-

fon eine Schar Nachbarn zusammen.

Ein halbes Dutzend Männer schlich sich an das Loch

heran. Tularecito wehrte sich wie ein verwundeter Löwe

und hielt stand, bis sie ihn mit seiner eigenen Schaufel

über den Kopf schlugen. Dann banden sie ihn und warfen

ihn ins Gefängnis.

In Salinas wurde der Junge auf seinen Geisteszustand

untersucht. Als die Ärzte ihn fragten, lächelte er sie

freundlich an und antwortete nicht. Franklin Gomez er-

zählte ihnen, was er wußte, und bat, man möge ihm die

Schutzaufsicht übertragen.

»Das dürfen wir wirklich nicht, Mr. Gomez«, entschied

der Richter schließlich. »Sie behaupten, er ist ein guter

Junge. Erst gestern versuchte er, einen Mann zu töten.

Ein Glück, daß der Verletzte außer Lebensgefahr ist. Sie

73

müssen einsehen, daß wir ihn nicht frei herumlaufen las-

sen dürfen. Früher oder später wird er einmal wirklich

jemanden töten.«

Nach kurzer Beratung wurde Tularecito in die Anstalt

für kriminelle Geisteskranke in Nepa eingewiesen.

V

Helen van Deventer war eine stattliche Frau mit einem

scharfgeschnittenen, hübschen Gesicht und traurigen Au-

gen. Eine tiefe Erkenntnis des Tragischen erfüllte ihr Le-

ben. Schon als fünfzehnjähriges Mädchen hatte sie wie

eine Witwe ausgesehen, nachdem ihr Perserkätzchen ver-

giftet worden war. Unauffällig, mit gedämpfter Stimme

und lautlosem Gebaren trauerte sie um das Kätzchen, und

als sechs Monate später ihr Vater starb, ging ihr Trauern

ohne Unterlaß weiter. Es schien, als sei sie nach Tragik

ausgehungert. Und das Leben hatte sie verschwenderisch

mit traurigen Dingen überhäuft.

Als sie fünfundzwanzig Jahre alt war, heiratete sie Hu-

bert van Deventer, einen blühenden, gesunden Jägers-

mann, der sechs Monate des Jahres damit zubrachte, auf

die eine oder andere Kreatur zu schießen. Drei Monate

nach der Heirat erschoß er sich selbst, als ihm ein Brom-

beerzweig ein Bein stellte. Hubert war ein recht tapferer

Mann. Als er sterbend unter einem Baum lag, fragte ihn

einer seiner Begleiter, ob er ein paar Worte für seine Frau

hinterlassen möchte.

»Ja«, antwortete Hubert. »Sagt ihr, sie soll mich aus-

stopfen und an den leeren Platz zwischen dem Elch und

dem Steinbock in der Bibliothek hängen lassen! Sagt ihr,

diesen da hätte ich nicht dem Jagdaufseher abgekauft!«

Helen van Deventer legte gleichsam ein Siegel über das

Bibliothekszimmer mit den Trophäen. Von da an blieb

der Raum dem Geiste Huberts geweiht. Die Vorhänge

75

wurden nie mehr von den Fenstern gezogen. Wer es für

nötig fand, in dem Zimmer zu sprechen, tat es nur

schüchtern und leise. Helen weinte nicht, denn es war

nicht ihre Art zu weinen, aber ihre Augen wurden größer,

und oft starrte sie ins Leere wie jemand, der in anderen

Zeiten weilt. Hubert hinterließ ihr das Haus in Russian

Hill, San Francisco, und ein ansehnliches Vermögen.

Ihre Tochter Hilda kam sechs Monate nach Huberts

Tod zur Welt und war ein hübsches, puppenähnliches

Baby mit den großen Augen seiner Mutter. Hilda war nie

ganz gesund; mit verblüffender Bereitwilligkeit zog sie

sich alle Kinderkrankheiten zu. Ihr Temperament, das

sich anfänglich im Schreien einen Ausweg suchte, wurde

verheerend, sobald sie auf allen vieren kriechen konnte.

Jeden zerbrechlichen Gegenstand, der ihrem Zorn in den

Weg geriet, schlug sie in Stücke. Helen van Deventer

beschwichtigte und liebkoste sie und brachte es zumeist

fertig, sie dadurch noch mehr zu reizen.

Als Hilda sechs Jahre alt war, erfuhr Mrs. van Deventer

von ihrem Hausarzt, Dr. Phillips, was sie heimlich schon

lange befürchtet hatte.

»Sie müssen sich damit abfinden«, sagte er, »Hilda ist

geistig nicht ganz normal. Ich schlage vor, daß Sie sie von

einem Psychiater behandeln lassen.«

Die dunklen Augen der Mutter erweiterten sich vor

Schmerz. »Sind Sie ganz sicher?«

»Ziemlich sicher. Ich bin kein Spezialist. Sie müssen

das Kind von einem Arzt untersuchen lassen, der mehr

von der menschlichen Seele weiß als ich.«

Helen schaute weg. »Daran habe ich auch schon ge-

76

dacht, Doktor Phillips, aber ich kann es nicht. Sie haben

sich immer um unsere Familie gekümmert. Ich kenne Sie.

Bei einem anderen Arzt hätte ich nie dieses Gefühl der Si-

cherheit.«

»Was heißt Sicherheit!« fuhr Dr. Phillips auf. »Wissen

Sie denn nicht, daß wir das Kind heilen können, wenn

wir es richtig behandeln lassen?«

Helen hob die Hände ein wenig und ließ sie hilflos fal-

len. »Sie wird nie ganz gesund werden. Sie wurde in einer

bösen Zeit geboren. Der Tod ihres Vaters … es war zuviel

für mich. Ich hatte nicht die Kraft, um ein gesundes Kind

auszutragen.«

»Aber was wollen Sie denn tun? Verzeihen Sie, aber

was Sie da sagen, ist sträflicher Unsinn.«

»Was vermag ich schon zu tun? Ich kann warten und

hoffen. Ich weiß, daß ich das Schlimmste zu ertragen fä-

hig bin, aber zu einem andern Arzt kann ich das Kind

nicht bringen. Ich werde es behüten und pflegen. Das ist

alles. Das scheint mein Schicksal zu sein.« Sie lächelte

sehr traurig und hob abermals die Hand.

»Mir scheint, Sie zwingen sich unnütz Sorgen auf«,

sagte Dr. Phillips gereizt.

»Wir nehmen, was uns gegeben wird. Ich kann aushar-

ren. Ich weiß, daß ich es kann, und ich bin stolz darüber.

Keine noch so große Tragik wird meine Geduld erschüt-

tern. Aber eins könnte ich nicht ertragen, Doktor Phillips:

Hilda darf man mir nicht wegnehmen. Ich werde sie bei

mir behalten, und Sie werden vorbeikommen wie immer,

aber außer Ihnen darf sich niemand einmischen.«

Dr. Phillips verließ das Haus in schlechter Laune und

77

bedrückt. Die auffällige, unnütze Beharrlichkeit dieser

Frau machte ihn immer sehr zornig. »Wenn ich das

Schicksal wäre«, dachte er, »wäre ich auch versucht, ihren

Widerstand zu brechen.«

Nicht lange darauf wurde Hilda von Träumen und Vi-

sionen heimgesucht. Entsetzliche Nachtmahre mit Kral-

len und spitzen Zähnen versuchten sie zu töten, wenn sie

schlief. Häßliche kleine Wichte peinigten sie und bohrten

die Zähne in ihre Ohren, und Helen van Deventer sah in

diesen Visionen neue Wesen, die gekommen waren, um

sie zu prüfen.

»Ein Tiger hat am Leintuch gezerrt«, weinte Hilda am

Morgen.

»Du darfst dich nicht fürchten, Liebes.«

»Aber er wollte in das Leintuch beißen, Mutter.«

»Heute nacht bleibe ich bei dir, Liebling, und dann

darf er nicht kommen.«

Sie fing an, bis zum Morgengrauen am Bett des kleinen

Kindes zu wachen. Ihre Augen wurden fiebrig und reflek-

tierten ihren verzweifelten Widerstandswillen.

Noch mehr als die Träume beunruhigte sie etwas ande-

res: Hilda hatte zu lügen angefangen. »Heute morgen

ging ich in den Garten, Mutter. Auf der Straße saß ein al-

ter Mann. Er sagte, ich soll mit ihm kommen, und dann

bin ich mit ihm gegangen. Er hatte einen großen golde-

nen Elefanten, und er hat mich darauf gesetzt.« Hildas

Augen waren fremd und leer, als sie die Geschichte er-

fand.

»Du darfst nicht solche Sachen erzählen, Liebling«, bat

ihre Mutter. »Du weißt, daß sie nicht wahr sind.«

78

»Aber das ist wahr, Mutter, sicher! Und der alte Mann hat mir eine Uhr geschenkt. Schau, ich zeige sie dir.« Und

sie hielt ihrer Mutter eine Armbanduhr mit eingelegten

Diamanten vor die Augen. Helen erschrak. Mit zitternden

Händen nahm sie die Uhr. Ein Schatten von Entsetzen

huschte über ihr Gesicht.

»Woher hast du das, Hilda?«

»Der alte Mann hat es mir gegeben, Mutter.«

»Nein … sag deiner Mutter, wo du die Uhr gefunden

hast! Du hast sie gefunden, Hilda, nicht wahr?«

»Ich habe sie von dem alten Mann bekommen.«

Auf der Rückseite der Uhr war ein Monogramm ein-

graviert. Helen kannte die Initialen nicht. Hilflos starrte

sie auf die verschnörkelten Buchstaben. »Mutter nimmt

das an sich«, sagte sie streng. Und in jener Nacht ging sie

unbemerkt in den Garten, nahm eine kleine Handschau-

fel und vergrub die Uhr tief in der Erde. Dann ließ sie ei-

nen hohen eisernen Gartenzaun errichten, und von da an

durfte Hilda nie mehr allein den Garten verlassen.

Als sie dreizehn war, entwischte Hilda und rannte da-

von. Helen ließ sie durch Privatdetektive suchen, und

nach vier Tagen fand sie ein Polizist, schlafend, in dem

leerstehenden Büro einer Immobilienfirma in Los Ange-

les. Helen rettete ihre Tochter vor der Polizeistation.

»Warum bist du denn fortgerannt?«

»… weil ich auf einem Klavier spielen wollte.«

»Aber wir haben doch ein Klavier zu Hause. Warum

hast du nicht auf dem gespielt?«

»Oh, ich wollte eben auf einem andern Klavier spielen,

auf einem größeren.«

79

Helen nahm Hilda auf den Schoß und drückte sie an

sich. »Und was hast du dann getan, Liebes?«

»Ich ging auf die Straße, und ein Mann kam und hieß

mich mitfahren. Er gab mir fünf Dollar. Und dann fand

ich die Zigeuner und wohnte bei ihnen. Sie machten mich

zu ihrer Königin. Dann wurde ich mit einem jungen Mann

verheiratet, und wir hätten ein kleines Baby bekommen

sollen, aber ich wurde müde und setzte mich irgendwohin,

und dann hat mich der Polizist mitgenommen.«

»Mein armer Liebling«, sagte Helen. »Du weißt doch,

daß das alles nicht wahr ist!«

»Aber es ist wahr, Mutter, sicher!«

Helen ließ Dr. Phillips kommen. »Sie sagt, sie hat einen

Zigeuner geheiratet. Sie glauben doch nicht … nicht

wahr. Sie glauben auch, daß es unmöglich ist? Ich könnte

es nicht ertragen.«

Der Arzt schaute das kleine Mädchen genau an. Als er

mit der Untersuchung zu Ende war, sagte er ungehalten:

»Ich habe Ihnen ja gesagt, man sollte sie einem Speziali-

sten anvertrauen.« Er trat auf das kleine Mädchen zu.

»Kommt die böse alte Frau immer noch in dein Schlaf-

zimmer, Hilda?«

Hildas Hände zuckten. »Gestern nacht ist sie mit ei-

nem Affen gekommen, mit einem großen Affen. Er wollte

mich beißen.«

»Denk nur immer fest daran, daß sie dir nicht weh tun

kann, weil ich dich ja behüte. Die alte Frau fürchtet mich.

Wenn sie wiederkommt, sagst du ihr, daß ich dich behü-

te, und dann wirst du schon sehen, wie schnell sie sich

davonmacht.«

80

Das kleine Mädchen lächelte müde. »Und der Affe

auch?«

»Natürlich, der auch. Und da ich gerade daran denke:

Hier hast du etwas für deine Tochter.« Er zog ein Stück

Pfefferminz aus der Tasche. »Da! Gib das deiner Babette

… so heißt sie doch, nicht wahr?« Hilda riß ihm das Zuk-

kerstück aus der Hand und rannte aus dem Zimmer.

»Helen«, sagte der Arzt, »leider fehlen mir das Wissen

und die Erfahrung, aber soviel weiß ich: Hildas Zustand

wird sich nun rasch verschlimmern. Sie wird erwachsen.

Die Übergangszeit und die damit verbundenen Gefühls-

regungen werden die geistigen Defekte unweigerlich ver-

schärfen. Ich weiß nicht, was geschehen könnte. Sie kann

eine Mörderin werden, oder sie läuft dem ersten besten

Mann nach, dem sie begegnet. Wenn Sie sie nicht endlich

zu einem Spezialisten bringen, wenn Sie sie nicht auf das

sorgfältigste überwachen lassen, kann etwas geschehen,

das Sie bereuen werden. Dieser jüngste Streich ist nur ein

milder Vorbote. Und so kann das einfach nicht weiterge-

hen. Auch Ihretwegen nicht; das ist zu viel für Sie.«

Helen saß starr auf ihrem Stuhl. In ihrem Gesicht war

abermals jener Widerstand zu erkennen, der ihn so reizte.

»Was schlagen Sie denn vor?« fragte sie heiser.

»Eine Anstalt«, sagte er, und es freute ihn beinahe, daß

seine Antwort so brutal klang.

Helens Gesicht zog sich zusammen. »Nein!« rief sie.

