4

Young bog aus der Einfahrt auf die Straße und überprüfte den Bordcomputer. Man hatte ihm den Anruf aus der Waterson Avenue zugewiesen. Die voraussichtliche Fahrtzeit betrug sechs Minuten. Er klappte das Handy auf, während er das Fahrzeug durch die Kurve lenkte, ein Stoppschild überfuhr und beinahe von einem Expedition gerammt wurde. Erst dann schaltete er Blaulicht und Sirene ein.

Er drückte auf Schnellwahltaste drei und wartete ungeduldig.

»Was? Wir haben mehrere Officers, die Unterstützung anfordern, und du nimmst dir die Zeit für ein Privatgespräch?«

Sergeant Joseph ›Joey‹ Patterno hätte es unter früheren Williamsburg-Regierungen niemals zum Sergeant geschafft. Er konnte beste Referenzen vorweisen: 14 Jahre beim SFPD in einem der härteren Distrikte. Er war körperlich fit, ein klein gewachsener, breitbrüstiger Mann jüdisch-italienischer Abstammung aus New York mit Erfahrungen, die weit über Nachbarschaftswachen und Streifendienste hinausgingen, unter anderem als Leiter eines der besten SWAT-Teams beim SFPD. Er war nach Williamsburg gezogen und hatte dafür deutliche Einschnitte beim Gehalt in Kauf genommen, weil sein Partner hier ein deutlich höher dotiertes Angebot erhalten hatte als zuvor in Frisco. Das hiesige Department hatte Joey nach einigem Kopfschütteln eingestellt.

Das Kopfschütteln wurde vor allem durch das Wort ›Partner‹ verursacht. Eigentlich bedeutete es – was in Kalifornien längst legal war – ›Ehemann‹. In Virginia tat man sich mit solchen Themen nach wie vor schwer. Joey hatte zumindest die Angewohnheit abgelegt, die Leute absichtlich in Panik zu versetzen, indem er mit einem Lispeln sprach. Außerdem steckte er die gelegentlichen Anspielungen auf seine Vorlieben ziemlich gut weg. Wenn es zu viel wurde, machte er einfach einen kleinen Knicks oder einen Schmollmund und der Witzbold hielt normalerweise schnell die Fresse. Wenn das keine Wirkung zeigte, hatte er eine Wagenladung von Scherzen auf Lager – ganz zu schweigen von einem legendären rechten Haken.

»Kein Privatgespräch«, berichtigte Young. »10-37 war eine Familie, die an einem verlassenen Dock Unmengen von Waffen, Nahrungsmitteln und Toilettenpapier auf ein brandneues Boot verladen hat.«

»Was hat das mit den vielen Officers zu tun, die einen 10-64 durchgegeben haben?«, hakte Patterno nach.

»Der Ehemann, eine richtig coole Nuss, hat mir direkt vor dem 11-99 den Rat gegeben, dass ich bei einem feindseligen 10-64 sofort schießen und mich anschließend beurlauben lassen soll. Und ich soll Kontakt mit den Blutspritzern vermeiden. Als ich den Anruf erhielt, fügte er hinzu, dass ich unter jeglichen Umständen vermeiden sollte, gebissen zu werden. Ich zitiere wörtlich: ›Der Krankheitserreger im Blut ist besonders aggressiv.‹«

»Du verscheißerst mich«, entrüstete sich Patterno. »Das gibt’s doch gar nicht!«

»Er erwähnte die 10-64er vor dem Anruf«, sagte Young. »Feindselige 10-64er. Und er deutete an, dass es um zwölf Uhr eine offizielle Verlautbarung geben wird.«

»Verdammt ... Davon hab ich gehört. Das CDC hat eine gemeinsame Pressekonferenz mit den Jungs vom FBI angekündigt. Okay, triff mich in der Waterson ... Scheiße, ich werde woanders gebraucht ...«

Young starrte die Anzeige an und konnte es nicht glauben. Überall leuchteten Notrufe auf. Auch ...

»Ich habe einen ...« Er hielt den Atem an, dann legte er eine Vollbremsung hin. Ein nacktes Mädchen, ein Teenager, war ihm gerade vor das Auto gelaufen. Ihr Gesicht schien ... Er hämmerte auf die Tasten seines Funkgeräts, als das Mädchen auf die Motorhaube sprang und auf die Windschutzscheibe eindrosch. Ihr Blick wirkte verzerrt, definitiv wahnsinnig. Sie sah bleich und aufgeschwemmt aus, als sei sie krank. Nur ... fehlte da etwas.

»Einheit 873 an Basis. Feindseliger 10-64. Weiblich. 460 Butterworth Drive. Sie greift meinen Wagen an. Fordere Unterstützung eines weiblichen Officers an.«

»873. 10-0. Protokoll 5-1 5-0. Keine Unterstützung verfügbar.«

»Basis 873. Ich wiederhole. Weiblich, aufgebläht, weiblicher Teenager, 3-1-1.«

»Verstanden. Keine Unterstützung verfügbar, 873. 10-0. 5-1 5-0. Transport ins Emerson. Seien Sie vorsichtig.«

»Was zum Teufel?« Young fluchte. Seien Sie vorsichtig. Verrückte Person. Was ihr nicht sagt. Keine Unterstützung? Kein weiblicher Officer bei einem nackten weiblichen Teenager? Er drohte, bis auf das letzte Hemd verklagt zu werden.

Er vermied es, ein ganz bestimmtes Wort auch nur zu denken. Nicht an das Wort Zombie zu denken, hieß allerdings nicht, dass es ihm nicht durchs Gehirn flatterte. Das Problem war, dass dieses Mädchen keine derart ernsthafte Bedrohung darstellte, dass es den Einsatz von Waffengewalt rechtfertigte. Wenn er sie niederstreckte, durfte er von Glück reden, wenn man ihn nur in unbezahlten Urlaub schickte. Man konnte ihm zumindest Körperverletzung oder fahrlässige Tötung vorwerfen.

Im Augenwinkel bemerkte er einen Mann, wahrscheinlich den Vater des Mädchens, der über den Rasen torkelte. Er hatte zahlreiche Bisswunden an der Brust und an den Armen. Sein Oberkörper war entblößt. Er hatte sich offensichtlich hastig ein paar Shorts übergestreift, um seiner Tochter auf die Straße nachzulaufen.

Das Mädchen schlug wie eine Besessene auf die Windschutzscheibe ein, hämmerte ihre Fäuste mit solcher Wucht dagegen, dass sie inzwischen bluteten, und verbiss sich in dem widerstandsfähigen Glas. Das Polizeiauto war mit stärkeren Scheiben ausgestattet als normale Fahrzeuge, ansonsten hätte sie die Windschutzscheibe wahrscheinlich schon längst zerschmettert.

Young konnte nicht hören, was geschah, aber das Mädchen starrte auf einmal in Richtung der Beifahrerseite des Cruisers. Der Begriff ›wild‹ schoss ihm durch den Kopf. Der Blick eines wilden Raubtiers, das seine Beute gehört hatte. Sie sprang von der Motorhaube und attackierte den Mann auf dem Rasen.

Da erst stieg Young aus. Er wusste nicht recht, was er gegen die barbarische Kleine unternehmen sollte. Nach einer Reihe von Klagen und Protesten gegen die Stadtregierung, die meisten davon wegen YouTube-Videos, die nicht einmal in der Nähe von Williamsburg aufgenommen worden waren, hatte das Department allen Officers die Taser abgenommen – außer den Sergeants und deren Vorgesetzten, die eine staatliche Schulung über die korrekte Handhabung absolviert hatten.

Das Mädchen war schon über den Mann hergefallen, bevor Young den Cruiser umrundet hatte. Sie heulte nicht und kreischte nicht – sie schien vor Schmerzen zu schreien. Ein hohes, ausgedehntes, zutiefst seltsames Geräusch. Und sie hing fest an dem Mann, mit Händen und Zähnen, biss und kratzte unentwegt.

»HIIILFE!«, brüllte der Mann und sah Young entgegen, während er sich abmühte, den Arm zu befreien. Er zerrte an den Haaren des Mädchens, teils verzweifelt, teils behutsam, als befürchte er, ihr ernsthaft Schmerzen zuzufügen. »IN GOTTES NAMEN, HELFEN SIE MIR! HERR IM HIMMEL! CHELSEA! CHELSEA!«

Young blieb kurz stehen, die Hände an den Hüften, dann öffnete er den Kofferraum des Cruisers. In einem Koffer befand sich eine Tasche, die ›als Unterstützung bei der Sicherstellung aggressiver Tiere‹ diente. Im normalen Sprachgebrauch bezeichnete das einen Beutel, um Schlangen einzufangen, und er gehörte zur Ausrüstung. Cops fingen normalerweise keine wilden Tiere ein, aber wenn sie beispielsweise zur Unterstützung eines Hundefängers gerufen wurden, hatten sie diese sogenannten Schlangenbeutel immer dabei. Wie das M4, über das er gerade ernsthaft nachdachte, falls sie ein SWAT-Team unterstützen mussten. Er betrachtete den Beutel einen Augenblick lang und schätzte die Öffnung ab. Sicher ausreichend groß, dass der Kopf eines weiblichen Teenagers hindurchpasste.