»Das tue ich nicht! Sie gehört mir, und ich bin für sie ver-

antwortlich. Ich selber werde bei ihr bleiben, Doktor

Phillips, und ich werde sie nie aus den Augen lassen. Aber

wegschicken kann ich sie nicht.«

81

»Sie kennen die Folgen«, sagte er schroff. Und dann

überwältigte ihn die Aussichtslosigkeit, mit dieser Frau

vernünftig zu reden. »Helen, seit vielen Jahren bin ich Ihr

Freund. Müssen Sie wirklich diese schwere Bürde von

Leid und Verantwortung auf Ihre eigenen Schultern la-

den? Und warum denn?«

»Ich kann alles ertragen, aber weggeben kann ich sie

nicht.«

»Nicht wahr, Sie gefallen sich in Ihrer Rolle! Sie lieben

das härene Hemd«, grollte er. »Ihr Schmerz macht Ihnen

Vergnügen. Sie wollen nichts davon hergeben, nicht das

kleinste Fetzchen.« Dann wurde er sehr zornig. »Helen,

jeder Mann hat, denke ich, einmal in seinem Leben das

Bedürfnis, eine Frau zu schlagen. Ich glaube, ich bin sonst

ein nachsichtiger Mensch, aber gerade jetzt möchte ich

Sie mit beiden Fäusten ins Gesicht schlagen.« Er blickte in

ihre dunklen Augen und sah, daß er nur noch eine weite-

re Tragödie auf sie geworfen hatte; sah, daß er eine neue

Bürde auf sie gewälzt hatte, die sie erdulden würde. »Ich

gehe jetzt«, sagte er. »Rufen Sie mich nicht mehr! Ich …

ich fange an, Sie zu hassen.«

Mit Interesse und Verdruß vernahmen die Leute im »Tal

des Himmels«, daß eine reiche Frau sich im Tal niederlas-

sen wollte. Sie sahen zu, wie Balken und Bauholz auf

Lastwagen in den Christmas Canon hinaufgeführt wur-

den, und sie lachten etwas verächtlich über diese Idee und

auch über die Kosten, die damit verbunden sein mußten.

Balken herbeischleppen! Bert Munroe spazierte in den

Canon und sah den Zimmerleuten zu, die ein Haus er-

82

richteten. Einen halben Tag lang schaute er zu, dann ging

er in den Laden, um Bericht zu erstatten.

»Es wird hübsch«, sagte er. »Jeder einzelne Balken ist

tadellos. Und wißt Ihr, es sind bereits Gärtner an der Ar-

beit. Sie fahren große Bäume und blühende Pflanzen in

den Canon und setzen sie in die Erde. Diese Mrs. van De-

venter muß ordentlich viel Geld haben.«

»Die tragen aber auch dick auf, diese reichen Leute«,

sagte Pat Humbert mißbilligend.

»Und noch etwas«, fuhr Bert weiter. »Ist das nicht be-

zeichnend für eine Frau? Wißt Ihr, was an einigen der

Fenster angebracht ist? Stäbe! Nicht Eisenstäbe, sondern

große, dicke, eichene Stangen. Ich glaube, die alte Dame

fürchtet sich vor den Coyoten.«

»Möchte nur wissen, ob sie einen Haufen Bediente

mitbringt«, sagte T. B. Allen hoffnungsvoll. »Aber sie

wird wohl ihre Ware in der Stadt einkaufen. Alle Leute

von dieser Art kaufen ihre Ware in der Stadt.«

Als das Haus und der Garten fertig waren, fuhren Helen

van Deventer und Hilda, ein chinesischer Koch und ein

Hausbursche – ein Filipino – in den Christmas Canon hin-

auf. Es war ein schönes Blockhaus. Die Zimmerleute hat-

ten die Balken mit Säuren künstlich alt gemacht, und die

Gärtner hatten den Garten so angelegt, daß er auch nicht

neu aussah. Die Lorbeerbäume und Eichen im Rasen hat-

ten sie stehengelassen, und unter ihnen wuchsen rote,

weiße und blaue Zinerarien. Die Gartenwege waren mit

Hecken von blauen Lobelien eingefaßt.

Der Koch und der Hausbursche begaben sich unver-

züglich auf ihre Posten im Haus, aber Helen nahm Hilda

83

beim Arm und spazierte mit ihr durch den Garten. »Ist es

nicht wunderschön!« rief Helen aus. Ihr Gesicht hatte et-

was von der Resignation verloren. »Liebling, glaubst du

nicht auch, daß es uns hier sehr gefallen wird?«

Hilda schlug mit einer Zinerarie gegen den Stamm ei-

ner Eiche. »Zu Hause hat es mir viel besser gefallen.«

»Aber nein, Liebling. Wir hatten ja keine Blumen, und

die Bäume waren viel kleiner. Hier können wir jeden Tag,

wie es uns gefällt, in den Hügeln herumstreifen.«

»Zu Hause hat es mir besser gefallen.«

»Warum denn, Liebling?«

»Weil alle meine Freunde dort sind. Und ich konnte

auf die Straße schauen und die Leute vorbeigehen sehen.«

»Wenn du dich einmal daran gewöhnt hast, Hilda, ge-

fällt es dir bestimmt besser hier oben.«

»Nein! Hier wird es mir nie gefallen, nie, nie!« Hilda

begann zu weinen, und dann hatte sie einen Zornanfall

und schrie überlaut. Plötzlich riß sie einen Stock aus dem

Boden und schlug ihre Mutter auf Rücken und Arme.

Unbemerkt tauchte der Hausbursche hinter ihr auf, griff

ihre Gelenke und trug das strampelnde, schreiende Kind

ins Haus.

In dem Zimmer, das für sie hergerichtet worden war,

schlug Hilda systematisch alle Möbel in Stücke. Sie riß Lö-

cher in die Kissen und schüttelte die Daunenfedern im

Zimmer herum. Zuletzt brach sie die Scheiben ihres Fen-

sters heraus und schlug auf die hölzernen Stäbe ein und

schrie und kreischte wie besessen. Helen saß in ihrem

Zimmer, und ihre Lippen hatten sich zu einer schmalen Li-

nie zusammengepreßt. Einmal erhob sie sich halb, wie

84

wenn sie in Hildas Zimmer gehen wollte; dann sank sie in

ihren Stuhl zurück. Für einen kurzen Augenblick war ihre

stumme Resignation fast erschüttert, aber augenblicklich

wurde sie wieder stark, stärker als zuvor, und Hildas Schreie

hatten keine Wirkung. Der Hausbursche glitt ins Zimmer.

»Läden zumachen, Missie?«

»Nein, Joe. Wir sind weit genug von den übrigen Leu-

ten entfernt. Niemand kann etwas hören.«

Bert Munroe sah das Auto mit den neuen Leuten vorbei-

fahren. »Es wird wohl schwierig sein für eine Frau, so

ganz allein sich einzurichten«, sagte er zu Mrs. Munroe.

»Ich denke, ich sollte schnell hinaufgehen und fragen, ob

sie etwas braucht.«

»Du bist ja nur neugierig«, neckte ihn seine Frau.

»Meinetwegen. Wenn du das meinst, bleibe ich eben

hier.«

»Aber Bert! Das war doch nur Spaß«, protestierte sie.

»Im Gegenteil, es wäre eine nette, nachbarliche Geste,

wenn du zu ihr gehen würdest. Später gehe ich dann sel-

ber hin, mit Mrs. Whiteside. Es gehört sich, daß wir einen

ordentlichen Anstandsbesuch machen. Aber geh du zu-

erst, gleich jetzt, und schau, wie sie sich zurechtfindet!«

Bert marschierte davon und folgte dem Bach, der

durch den Christmas Canon heruntermurmelte. »Es ist ja

nicht gerade ein Ort für eine Farm«, dachte er im Hinauf-

gehen, »aber es ist ein hübscher Platz zum Wohnen. An

einem solchen Ort könnte ich auch wohnen, einfach

wohnen und es mir wohl sein lassen … wenn der Waffen-

stillstand nicht ausgerechnet in jenem Moment gekom-

85

men wäre.« Wie immer, wenn er wünschte, der Krieg hät-

te noch etwas länger gedauert, schämte er sich.

Er war noch eine Viertelmeile vom Hause entfernt, als

ihn Hildas Schreie erreichten. »Was zum Teufel!« sagte er

laut. »Das klingt beinahe, wie wenn jemand umgebracht

würde.« Aufgeregt eilte er die Straße hinauf. Das vergit-

terte Fenster von Hildas Zimmer ging auf den Fußweg

hinaus, der zum vorderen Eingang des Hauses führte.

Bert sah das Mädchen, das sich an die Stäbe klammerte,

und seine von Wut und Angst entstellten Augen.

»Hallo!« rief er. »Was ist denn los? Wozu haben sie

dich denn eingesperrt?«

Hildas Augen wurden kleiner. »Sie wollen mich aus-

hungern«, sagte sie. »Sie wollen, daß ich sterbe.«

»Dummes Zeug«, sagte Bert.

»Sicher! Es ist wegen meines Geldes«, erklärte Hilda.

»Sie wollen mein Geld, aber sie kriegen es erst, wenn ich

gestorben bin.«

»Aber du bist ja noch ein kleines Mädchen.«

»Das ist nicht wahr! Ich bin eine große, erwachsene

Frau. Ich bin nur klein, weil sie mich aushungern und

schlagen.«

Berts Gesicht verfinsterte sich. »Dem wollen wir schon

abhelfen«, sagte er.

»Nein! Du darfst ihnen nichts sagen. Hilf mir nur hier

heraus, dann hole ich mein Geld und heirate dich.«

Zum erstenmal begann Bert zu ahnen, was da nicht

stimmte. Dann sagte er beschwichtigend: »Natürlich helfe

ich dir. Wart ein kleines Weilchen; gleich komme ich dich

holen.«

86

Er ging zum Eingang des Hauses und klopfte an die

Tür. Sie öffnete sich ein wenig, und die schwarzen Augen

des Filipinos schauten heraus.

»Kann ich die Dame des Hauses sprechen?« fragte Bert.

»Nein«, sagte der Junge und machte die Tür zu.

Die Abweisung war so unerwartet und beleidigend,

daß Bert im ersten Augenblick vor Scham errötete; dann

aber wurde er böse und klopfte nochmals, sehr heftig.

Abermals öffnete sich die Tür etwa zwei Zoll breit, und

die schwarzen Augen schauten heraus.

»Ich sage dir, ich muß unbedingt die Dame des Hauses

sprechen. Ich muß sie sprechen; es ist wegen des kleinen Mädchens, das eingesperrt ist.«

»Dame sehr krank. Bedaure«, sagte der Junge und

machte die Tür wieder zu. Diesmal hörte Bert, daß der

Riegel vorgeschoben wurde. Er schritt beleidigt davon

und dachte: »Bei der braucht allerdings meine Frau nicht

vorzusprechen. Ein verrücktes Mädchen und ein lausiger

Diener! Die sollen sich selber helfen!«

Helen rief von ihrem Schlafzimmer: »Was war das,

Joe?«

Der Junge stand unter der Tür. »Ein Mann. Sagt, er

muß Sie sprechen. Ich sage, Sie krank.«

»Gut. Wer war es denn? Sagte er, warum er mich spre-

chen wollte?«

»Weiß nicht, wer. Sagt, muß Sie sprechen wegen Missie

Hilda.« Helen fuhr auf. »Was wollte der Mann? Wie heißt

er?«

»Weiß nicht, Missie.«

»Und du hast ihn einfach weggeschickt? Du nimmst

87

dir zu viele Freiheiten heraus. Mach, daß du fort-

kommst!« Sie lehnte sich in den Stuhl zurück und be-

deckte die Augen.

»Ja, Missie«, sagte Joe und wandte sich langsam zur Tür.

»Oh! Joe! Komm her!«

Bevor sie die Hände vom Gesicht genommen hatte,

stand er neben ihrem Stuhl. »Verzeih, Joe. Ich wußte

nicht, was ich sagte. Du hast recht getan. Du bleibst bei

mir, Joe, nicht wahr?«

»Ja, Missie.«

Helen stand auf und schritt zum Fenster. Sie war un-

ruhig. »Ich weiß nicht, was heute in mich gefahren ist.

Hat sich Miss Hilda beruhigt?«

»Ja, Missie jetzt ruhig.«

»Gut. Mach ein Feuer im Wohnzimmer, Joe; und spä-

ter kannst du Miss Hilda hereinbringen.«

In der Ausstattung des Wohnzimmers ihres neuen Hau-

ses hatte Helen eine Art Denkmal für ihren Gatten geschaf-

fen. Sie hatte es wie das Innere einer Jagdhütte eingerichtet.

Es war ein riesiger Raum, mit Täfelung und Trägern aus

Redwood. Von den Wänden streckten in kleinen Abstän-

den die ausgestopften Köpfe verschiedenartiger wilder Tie-

re neugierige Nasen in die Luft. An einer Wand war ein

großer Kamin aus Stein eingebaut, und darüber hing ein

zerfetztes französisches Feldzeichen, das Hubert irgendwo

einmal aufgelesen hatte. In einem verschließbaren Schrank

mit Glastüren standen Huberts Jagdgewehre. Helen fühlte,

daß sie ihren Gatten nicht gänzlich verlieren würde, solan-

ge sie in einem solchen Zimmer sitzen konnte.

Im Bibliothekszimmer des Russian-Hill-Hauses hatte

88

sie häufig einen angenehmen Wachtraum heraufbe-

schworen. Der Traum verlangte eine beinahe rituelle

Vorbereitung. Helen saß vor dem Feuer und faltete die

Hände. Dann schaute sie auf zu den Trophäen, betrachte-

te einen um den anderen der ausgestopften Köpfe und

dachte bei jedem: »Hubert hat den erlegt.« Und dann,

allmählich, nahm der Traum Form und Gestalt an. Helen

sah ihren Mann. Sie sah seine Hände, seine schmalen

Hüften und seine langen, geraden Beine. Sie hörte ihn

sprechen; sie hörte, wie er einzelne Wörter betonte, und

sie erinnerte sich, wie sein Gesicht zu glühen schien und

rot wurde, wenn er sich ereiferte. Sie stellte sich vor, wie

er seine Gäste von einem Tier zum anderen führte, wie er

vor jedem stehenblieb, auf den Absätzen schaukelte und

die Hände hinter dem Rücken faltete und langsam, um-

ständlich, bis in die kleinsten Details schilderte, unter

welchen Voraussetzungen er das Tier erlegt hatte.

»Der Mond stand ungünstig, und nirgends war eine

Spur zu finden. Fred (Fred war der Jagdaufseher) meinte,

die Sache sei aussichtslos. Ich erinnere mich, an jenem

Morgen war uns der Speck ausgegangen. Aber weißt du,

ich hatte einfach so ein Gefühl, daß wir auf gut Glück su-

chen gehen sollten.«

Deutlich hörte Helen, wie er seine einfältigen, nichts-

sagenden Geschichten erzählte, die unweigerlich immer

gleich endeten. »… die Entfernung war natürlich viel zu

groß, und von links wehte ein teuflischer Wind, aber ich

zielte, und ich dachte, ›schon wieder ein Loch in der

Luft‹, und ich wollte meinen Augen nicht trauen, aber die

Kugel saß. Natürlich war es reines Glück.«

89

Hubert erwartete von seinen Zuhörern nicht, daß sie

wirklich glaubten, es sei nur Glück gewesen. Daß er es

sagte, war eine artige Geste des Jägersmannes. Helen er-

innerte sich, wie oft sie sich gewundert hatte, weshalb ein

Jäger nicht zugeben durfte, daß er irgend etwas recht

machte.

Aber das war der Traum. So kam er. Hubert war bei

ihr, und sie malte sich sein Bild aus und erweiterte es, bis

es den ganzen Raum beherrschte und mit der ungestü-

men Vitalität des Jägers erfüllte. Dann, wenn das Traum-

bild vollendet war, zerschlug sie es. Die Hausglocke hatte

mit einem traurigen, schmerzlichen Ton geläutet. Helen

erinnerte sich genau an die Gesichter der Männer, die ihr

traurig und verlegen die Kunde von dem Unglück brach-

ten. Das Ende ihres Traumes war immer die Erinnerung

an die schweren Schritte der Männer, welche die Leiche

die Treppe hinauftrugen. Eine erstickende Welle von

Traurigkeit erfüllte ihre Brust, und Helen sank in ihren

Stuhl zurück.

Auf diese Weise hielt sie sich ihren Gatten lebendig,

indem sie sich hartnäckig weigerte, die Erinnerung an ihn

in ihrem Gedächtnis matt werden zu lassen. Sie war nur

drei Monate verheiratet gewesen, dachte sie immer wie-

der. Nur drei Monate! Sie ergab sich einem Gefühl hoff-

nungslosen Trübsinns. Sie wußte, daß sie dieses Gefühl

willentlich ermutigte, aber sie fühlte, daß Hubert ein An-

recht darauf hatte; der Traum und ihr Leiden und der

Raum, in dem sie Hubert am nächsten stand, waren das

Denkmal, das sie ihm errichten mußte.

Und sie hatte gehofft, daß Hubert auch im neuen Hau-

90

se bei ihr sein würde. Deshalb, vor allem, hatte sie sich auf

diesen ersten Abend gefreut. Wenn das Holzfeuer im

Kamin loderte und das Licht in den gläsernen Augen der

Tierköpfe an den Wänden leuchtete, würde sie den

Traum in seinem neuen Heim willkommen heißen.

Joe trat in ihr Zimmer und sagte: »Feuer brennt, Mis-

sie. Ich holen Missie Hilda?«

Helen blickte zum Fenster hinaus. Von den Hügeln

herunter senkte sich die Dämmerung. Schon flatterten

die ersten Fledermäuse herum. Die Wachteln zogen zum

Wasser und riefen einander zu, und weit unten im Canon

muhten die Kühe auf dem Heimweg zu ihren Unterstän-

den. Helen fühlte sich seltsam verändert. Sie war erfüllt

von einem ganz neuen Gefühl von Ruhe und Frieden; sie

spürte auf einmal, daß sie von den Tragödien, die sie so

lange bedrängt hatten, nichts mehr zu fürchten haben

würde. Sie streckte die Arme aus und seufzte wohlig. Joe

wartete unter der Tür.

»Was?« sagte Helen. »Miss Hilda? Nein, bring sie noch

nicht! Das Nachtessen muß gleich bereit sein. Wenn Hil-

da zum Nachtessen nicht kommen will, werde ich sie spä-

ter sehen.« Sie wollte ihre Tochter nicht sehen. Diese

neuartige liebliche Ruhe würde zerstört, wenn sie Hilda

sähe. Sie wollte in dem geheimnisvollen Leuchten der

Dämmerung sitzen und den Wachteln zuhören, die ein-

ander riefen, derweil sie aus den Gebüschen an den Hü-

geln herunterkamen, um zu trinken, bevor die Nacht her-

einbrach.

Helen warf einen seidenen Schal um die Schultern und

ging in den Garten. Es schien, als ob der Friede von den

91

Hügeln herunterschwebte und sie umarmte. In einem

Blumenbeet sah sie ein kleines graues Kaninchen, und der

Anblick ließ sie vor Freude zittern. Das Kaninchen drehte

den Kopf und schaute sie einen Augenblick neugierig an;

dann knabberte es weiter an den frischen Pflanzen. Plötz-

lich fühlte sich Helen sehr, sehr glücklich. Etwas Köstli-

ches, Aufregendes stand ihr bevor, etwas sehr Schönes;

und in ihrer jähen, erwartungsvollen Freude sprach sie zu

dem Kaninchen: »Iß nur ruhig weiter! Die alten Blumen

kannst du haben. Morgen pflanze ich dir Kohl. Das hät-

test du gern, nicht wahr, Peter? Oder heißt du nicht Pe-

ter? Aber natürlich. Alle Kaninchen heißen doch Peter.

Weißt du, Peter, seit Jahren habe ich mich nie mehr auf

etwas gefreut. Ist das nicht komisch? Oder ist es traurig?

Ich weiß nicht. Aber jetzt freue ich mich auf etwas. Ich

vergehe fast vor Freude. Und ich weiß nicht einmal, was

dieses Etwas sein könnte. Gell, Peter, das ist dumm,« Sie

schlenderte weiter und winkte dem Tier mit der Hand.

»Die Zinerarien würden wahrscheinlich besser schmek-

ken«, sagte sie leise.

Das Singen des Wassers lockte sie zum Bach hinunter.

Als sie sich dem Ufer näherte, floh mit stotternden Alarm-

rufen eine Schar Wachteln in das Unterholz. Helen

schämte sich, daß sie sie gestört hatte. »Kommt nur wie-

der zurück!« rief sie. »Ich erschieße euch nicht. Das Ka-

ninchen hat sich doch auch nicht gefürchtet. Wie dumm

von euch! Ich könnte euch ja gar nicht erschießen, nicht einmal, wenn ich wollte.« Plötzlich erinnerte sie sich an

die Tage, als Hubert sie mit hinausgenommen und ihr ge-

zeigt hatte, wie man mit einem Gewehr umgeht. Fast feier-

92

lich hatte er ihr erklärt, wie sie die Waffe halten und wie

sie zielen müsse, mit offenen Augen. »Ich werfe jetzt diese

Blechbüchse in die Luft«, sagte er. »Ich möchte nicht, daß

du auf unbewegliche Ziele schießest. Nur ein schlechter

Jäger schießt auf einen ruhenden Vogel.« Verzweifelt hatte

sie auf die Blechbüchse geschossen, bis ihre Schulter wund

war, und auf dem Heimweg legte er den Arm um sie und

sagte: »Du wirst noch lange keine Wachtel im Flug erwi-

schen; aber nach einem Weilchen solltest du imstande

sein, wenigstens Kaninchen zu treffen.« Die toten Vögel

band er mit ledernen Schnüren um die Hälse zusammen;

oft, wenn er nach Hause kam, hatte er ganze Bündel von

toten Vögeln über die Schulter geworfen. »Wenn sie von

den Schnüren fallen, kann man sie essen«, sagte er feier-

lich. Aber Helen wollte nicht an jene Tage denken. Plötz-

lich wußte sie, daß sie nicht mehr an Hubert denken woll-

te. Sie klammerte sich fest an ihre friedliche Stimmung,

die fast von der Erinnerung zerstört worden wäre.

Es war nahezu dunkel. Die Nacht war süß vom Duft

des Salbeis. Helen hörte die Glocke in der Küche, die zum

Essen rief. Sie zog den Schal vor der Brust zusammen und

zitterte und ging ins Haus.

Im Eßzimmer fand sie ihre Tochter. Alle Spuren des

vorangegangen Zornes waren aus Hildas Gesicht ver-

schwunden. Sie sah beinahe glücklich aus und schien mit

sich selbst sehr zufrieden zu sein.

»Mein Liebling! Fühlst du dich besser?« rief Helen.

»Oh, ja.«

Helen ging um den Tisch zu ihr und küßte sie auf die

Stirn.

93

»Weißt du, wenn du gesehen hast, wie schön es hier ist,

wird es dir sehr gefallen.«

Hilda gab keine Antwort, aber ihre Augen wurden

schlau.

»Es wird dir gefallen, nicht wahr, Liebling?« bettelte

Helen, als sie wieder an ihren Platz ging.

Hilda blickte sie geheimnisvoll an. »Vielleicht. Viel-

leicht auch nicht. Vielleicht ist es nicht nötig, daß es mir

hier gefällt.«

»Was soll das heißen, Liebes?«

»Vielleicht bin ich nicht mehr lange hier.«

»Nicht mehr lange hier?« Helen sah sie fragend an.

Hilda hatte ein Geheimnis, aber sie konnte es nicht für

sich behalten.

»Vielleicht laufe ich davon und heirate.«

Helen lächelte erleichtert. »Ach so! Natürlich, das ist

schon möglich. Aber wäre es nicht besser, du würdest

noch ein paar Jahre warten? Wer ist es denn diesmal, Lie-

bes? Auch wieder der Prinz?«

»Nein, nicht der Prinz. Es ist ein armer Mann, aber ich

werden ihn lieben. Heute haben wir alle Pläne ausge-

macht. Er wird mich bald holen kommen.«

Dann erinnerte sich Helen. »Ist es der Mann, der heute

nachmittag zum Haus gekommen ist?«

Hilda sprang vom Tische auf. »Ich verrate dir kein

Wort mehr!« schrie sie. »Du hast kein Recht, mich auszu-

fragen. Warte nur ein Weilchen … ich werde dir zeigen,

daß ich nicht in diesem alten Hause bleiben muß.« Sie

rannte aus dem Zimmer und warf hinter sich die Tür ins

Schloß.

94

Helen läutete. »Joe, sag mir genau, was hat der Mann

gesagt, der heute nachmittag zu mir wollte?«

»Sagt, er muß Sie sprechen, wegen kleines Mädchen.«

»Was für ein Mann war es denn? Ich meine, wie alt?«

»Nicht alter Mann, Missie, nicht junger Mann. Mag

sein, daß er fünfzig Jahre alt, vielleicht.«

Helen seufzte. Es war nichts. Es war nur einfach wie-

der eine von Hildas Geschichten, die sie sich ausdachte

und erzählte. Und für die arme Kleine waren sie so ernst

und wirklich, diese kleinen Dramen. Helen aß sehr lang-

sam, und später, im großen Wohnzimmer, saß sie vor

dem Feuer und schlug müßig die Kohle von den glühen-

den Scheiten. Sie löschte alle Lichter. Die Augen der aus-

gestopften Köpfe an den Wänden leuchteten. Langsam

verwandelte Helen sich zurück in ihr altes Wesen. Un-

willkürlich begann sie, ihrer alten Gewohnheit zu folgen:

Sie stellte sich Huberts Hände vor, dann seine schmalen

Hüften, dann seine Beine, seine langen geraden Beine.

Und dann machte sie eine Entdeckung. Einzelheiten

konnte sie sich deutlich vorstellen, aber wenn sie ihre

Gedanken nicht mehr auf die Hände konzentrierte, ver-

schwanden die Hände. Sie sah seine schmalen Hüften,

aber dann verschwanden sie wieder. Und dann war Hu-

bert überhaupt verschwunden. Sein Bild war wegge-

wischt, vollständig ausgelöscht und tot. Zum erstenmal

seit vielen Jahren hielt Helen die Hände vor das Gesicht

und weinte vor Glück, denn der Friede und die freudige

Erwartung waren wiedergekommen. Sie trocknete sich

die Augen und schritt langsam im Zimmer auf und ab.

Sie lächelte zu den Tierköpfen hinauf, mit den unbetei-

95

ligten Augen einer fremden Person, die nicht wußte, wie

jedes der Tiere gestorben war. Das Zimmer war anders

geworden; es sah anders aus, und die Stimmung im

Zimmer war anders. Helen warf die breiten Fenster weit

auf, und der Nachtwind seufzte herein und koste ihre

nackten Schultern mit seiner kühlen Ruhe. Sie lehnte

sich aus dem Fenster und lauschte. Aus dem Garten und

von den Hügeln herunter kamen unzählige kleine Geräu-

sche. »Alles strotzt von Leben«, dachte sie, »überall ist

pulsierendes Leben.« Allmählich, derweil sie so in die

Nacht hinaushorchte, meinte sie, von der anderen Seite

des Hauses ein raspelndes Geräusch zu vernehmen.

»Wenn es hier Biber gäbe, wäre das ein Biber, der einen

Baum fällt. Vielleicht ist es ein Stachelschwein, das am

Fundament nagt? Das kommt vor. Aber auch Stachel-

schweine gibt es hier sicherlich nicht.« Ein leises Vibrie-

ren begleitete das Raspeln durch das Haus. »Irgend etwas

muß da an den Balken nagen«, dachte sie. Dann ertönte

ein leises Krachen. Das Geräusch hatte aufgehört. Helen

erschrak. Sie trat vom Fenster zurück und ging aus dem

Zimmer. Vor Hildas Tür blieb sie stehen und rief: »Fehlt

dir etwas, Liebling?« Es kam keine Antwort. Helen schob

leise den äußeren Riegel zurück und trat in das Zimmer.

Einer der eichenen Stäbe am Fenster war herausgeschla-

gen, und Hilda war fort.

Helen stand starr vor dem offenen Fenster und sah

nachdenklich in die graue Nacht hinaus. Dann wurde ihr

Gesicht weiß, und ihre Lippen preßten sich zusammen.

Stumm und mechanisch und mit dem alten leidenden

Ausdruck auf dem Gesicht schritt sie in das Wohnzimmer

96

zurück, stieg auf einen Stuhl, drehte den Schlüssel am

Waffenschrank und nahm eine Jagdflinte heraus.

Dr. Phillips saß neben Helen van Deventer im Arbeits-

zimmer des Untersuchungsrichters. Als Arzt des Kindes

mußte er anwesend sein. Auch dachte er, er könnte Helen

beistehen, wenn sie sich fürchtete. Sie sah nicht aus, als

ob sie sich fürchtete. In ihrer strengen, fast grimmigen

Trauerkleidung sah sie so duldsam und unantastbar aus

wie ein vom Meerwasser verwaschener Stein. »Und Sie

haben es also erwartet?« fragte der Untersuchungsrichter.

»Sie haben damit gerechnet, daß so etwas geschehen

könnte?«

Dr. Phillips sah Helen beruhigt an und räusperte sich.