Er hatte auch Einsatzhandschuhe dabei. Es war nicht angenehm, die Diamonds dauernd anzubehalten, aber wenn es einen günstigen Zeitpunkt gab, um sie anzuziehen, dann jetzt. Er wünschte sich in diesem Moment, dass sie aus dickem Leder genäht wären. Doch solange sie seine Haut vor dem Mädchen schützten, genügte ihm das.

Er nahm den Beutel und schlich sich geduckt von hinten an sie heran, den Blick starr auf ihren Hinterkopf gerichtet.

»Könnten Sie sich mal beeilen?«, knurrte der Mann wütend, dann brüllte er unkontrolliert, als Blut über den frisch gemähten Rasen spritzte.

Young blieb einen Moment lang hinter dem Mädchen stehen, ehe er ihr den Beutel über den Kopf stülpte und mit einem Ruck nach unten riss. Der Mund des Mädchens hatte sich im Arm ihres Vaters verbissen, doch als der Beutel über ihre Augen gezogen wurde, richtete sie sich auf und krallte danach. Der Mann fiel rückwärts auf den Rasen. Er schob sich nach hinten zu dem Haus und versuchte dabei, den Blutfluss der spritzenden Arterie zu stoppen, die seine Tochter zerfetzt hatte.

Young hatte zwischenzeitlich ganz andere Probleme. Das Mädchen drehte sich schon zu ihm um, noch bevor er ihr den Beutel vollständig über den Kopf gezogen hatte, und sie hatte eine Hand in die Öffnung geschoben. Er traute sich nicht, die Verschlussschnur mit Gewalt zuzuziehen. Er hätte sie damit ersticken können. Aber der Beutel war zumindest weit genug hinuntergerutscht und bedeckte ihren Mund. Sie schrie nicht länger vor Schmerzen, sondern gab nur noch ein gutturales Grunzen von sich.

Er wusste nicht genau, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Diese verfluchten Kameras waren heutzutage einfach überall. Er befand sich im direkten Sichtfeld seines Wagens, aber wahrscheinlich hatten die Leute sowieso längst ihre Handykameras auf ihn gerichtet, um das Spektakel aufzunehmen. Wenn man es genau nahm, stellte die Verteilung oder auch nur der Besitz der Videoaufnahmen eines minderjährigen Mädchens – und dieser Teenager sah eher aus wie 15 – ein Verbrechen auf Staatsebene dar. Genau genommen ließ sich selbst die Kamera in seinem Wagen als Verstoß gegen die Gesetze auslegen. Cops bildeten nicht automatisch eine Ausnahme. Natürlich konnte er sie nicht einfach abschalten, auch damit hätte er gegen das Gesetz verstoßen, solange keine anderweitigen Befehle vorlagen oder bis sein Einsatz abgeschlossen war. Und er war noch nicht abgeschlossen. Daher befand er sich vermutlich auf der sicheren Seite. Vermutlich.

Kaum zu glauben, dass ihm solche Gedanken bei seinem ersten Kampf gegen einen Zombie durch den Kopf schossen. Unfassbar!

Gegen einen unglaublich starken, drahtigen, ziemlich minderjährigen, schnellen, nackten, weiblichen Zombie.

Dann vernahm er hinter sich die Schreie.

Als er sich über die Schulter umsah, bemerkte er eine Frau, die aus einem der Häuser auf die Straße lief. Angezogen, aber ihre Kleidung war zerfetzt, und sie wurde von einem blutüberströmten nackten Mann verfolgt. Und natürlich rannte sie zu dem Polizeibeamten und flehte um Hilfe. Der Verfolger war ihr dicht auf den Fersen.

»Scheiß drauf«, stotterte Young, hielt den Beutel mit einer Hand eher notdürftig geschlossen und zog seine Glock. Er hielt sie an den Quadrizeps des Mädchens und drückte den Abzug durch. Das Mädchen kreischte und ging zu Boden, die Hände an das Bein gepresst.

»Was machen Sie denn da?«, rief der Vater.