»Sie war seit ihrer Geburt meine Patientin. So, wie der

Fall war, bestand die Möglichkeit, daß sie Mord oder

Selbstmord begehen würde, je nach den Umständen. An-

dererseits aber hätte sie ebensogut harmlos weiterleben

können. Es war möglich, daß sie alt geworden wäre, ohne

je etwas Drastisches anzurichten. Sehen Sie, es war ein-

fach nicht möglich, etwas vorauszusagen.«

Der Richter unterzeichnete Papiere. »Es war eine grau-

enhafte Art, es zu tun. Das Mädchen war natürlich

wahnsinnig, und es besteht kein Grund, nach Motiven zu

forschen. Die Motive können ganz unwichtige Dinge ge-

wesen sein. Aber sie hat es in einer entsetzlichen Art ge-

tan. Ihr Kopf im Bach, und das Gewehr neben sich. Ich

werde Selbstmord angeben. Ich bedaure, daß ich in Ihrer

Gegenwart so reden muß, Mrs. van Deventer. Sie so zu

finden, muß ein schwerer Schlag für Sie gewesen sein.«

97

Der Arzt geleitete Helen hinaus. »Schauen Sie bitte

nicht so drein!« sagte er. »Sie machen ein Gesicht, als ob

Sie zu einer Hinrichtung gingen. Es ist besser so. Sicher,

Helen; und es besteht kein Grund für Sie, so zu leiden.«

Sie sah ihn nicht an. »Ich weiß es jetzt. Endlich weiß

ich, was das Leben von mir erwartet«, sagte sie leise. »Jetzt

weiß ich, was ich immer geahnt habe. Und ich habe die

Kraft, es zu ertragen, Doktor Phillips. Kümmern Sie sich

nur nicht um mich!«

VI

Junius Maltby war ein schmächtiger, wohlerzogener jun-

ger Mann aus guter und kultivierter Familie. Als sein Va-

ter mittellos starb, ließ sich Junius widerwillig auf eine

Buchhalterstelle ein – ein Schicksal, gegen das er sich

zehn Jahre lang erfolglos zur Wehr setzte.

Nach der Arbeit zog er sich in sein möbliertes Zimmer

zurück, klopfte die Kissen auf seinem Lehnstuhl zurecht

und verbrachte den Abend mit Lesen. Stephensons Essays

waren nach seiner Meinung etwas vom Besten in der ge-

samten angelsächsischen Literatur, und ›Travels with a

Donkey‹ las er unzählige Male.

Eines Abends, kurz nach seinem fünfundreißigsten

Geburtstag, wurde Junius Maltby auf der Treppe seiner

Pension ohnmächtig. Als er wieder zu Bewußtsein kam,

wurde er zum erstenmal gewahr, daß etwas mit seiner

Lunge nicht stimmte. Er fragte sich, wie lange das Übel

schon dauern mochte. Der Arzt, den er konsultierte, war

freundlich und sprach nicht ohne Zuversicht.

»Es ist noch keinesfalls zu spät«, sagte er. »Sie haben

noch jede Chance, gesund zu werden, aber mit Ihrer

Lunge müssen Sie San Francisco verlassen. Wenn Sie

hierbleiben, sind Sie in einem Jahr tot. Ziehen Sie in ein

warmes, trockenes Klima.«

Das Mißgeschick mit seiner Gesundheit erfüllte Junius

mit großem Vergnügen, denn es war gerade das Ereignis,

dessen er bedurfte, um die Fäden, die ihn gefangenhiel-

ten, zu durchschneiden. Er besaß fünfhundert Dollar.

99

Nicht daß er je Geld gespart hätte; er hatte einfach verges-

sen, es auszugeben. »Damit«, sagte er, »kann ich entweder

gesund werden und ein neues Leben anfangen, oder ich

sterbe, und die ganze Geschichte ist ohnehin erledigt.«

Ein Mann im Büro erzählte ihm von einem warmen,

geschützten Gebiet, dem »Tal des Himmels«, und Junius

machte sich unverzüglich auf, es zu finden. Der Name ge-

fiel ihm. »Entweder ist es ein gutes Zeichen, daß ich ge-

sund werde«, kommentierte er, »oder wenn nicht, dann

ist es ein netter symbolischer Name für den Tod.« Er

fühlte, daß der Name »Tal des Himmels« für ihn nicht

ohne persönliche Bedeutung war, und das stimmte ihn

sehr glücklich, denn zehn Jahre lang war ihm nichts auf

Erden persönlich vorgekommen.

Im »Tal des Himmels« gab es mehrere Familien, die

Kostgänger suchten. Junius sah sie sich alle in Ruhe an

und entschied sich dann schließlich für die Farm der

Witwe Quaker. Sie schien das Geld dringender als alle

anderen zu brauchen, und überdies konnte er in einem

Schuppen außerhalb des Hauses schlafen. Mrs. Quaker

hatte zwei kleine Buben und beschäftigte einen Knecht

für das Feld.

Das warme Klima tat Junius’ Lungen sehr gut. Nach

Jahresfrist hatte er eine bessere Farbe, und er hatte auch

zugenommen. Er lebte stillvergnügt auf der Farm, und

am meisten freute es ihn, daß er die zehn Jahre Büroar-

beit überwunden hatte und grenzenlos faul geworden

war. Sein dünnes blondes Haar sah nie mehr einen

Kamm; die Brille trug er weit vorn auf der Nasenspitze,

denn seine Augen wurden stärker, und nur die langjähri-

100

ge Gewohnheit, eine Brille zu tragen, hinderte ihn daran,

sie beiseite zu legen. Den ganzen Tag kaute er an einem

Hölzchen – eine Gewohnheit, die nur faulen und grüble-

risch veranlagten Männern eigen ist. Diese Genesung

fand im Jahre 1910 statt.

Im folgenden Jahr begann Mrs. Quaker sich über das

Gerede der Leute zu beunruhigen. Wenn sie sich vorstell-

te, was es bedeutete, einen ledigen Mann im Hause zu

haben, wurde sie aufgeregt und nervös. Sobald Junius’

Genesung sicher schien, gestand ihm die Witwe ihre Be-

denken. Er heiratete sie unverzüglich und gern. Nun hatte

er ein Heim und eine goldene Zukunft, denn die neuge-

backene Mrs. Maltby besaß zweihundert Morgen Gras-

land am Hügel, fünf Morgen Obstgarten und ein Gemü-

sefeld. Junius ließ seine Bücher kommen, seinen Lehn-

stuhl mit der verstellbaren Rückenlehne und seine Re-

produktion des ›Kardinals‹ von Velasquez. Die Zukunft

war ein angenehmer und sonniger Nachmittag.

Mrs. Maltby entließ sofort den Knecht und versuchte

ihren Mann zum Arbeiten zu überreden, stieß dabei aber

auf einen Widerstand, der um so verwirrender war, als

man ihn in keiner Weise frontal überwinden konnte.

Während der Rekonvaleszenz hatte Junius das Faulsein

lieben gelernt. Er liebte das Tal und die Farm – aber so,

wie sie waren. Er wollte weder Neues pflanzen noch Altes

ausreißen. Wenn Mrs. Maltby ihm die Hacke in die Hand

drückte und im Gemüsegarten eine Arbeit zuwies, fand

sie ihn, wenn sie ihn ein paar Stunden später suchte, am

Bach auf der Wiese sitzen, wo er die Füße ins Wasser

streckte und seine Taschenausgabe von ›Kidnapped‹ las.

101

Es tat ihm leid; er wußte nicht, wie es gekommen war,

daß er die Arbeit verlassen hatte. Und das war die Wahr-

heit.

Anfänglich keifte Mrs. Maltby heftig und machte ihm

seiner Faulheit und liederlichen Kleidung wegen endlose

Vorwürfe, aber Junius lernte bald, ihr gar nicht mehr zu-

zuhören. Es wäre unhöflich, dachte er, sie überhaupt zu

beachten, wenn sie sich nicht wie eine Dame benahm; es

wäre ebenso unhöflich, wie etwa einen Krüppel anzustar-

ren. Und als Mrs. Maltby umsonst eine Zeitlang seinen

nebelartigen Widerstand zu brechen versucht hatte, be-

gann ihre Nase zu triefen und ihr Haar wurde unordent-

lich.

In den Jahren von 1911 bis 1917 wurden die Maltbys

sehr arm. Junius wollte einfach nicht arbeiten. Sie ver-

kauften ein paar Morgen Weideland, um sich mit dem

Nötigsten an Nahrung und Kleidung zu versehen, aber

selbst dann gab es nie genug zu essen. Mit übereinander-

geschlagenen Beinen saß die Armut auf dem Hof, und die

Maltbys gingen in Lumpen einher. Neue Kleider konnten

sie sich nie leisten, dafür aber hatte Junius die Essays von

David Grayson entdeckt. Er trug Overalls und saß unter

Feigenbäumen am Bach. Manchmal las er seiner Frau

und den beiden Buben aus den ›Adventures in Content-

ment‹ vor.

Anfang 1917 wußte Mrs. Maltby, daß sie ein Kind erwar-

tete, und ein paar Monate später wurde die Familie das

Opfer einer Grippeepidemie. Die beiden Jungen wurden

gleichzeitig angesteckt, vielleicht weil sie unterernährt wa-

ren. Drei Tage lang schien das Haus überfüllt von fiebri-

102

gen, schwitzenden Kindern, die mit nervösen Fingern in

den Bettüchern wühlten und sich hilflos an ihr flackerndes

Leben klammerten. Drei Tage lang wehrten sie sich

schwächlich, und am vierten Tag starben sie beide. Ihre

Mutter wußte nichts davon, denn die Entbindung stand

bevor, und die Nachbarinnen, die zu Hilfe gekommen wa-

ren, hatten weder den Mut noch die Grausamkeit, es ihr zu

sagen. Das schwarze Fieber packte sie, als sie in den Wehen

lag, und tötete sie, bevor sie ihr Kind gesehen hatte.

Die Nachbarsfrauen, die bei der Geburt geholfen hat-

ten, erzählten im Tal herum, daß Junius Maltby am Bach

unten Bücher gelesen habe, während zu Hause Frau und

Kinder starben. Doch das war nur zur Hälfte wahr. Am

Tage, als die Buben krank wurden, saß er am Bach, weil

er gar nicht wußte, was geschehen war. Hernach aber

stand er im Hause herum, ging ratlos von einem zum an-

deren seiner sterbenden Kinder und erzählte ihnen Un-

sinn. Dem Ältesten erzählte er, wie Diamanten gemacht

werden. Am Bett des andern erläuterte er die Schönheit,

den Ursprung und die Symbolik des Malteserkreuzes. Ein

Leben erlosch, derweil er laut das zweite Kapitel aus

›Treasure Island‹ las, und er wußte nicht, daß das Kind

tot war, bis er das Buch weggelegt hatte. In jenen Tagen

war Junius verwirrt und ratlos. Er gab alles, was er hatte,

die einzigen Schätze, die er besaß, aber dem Tode gegen-

über waren sie machtlos. Er wußte von vornherein, daß

sie machtlos sein würden, und das war um so schreckli-

cher für ihn.

Als die Toten begraben waren, ging Junius wiederum

an den Bach und las ein paar Seiten aus ›Travels with a

103

Donkey‹. Er kicherte etwas über die Starrköpfigkeit von

Modestine. Nur ein Stephenson konnte einen Esel »Mo-

destine« nennen!

Eine der Nachbarsfrauen rief ihn ins Haus und be-

schimpfte ihn so heftig, daß er verlegen wurde und nicht

hinhörte. Sie stützte die Hände in die Hüften und starrte

ihn verächtlich an. Dann holte sie sein Kind, einen Sohn,

und legte ihn in seine Arme. Als sie vom Gartentor zu-

rückblickte, stand er mit dem schreienden kleinen Ge-

schöpf im Arm unter der Tür. Er wußte nicht, was er mit

ihm anfangen sollte, und so behielt er es im Arm.

Die Leute im Tal erzählten sich viele Geschichten über

Junius. Manchmal verabscheuten sie ihn mit dem merk-

würdigen Haß, den fleißige Leute für faule empfinden,

und manchmal beneideten sie ihn wegen seiner Sorglo-

sigkeit; oft aber hatten sie Mitleid mit ihm, weil er so

planlos in den Tag hineinlebte. Niemand hätte je daran

gedacht, daß er zufrieden war.

Die Leute erzählten, wie er, auf Anraten eines Arztes,

eine Ziege kaufte. Sein Kind sollte Ziegenmilch trinken.

Er kümmerte sich nicht um das Geschlecht der Ziege,

noch gab er einen Grund an, weshalb er sie kaufen wollte.

Als das Tier in seinem Hof stand, schaute er es von unten

an und fragte todernst: »Ist das eine normale Ziege?«

»Natürlich«, sagte der Besitzer.

»Aber sollte da nicht ein Sack oder so etwas sein, zwi-

schen den Hinterbeinen … ich meine, für die Milch?« Die

Leute im Tal lachten über die Geschichte. Später, als eine

neue und bessere Ziege in seinem Hofstand, hantierte Ju-

nius zwei Tage lang an ihr herum und konnte nicht ein

104

Tröpflein Milch herauskriegen. Er wollte das Tier zurück-

geben, als fehlerhaft, aber dann zeigte ihm der Besitzer,

wie man Ziegen melkt. Einzelne Leute wollten wissen,

daß er den Säugling unter die Ziege halte und saugen las-

se, doch das war nicht wahr. Jedenfalls aber erklärten die

Leute, es sei ihnen unverständlich, wie er sein Kind am

Leben erhielt. Eines Tages ging Junius nach Monterey

und stellte einen Knecht an, einen alten Deutschen na-

mens Jakob Stutz. Er gab ihm fünf Dollar Vorschuß und

dann nie mehr einen Cent. Nach zwei Wochen war Jakob

genau so faul und arbeitsscheu geworden wie sein Herr.

Zusammen saßen die beiden herum und erörterten Pro-

bleme, die sie interessierten oder sonstwie beschäftigten –

weshalb die Blumen farbig seien, ob es in der Natur eine

Symbolik gebe, wo Atlantis zu finden wäre und wie die

Inkas ihre Toten begruben …

Im Frühjahr pflanzten sie Kartoffeln, aber zu spät und

ohne sie, gegen die Käfer, mit Asche zu decken. Sie säten

Korn und steckten Bohnen und Erbsen, schauten eine

Weile zu, wie sie wuchsen, und vergaßen sie. Alles wurde

vom Unkraut überwuchert. Man konnte sehen, wie Juni-

us sich in ein Malvendickicht hineingrub und mit einer

blassen Gurke wieder auftauchte. Schuhe trug er keine

mehr, weil er das Gefühl der warmen Erde an den Füßen

gern hatte und weil er keine Schuhe besaß.