»Ich rette Ihr Leben, das Ihrer Tochter und mein eigenes«, gab Young zurück und wirbelte herum. »Kommen Sie zu mir!«, rief er der Frau zu und winkte sie heran. »Machen Sie schon!«

Lassen Sie sich nicht beißen ...

»Nein«, brüllte die Frau und ruderte mit den Armen. Sie trug Jeans und eine hübsche Bluse, als hätte sie gerade einkaufen gehen wollen, als die Welt aus den Fugen geriet. Die Bluse war inzwischen zerrissen und blutig. An der Grenze zwischen Schulter und Hals zeichnete sich eine große Bisswunde ab. »Bitte nicht! Ich weiß nicht, was mit meinem Mann nicht stimmt ...«

»Ich schon«, log Young und zielte auf die Brust des heranstürmenden Mannes. Er war groß genug und gebärdete sich aggressiv genug, dass es vielleicht als gerechtfertigter Gebrauch einer Dienstwaffe durchging. Wenn das, was hier vor sich ging, nun ja, auch wirklich passierte, stufte man es definitiv als gerechtfertigten Waffengebrauch ein. Virginia war nicht San Francisco. In Frisco hätte man ihn dafür mit Sicherheit gegrillt.

»BLEIBEN SIE STEHEN ODER ICH SCHIESSE IN NOTWEHR, UM MICH UND DIE ANDEREN ZU SCHÜTZEN!« Dieser Satz wurde gewöhnlich von Zivilisten verwendet. Cops sollten eigentlich alles außer Feuerwaffen einsetzen, um eine Situation zu entschärfen. Eine Waffe zog man nur, wenn man selbst mit einer Waffe bedroht wurde, beispielsweise einem Messer. Aber dieser Kerl war ein Riese und das Mädchen wirkte völlig hilflos. Young gingen die Möglichkeiten aus. »STOPP! STOPP! STOPP!«

Er wartete, bis der Angreifer bis auf fünf Meter an ihn herangekommen war, und zog dann wie in der Polizeischule zweimal den Abzug durch: einmal in den Oberkörper, dann der Aufwärtsbewegung durch den Rückstoß folgend einmal in den Kopf.

Der Mann pflügte in den Boden zu Youngs Füßen. Seine Frau schrie noch lauter als zuvor.

Es handelte sich um Officer Youngs ersten Waffengebrauch im Dienst, aber er hatte schon zuvor erlebt, was eine Kugel mit einem menschlichen Schädel anstellte. Am besten beschäftigte man sich gar nicht erst eingehend damit.

»Schusswaffengebrauch bei einem Officer«, sprach Young in sein Sprechfunkgerät, während er zurück zum Wagen ging. Im Kofferraum lag ein Erste-Hilfe-Kasten. Aber er glaubte nicht, dass er damit noch etwas ausrichten konnte. Er hatte einige Schwierigkeiten, die Pistole zurück in das Holster zu schieben, aber seine Stimme blieb klar und deutlich. Er griff sogar auf eine lange zurückliegende Übung zurück. »Ein Kilo India Alpha, zwei Whiskey India Alpha ...«

Er hielt beim Zitieren dieser Litanei der Katastrophen inne, beugte sich nach vorn und übergab sich mehr oder weniger beiläufig.

»Keine Bisse.« Young spuckte aus. »Bisher jedenfalls ...«

»Und das ist unser Schuldiger.« Dr. Titus Wong ließ einen Mauszeiger über den Bildschirm gleiten, um auf ein mehr als offensichtliches rotes Knötchen auf dem Rückenmark zu deuten. »Mit einer anderen Struktur.«

Dr. Curry mampfte Popcorn, während er der Videokonferenz beiwohnte. Die mehr oder weniger kontinuierlich abgehaltene, durchgehend verschlüsselte Konferenz war von der WHO »ausschließlich für interessierte Parteien« einberufen worden und ordnete die jüngsten Erkenntnisse über die Pazifische Grippe ein. Currys neue Auftraggeber hatten dafür gesorgt, dass er zu den »interessierten Parteien« gehörte. Nachdem sich die Information mittlerweile offiziell im Umlauf befand, wobei man den Begriff ›Zombie‹ sorgsam mied, drehten die Medien am Rad. Genau wie jede epidemiologische Gruppe dieser Erde. Dies war der erste echte Flächenbrand, den sie jemals eindämmen mussten, und es entwickelte sich extrem heftig.