Am Nachmittag unterhielt er sich lange und ausführ-

lich mit Jakob. »Weißt du«, sagte er, »als die Kinder star-

ben, dachte ich, ich hätte ein ungewöhnliches Maß von

Grauen erfahren. Und dann, noch fast während ich es

dachte, verwandelte sich das Grauen in Gram, und der

105

Gram schwand dahin, und was übrigblieb, war Traurig-

keit. Ich glaube, weder meine Frau noch die Kinder habe

ich sehr gut gekannt. Vielleicht, weil sie mir zu nahestan-

den. Es ist eine seltsame Sache, dieses Kennen. Es ist ei-

gentlich nichts als ein Wahrnehmen von Einzelheiten. Es

gibt weitsichtige Geister und kurzsichtige. Dinge, die mir

nahestanden, habe ich nie wirklich sehen können. So ist

mir zum Beispiel der Parthenon viel vertrauter als mein

eigenes Haus dort drüben.« Plötzlich schien sein Gesicht

vor Erregung zu beben, und seine Augen strahlten, als er

begeistert sagte: »Du, Jakob, hast du je eine Abbildung des Parthenonfrieses gesehen?«

»Ja«, sagte Jakob, »er ist sehr schön.«

Junius legte eine Hand auf Jakobs Knie. »Diese Pfer-

de«, sagte er. »Diese wunderschönen Pferde! Sie gehören

auf eine himmlische Weide. Und jene eifrigen und doch

würdevollen jungen Männer, die sich aufgemacht haben

zu einer unglaublichen Fiesta, die gerade um die Ecke auf

dem Karnies gefeiert wird! Schon oft habe ich mich ge-

wundert, wie es einem Pferd zumute sein mag, wenn es

sehr glücklich ist. Jener Bildhauer muß es gewußt haben,

sonst hätte er sie nicht so darstellen können.«

So ging es immer. Junius konnte nie bei einem Thema

verweilen. Oft hungerten die beiden Männer, weil sie kei-

ne Eier im Gras finden konnten, wenn es Zeit zum Essen

war.

Junius’ Sohn hieß Robert Louis. Junius taufte ihn so,

als er zufällig an diesen Namen dachte, aber Jakob prote-

stierte. »Buben und Hunde sollte man gleich nennen«,

beharrte er. »Eine Silbe genügt. Sogar Robert ist zuviel.

106

Bob wäre besser.« Jakob hätte beinahe seinen Willen

durchgesetzt.

»Ich will dir entgegenkommen«, sagte Junius. »Wir

wollen ihn Robbie nennen. Robbie ist doch eigentlich

kürzer als Robert, findest du nicht?«

Oft ließ er Jakob seinen Willen, denn Jakob wehrte sich

dauernd ein wenig gegen das Gewebe, das um ihn herum

gesponnen wurde. Ab und zu säuberte er das Haus in ei-

nem Anfall von Tugendhaftigkeit.

Robbie wuchs heran und wurde ein ernstes Kind. Er

lief hinter den Männern her und lauschte ihren Gesprä-

chen. Junius behandelte ihn nie wie ein Kind, denn er

wußte nicht, wie man Kinder behandelt. Wenn Robbie

etwas sagte, hörten die beiden Männer artig zu und

schlossen seine Äußerungen in ihre Gespräche ein;

manchmal sogar benützten sie eine von Robbies Bemer-

kungen als Ausgangspunkt für eine Nachforschung. Im

Verlaufe eines Nachmittags gingen sie den Spuren man-

cher Dinge nach. Jeden Tag gab es mehrere »Überfälle«

auf Junius’ Enzyklopädie.

Ein riesiger Feigenbaum streckte einen waagerechten

Ast über den Bach in der Wiese, und auf diesem Ast sa-

ßen die drei, und die Männer ließen die Füße ins Wasser

baumeln und wühlten mit den Zehen in den runden

Steinen, während Robbie großartig sich bemühte, sie

nachzuahmen. Das Wasser zu erreichen, war für ihn eins

der Kriterien der Männlichkeit. Jakob hatte auch aufge-

hört, Schuhe zu tragen; Robbie hatte im Leben nie welche

gesehen.

Ihre Gespräche waren gelehrt. Robbie konnte die Kin-

107

dersprache nicht sprechen, weil er sie nie gehört hatte. Sie

machten nicht »Konversation«; vielmehr ließen sie ein-

zelne Gedanken sprießen und sahen dann staunend zu,

wie sie zu Ästen und Bäumen heranwuchsen. Sie waren

erstaunt über die seltsamen Früchte ihrer Gespräche,

denn ihre Gedanken lenkten sie nie, noch zogen, noch

beschnitten sie sie, wie so viele Leute es zu tun pflegen.

Dort auf dem Ast also saßen sie, alle drei. Ihre Kleider

waren nichts als Lumpen und Fetzen; und die Haare

schnitten sie sich nur, um die Augen frei zu halten. Die

Männer trugen lange, ungepflegte Bärte. Der riesige

Baum über ihnen rauschte sachte im Wind, und ab und

zu ließ er ein Blatt wie ein braunes Taschentuch ins Was-

ser fallen. Robbie war fünf Jahre alt.

»Ich finde, die Feigenbäume sind gut«, bemerkte er, als

ihm ein Blatt in den Schoß fiel. Jakob hob das Blatt auf

und zerpflückte es.

»Ja«, stimmte er bei, »denn sie wachsen am Wasser.

Gute Dinge lieben das Wasser. Schlechte sind immer

trocken gewesen.«

»Die Feigenbäume sind groß und gut«, sagte Junius.

»Mir scheint, ein gutes Ding oder ein gütiges Ding muß

sehr groß sein, um am Leben zu bleiben. Kleine gute Din-

ge werden immer von bösen kleinen Dingen zerstört. Sel-

ten ist etwas Großes giftig oder trügerisch. Aus diesem

Grund ist im menschlichen Denken Größe ein Attribut

von Güte und Kleinheit von Schlechtigkeit. Siehst du das

ein, Robbie?«

»Ja«, sagte Robbie. »Das sehe ich ein. Wie die Elefan-

ten.«

108

»Die Elefanten sind oft böse, aber wenn wir an sie den-

ken, sind sie sanft und gut.«

»Aber das Wasser«, unterbrach Jakob. »Verstehst du

auch das von dem Wasser?«

»Nein, das nicht.«

»Aber ich«, sagte Junius. »Ich verstehe dich. Du willst

sagen, das Wasser ist der Same des Lebens, nicht wahr?

Von den drei Elementen ist das Wasser der Same, die Er-

de der Schoß und der Sonnenschein die Gebärmutter.«

So lehrten sie ihn Unsinn.

Nach dem Tod seiner Frau und seiner beiden kleinen

Söhne wandten sich die Leute im »Tal des Himmels« von

Junius Maltby ab. Die Berichte von seiner Teilnahmslo-

sigkeit während der Epidemie wuchsen und wurden der-

art phantastisch, daß sie am Ende durch ihr eigenes Ge-

wicht in sich zusammenfielen und fast vergessen wurden.

Allein, wenn auch die Nachbarn vergaßen, daß Junius, als

seine Kinder starben, in seinen Büchern gelesen hatte, so

konnten sie doch das Fragwürdige, das seine Existenz

immer mehr kennzeichnete, nicht übersehen. Hier, in

diesem fruchtbaren Tal, lebte er in entsetzlicher Armut.

Während andere Familien kleine Vermögen erarbeiteten,

Fords und Radioapparate kauften, sich elektrisches Licht

anlegten und zweimal in der Woche in Monterey oder Sa-

linas ins Kino gingen, sank Junius immer tiefer und wur-

de ein zerlumpter Halbwilder. Die Männer des Tales

konnten sich nicht damit abfinden, daß sein gutes Land

dem Unkraut zum Opfer fiel, daß seine Obstbäume un-

beschnitten blieben und die Umzäunungen am Boden la-

gen. Die Frauen dachten voll Abscheu an sein verlottertes

109

Haus mit den schmutzigen Fensterscheiben und dem

Müllhaufen vor der Tür. Frauen und Männer haßten

gleichermaßen seine Faulheit und seinen vollständigen

Mangel an Ehrgeiz und Stolz. Eine Weile gingen sie ihn

noch besuchen, in der Hoffnung, ihr Beispiel würde ihn

aus seiner Gleichgültigkeit herausreißen. Aber er empfing

sie gutmütig und freundlich, als ob sie nicht anders seien

als er. Seiner Armut und seiner Lumpen schämte er sich

nicht im geringsten. Daran dachte er gar nicht. Allmäh-

lich begannen die Nachbarn, ihn als Außenseiter zu be-

trachten. Sie verstießen ihn aus der Gesellschaft und be-

schlossen, ihn nicht zu empfangen, falls er sie aufsuchen

sollte.

Junius hatte keine Ahnung von der Abneigung seiner

Nachbarn. Er war völlig glücklich und zufrieden. Sein Le-

ben war so unwirklich, so romantisch und unbedeutend

wie seine Gedanken. Er war zufrieden, wenn er in der

Sonne sitzen und seine Füße in den Bach baumeln lassen

durfte. Anständige Kleider besaß er keine, aber er ging

auch nirgends hin, wo er anständige Kleider hätte tragen

müssen.

Obwohl die Leute Junius beinahe haßten, empfanden

sie für den kleinen Robbie nur Mitleid. Die Frauen sagten

zueinander, wie schrecklich es sei, das Kind in diesem

Dreck aufwachsen zu lassen. Da sie aber zumeist gute

Leute waren, wollten sie sich nicht gern in Junius Maltbys

Angelegenheiten einmischen. »Warten wir ab, bis er

schulpflichtig ist«, sagte Mrs. Banks zu einem Kränzchen

von Damen in ihrem Salon. »Jetzt können wir ja doch

nichts unternehmen, auch nicht, wenn wir es wollten. Er

110

gehört nun einmal seinem Vater. Sobald er aber sechs ist,

werden die Behörden etwas dazu zu sagen haben; das

kann ich Ihnen garantieren.«

Mrs. Allen nickte und sagte mit nachdenklich geschlos-

senen Augen: »Wir vergessen, daß er doch auch Mamie

Quakers Kind ist, so gut wie Maltbys. Ich finde, wir hät-

ten längst einschreiten sollen. Aber wenn er einmal in die

Schule geht, schenken wir dem armen Kleinen ein paar

Sachen, die er überhaupt noch nie gesehen hat.«

»Das mindeste, was wir tun können, ist, dafür zu sor-

gen, daß er endlich etwas anzuziehen hat«, nickte eine

andere der Frauen.

Es war, als habe das ganze Tal, geduckt wie eine Katze,

zum Sprung bereit, auf den Moment gewartet, da Robbie

schulpflichtig wurde. Als am ersten Schultag nach seinem

Geburtstag kein junger Maltby in der Schule erschien,

schrieb John Whiteside, der Schriftführer der Schulpflege,

einen Brief.

»Daran habe ich gar nie gedacht«, sagte Junius, als er

den Brief las. »Jetzt mußt du eben in die Schule gehen.«

»Aber das will ich doch nicht!« protestierte Robbie.

»Ich weiß. Und ich bin auch nicht der Meinung, daß

du gehen solltest. Aber siehst du, es gibt nun einmal ein

Gesetz. Und das Gesetz ist durch einen Anhang, genannt

Strafe, geschützt. Wir müssen das Vergnügen der Miß-

achtung des Gesetzes gegen die Strafe abwägen. Die Kar-

thager bestraften sogar Unglück. Wenn ein General durch

ein Mißgeschick eine Schlacht verlor, wurde er hingerich-

tet. Ganz ähnlich bestrafen wir heutzutage Menschen für

Mißgeschicke wie Geburt und andere Zufälligkeiten.«

111

Und in der anschließenden Diskussion vergaßen sie den

Brief. John Whiteside schrieb abermals, diesmal sehr kurz.

»Nun, jetzt mußt du gehen, Robbie«, sagte Junius, als

er zu Ende gelesen hatte. »Natürlich werden sie dich

manche nützliche Dinge lehren.«

»Warum lehrst du mich nicht?« bettelte der Knabe.

»Oh, das kann ich nicht. Weißt du, ich habe längst ver-

gessen, was sie in der Schule lehren.«

»Aber ich will nicht gehen! Ich will gar nichts lernen.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber ich kann keinen Ausweg se-

hen.«

Und so ging denn Robbie eines Morgens in die Schule.

Er ging ungern und ließ sich Zeit für den Weg. Er hatte einen alten Overall an mit Löchern an den Knien und am

Hintern, ein blaues Hemd ohne Kragen und sonst nichts.

Die Haare hingen ihm über die grauen Augen wie die

Stirnlocken eines Ponys.

Die Kinder scharten sich um ihn und starrten ihn

schweigend an. Sie hatten von der Armut der Maltbys

und von Junius’ Faulheit gehört. Die Buben hatten sich

gefreut, daß sie Robbie würden hänseln können. Nun war

der Moment gekommen. Er stand in ihrer Mitte. Und sie,

sie starrten ihn bloß an. Keiner sagte: »Wo hast du denn

diese Kleider her?« oder: »Seht, seine Haare!« Es war nicht

so, wie sie geplant hatten. Die Kinder waren erstaunt und

verwirrt über ihr Versagen.

Und Robbie betrachtete den Kreis von starrenden Kin-

dern mit tiefernsten Augen. Von Angst war keine Spur.

»Spielt ihr denn nicht?« fragte er. »Mein Vater hat gesagt,

ihr würdet Spiele spielen.«

112

Das war das erlösende Wort. Die Kinder brachen in ein

wildes Geschrei aus. »Er weiß keine Spiele!« – »Zeigen wir

ihm das Stockspiel!« – »Nein, Nigger-Baby!« – »Hört,

hört! Zuerst Barlaufen!« – »Der weiß keine Spiele!«

Und sie fanden, keine Spiele zu kennen, sei eigentlich

ganz nobel, obwohl sie nicht wußten, warum. Robbies ma-

geres Gesicht war nachdenklich. »Zuerst Stockspiel!« ent-

schied er. Er war unbeholfen und ungeschickt, aber seine

Lehrmeister lachten ihn nicht aus. Im Gegenteil, sie stritten

sich um das Vorrecht, ihm zu zeigen, wie man den Stock

hält. Beim Stockspiel gibt es verschiedene Ansichten über

die Technik des Werfens. Robbie stand daneben und sah

sich die Sache genau an, dann erst bestimmte er, wer sie

ihm beibringen sollte.