»Das ist eine SEM-Ansicht«, erklärte Wong. Wong war der Spezialist des Los Angeles Medical Examiners Office für Infektionskrankheiten. Ein zertifizierter Gerichtsmediziner, ein Dr. med. mit Spezialisierung auf Pathologie und einer zusätzlichen Weiterbildung im Bereich Seuchen und Epidemien. Trotzdem galt er bei den meisten Leuten, die sich mit seinen Folien beschäftigten, vor allem als Arbeitstier. Im Übrigen hielt er sich im Epizentrum auf, und das lag ausnahmsweise mal nicht in einem fernen, in der Regel tropischen Land. Nun ja, fern aus dem Blickwinkel der Industrienationen.

»Eine natürliche Färbung im Rasterelektronenmikroskop. Es hat wirklich diese Farbe ...«

»Frage von Dr. Sengar, Stockholm ...«

Die Konferenz wurde derzeit von Dr. Addis Bahara geleitet, dem stellvertretenden Leiter für Operatives und Abwehrmaßnahmen der WHO. Dave kannte Addy und mochte ihn. Ein gerissener Ägypter, hochgradig professionell, im Gegensatz zu den übrigen Führungspersonen der Weltgesundheitsorganisation, die zumeist nur aufgrund ihrer Beziehungen ausgewählt wurden.

»Es hat eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Tollwut«, merkte der WHO-Repräsentant aus Schweden an. »Abgesehen von der Farbe. Es gab bisher noch keine Anzeichen für eine motorische Einschränkung.«

»Es gibt Patienten mit erheblichen motorischen Einschränkungen«, korrigierte Dr. Wong. »Ihnen liegen noch nicht alle Informationen vor. Trotzdem weiß ich, worauf Sie hinauswollen. Die Knötchen ähneln grob denen der Tollwut, aber sie scheinen andere Auswirkungen zu haben. Außerdem wird die Tollwut nicht durch die Luft übertragen.«

Dieser oberlehrerhafte Hinweis an Sven Sengar, der auf dem Gebiet der Virologie außer dem Nobelpreis schon jede erdenkliche Auszeichnung erhalten hatte, erklärte, warum Wong ein Pathologe war, den man tief in den Keller der L.A.-Leichenhalle abgeschoben hatte.

»Ich sagte, es gebe eine ›Ähnlichkeit‹ mit der Tollwut«, antwortete Sengar ruhig. »Haben Sie die Pasteur-Methode ausprobiert, um einen Impfstoff zu erhalten?«

»Wir stellen hier keine Impfstoffe her«, klärte Wong ihn auf. »Wir führen Autopsien durch.«

»CDC ...«

»Wir werden das gleich untersuchen.« James Dobson war, ebenso wie Addis, einer der technischen Spezialisten des Centers for Disease Control and Prevention, aber durchaus auch an Politik interessiert. In einer Art und Weise, dass er sich trotzdem noch einen Hauch von Gehirn bewahrte. »Vor einer Woche hätte ich die Pasteur-Methode noch als verrückt bezeichnet, aber dieser Krankheitserreger bringt mich ins Grübeln, ob ich die Grundlagen der Biochemie wirklich beherrsche.«

»Dr. Kwai, Thailand ...«

»Gibt es weitere Informationen bezüglich des Ursprungs?«, erkundigte sich Dr. Kwai.

Es herrschte kurzzeitig Stille, als die Anwesenden rätselten, wer diese Frage beantworten sollte.

»CDC ...«

»Nein«, sagte Dr. Dobson. »Die Computeranalyse besagt, dass es wahrscheinlich an öffentlichen Orten freigesetzt wurde, vor allem sind hier Flughäfen und Busbahnhöfe an der Westküste der Vereinigten Staaten zu nennen. Der Zeitraum lässt sich auf einen Tag vor etwa zwei Wochen eingrenzen. Die Vectoring-Methode ist noch unbekannt und es gibt keine eindeutigen Verdächtigen. Deswegen deuten die Modelle darauf hin, dass es noch immer verbreitet wird, auch an Flughäfen und Busbahnhöfen. Das FBI geht einigen Spuren nach, aber insgeheim gestehen sie ein, dass es keine handfesten Spuren gibt. Wir und USAMRIID ... kooperieren. Aber nach dem Anthrax-Debakel gestaltet sich eine Kooperation ... zunehmend schwierig.«

»Kein Scheiß«, murmelte Curry. Die Anthrax-Untersuchung hatte den Forschern vor Augen geführt, dass sich das FBI weniger für Wissenschaft oder rationale Gründe interessierte, sondern vor allem für handfeste Politik. Tatsächlich war es so, dass im Justizministerium der Vereinigten Staaten niemand auch nur den blassesten Schimmer von Molekularbiologie hatte und sich auch nicht darum scherte. Die einzigen Verdächtigen, die man identifiziert hatte – und man hatte sie schon lange vorher öffentlich bekannt gegeben, noch ehe man das kleinste Fitzelchen eines Beweises gefunden hatte –, waren professionelle Forscher der Medizinischen Forschungseinrichtung der US-Armee für Infektionskrankheiten (USAMRIID), der Armee-Version des CDC. Beide ›angeklagten‹ Forscher gehörten den Teams des USAMRIID an, welche seinerzeit das FBI beraten hatten. In keinem der Fälle existierten konkrete Anhaltspunkte, dass einer der Forscher tatsächlich für die Anthrax-Freisetzung kurz nach den 9/11-Attentaten verantwortlich war. Doch das FBI stand mit seinen Anschuldigungen Gewehr bei Fuß.

Die meisten Epidemiologen vertraten folgende Meinung: Wenn man dem FBI erklären konnte, wie etwas funktionierte – wenn man also, um es anders auszudrücken, die Fähigkeit besaß, etwas zu tun –, bedeutete das, und dabei spielte die Kontaktperson beim FBI keine Rolle, dass man selbst zu den aktuellen Hauptverdächtigen zählte. Daher wollte kein Mensch in der Branche, der einigermaßen bei Verstand war, dem FBI überhaupt noch etwas erklären. Wenn man sich aber zugeknöpft gab und unkooperativ verhielt, wurde man ebenfalls den Hauptverdächtigen zugeordnet. Ein wahrer Teufelskreis.

Da abgesehen von jener Fähigkeit keine echten Beweise vorlagen, war der Angriff schließlich einem unbedeutenden Forscher in die Schuhe geschoben worden, der wirklich ernsthafte Persönlichkeitsprobleme hatte, was in der intellektuellen Gemeinschaft keine Seltenheit darstellte, und der zu einem äußerst günstigen Zeitpunkt Selbstmord beging, nachdem er begriffen hatte, dass ihn das FBI auffliegen lassen würde. Das bedeutete schlicht und ergreifend, dass er ein Geek war, kein verrückter Wissenschaftler. Mit einem vorzeigbaren Sündenbock – einem der besten Sorte, weil er schließlich nicht mehr lebte – schloss das FBI den Fall ab und ließ sich für seinen Erfolg feiern.

Ungeachtet der Tatsache übrigens, dass der Zugang zu dem besonderen genetischen Mikroorganismenstamm keinem der Wissenschaftler jemals nachgewiesen werden konnte und das konkrete Verfahren zur Erschaffung einer waffenfähigen Anthraxbeschichtung als streng gehütetes sowjetisches Geheimnis galt. Niemand in den Vereinigten Staaten hatte es jemals hergestellt oder kannte das genaue Verfahren. Zudem traf man den besonderen genetischen Mikroorganismenstamm, der bei den Angriffen zum Einsatz kam, in keinem Lagerbestand auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten an. Aus mikrobiologischer Perspektive blieb die Herkunft damit genauso ungeklärt wie die Landungen in Roswell.

So ziemlich jeder Mensch mit einem Ph.D. oder Masterabschluss in molekularer Zellbiologie oder in einer verwandten Forschungsdisziplin betrachtete das Justizministerium der Vereinigten Staaten und die Kerle vom FBI deshalb bei einem zukünftigen bioterroristischen Angriff als gefährlichste Gegner. Und dies gestaltete die Situation noch komplizierter, da für eine Lösung des Problems beide Seiten zwingend zusammenarbeiten mussten. Aber das hatten sich das FBI und das Justizministerium der Vereinigten Staaten selbst zuzuschreiben.

»Es gibt jedoch eine Datenbank aller ähnlichen Experimente, die man in den USA durchgeführt hat, und es gibt keines, das diesem nahekommt. Daher stammt es offiziell von keiner unserer Universitäten und auch aus keinem unserer Forschungszentren. Außerdem gab es keine ›inoffiziellen Experimente‹, die Parallelen aufweisen. Tatsächlich gab es dabei so viele Durchbrüche ... nein, es gibt keine Verdächtigen. Keine verdächtigen Einrichtungen, keine verdächtigen Einzelpersonen und wir arbeiten noch immer daran, den Vektor zu entschlüsseln ...«