Robbies Einfluß auf die jüngeren Buben war sofort zu

erkennen. Die älteren Schüler ließen ihn in Ruhe, aber die

jüngeren ahmten ihn in allem nach. Sie rissen sich sogar

Löcher in ihre Hosenbeine, um ihm ähnlich zu sein. In

der Mittagspause, wenn sie mit dem Rücken gegen die

Mauer in der Sonne saßen und ihr Mittagsbrot verzehr-

ten, erzählte Robbie von seinem Vater und vom Feigen-

baum. Sie lauschten aufmerksam und wünschten, daß

auch ihre Väter so faul und gütig seien.

Das Verbot ihrer Väter mißachtend, schlichen manch-

mal an Samstagen ein paar Buben hinaus zum Feigen-

baum und setzten sich zu beiden Seiten von Junius auf

den großen Ast, und Junius las ihnen aus ›Treasure Is-

land‹ vor oder schilderte die Schlacht von Trafalgar oder

den Gallischen Krieg. In kurzer Zeit wurde Robbie, nicht

zuletzt seines Vaters wegen, König des Schulplatzes. Das

113

zeigte sich darin, daß er keinen Busenfreund hatte, daß

niemand ihm einen Spitznamen gab und daß er bei Mei-

nungsverschiedenheiten entscheidend eingriff. So erha-

ben war seine Stellung, daß sogar niemand versuchte, sich

mit ihm zu raufen.

Nur ganz langsam fand Robbie heraus, daß er der An-

führer der jüngeren Buben geworden war. Etwas Reifes und

Gefaßtes in seinem Wesen veranlaßte die anderen Schüler,

sich ihm als Führer anzuvertrauen. Bald entschied er, was

gespielt wurde. Im Baseball war er Schiedsrichter, weil au-

ßer ihm kein anderer Junge Einspruch erheben konnte, oh-

ne daß unverzüglich Streit und Aufruhr entstand. Und

während er selber sehr schlecht spielte, wurden Dispute

über die Spielregeln unweigerlich vor ihn gebracht.

Nach ausgiebiger Beratung mit Junius und Jakob er-

fand Robbie zwei ungemein beliebte Spiele; das erste, eine

den lokalen Verhältnissen angepaßte Version von Schnit-

zeljagd, nannte er »Schleichender Coyote« und das ande-

re »Gebrochenes Bein«, und für diese beiden Spiele stellte

er Regeln nach seinem Gutdünken auf. Miss Morgan be-

gann sich für den kleinen Maltby zu interessieren, denn

im Unterricht war er eine ebenso große Überraschung

wie draußen auf dem Platz. Er konnte perfekt lesen und

verfügte über den Wortschatz eines Erwachsenen, aber er

konnte nicht schreiben. Er kannte alle Zahlen, einerlei,

wie hoch, aber er weigerte sich, auch nur die einfachste

Arithmetik zu lernen. Mit unglaublichen Schwierigkeiten

lernte er schreiben. Seine Hand malte zitternd unförmige

Hieroglyphen in das Übungsheft. Schließlich versuchte

Miss Morgan, ihm zu helfen.

114

»Nimm einen Satz und schreib ihn so oft, bis du’s

kannst«, empfahl sie ihm. »Aber schreib jeden einzelnen

Buchstaben so sorgfältig wie möglich!«

Robbie durchstöberte sein Gedächtnis nach einem

Satz, der ihm gefiel. Endlich fand er etwas. Er schrieb:

»Nichts ist so monströs, daß wir es nicht auch von uns

selber glauben könnten.« Er liebte das »monströs«. Es

verlieh der Sache Klang und Tiefe. Wenn es Wörter gab,

die durch ihre bloße Klangfarbe unwillige Genien aus der

Erde ziehen konnten, so war sicherlich »monströs« eines

davon. Einmal über das andere schrieb er den Satz und

legte die größte Sorgfalt und Liebe in sein »monströs«.

Nach einer Stunde kam Miss Morgan, um zu sehen, wel-

che Fortschritte er gemacht hatte. »Aber Robert! Wo in

aller Welt hast du denn das her?«

»Von Stephenson, Ma’am. Mein Vater sagt es oft.« Miss

Morgan hatte natürlich die üblen Geschichten über Juni-

us auch gehört, und trotzdem hatte sie nichts gegen ihn.

Nun erwachte in ihr ein starkes Verlangen, ihn einmal

kennenzulernen.

Die Spiele auf dem Schulplatz verloren langsam ihren

Reiz für Robbie. Eines Morgens, bevor er zur Schule ging,

beklagte er sich deswegen. Junius kratzte sich den Bart

und dachte nach. »›Spion‹ ist natürlich auch immer etwas

Interessantes«, sagte er schließlich. »Ich erinnere mich,

›Spion‹ war immer eines unserer Lieblingsspiele.«

»Aber wem sollen wir denn nachspionieren?«

»Oh, das spielt keine Rolle. Bei uns waren es die Italie-

ner.« Robbie rannte davon, und an jenem Nachmittag, in

der Schule, organisierte er, nachdem er längere Zeit das

115

Wörterbuch studiert hatte, den G.J.S.H.G.J. den Gehei-

men-Jugend-Spionage-Hilfsdienst-Gegen-Japaner; aber

den vollen Namen flüsterte man höchstens. Selbst wenn

weiter nichts dabei gewesen wäre, hätte die Pracht des

Namens diese Organisation zu einer Macht gestaltet, mit

welcher man rechnen mußte. Robbie zog einen um den

andern seiner Kameraden beiseite in den Schatten der

Weide auf dem Schulplatz und nahm ihm das Gelübde

der Verschwiegenheit ab, mit einem Eid, dessen Furcht-

barkeit einer Loge Ehre gemacht hätte. Später versammel-

te er seine Getreuen und erklärte, daß wir zweifellos eines

Tages gegen Japan Krieg führen würden.

»Und es geziemt sich«, sagte er weiter, »daß wir uns

vorsehen. Je mehr wir über die schändlichen Machen-

schaften dieser schändlichen Rasse herauskriegen, um so

mehr und wertvollere Spionageinformationen können

wir, wenn der Krieg ausbricht, unserem Land zur Verfü-

gung stellen.«

Vor solch blumenreicher Sprache verstummten die an-

deren. Sie waren bestürzt und überwältigt von dem Ernst

einer Situation, die solche Worte verlangte. Von da an war

in der Schule Spionage das Hauptanliegen, und der kleine

Takashi Kato von der dritten Klasse hatte keinen unbe-

wachten Moment mehr. Wenn Takashi zwei Finger hob in

der Schule, warf Robbie einem der Geheimen bedeu-

tungsvolle Blicke zu, und eine zweite Hand schoß in die

Höhe. Wenn Takashi nach Hause ging, schlichen wenig-

stens fünf Buben durch die Gebüsche neben der Straße

hinter ihm her. Schließlich allerdings feuerte Mr. Kato,

Takashis Vater, nachdem er deutlich ein bleiches Gesicht

116

am Fenster gesehen hatte, einen Schuß in die Nacht hin-

aus. Ungern genug rief Robbie die Geheimen zusammen

und befahl, die Spionagetätigkeit müsse nach Sonnenun-

tergang eingestellt werden. »Nachts können sie ja nichts

wirklich Wichtiges unternehmen«, erklärte er ihnen.

Auf die Dauer mußte Takashi eigentlich nicht unter

der Spionage gegen ihn leiden, denn da die Geheimen ihn

beobachten mußten, konnten sie ohne ihn keine wichti-

gen Streifzüge unternehmen. Auf einmal durfte er über-

allhin mitgehen, denn niemand wollte zu Hause bleiben

und ihn überwachen.

Den Todesstoß erlebten die Geheimen, als Takashi, der

auf unerklärliche Weise von der Organisation erfahren

hatte, sich um die Mitgliedschaft bewarb.

Robbie erklärte ihm höflich: »Ich glaube nicht, daß wir

dich aufnehmen können. Denn siehst du, du bist ein Ja-

paner, und die hassen wir eben.«

Takashi war dem Weinen nahe. »Aber … ich bin doch

hier geboren! Ich bin ebensogut Amerikaner wie du,

oder?«

Robbie dachte angestrengt nach. Er wollte nicht grau-

sam sein. Endlich hellte sich sein Gesicht auf. »Weißt du

was! Kannst du Japanisch?«

»Natürlich, ganz gut.«

»Gut, dann kannst du unser Dolmetscher sein und ge-

heime Dokumente für uns übersetzen.«

Takashi strahlte vor Glück. »Natürlich! Das kann ich«,

rief er begeistert. »Und wenn ihr wollt, spionieren wir

meinem Alten nach.«

Aber die Sache war aus. Mr. Kato war als einziges Op-

117

fer übriggeblieben, und Mr. Kato ging zu nervös mit dem

Schießgewehr um.

Allerheiligen ging vorüber und dann das Dankfest. Die

Spuren von Robbies Einfluß auf die jüngeren Buben

wurden immer deutlicher. Ihr Wortschatz hatte sich be-

trächtlich erweitert, und sie haßten entschieden jegliches

Schuhwerk und auch alle Arten von anständigen Klei-

dungsstücken. Robbie hatte, ohne es zu wissen, eine

Mode diktiert, die zwar nicht neu, aber ausgeprägter war

als das, was bis dahin von Buben seiner Art getragen wur-

de. Es war unmännlich, ganze Kleidungsstücke zu tragen,

und noch mehr – es war eine Beleidigung für Robbie.

An einem Freitagnachmittag schrieb Robbie vierzehn

Zettel und verteilte sie heimlich an vierzehn Kameraden.

Auf allen Zetteln stand das gleiche: »Ein Heer von India-

nern will morgen um zehn Uhr den Präsidenten der Ver-

einigten Staaten am Marterpfahl bei meinem Haus

verbrennen, schleicht euch heran und bellt wie ein Fuchs

drunten bei der unteren Wiese, ich werde dort sein und

euch zur Rettung der armen Seele führen.«

Schon seit einigen Monaten hatte Miss Morgan beab-

sichtigt, Junius Maltby zu besuchen. Die Geschichten, die

über ihn erzählt wurden, und ihre Erfahrungen mit sei-

nem Sohn in der Schule hatten sie sehr neugierig ge-

macht. Alle paar Tage vernahm sie im Unterricht aus dem

Munde eines ihrer Schüler ein Stück erstaunlichen Wis-

sens. Einer zum Beispiel, der seiner Dummheit wegen ge-

radezu berühmt war, erzählte ihr, daß Hengest und Horsa

Britannien erobert hatten. Und als sie den Knirps zum

Reden zwang, gestand er, daß er seine Weisheit von Juni-

118

us Maltby habe und daß es sich um eine Art Geheimnis

handle. Die alte Geschichte von der Ziege, der Junius

Milch entlocken wollte, amüsierte die Lehrerin so sehr,

daß sie sie niederschrieb und an verschiedene Zeitschrif-

ten verschickte, aber keine wollte sie drucken. Wiederholt

hatte sie einen Tag bestimmt, um Junius Maltby einen

Besuch abzustatten.

An einem Samstagmorgen im Dezember erwachte sie

und fand Frost in der Luft und strahlenden Sonnenschein

am Himmel. Nach dem Frühstück zog sie den Manche-

sterrock und die hohen Schuhe an und ging aus dem

Haus. Im Hof versuchte sie, die Hunde zum Mitkommen

zu überreden, doch diese ließen die Ohren hängen und

schliefen weiter in der Sonne.

Die Maltby-Farm lag etwa zwei Meilen entfernt in ei-

nem kleinen Canon, genannt Gato Amarillo. Neben der

Straße floß ein Bach, und unter den Erlen wuchsen Farne.

Im Canon war es kühl, denn die Sonne war noch nicht

über den Berg gekrochen. Unterwegs einmal meinte Miss

Morgan, sie hätte weiter vorn Schritte und Stimmen ge-

hört, aber als sie um die Wegkrümmung bog, war nie-

mand in Sicht. Nur im Gebüsch raschelte es verdächtig.

Miss Morgan war noch nie dort gewesen, aber als sie

ankam, wußte sie, daß sie richtig gegangen war. Die Malt-

by-Farm war unverkennbar. Unter ihrer Last von Beeren-

sträuchern neigten sich die Zäune müde zur Straße. Die

Obstbäume streckten nackte Äste aus einem Wald von

Unkraut. Wilde Brombeerranken klammerten sich um

die Stämme der Apfelbäume. Eichhörnchen und Kanin-

chen schreckten von Miss Morgans Schritten auf, und

119

gurrende Tauben flogen mit peitschenden Flügeln davon.

In einem großen, verwilderten Birnbaum kreischte eine

Gesellschaft von Hähern. Und dann, neben einer Ulme

mit einem schäbigen Mantel von erfrorenen Schlingpflan-

zen, sah Miss Morgan die moosüberwachsenen Schindeln

des Maltbyschen Daches. Das Haus war totenstill, als hätte

es seit hundert Jahren leergestanden. »Wie verlottert und

unordentlich!« dachte Miss Morgan, »und doch auch wie

wunderbar ungezwungen und hübsch zugleich!« Sie trat

in den Hof durch ein kleines Tor, das mit einem Draht am

Pfosten hing. Haus und Scheune waren grau verwittert,

und wilde Kletterpflanzen streckten ihre Ranken an den

Mauern empor. Miss Morgan bog um die Ecke des Hauses

und blieb mit offenem Munde wie angewurzelt stehen.

Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken. In der Mitte

des Hofes stand ein starker Pfahl, und an diesen Pfahl war

ein alter zerlumpter Mann mit einem Seil festgebunden.

Ein anderer Mann, jünger und kleiner, und wenn möglich

noch verwahrloster, legte Brennholz um die Füße des Ge-

fangenen. Miss Morgan trat zitternd zurück hinter das

Haus. »Solche Dinge gibt es doch nicht mehr!« redete sie

sich zu. »Du träumst! So etwas ist doch einfach nicht

möglich!« Und dann hörte sie das liebenswürdigste Zwie-

gespräch zwischen den beiden Männern.

»Es ist gleich zehn Uhr«, sagte der eine, und der Gefan-

gene erwiderte: »Ja, und daß du mir aufpaßt, wenn du das

Zeug in Brand steckst! Warte, bis du ganz sicher bist, daß

sie kommen!«

Miss Morgan hätte beinahe vor Erleichterung ge-

schrien. Ein wenig schwankend trat sie hinter dem Haus

120

hervor. Der nicht gebundene Mann wandte sich um und

sah sie. Einen Augenblick schien er überrascht, dann aber

erholte er sich gleich und machte eine tiefe Verbeugung.

An einem Mann in zerfetztem Overall und mit einem

zottigen Bart sah die Verbeugung lächerlich und liebens-

würdig zugleich aus.

»Ich bin die Lehrerin«, sagte Miss Morgan atemlos.

»Ich habe einen Spaziergang gemacht und eben dieses

Haus gesehen. Im ersten Moment glaubte ich, dieses Au-

todafé sei Ernst.«

Junius lächelte. »Es ist auch Ernst. Es ist eine viel ern-

stere Sache, als Sie glauben. Fast meinte ich, Sie seien die

Retter. Denn wissen Sie, die Erlösung dieses armen Ge-

schöpfes ist um zehn Uhr fällig.«

Unterhalb des Hauses in den Weidenbäumen ertönte

ein wütendes Bellen von Füchsen. »Ah, das müssen die

Retter sein«, fuhr Junius weiter. »Übrigens, verzeihen Sie

… Miss Morgan, nicht wahr? Ich bin Junius Maltby, und

dieser Herr da ist gewöhnlich Jakob Stutz. Heute aller-

dings ist er der Präsident der Vereinigten Staaten und

wird in ein paar Minuten von Indianern verbrannt. Eine

Zeitlang hofften wir, man könnte ihn als Guinevere brau-

chen, aber selbst mit seiner mageren Gestalt macht er sich

besser als Präsident, nicht wahr? Und dann weigerte er

sich auch, einen Frauenrock anzuziehen.«

»Unsinn«, sagte der Präsident behaglich. Miss Morgan

lachte.

»Darf ich der Rettung beiwohnen, Mr. Maltby?«

»Mr. Maltby? Oho, Madame! Ich bin nicht Mr. Maltby;

ich bin dreihundert Indianer.«

121

Die Füchse bellten von neuem. »Bleiben Sie aber dort

drüben, bei der Treppe«, sagten die dreihundert Indianer.

»Dort wird man Sie nicht mit einer Rothaut verwechseln

und massakrieren.« Dann blickte er suchend gegen den

Fluß hinunter. Ein Weidenzweig wurde heftig geschüttelt.

Junius strich an der Hose ein Streichholz an und steckte

das Holz unter dem Präsidenten in Brand. Als die Flam-

men aufzüngelten, schienen die Weidenbäume auseinan-

derzubersten, und die einzelnen Stücke wurden zu schrei-

enden Buben. Die Horde stürmte heran und war minde-

stens so fürchterlich und mit so viel verschiedenen Geräten

bewaffnet wie die Franzosen, als sie die Bastille stürmten.

Das Feuer wurde auseinandergerissen. Mit fiebrigen Hän-

den wurde das Seil losgebunden, und Jakob Stutz stand

glücklich befreit und gerettet vor seinen Erlösern. Die

nachfolgende Zeremonie war nicht weniger eindrucksvoll

als die Rettung selbst. Die Buben standen in Achtungstel-

lung in einer Reihe und salutierten, und der Präsident

schritt von einem zum andern und steckte jedem eine

Bleiplakette an den Latz des Overalls, und auf der Plakette

war das Wort Held eingekratzt. Das Spiel war aus.

»Nächsten Samstag werden die Bösewichte hängen, die

diesen ruchlosen Anschlag planten«, verkündete Robbie.

»Warum denn nicht heute? Hängen wir sie doch jetzt!«

schrien die andern.

»Nein, Leute! Das geht nicht. Das müssen wir erst vor-

bereiten. Wir brauchen einen Galgen.« Er wandte sich an

seinen Vater. »Ich denke, wir werden euch beide hängen

müssen.« Einen Augenblick musterte er Miss Morgan,

dann beschloß er, sie leben zu lassen.

122

Es war einer der schönsten Nachmittage, die Miss

Morgan je erlebt hatte. Man gab ihr einen Ehrenplatz auf

dem Ast, und die Buben betrachteten sie bald nicht mehr

als ihre Lehrerin.

»Ziehn Sie sich doch auch die Schuhe aus; das ist viel

angenehmer«, schlug Robbie vor, und es war wirklich viel

angenehmer, fand Miss Morgan, als sie die nackten Füße

ins Wasser streckte.

An jenem Nachmittag erzählte Junius von Kannibalen-

stämmen unter den Alëuten-Indianern und von Kartha-

go. Er schilderte, wie die Lakedämonier sich die Haare

kämmten, bevor sie in den Thermophylen starben; er er-

klärte den Ursprung der Makkaronen und berichtete von

der Entdeckung des Kupfers, wie wenn er selber dabeige-

wesen sei.

Schließlich, als der starrköpfige Jakob seine Theorie

von der Vertreibung aus dem Paradies anfocht, entstand

ein kleiner Streit, und dann machten sich die Buben auf

den Heimweg. Miss Morgan ließ sie vorausziehen, weil

sie allein und in Ruhe über den seltsamen Mann nach-

denken wollte.

Lehrerin und Schüler erwarteten mit Schrecken den

Tag, an dem die Schulpflege zum Examen kam. Es war

ein Tag aufreibender Zeremonien. Die Lektionen wurden

nervös vorgetragen, und ein falsch buchstabiertes Wort

war fast ein Kapitalverbrechen. An keinem anderen Tag

machten die Kinder mehr Schnitzer, und nie im ganzen

Jahr waren die Nerven der Lehrerin so gespannt und

strapaziert.

Die Schulpflege im »Tal des Himmels« besuchte die

123

Schule am Nachmittag des 15. Dezember. Kurz nach dem

Mittagessen begann der Aufmarsch der Mitglieder. Alle

blickten finster und ein wenig verschämt drein wie bei ei-

ner Beerdigung. Als erster kam John Whiteside herein, der

Schriftführer, ein alter, weißhaariger Mann mit einer etwas

weitherzigen Ansicht in Erziehungssachen, was manchmal

im Tal kritisiert wurde. Pat Humbert kam kurze Zeit spä-

ter. Pat war in die Pflege gewählt worden, weil er es gewollt

hatte. Er war ein einsamer Mann, dem es schwerfiel, den

Kontakt mit anderen Leuten zu finden, und so benützte er

jede Gelegenheit, die ihm Beziehungen verschaffen konnte.

Seine Kleidung war so steif und so traurig wie der bronze-

ne Anzug der Statue von Lincoln in Washington. Dann

folgte T. B. Allen und schob seine runde Gestalt zwischen

den Bankreihen hindurch. Er war der einzige Kaufmann

im Tal, und das gab ihm ein Anrecht auf den Sitz in der

Pflege. Hinter ihm her stapfte mit langen Schritten Schul-

pfleger Raymond Banks, groß und fröhlich, mit rotem Ge-

sicht und breiten Händen, und als letzter erschien Bert

Munroe, das jüngste Mitglied. Es war sein erstes Examen,

und er war etwas verlegen, als er sich zu seinen Amtskolle-

gen auf einen Stuhl vor der Klasse setzte.

Als alle Schulpfleger Platz genommen hatten, kamen

ihre Frauen herein und setzten sich in den Hintergrund

des Schulzimmers. Die Schüler rutschten aufgeregt in den

Bänken umher. Sie fühlten sich umzingelt; Flucht, sollte

sie vonnöten sein, war ausgeschlossen. Wenn sie sich

nach hinten drehten, sahen sie, daß ihnen die Frauen

wohlwollend zulächelten. Und sie entdeckten ein riesiges

Paket, das Mrs. Munroe auf dem Schoß hielt.

124

Der Unterricht begann. Mit einem gequälten Lächeln

auf dem Gesicht hieß Miss Morgan die Schulpfleger will-

kommen. »Meine Herren«, sagte sie, »was wir heute tun

werden, ist nichts Ungewöhnliches. Ich glaube, für Sie als

in offizieller Mission hier Versammelte ist es wertvoller,

wenn Sie die Schule so erleben, wie sie alle Tage ist.«

Schon wenige Augenblicke später bereute sie, daß sie das

gesagt hatte. Gar nie, soweit sie sich zurückerinnern

konnte, hatte sie so einfältige Kinder gesehen. Die weni-

gen, die ein paar Worte über ihre eingefrorenen Lippen

brachten, machten die abscheulichsten Fehler. Das Buch-

stabieren war unter aller Kritik. Das Lesen war wie das

Stammeln von Idioten. Die Schulpfleger bemühten sich,

ihre Würde zu wahren, aber ein gelegentliches verlegenes

Lächeln konnten sie nicht unterdrücken. Kalter Schweiß

trat auf Miss Morgans Stirn. Schon sah sie sich von einer

empörten Behörde mit Schimpf und Schande entlassen.

Die Frauen im Hintergrund lächelten weiter, aber etwas

nervöser, und die Zeit verstrich. Als das Rechnen über-

standen war, erhob sich John Whiteside von seinem

Stuhl.

»Danke, Miss Morgan«, sagte er. »Wenn Sie gestatten,

möchte ich jetzt ein paar Worte an die Kinder richten,

und dann können Sie sie entlassen. Mir scheint, sie haben

für unsere Anwesenheit eine kleine Entschädigung ver-

dient.«

Die Lehrerin atmete erleichtert auf. »So haben Sie also

gesehen, daß sie nicht so gut waren wie sonst. Ich bin so

froh.«

John Whiteside lächelte. In seiner langjährigen Karrie-

125

re als Mitglied der Schulpflege hatte er schon manche

aufgeregte junge Lehrerin gesehen. »Wenn ich wüßte, daß

sie immer so wenig könnten, wäre es wohl am besten, die

Schule zu schließen.« Dann sprach er fünf Minuten zu

den Kindern und ermahnte sie, ernsthaft zu arbeiten und

die Lehrerin zu lieben. Es war die übliche kurze, schmerz-

lose Ansprache, die er seit Jahren an solchem Tag gehal-

ten hatte. Die älteren Schüler hatten sie schon oft gehört.

Als er geschlossen hatte, bat er die Lehrerin, die Klasse zu

entlassen. Die Schüler begaben sich artig hinaus, aber als

sie an der frischen Luft waren, wurde die Erleichterung zu

groß. Mit ohrenbetäubendem Geheul und Gekreisch

stürzten sie aufeinander los und taten ihr möglichstes, um

sich gegenseitig eins auszuwischen.

John Whiteside schüttelte der Lehrerin die Hand. »Wir

haben noch nie eine Lehrerin hier gehabt, die bessere

Ordnung hielt«, sagte er freundlich. »Ich glaube, wenn Sie

wüßten, wie sehr die Kinder Sie verehren, kämen Sie in

Verlegenheit.«

»Sie sind aber auch lieb«, sagte Miss Morgan beschei-

den. »Wirklich, sie sind sehr lieb und artig.«

»Natürlich. Übrigens, was macht der kleine Maltby?«

»Oh, das ist ein aufgeweckter Junge. Ein seltsames

Kind. Ich glaube, er ist intelligent.«

»Wir haben bei der Sitzung von ihm gesprochen, Miss

Morgan, Sie wissen ja, sein Familienleben ist nicht, wie es

sein sollte. Ich habe ihn heute nachmittag beobachtet.

Der arme Kerl hat ja fast nichts an.«

»Nun … ja, die Verhältnisse sind wohl nicht ganz

normal«, sagte Miss Morgan vorsichtig, denn sie sah, daß

126

sie Junius verteidigen mußte. »Aber schlecht, wissen Sie,

schlecht sind sie nicht.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Miss Morgan. Einmi-

schen werden wir uns nicht. Wir dachten bloß, wir sollten

ihm ein paar Sachen geben. Sein Vater ist sehr arm, wis-

sen Sie.«

»Ich weiß«, sagte sie leise.

»Mrs. Munroe hat ihm ein paar Sachen gekauft – Klei-

der, und wenn Sie ihn hereinrufen, werden wir sie ihm

geben.«

»Aber nein! Tun Sie das bitte nicht …«, begann Miss

Morgan.

»Warum nicht? Es sind nur ein paar Hemden und ein

Overall und Schuhe.«

»Nein, Mr. Whiteside, das würde ihn in Verlegenheit

bringen. Er ist ein stolzer kleiner Junge.«

»In Verlegenheit bringen? Indem wir ihm anständige

Kleider schenken? Unsinn! Aber abgesehen davon, ist es

zu kalt für ihn, um barfuß herumzulaufen in dieser Jah-

reszeit! Seit einer Woche ist ja jeden Morgen der Boden

gefroren.«

»Ich wollte, Sie würden’s nicht tun«, sagte Miss Mor-

gan hilflos. »Wirklich, Mr. Whiteside, geben Sie ihm

nichts!«

»Miss Morgan, finden Sie nicht, Sie machen zuviel aus

der Sache? Mrs. Munroe hatte die Güte, diese Kleider für

ihn zu kaufen. Bitte, rufen Sie ihn jetzt herein, dann kann

sie sie ihm geben!«

Also stand Robbie vor ihnen. Das ungekämmte Haar

fiel ihm ins Gesicht, und seine Augen leuchteten noch

127

von dem wilden Spiel im Freien. Die Leute im Schulzim-

mer sahen ihn wohlwollend an und bemühten sich, nicht

zu auffällig seine schäbigen Kleider zu mustern. Robbie

blickte ängstlich umher.

»Mrs. Munroe will dir etwas schenken, Robert«, sagte

Miss Morgan.

Dann trat Mrs. Munroe vor ihn hin und legte das Pa-

ket in seine Arme. »Was für ein netter kleiner Junge!«

Robbie legte das Paket vorsichtig auf den Boden und

verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

»Mach auf, Robert!« sagte T. B. Allen grimmig. »Wo

sind deine Manieren?«

Robbie warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Ja, Sir«,

sagte er und löste die Schnur. Hemden und Overall lagen

offen vor ihm, und er starrte sie verständnislos an. Plötz-

lich schien ihm bewußt zu werden, was sie bedeuteten.

Sein Gesicht wurde rot und heiß. Er sah ängstlich um sich

wie ein gefangenes Tier, und dann schoß er durch die Tür

hinaus und ließ das Häuflein Kleider am Boden liegen.

Zwei Schritte über die Treppe – und Robbie war fort.

Mrs. Munroe wandte sich ratlos an die Lehrerin. »Was

fehlt ihm denn?«

»Ich glaube, er war verlegen«, sagte Miss Morgan.

»Aber warum denn? Waren wir denn nicht nett zu

ihm?«

Die Lehrerin versuchte zu erklären und wurde sehr bö-

se. »Weil, sehen Sie … er wußte doch gar nicht, daß er

arm war, bis …«

»Es war mein Fehler«, entschuldigte sich John White-

side. »Verzeihen Sie, Miss Morgan!«

128

»Aber was fangen wir nun mit ihm an?« wunderte sich

Bert Munroe.

»Ich weiß nicht. Das weiß ich wirklich nicht.«

Mrs. Munroe wandte sich an ihren Mann. »Bert, viel-

leicht könntest du hinausgehen und mit Mr. Maltby re-

den. Ich meine natürlich, sehr höflich, nicht wahr? Sag

ihm, kleine Buben sollten in dieser Jahreszeit nicht barfuß

gehen. Vielleicht würde ihn das überzeugen. Mr. Maltby

könnte dann Robbie veranlassen, die Kleider zu nehmen.

Oder was meinen Sie, Mr. Whiteside?«

»Nein, mir gefällt das nicht. Wenn Sie abstimmen wol-

len, meinetwegen, aber ich bin dagegen. Ich habe bereits

genug Schaden angerichtet.«

»Nach meiner Meinung ist seine Gesundheit wichtiger

als seine Launen«, beharrte Mrs. Munroe.

Am 20. Dezember schloß die Schule für die Weihnachts-

ferien. Miss Morgan wollte ihre Ferien in Los Angeles

verbringen. Als sie an der Straßenkreuzung auf den Au-

tobus nach Salinas wartete, sah sie einen Mann und einen

kleinen Jungen auf sich zukommen. Sie hatten billige

neue Kleider an, und beide gingen, als ob sie wunde Füße

hätten. Als sie näher kamen, schaute Miss Morgan den

Jungen genauer an und sah, daß es Robbie war. Sein Ge-

sicht war mürrisch und unglücklich.

»Robert!« rief Miss Morgan, »was ist den los? Wo gehst

du denn hin?«

Der Mann sprach: »Wir gehen nach San Francisco,

Miss Morgan.«

Sie erschrak. Es war Junius Maltby ohne Bart. Sie hatte

129

nicht gewußt, daß er so alt war. Selbst seine Augen, die so

jung gewesen waren, blickten alt und müde. Natürlich war

er so blaß, weil der Bart sein Gesicht vor der Sonne ge-

schützt hatte. Er sah sie mit einem Ausdruck tiefer Ratlo-

sigkeit an. »Verbringen Sie dort Ihre Ferien?« fragte Miss

Morgan. »Über Weihnachten sind die Läden in der Stadt so

wunderschön. Ich könnte tagelang darin herumstöbern.«

»Nein«, antwortete Junius. »Wir gehen für immer in

die Stadt. Ich bin Buchhalter, Miss Morgan, oder wenig-

stens war ich einer, vor zwanzig Jahren. Und jetzt, jetzt

gehe ich in die Stadt und suche eine Stelle.« Seine Stimme

war traurig und gequält.

»Aber warum denn? Wozu eine Stelle suchen?«

»Sehen Sie«, erklärte er ohne Umschweife, »ich hatte ja

keine Ahnung, daß ich dem Jungen hier oben weh getan

hatte. An so etwas habe ich nie gedacht. Ich hätte es wohl

wissen sollen. Sie sehen ja selbst, daß er nicht in Armut

aufwachsen sollte. Das sehen Sie ein, nicht wahr? Ich

wußte nicht, was die Leute über mich redeten.«

»Aber warum bleiben Sie nicht auf der Farm? Das Land

ist doch gut, und …«

»Aber ich konnte nie etwas daraus machen. Ich verste-

he nichts vom Landbestellen, Miss Morgan. Jakob will

versuchen, etwas mit dem Hof anzufangen, aber Sie wis-

sen ja, Jakob ist auch kein großer Arbeiter. Später dann,

wenn ich kann, verkaufe ich alles, so daß Robbie ein paar

Sachen bekommt, die er nie gekannt hat.«

Miss Morgan war sehr böse, aber sie spürte, daß sie

gleich weinen würde. »Sie glauben doch nicht alles, was

die dummen Leute Ihnen erzählen?«

130

Er sah sie erstaunt an. »Natürlich nicht. Aber Sie wis-

sen so gut wie ich, daß ein Bub nicht wie ein wildes Tier

aufwachsen sollte. Das wissen Sie doch.«

Der Autobus kam in Sicht und näherte sich der Kreu-

zung. Junius zeigte auf sein Söhnchen. »Er wollte nicht

mitkommen. Er rannte davon und versteckte sich in den

Hügeln. Gestern nacht haben Jakob und ich ihn gefun-

den. Verstehen Sie, zu lange hat er wie ein wildes Tier ge-

lebt. Und dann, Miss Morgan, weiß er ja noch gar nicht,

wie schön es in San Francisco sein wird.«

Der Bus stand still. Junius und Robbie stiegen ein und

setzten sich auf den hintersten Sitz. Miss Morgan wollte

sich eben zu ihnen setzen. Dann kehrte sie sich um und

nahm den Sitz neben dem Chauffeur. »Aber natürlich«,

sagte sie sich, »natürlich wollen sie lieber allein sein.«

VII

Der alte Guiermo Lopez starb, als seine Töchter schon

ziemlich groß waren, und hinterließ ihnen vierzig Mor-

gen eines steilen Hügelabhanges und kein Geld. Sie

wohnten in einer weißgetünchten Schindelhütte mit ei-

nem Anbau, einem Brunnen und einem Wagenschuppen

daneben. In dem ausgemergelten Boden wuchs nichts

außer Unkraut und Salbei, und obwohl die Schwestern

sich mächtig um einen kleinen Garten abmühten, ver-

mochten sie nur sehr wenig Gemüse zu produzieren. Eine

Zeitlang hungerten sie in grimmigem Martyrium, aber

am Ende siegte das Fleisch. Sie waren zu dick und zu

munter, um sich wegen einer unreligiösen Sache wie der

des Essens zu Märtyrerinnen zu machen.

Eines Tages hatte Rosa eine Idee. »Machen wir nicht

die besten Tortillas im Tal?« fragte sie ihre Schwester.

»Unsere Mutter hat uns diese Kunst gelehrt«, erwiderte

Maria respektvoll.

»Dann sind wir gerettet. Wir werden Enchiladas, Tor-

tillas und Tamales machen. Wir werden sie den Leuten

vom ›Tal des Himmels‹ verkaufen.«

»Glaubst du, die Leute werden kaufen?« fragte Maria

skeptisch.

»Höre, was ich sage, Maria! In Monterey gibt es mehre-

re Orte, wo Tortillas verkauft werden, die nur einen Fin-

ger so gut sind wie unsere. Und die Leute, die sie verkau-

fen, sind sehr reich. Sie haben dreimal im Jahr ein neues

Kleid. Und lassen sich ihre Tortillas mit den unsrigen

132

vergleichen? Ich frage dich im Angedenken an unsere

Mutter.«

Marias Augen füllten sich mit Tränen der Rührung.

»Nein, das lassen sie sich nicht. Auf der ganzen Welt gibt

es keine Tortillas, die sich mit den von der geheiligten

Hand unserer Mutter geklopften vergleichen lassen.«

»Also denn, adelante!« sagte Rosa abschließend. »Wenn

sie so gut sind, dann werden die Leute sie kaufen.«

Es folgte eine Woche aufregender Vorbereitungen, wäh-

rend derer die schwitzenden Schwestern fegten und deko-

rierten. Als sie fertig waren, hatte ihr kleines Haus innen

und außen einen neuen Anstrich von schneeweißer Tün-

che. Neben den Stufen vor der Haustür waren Geranien-

stecklinge gepflanzt, und die Abfälle und der Unrat von

Jahren waren gesammelt und verbrannt worden. Der Vor-

derraum des Hauses war in ein Restaurant umgewandelt,

in dem zwei mit gelbem Öltuch überzogene Tische stan-

den. Eine Tafel von Tannenholz am Zaun bei der Straße

verkündete: Tortillas, Echiladas, Tamales und eini-

ge andere Spanische Gerichte; R. & M. Lopez.

Der Umsatz kam nicht sturmartig. Tatsächlich kam er

überhaupt fast nicht. Die Schwestern saßen an ihren gel-

ben Tischen und warteten. Sie waren kindlich und aufge-

räumt und nicht sehr sauber. Auf ihren Stühlen sitzend,

warteten sie auf das Glück. Kam aber einmal ein Kunde

in den Laden, dann sprangen sie auf und standen ihm au-

genblicklich zu Diensten. Über alles, was der Kunde sagte,

lachten sie entzückt; sie brüsteten sich mit ihrer Abstam-

mung und prahlten über die wunderbare Zusammenset-

zung ihrer Tortillas. Sie rollten die Ärmel zurück und

133

zeigten in leidenschaftlicher Verleugnung ihres indiani-

schen Blutes die Weißheit ihrer Haut. Aber es kamen we-

nige Kunden. Allmählich entdeckten die Schwestern

Schwierigkeiten in ihrem Geschäft. Sie durften ihre Pro-

dukte nicht in großen Quantitäten herstellen, denn wenn

sie zu lange liegenblieben, würden sie schlecht werden.

Tamales brauchen frisches Fleisch. So kam es, daß sie an-

fingen, Fallen für Kaninchen und Vögel auszulegen; Spat-

zen, Amseln und Lerchen wurden in Käfigen gehalten, bis

sie für die Tamales benötigt wurden. Und immer noch

war das Geschäft flau. Eines Morgens trat Rosa vor ihre

Schwester. »Du mußt den alten Lindo einspannen, Maria.

Wir haben keine Kornhülsen mehr.« Sie legte ein Silber-

stück in Marias Hand. »Kauf nur wenige in Monterey«,

sagte sie. »Wenn das Geschäft besser geht, werden wir

sehr viel mehr kaufen.« Maria küßte sie gehorsam und

ging auf den Schuppen zu.

»Und, Maria – wenn noch etwas von dem Geld übrig-

bleibt, bring etwas zum Naschen für dich und für mich –

etwas Gutes.«

Als Maria an jenem Nachmittag nach Hause zurück-

kam, fand sie eine seltsam stille Schwester. Das Gelächter,

die kleinen Aufschreie, die gebieterischen Fragen nach je-

der Einzelheit der Reise, die gewöhnlich dem Wiederse-

hen folgten, blieben aus. Rosa saß auf einem Stuhl an ei-

nem der Tische, und auf ihrem Gesicht war ein Ausdruck

finsterer Konzentration.

Maria näherte sich zaghaft. »Ich habe die Hülsen sehr

billig eingekauft«, sagte sie. »Und da, Rosa, der Zucker-

stengel! Die beste Sorte, und nur vier Cents.«

134

Rosa nahm den Kandisbrocken und steckte das eine

riesige Ende in den Mund. Immer noch runzelte sie

nachdenklich die Stirn. Maria setzte sich neben sie, lä-

chelte sanft, neckisch, fragend und bettelte stumm um ei-

nen Anteil an der Bürde ihrer Schwester. Rosa saß starr

wie ein Fels und schleckte an ihrem Zucker. Dann glotzte

sie Maria in die Augen. »Heute«, sagte sie feierlich, »heute

habe ich mich einem Kunden hingegeben.«

Maria schluchzte vor Aufregung und Teilnahme.

»Versteh mich nicht falsch!« fuhr Rosa fort. »Ich habe

kein Geld angenommen. Der Mann hat drei Enchiladas

gegessen – drei!«

Maria brach in ein dünnes, kindisches Gejammer aus.

Sie war ganz nervös.

»Sei still!« sagte Rosa. »Was meinst du, was soll ich

tun? Es ist notwendig, daß wir unsere Kundschaft ermun-

tern, wenn wir es zu etwas bringen wollen. Und er hatte

drei, Maria, drei Enchiladas! Und er bezahlte für sie. Und

nun? Was meinst du?«

Maria schnupfte, und angesichts der Rechtfertigung ih-

rer Schwester klammerte sie sich an einen kleinen morali-

schen Mut. »Ich glaube Rosa, ich glaube, unsere Mutter

wäre froh, und ich glaube, deine eigene Seele wäre froh,

wenn du die Mutter Jungfrau und die heilige Rosa um

Verzeihung bitten würdest.«

Rosa lächelte großmütig und nahm Maria in die Arme.

»Das habe ich getan. Sobald er fort war. Er war kaum aus

dem Haus, als ich es tat.«

Maria riß sich los und rannte tränenüberströmt in ihre

Schlafkammer. Zehn Minuten lang kniete sie vor der

135

kleinen Madonna an der Wand. Dann erhob sie sich und

warf sich abermals in Rosas Arme. »Rosa, meine Schwe-

ster«, rief sie glücklich, »ich glaube – ich glaube, auch ich

werde Kunden ermuntern!«

Die Lopez-Schwestern drückten sich in einer innigen

Umarmung aneinander und vermengten Tränen der

Freude.

Jener Tag bezeichnete den Wendepunkt in den Angele-

genheiten der Lopez-Schwestern. Es ist wahr, das Ge-

schäft blühte nicht, aber von da an verkauften sie genug

von ihren »spanischen Gerichten«, um ihre Küche mit

Eßwaren und ihre breiten, runden Körper mit grellgemu-

sterten Kleidern auszustatten. Sie blieben standhaft religi-

ös. Wenn eine von ihnen gesündigt hatte, ging sie unver-

züglich zur kleinen Porzellan-Jungfrau, die nun bequem-

lichkeitshalber im Hausgang stand, so daß sie von beiden

Schlafkammern erreichbar war, und betete um Verge-

bung. Sünden durften sich nicht anhäufen. Sie beichteten

jede Sünde einzeln, sobald sie begangen war. Am Boden

unter der Jungfrau war ein blankgescheuerter Fleck, wo

sie in ihren Nachthemden gekniet hatten.

Das Leben wurde sehr angenehm für die Lopez-

Schwestern. Sie fühlten sich auch nicht im geringsten als

Nebenbuhlerinnen, denn obwohl Rosa älter und kecker

war, glichen sie sich fast aufs Haar. Maria war etwas fet-

ter, dafür war Rosa ein wenig größer, und das war alles.

Oft war das Haus von lautem Gelächter und kreischender

Begeisterung erfüllt. Die Schwestern sangen über den fla-

chen Steinen, auf denen sie mit ihren fetten starken Hän-

den die Tortillas klopften. Sagte ein Kunde etwas Lusti-

136

ges, sagte Tom Breman, derweil er die dritte Tamale aß: