11. KAPITEL
Leo wurde um vier Uhr nachmittags aus dem Schloss angerufen. Er kam gerade von einer anstrengenden Vorstandssitzung, auf der er sich nur mit Mühe hatte beherrschen können, weil Wilhelm sich jedem seiner Vorschläge widersetzt hatte.
Einerseits hätte er darüber lachen mögen, dass sein Bruder ihm einfach nicht glauben wollte, dass es ihm genauso unerklärlich war, weshalb ihr Vater ihm und nicht Wilhelm die Kontrolle über die Firma übertragen hatte. Andererseits regte er sich innerlich über diese ablehnende Haltung maßlos auf. Was konnte Wilhelm dagegen haben, mehr junge Studienabgänger aus den benachbarten EG-Staaten aufzunehmen? Die ständigen bissigen Widersprüche seines Bruders riefen bei ihm einen Migräneanfall hervor.
Schon vor Jahren glaubte er, keine Probleme mehr mit Migräne zu haben, und er fand es seltsam, dass er fast in dem Moment einen neuen Anfall bekam, in dem er die Firma übernahm.
Sein Vater hätte ihm gesagt, das sei ein Zeichen von Schwäche. Doch Leo hielt es eher für ein äußeres Anzeichen seines Schuldbewusstseins. Er gab sich die Schuld, seinen Bruder, ohne es zu wollen, um die Rolle gebracht zu haben, die Wilhelm immer spielen wollte.
Aber wieso trat er dann nicht einfach zurück und ließ Wilhelm seinen Platz einnehmen? Leo verzog das Gesicht. Wilhelm wusste so gut wie er, dass das nicht möglich war. Das Testament ihres Vaters traf in dieser Hinsicht ganz genaue Vorgaben. Als sie Leo vorgelesen worden waren, hatte es ihn am meisten verblüfft, dass sein Vater in erster Linie nicht verfügt hatte, dass Leo die Firma übernahm, sondern auf jeden Fall sichergehen wollte, dass Wilhelm die Leitung nicht bekam.
Als er am Telefon die vertraute Stimme der Haushälterin seiner Großmutter erkannte, war er nicht sonderlich besorgt. Doch beim verängstigten Klang ihres Flüsterns verkrampfte sein Magen sich, und er umklammerte den Hörer.
Seine Großmutter war jetzt zweiundneunzig, sie hatte ihren Mann, ihre Schwestern und sogar ihre Tochter überlebt. Jetzt schien es, dass auch sie am Ende ihres langen Lebens angelangt war.
Die Krankenschwester hatte darum gebeten, dass den Enkeln der Baronin mitgeteilt werde, dass die alte Dame im Sterben liege. Die Stimme der Haushälterin war tränenerstickt. Leo versprach, so schnell wie möglich zu kommen. „Ich fliege sofort los, Helga.“
Sobald er aufgelegt hatte, rief er in Wilhelms Büro an. Doch dort wurde ihm nur mitgeteilt, dass sein Bruder das Büro verlassen habe, ohne zu sagen, wohin er gehe.
Leo presste die Lippen zusammen. Das hieß, dass Wilhelm seine neueste Flamme besuchte. Wie der Vater, so der Sohn, und Wilhelm legte wie sein Vater keinerlei Wert darauf, den Treueschwur seiner Ehe zu halten. Wenigstens misshandelte Wilhelm seine Frau Anna nicht körperlich. Nicht, soweit Leo wusste.
Grübelnd blickte Leo aus dem Bürofenster. Vor ihm lag die vertraute Hamburger Kulisse mit den Hafenkränen und der Elbe. Wilhelm hatte nie diese enge Beziehung zu seinen Großeltern gehabt, durch die Leos traurige Kindheit so gedämpft worden war. Die Ferien auf dem Schloss hatte Wilhelm immer als eine Art Gefangenschaft aufgefasst, obwohl er gerissen genug war, den Titel seines Großvaters zu erwähnen, wenn er sich davon einen Vorteil versprach. Und Leo wusste, dass Wilhelm wie sein Vater verärgert darüber war, dass der Titel von der mütterlichen Seite stammte, die eine jahrhundertelange Tradition hatte und deren blaues Blut bis zur Zeit Karls des Großen zurückreichte.
Ihre Eltern waren ganz entfernt verwandt. Leos Großvater väterlicherseits war ein entfernter Cousin des Vaters seiner Mutter. Die Eltern hatten sich getroffen, als Heinrich von Hessler auf der Suche nach seinen Ahnen zum Schloss gekommen war.
Das war kurz nach Kriegsbeginn gewesen, und Leo war immer erstaunt darüber gewesen, dass sein Vater zu jener Zeit so frei umherreisen konnte. Doch wie bei so vielen anderen Punkten auch hatte er schnell gemerkt, dass er dieses Thema lieber nicht ansprach.
Während er seiner Sekretärin den Grund seiner Abreise erklärte, rief er Wilhelms Frau an. Anna war eine elegante, sehr zierliche Frau, die Leo insgeheim leidtat. Sie hatte als Model gearbeitet, als Wilhelm sie traf, aber ihre jugendliche Schönheit war schon vor Langem einer grauen Verzweiflung gewichen, als sie sich dem Alltag ihrer Ehe mit Wilhelm beugte.
Er hielt seinen Tonfall so sachlich wie möglich, während er ihr die Lage erklärte und sie bat, es an Wilhelm weiterzugeben, wenn er nach Hause kam.
„Du meinst, falls er nach Hause kommt?“, erwiderte sie verbittert.
Darauf wusste Leo keine Erwiderung. Er legte den Hörer auf, als seine Sekretärin hereinkam und ihm mitteilte, dass eine Privatmaschine der Firma bereitstehe, um ihn zum Schloss zu fliegen. Das Schloss wurde durch Firmengelder unterhalten, und Leo hatte immer gespürt, wie schwer es seinem Großvater fiel, auf die Großzügigkeit seines Schwiegersohns angewiesen zu sein. Sein Großvater war gestorben, als Leo fünfzehn war.
Er hielt nur kurz zu Hause an, um ein paar Sachen einzupacken, und fuhr dann zum Privatflugplatz, wo die beiden Maschinen der Firma standen.
Der Pilot wartete bereits auf ihn. Leo erwiderte die Begrüßung und folgte ihm zum Flugzeug.
Seine Großmutter war noch bei Bewusstsein, aber schon sehr geschwächt. Das hatte ihm die Haushälterin am Telefon gesagt. Woran mochte sie denken, während sie sich dem Ende ihres langen Lebens näherte? Leo fragte sich, ob sie eher an die Vergangenheit dachte oder an das, was vor ihr lag. Sie hatte so viel erlebt und gesehen. Beim Gedanken an ihren Tod verspürte er einen seelischen Schmerz, und der kleine Junge in ihm fürchtete sich davor, allein gelassen zu werden. Gleichzeitig war ihm die Unausweichlichkeit des Todes bewusst.
Aus der Luft wirkte der Neckar wie eine Spielzeuglandschaft. Der Fluss glitzerte im frühen Abendlicht, die steile Uferböschung leuchtete in unterschiedlichen Grüntönen, und die mittelalterlichen Schlösser ragten wie Stoßzähne aus dem Grün hervor.
Das Schloss der Familie war vergleichsweise klein, und die ursprüngliche mittelalterliche Bauweise wurde von der jüngeren Fassade aus dem siebzehnten Jahrhundert verdeckt. Leo konnte es jetzt vor sich sehen, während er mit dem Taxi vom Flugplatz kam. Die Familienflagge mit dem Wappen, das der Familie von Karl dem Großen verliehen worden war, wehte noch nicht auf Halbmast, doch seltsamerweise wurde sie von keinem Windhauch bewegt.
Helga erwartete ihn bereits. Sie arbeitete schon für die Familie, so weit Leo zurückdenken konnte. Ihr Mann kümmerte sich um Reparaturen am Schloss und hatte viele Jahre als Chauffeur von Leos Großmutter gearbeitet. Er wusste, wie sehr die beiden seine Großmutter mochten. Es gab Menschen, die sie nicht gut kannten und sie für herrisch und verschlossen hielten, aber Leo kannte die Wärme, die hinter ihrem förmlichen Verhalten lag.
„Meine Großmutter“, setzte er an, und sein Herz stand beim Anblick von Helgas Tränen still.
„Sie lebt noch“, sagte Helga. „Aber die Schwester sagt, dass es nicht mehr lange dauern kann.“
Wortlos tätschelte Leo ihre Hand, und seine Augen brauchten einen Moment, um sich an das Dämmerlicht in der großen Eingangshalle zu gewöhnen. Dies war ursprünglich der Festsaal des mittelalterlichen Schlosses gewesen, und Leo meinte immer noch die früheren Besitzer hören zu können, auch wenn seine Vorfahren den Saal im achtzehnten Jahrhundert mit Holz verkleidet hatten. Ausgebleichte Teppiche, die denen ähnelten, die von den Kreuzzügen mitgebracht worden waren, lagen hier und dort und setzten gedämpfte Farbkleckse auf den grauen Steinboden. Eine Steintreppe führte nach oben, und die groben Stufen bekamen nur durch das reich geschnitzte Holzgeländer einen etwas freundlicheren Charakter.
Im zweiten Geschoss gab es ein hohes Fenster, in dem mit farbigem Glas das Familienwappen dargestellt war. Das Fenster wies auf den Neckar. Im Zweiten Weltkrieg hatte der Kommandeur, der im Schloss stationiert war, darauf bestanden, dass das Fenster herausgeschlagen würde, damit man den Fluss und den Himmel besser beobachten könne.
Es hieß, Leos Großmutter habe gesagt, der Kommandeur könne gern einen Mann abstellen, die farbigen Glasteile Stück für Stück herauszunehmen und durch farbloses Glas zu ersetzen. Sie würde jedoch nicht zulassen, dass das Erbe ihrer Familie einfach zerstört werde, um einen Blick auf den Neckar zu bekommen, den man genauso gut aus einem der vielen anderen Fenster im Obergeschoss habe.
Diese Geschichte wusste Leo von Helga, und er war von der Durchsetzungskraft seiner Großmutter viel zu sehr überzeugt, um sie anzuzweifeln.
Jetzt schien die Abendsonne durch das Farbfenster und ließ das Bild eines kleinen Kindes golden aufstrahlen. Angeblich hatte ein Baron im Mittelalter dieses Kind seinem Feind als Geisel geschickt, um damit die Sicherheit seines eigenen Oberherrn zu beteuern. Doch man hatte ihm nur die Leiche seines kleinen Sohns zurückgeschickt.
Ja, von dem Schloss war schon einiges an Grausamkeit ausgegangen, und die Bewohner hatten auch schreckliche Dinge erlebt. Leo konnte sich noch an sein Entsetzen erinnern, als Wilhelm ihm die Zelle gezeigt hatte, in der die Familie früher ihre Gefangenen und Geiseln eingesperrt hatte.
Trotz all der Gewalt der Vergangenheit wirkte das Schloss jetzt ruhig, als habe die Zeit die Schrecken der Geschehnisse getilgt. Leo kam es vor, als habe das Schloss schon so viel Grausames und so viele menschliche Schwächen erlebt, als habe es all diese Schwächen und menschliche Makel ertragen, sodass es jetzt aus seiner Erfahrung jeden, der es betrat, mit ruhiger Ernsthaftigkeit empfing.
Schon immer hatte Leo die Stimmung in dem Schloss stark beeindruckt, während sein Vater und Wilhelm, obwohl sie gern mit dem Schloss prahlten, in gewisser Weise dieses Gebäude ablehnten. Vielleicht fürchteten sie, im Vergleich zu dieser Geschichte klein und unbedeutend zu wirken.
Er ging allein die Treppe hinauf. All die Gänge und langen Flure waren ihm viel zu vertraut, um darüber nachzudenken, wo er hinging.
Das Zimmer seiner Großmutter befand sich im Westflügel. Dorthin war sie als junge Braut gekommen. Ihre einzige Tochter war hier geboren, und ihr Ehemann war in diesem großen Bett gestorben, in dem schon so viele Generationen seiner Familie in das Leben getreten waren und es wieder verlassen hatten.
Er klopfte kurz an, bevor er das Zimmer betrat. Die Krankenschwester saß neben dem Bett, doch sie stand auf, als Leo den Raum betrat. Sie war eine große Frau Ende dreißig und bewegte sich mit dem scheinbar mühelosen Gleiten, das sich viele Krankenschwestern aneigneten. Obwohl sie keine Uniform trug, konnte Leo fast das Knistern des gestärkten weißen Kittels hören, als sie sich bewegte.
Er blickte zum Bett. Seine Großmutter lag reglos mit geschlossenen Augen da. Sein Herz klopfte wild vor Angst und Schmerz, aber die Schwester beruhigte ihn rasch und sagte leise: „Sie lebt noch, obwohl ich nicht denke, dass es noch lange dauert. Sie wollen sicher mit ihr allein sein.“
Ihr Verhalten war förmlich und distanziert, und obwohl sie sehr kühl wirkte, wusste Leo, dass sie seiner Großmutter treu ergeben war. Sie war die letzten fünf Jahre bei ihr gewesen, und Leo hatte sich vorgenommen, ihr diese Treue zu vergelten, falls seine Großmutter nicht dafür gesorgt hatte.
Es gab kein Geld in der Familie seiner Mutter, und diese Tatsache hatte sein Vater den Schwiegereltern immer wieder höhnisch vorgehalten. Als Leo einmal dumm genug gewesen war und seine Großeltern verteidigt hatte, indem er feststellte, dass Geld nicht alles sei, hatte sein Vater ihn so fest geschlagen, dass er zu Boden gestürzt und wochenlang Prellungen gehabt hatte.
Er setzte sich auf den Stuhl, den die Schwester für ihn frei gemacht hatte. Unter der Decke war der eingefallene Körper seiner Großmutter kaum zu erkennen. Die Hände lagen auf der Decke, und die Haut war voller Runzeln und Altersflecke. Das Gold ihrer Ringe war verblasst, und unwillkürlich nahm Leo ihre Hand vorsichtig in seine.
„Leo.“
Beim Klang ihrer Stimme fuhr er erschreckt zusammen. Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an.
„Dann ist meine Zeit also endlich gekommen, stimmt’s?“
Sie musste seinen Kummer erkannt haben, denn sie lächelte wieder. „Nein, das ist schon richtig so. Ich bin bereit zu gehen. Schon seit Langem. Ist Wilhelm bei dir?“
Er konnte hören, wie sehr sie das Sprechen anstrengte, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass sie geistig so wach sein würde. Sie war noch genau die Frau, die er seit seiner Kindheit kannte. Er hatte Angst gehabt herzukommen, weil er nicht gewusst hatte, in welchem Zustand er sie vorfinden würde. Doch sie war so wie immer.
„Nein. Er … Es gab da eine Sitzung. Ich habe eine Nachricht hinterlassen. Er wird bald kommen.“
„Du meinst, er ist bei einer seiner Frauen.“ Leo erkannte, wie ihr Blick sich verdüsterte. „Wer kann schon sagen, wieso die Dinge so kommen, wie sie kommen? Dass du so sehr Wilhelms Vater ähnelst und er so sehr deinem.“
Leo blickte sie fassungslos an. Sein Herzschlag raste, und er traute seinen Ohren nicht. Er fühlte sich mit einmal kalt und schwer vor Angst und Sorge.
Seine Großmutter hatte die Augen wieder geschlossen. Er beugte sich zu ihr.
„Großmutter.“
Sie blickte ihn wieder an.
„Erzähl es mir“, drängte er sie. „Was meinst du damit? Wilhelm und ich haben doch denselben Vater.“
„Du denkst also, ich sei eine alte Frau, die nicht mehr weiß, was sie redet. Oh, Leo, wenn das nur stimmen würde. Vielleicht hätte ich nichts erwähnen sollen, aber es belastet seit dem Tod deiner Mutter mein Gewissen. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass sie deinen Vater heiratete. Es wäre leichter gewesen, die Schande zu ertragen, ein uneheliches Kind zu haben, als die Qualen, die sie während ihrer Ehe erdulden musste. Aber damals lagen die Dinge anders, und wir wurden von den Machthabern im Dritten Reich bereits beobachtet. Dein Großvater hatte seine politische Meinung zu offen geäußert. Nur unser Name schützte uns, aber wie lange noch? Dein Vater …“ Sie schloss die Augen, als müsse sie sich beruhigen. Dann sprach sie leise weiter. „Er hatte bereits um Elisabeths Hand angehalten, aber sie … Es gab da noch jemanden … Einen jungen Mann, den sie an der Universität getroffen hatte. Sie waren beide sehr verliebt.“
Sie seufzte. „Er war sehr freundlich, und heutzutage würde man ihn einen Pazifisten nennen, aber er war kein Feigling. Er war sehr großherzig und liebte deine Mutter wie sie ihn. Heinrich hat ihn gehasst, und ich habe mich oft gefragt, ob es Heinrich war, der ihn an die SS verraten hat, aber vielleicht ist es besser, wenn wir einige Dinge nie erfahren. Er wurde gefangen genommen und hingerichtet. Deine Mutter hat Heinrich angefleht, ihm zu helfen, aber es nützte nichts.“
Seine Großmutter suchte Leos Blick. „Damals wusste ich nicht, dass die beiden ein Liebespaar waren. Deine Mutter war noch sehr jung, kaum achtzehn Jahre. Als sie drei Wochen nach seinem Tod verkündete, sie werde deinen Vater heiraten, konnte ich es nicht glauben. Da gestand sie mir, dass sie von ihrem verstorbenen Liebhaber schwanger sei. Sie sagte mir, sie müsse Heinrich heiraten, weil sie einen Vater für ihr Kind brauche. Sie konnte die Schande nicht ertragen, und außer mir wusste niemand, dass sie schwanger war. Sie sagte, sie hätte sich Heinrich bereits hingegeben, und da erkannte ich, dass sie alles darum gab, das Kind ihres verstorbenen Liebhabers zu schützen.“
Wieder atmete sie tief durch. „Sie haben sehr bald und in aller Stille geheiratet, und Wilhelm kam hier im Schloss zur Welt. Zum Glück war es eine leichte Geburt, sodass wir behaupten konnten, Wilhelm sei zu früh gekommen. Sozusagen ein Kind der Hochzeitsnacht. Dein Vater hat nie bezweifelt, dass Wilhelm sein Sohn war, und ich bin sicher, dass deine Mutter dafür gesorgt hat, dass er glaubte, er sei ihr erster und einziger Liebhaber. Kurz nach der Geburt zogen sie in die Schweiz.“
Ihre Stimme wurde leiser, und als Leo sie ansah, schloss sie die Augen. Es fiel ihm schwer, sie weiter zu bedrängen und auszufragen, während sie offenbar dem Tod so nahe war, aber er musste etwas noch erfahren, und dieser Verdacht belastete ihn so schwer wie der Mangel an väterlicher Liebe.
Er beugte sich über das Bett und strich seiner Großmutter über die zerbrechliche alte Hand.
„Großmutter … Mein Vater … Hat er es schließlich doch erfahren?“
Zuerst dachte er, sie könne ihn nicht mehr hören und verliere schon das Bewusstsein, doch dann wandte sie ihm das Gesicht zu und sah ihn an.
„Ja“, sagte sie ihm. „Deine Mutter. Vor ihrem Tod … Er war so grausam zu ihr gewesen, Leo. So boshaft. Viele Male habe ich sie bitten wollen, ihn zu verlassen, aber ich wusste, dass sie das nicht tun würde. Sie hatte Angst, weißt du … Um dich. Sie hatte Angst, dass dein Vater sich das Sorgerecht für dich holen würde. Unseretwegen hatte sie auch Angst vor der Rache deines Vaters. Deshalb ist sie geblieben. Aber letztendlich hat sie ihm all das Unglück, das sie durch ihn erfahren hat, selbst heimgezahlt.“
Leos Großmutter seufzte auf. „Sie wusste, dass sie sterben musste, weil sie darauf bestanden hatte, von den Ärzten die Wahrheit zu erfahren. Sie hat mir gesagt, was sie vorhatte und dass sie das Geheimnis von Wilhelms wirklichem Vater nicht mit ins Grab nehmen könne.“
Besorgt beobachtete Leo, wie seine Großmutter tief durchatmete und erzitterte.
„Sie war meine Tochter, mein einziges Kind, und ich habe zugesehen, wie dein Vater sie missbraucht und zugrunde gerichtet hat. Ich wusste, dass sie ihm nicht aus einem Schuldgefühl heraus die Wahrheit sagen wollte, sondern aus Wut und Hass. Er kam anschließend zu mir …“
Einen Moment lang schloss sie die Augen, und Leo konnte sehen, dass ihr Tränen in den Augen standen.
„Er hat mich gefragt, ob es stimmt. Ich habe Ja gesagt. Ich glaube, wenn es sein Stolz nicht verboten hätte, hätte er Wilhelm damals sofort öffentlich enterbt. Ich sagte zu ihm, dass Wilhelm sein Sohn sei, den er nach seinem Bild erzogen habe. Doch er sagte: ‚Er ist nicht mein Sohn‘. Und ich werde seinen Tonfall und seinen Blick nie vergessen. ‚Ich habe keinen Sohn, keinen richtigen Sohn. Dafür hat deine schlampige Tochter gesorgt.‘“
Traurig blickte sie Leo an. „‚Leo ist dein Kind‘, habe ich ihm gesagt. Er sagte nur: „Möglich, dass ich ihn gezeugt habe, aber mehr hat er nicht von mir. Deine Tochter hat ganze Arbeit geleistet. Sie hat mich betrogen und belogen. Hoffentlich bezahlt sie jetzt dafür.“
Leo sah, dass seine Großmutter erschaudernd die Augen schloss. „Wenn jemand für seine Grausamkeiten nach seinem Tod bezahlen muss, dann mein Vater“, sagte er schmerzerfüllt. Seine Augen brannten, doch er konnte nicht weinen.
Schlagartig fühlte er sich wieder als Kind und wünschte sich, er könnte dieser Frau, die ihm immer so nahegestanden hatte, von den Entdeckungen erzählen, die er über seinen Vater gemacht hatte. Doch es gelang ihm, das Kind in sich zurückzudrängen und wieder die Kontrolle über sich zu gewinnen. Wie könnte er ihr noch zusätzliche Qualen bereiten, indem er ihr noch mehr schreckliche Dinge erzählte?
„Deshalb also hat er mir die Leitung über Hessler-Chemie übertragen“, sagte er stattdessen.
„Ja, weil du sein Sohn bist.“
Sein Sohn. „Mein Sohn.“ Jetzt verstand Leo die letzten verbitterten Worte seines Vaters.
Es gab noch eine Frage, die er stellen musste. „Wilhelm. Kennt er die Wahrheit?“
Seine Großmutter schüttelte den Kopf.
Die Baronin starb um zwei Uhr nachts. Leo war bei ihr und hielt ihre Hand, als sie einen letzten flachen Atemzug machte und dann in die Ewigkeit hinüberglitt. Er wusste sofort, dass sie tot war. Dennoch saß er einige Zeit da und hielt weiterhin ihre Hand umschlossen.
Wilhelm kam am Morgen an. Anscheinend hatte er sich beim Rasieren geschnitten, und er war gereizter denn je. Er riecht noch nach Sex, stellte Leo angewidert fest, als er zuhörte, wie sein Bruder sich beschwerte, wie ungelegen ihm der Tod ihrer Großmutter käme.
Selbst jetzt, wo er die Wahrheit kannte, fiel es Leo schwer, sich vorzustellen, dass Wilhelm nicht Heinrichs Sohn war. Seine Haltung, seine Bewegungen, seine Art, das alles ähnelte so sehr Heinrich. Aber schließlich war er auch von Geburt an darauf getrimmt worden, seinem Vater nachzueifern. Seine Mutter hatte wahrscheinlich gar nicht gemerkt, was geschah, weil sie nur den einen Gedanken verfolgte, den Sohn ihres Geliebten vor Heinrichs Wut zu schützen, falls der jemals die Wahrheit erfahren würde. Wie glücklich musste sie über die Erkenntnis gewesen sein, dass Heinrich Wilhelm vollkommen als seinen Sohn betrachtete. Wann mochte sie gemerkt haben, was er mit dem Kind, mit ihrem Kind, machte?
Leo wusste noch, wie sehr sie darauf geachtet hatte, ihn immer in ihrer Nähe zu behalten. Hatte sie das getan, weil sie gesehen hatte, was Heinrich aus Wilhelm gemacht hatte?
Rasch wandte er sich von einem Bruder ab. Er empfand nur Mitleid und Mitgefühl für ihn. Was wäre aus ihm geworden, wenn Heinrich ihn nicht so geprägt hätte? Wenn Heinrich nicht diese Überheblichkeit, diese Gier und Selbstbezogenheit in ihm geweckt hätte?
Wie sollte er ihm die Wahrheit sagen? Leo wusste, dass er das nicht konnte. Er würde Wilhelm damit vollkommen zerstören.
„Sie ist also von uns gegangen, ja?“, verlangte Wilhelm in fast wütendem Tonfall zu wissen.
„Ja“, bestätigte Leo zögernd. „Sie ist fort.“
Später, als er Zeit zum Nachdenken hatte, wunderte Leo sich, wie ein Mann ein Kind ablehnen konnte, das er so sehr zu seinem Ebenbild gemacht hatte wie Heinrich Wilhelm. Liebte man ein Kind nicht um seiner selbst willen, sondern nur weil es das eigene war?
Aber schließlich hatte ihr Vater im Grunde keinen von ihnen beiden geliebt. Leo bezweifelte, dass er überhaupt je einen Menschen geliebt hatte, auch sich selbst nicht. Und Leo wusste, wie wichtig es war, sich selbst zu lieben und sich die eigenen Schwächen einzugestehen. Wie sollte man sonst einen anderen Menschen mit all seinen Makeln und Schwächen annehmen können?
Als jungen Mann hatte ihn der Verlauf von Wilhelms Ehe sehr verstört. Wie die seiner Eltern war auch Wilhelms Ehe von Untreue und Unfrieden geprägt. Leo hatte daraufhin überlegt, ob es nicht vielleicht im Erbgut liege, das er lieber nicht an weitere Generationen weitergeben sollte. Über dieser Frage hatte er lange gegrübelt und sich gefragt, ob er selbst vielleicht auch das Verhalten seines Vaters und seines Bruders nachahmen würde.
In Heidelberg hatte er eine Mitstudentin kennengelernt, die er von ganzem Herzen liebte. Er hatte sich danach gesehnt, ihr das zu sagen, es aber aus Angst sein gelassen. Sie hatte ihn beschuldigt, sie nur zu benutzen und sich ihr nicht ganz hinzugeben.
Kurz vor seinem Tod hatte sein Vater ihn gedrängt zu heiraten und gesagt, es sei seine Pflicht.
Weil er erkannt hatte, dass Wilhelm und damit auch Wilhelms Söhne nicht von ihm abstammten.
Die Baronin wurde mit der angemessenen Würde und in feierlich-ernstem Rahmen vier Tage später beerdigt.
Das Schloss wirkte ohne sie leer. Es ist sicher nicht mehr zeitgemäß, dass eine einzelne Familie so ein Gebäude besitzt, überlegte Leo. Es war für einen Lehnsherrn mitsamt Gefolge und Bediensteten gebaut worden und nicht für eine kleine moderne Familie.
Es erstaunte ihn nicht, dass das gesamte Grundstück ihm vermacht worden war. Wilhelm war darüber zum Glück auch nicht überrascht.
„Viel Spaß damit“, hatte er Leo gesagt, bevor er zurück nach Hamburg flog.
Leo blieb noch ein paar Tage. Es gab eigentlich nichts für ihn zu tun. Die Papiere seiner Großmutter waren tadellos geordnet, und sie hatte ihren Tod mit derselben Sorgfalt vorbereitet, die ihr ganzes Leben geprägt hatte. Adel verpflichtet.
Er wusste, dass er seine Rückkehr nach Hamburg aufschob. In zwei Tagen sollte er an einer Konferenz in Edinburgh teilnehmen, und er hatte beschlossen, die Reise mit einem Abstecher nach Cheshire zu verbinden, um Alan Careys Tochter zu besuchen. Er wusste, dass er sie sehen und alles tun musste, um so viel wie möglich über die Vergangenheit seines Vaters herauszufinden. Sonst würde er sich immer vorwerfen, dass er der Wahrheit ausgewichen sei.
Seine Nachforschungen in Deutschland hatten nichts ergeben, das er nicht schon wusste. Wenn sein Vater jemals etwas mit der SS zu tun gehabt hatte, dann hatte er mit aller Sorgfalt dafür gesorgt, dass das außer ihm niemals jemand erfuhr. Selbst seine vorsichtigen und sehr umständlichen Nachforschungen in Israel hatten nichts über das Tun oder die damalige Stellung seines Vaters gebracht.
Aber er konnte diese Zeitungsausschnitte nicht einfach vergessen. Es widerstrebte ihm, zu tief in Alan Careys Vergangenheit herumzuwühlen. Außerdem konnte jemand in Leos Position nur schlecht eingehende Nachforschungen betreiben, ohne dass es anderen auffiel. Deshalb musste er Davina James persönlich treffen.
Über Davina hatte er nicht mehr als über ihren Vater herausbekommen. Sie war bekannt und beliebt. Eine ruhige, stille Frau, die offenbar jede Untreue ihres Mannes ertragen und sich aufopfernd um ihren kranken Vater gekümmert hatte.
Jetzt, so schien es, hatte sie eine andere Last auf sich genommen. Sie führte die Firma, die kurz vor dem Bankrott stand.
Anscheinend war sie es gewohnt, Lasten zu tragen, doch gab das Leo das Recht, ihr noch eine zusätzliche aufzuhalsen? Aber wenn er andererseits nicht einmal den Versuch machte, die Wahrheit zu ergründen …
Doch wie viele Beweise brauchte er noch? Wusste er nicht im Grunde schon ganz genau, was sein Vater getan hatte? Er konnte die Vergangenheit nicht ändern und kein Unrecht wiedergutmachen. Aber Leo wusste gleichzeitig, dass er keine Ruhe finden würde, wenn er Davina James nicht traf.
Wenn Alan Carey sich jemandem anvertraut hatte, dann sicher eher seinem Schwiegersohn als seiner eigenen Tochter. Soviel hatte Leo herausgefunden. Die beiden Männer waren sich ähnlich gewesen, und jetzt waren sie beide tot, genau wie sein Vater. Zum Glück.
In Hamburg fuhr er direkt vom Flugplatz zu sich nach Hause. Er hatte sich vor zehn Jahren in der Nähe der Alster ein kleines Haus gekauft, aber für ihn war es nie ein richtiges Zuhause gewesen.
Die Frau, die täglich zum Saubermachen kam, hatte während seiner Abwesenheit gelüftet und Staub gewischt. Auf dem Tisch im Flur standen frische Blumen, und eigentlich hätte das Haus durch die eierschalenfarbenen Wände freundlich und warm wirken müssen.
Stimmt etwas mit dem Haus nicht oder mit mir? fragte er sich und überlegte, wie lange es her war, dass er mitten in der Nacht aufgewacht und in das Gesicht einer Frau neben sich geblickt hatte. Wann hatte er sich zum letzten Mal so sehr nach der Wärme einer Frau gesehnt, dass ihn allein das Gefühl ihrer nackten Haut schon aufstöhnen ließ?
Die letzte Affäre hatte er leise und unauffällig kurz nach dem Tod seiner Mutter beendet. Elle und er waren über zwei Jahre zusammen gewesen. Sie war etwas älter als er und eine elegante blonde Frau, die er auf einer Dinnerparty getroffen hatte. Ihr Ehemann, ein Regierungsbeamter, der zwanzig Jahre älter als sie war, beachtete offenbar ihre Affären nicht, solange sie sich dabei diskret und taktvoll verhielt.
Sie hatte den ersten Schritt gemacht und Leo unter verschiedenen Vorwänden angerufen. Zwischen den Zeilen hatte sie ihm ihre Absicht zu verstehen gegeben, ihm aber gleichzeitig den Freiraum gelassen, ihre sexuelle Einladung zu überhören, falls er nicht wollte. Fast hätte er das auch getan, doch sie war sowohl intelligent als auch attraktiv, und sein Verlangen überwog seine Vorsicht.
Es kam für sie überhaupt nicht infrage, ihre Ehe aufzugeben oder ihren Mann zu verlassen. Das sagte sie Leo ganz deutlich. Hans passe als Ehemann zu ihr.
„Egal, wie wunderbar und aufregend der Sex zwischen uns ist, Leo. Eines Tages wird diese Erregung nicht mehr da sein. Und die Ehe hat nichts mit sexueller Lust zu tun, nicht einmal mit Liebe. Für mich jedenfalls nicht. Hans versteht mich, und unsere Ehe funktioniert. Ich werde dafür sorgen, dass das auch in Zukunft so bleibt, aber in der Zwischenzeit gibt es keinen Grund, weswegen du und ich nicht Spaß miteinander haben sollten. Vorausgesetzt, wir werden nicht entdeckt.“
Und sie hatten sich nicht entdecken lassen. Bis Elle kurz nach dem Tod seiner Mutter ruhig und beiläufig erwähnte, dass es an der Zeit für eine Trennung sei. „Unsere Beziehung ist nur noch Routine, so als kämen wir ins gesetzte Alter“, hatte sie ihm gesagt und die Nase verzogen. „Es ist Zeit für uns beide, neue Partner zu suchen.“
Er hatte sie vermisst, aber nicht so sehr, wie er erwartet hatte.
Und als er sie ein paar Monate später wiedersah und sie von einem Mann begleitet wurde, den Leo als seinen Nachfolger ansah, da empfand er keine Eifersucht, sondern nur ein bisschen Neid auf ihre Fähigkeit, so oberflächlich durchs Leben zu gehen.
Nüchtern gestand er sich ein, dass ihm Sex allein nicht reichte. Er empfand es als erotischer und erregender, gebraucht und geliebt und nicht nur begehrt zu werden.
War das nicht eigentlich die Frauenrolle? Auf jeden Fall hatte es ihm die Augen geöffnet, und er hatte sich mit neuer Klarheit gesehen. Er als Mann sehnte sich nach mehr seelischem Tiefgang in der Beziehung, während Elle, die Frau, lediglich ihren sexuellen Appetit stillen wollte.
Er ging die Treppe hinauf, zog sich im Bad aus und stellte sich unter die Dusche.
Es erschütterte ihn immer noch, dass Wilhelm nicht Heinrichs Sohn war. Sie waren einander so ähnlich, viel ähnlicher als er und Heinrich, und dennoch war er Heinrichs Sohn.
Vielleicht lag er mit seiner Sorge völlig falsch, dass er etwas von den Anlagen seines Vaters geerbt haben könnte. Er fürchtete, dass er diese Grausamkeit und Bosheit, die in ihm möglicherweise nur schlummerten, ohne sich zu zeigen, an seine Kinder weitervererben könne.
Nachdem er gesehen hatte, was ein Mensch mit der Persönlichkeit seines Vaters anrichten konnte, war er überzeugt davon, dass es genauso schrecklich war, seinem Kind schlechte Charakterzüge zu vererben, wie ein Kind zu zeugen, von dem man wusste, dass es eine körperliche Behinderung erben würde.
Heutzutage konnten Paare mit Erbschäden sich untersuchen und beraten lassen, aber würde es jemals möglich sein, Charakterfehler genauso zu behandeln? Oder wäre das eine zu große Einmischung des Menschen in die Natur?
Früher hätte er das nicht gedacht, heute hingegen, wo er sah, dass Wilhelm Heinrichs Art schon dadurch übernommen hatte, indem er mit ihm zusammenlebte, fragte er sich, ob er nicht zu hart urteilte. Schließlich war Bosheit anscheinend bei Wilhelm nicht vererbt worden. Vielleicht sollte ich mich nicht so sehr von meiner Angst leiten lassen, überlegte Leo.
Er drehte die Dusche ab und griff nach einem Handtuch. Sein Körper war sehr muskulös, seine Brust dicht behaart. Er trieb Sport, wenn er die Zeit dazu fand. Dann schwamm er in dem privaten Fitnessklub, in dem er Mitglied war. Im Winter lief er Ski und spielte bei Gelegenheit Squash, obwohl er sich allmählich zu alt für diesen Sport fand.
Elle hatte ihn einmal damit aufgezogen, dass er den Körper eines griechischen Gottes und das Gesicht einer altrömischen Münze habe. Über seine Verlegenheit hatte sie gelacht und war mit den Fingernägeln aufreizend an der Innenseite seiner Schenkel entlanggefahren. Die feinen Härchen richteten sich sofort auf, weil Leo angespannt versuchte, nicht auf diese erotische Berührung zu reagieren. Sie lachte noch einmal und blickte an seinem Körper hinab. Sie hatten bereits miteinander geschlafen, aber diese absichtlich quälende Liebkosung machte es Leo schwer, sein Verlangen zu verbergen.
Wenn Elle sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann wollte sie es auch durchsetzen, und so war Leo nicht überrascht, als sie den Kopf beugte und ihn mit den Lippen umschloss. Voller Sinnlichkeit reizte sie ihn, bis er meinte, vor Leidenschaft zu bersten.
Sie hatte es genossen, ihre Beziehung zu steuern. Manchmal hatte Leo sich gefragt, ob sie ihn absichtlich dahin bringen wollte, dass er sie körperlich überwältigte. Doch er hatte sich versprochen, das niemals einer Frau anzutun. Das konnte nur zu Gewalt und Missbrauch führen, wie bei seinem Bruder und seinem Vater. Leo wollte diesem Beispiel niemals folgen. Wenn es ihn auch manchmal drängte, Ellens verführerischen Foltern ein Ende zu bereiten, indem er sie auf den Rücken drückte und seiner Lust rasch und heftig Erfüllung brachte, so wusste er doch, dass der Befriedigung sehr schnell Reue und Selbsthass folgen würden.
Elle war eine kämpferische Geliebte, die seiner Haut oft blaue Flecke und Kratzer beibrachte. Für Elle gehörte Gewalt ganz eindeutig zum Sex dazu, und vielleicht hatte sie damit auch recht, aber wenn es so war, dann hatte Leo sich nie gestattet, diese Erfahrung zu machen.
Stattdessen hatte er gelernt, Elle mit ihrem eigenen Verlangen auszutricksen. Mit kundigen Fingern reizte er sie, bis sie sich lustvoll an ihn klammerte und ihn anflehte, in sie einzudringen. Oft gingen ihre Worte dann in einem Stöhnen und Keuchen unter. Als sie das erste Mal während des Höhepunkts aufschrie, hatte Leo gedacht, er müsse ihr wehgetan haben.
Er verzog das Gesicht, während er sich jetzt trocken rieb. Zweifellos hatte sie ihn für unglaublich unerfahren gehalten.
Na, ihre Beziehung war jetzt zu Ende, und seit sie sich getrennt hatten, hatte er keine Frau getroffen, die er wirklich begehrte. Er war eher ein sinnlicher als ein sexueller Mann. Das wusste er. Der Liebesakt an sich reichte ihm nicht als Ansporn. Wenn er an Sex dachte, dann dachte er daran, eine Frau zu berühren, ihre Haut zu spüren, sie zu schmecken und dieses leichte Zittern zu fühlen, das ihm zeigte, dass die Frau seine Liebkosung erregend fand.
Er wollte fühlen, wie die Frau sich näher an ihn schmiegte, wenn er sie küsste, und er wollte ihr Zittern spüren, wenn sie ihm genug vertraute, um ihm ihr Verlangen zu zeigen. Der Duft ihrer Haut und ihres Haars, die Wärme ihres Körpers, diese Weichheit, ihr Lächeln, ihre Art zu reden und ihn anzusehen, das alles war für Leo genauso erregend wie der Gedanke, sich in ihr zu bewegen und ihre intimste Stelle zu erkunden.
Zwei Tage später, als Leo für den Flug nach Großbritannien eincheckte, war er bedrückt von dem Gedanken an das, was vor ihm lag. Er schloss die Augen und wollte nicht darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn er tatsächlich bewies, dass sein Vater die chemischen Gleichungen nicht so unschuldig erlangt hatte, wie er immer vorgegeben hatte.
Die Zeiten, die Ansichten und auch die Moral veränderten sich. Die Generation von damals hatte den Erfolg seines Vaters beklatscht und war von demselben Ehrgeiz besessen gewesen. Heutzutage waren die Menschen längst nicht mehr so von Besitz und Geld fasziniert. Sie hinterfragten den Sinn des Geldverdienens und des wirtschaftlichen Wachstums. Chemiekonzerne, die einst als die Retter der Menschheit gefeiert worden waren, wurden nun zunehmend mit Misstrauen betrachtet. Ihnen wurde vorgeworfen, der Profit bedeute ihnen mehr als die Gesundheit der Menschen, sie würden immer weiter experimentieren und die Menschen ausnutzen.
Es gab keinen Konzern auf der Welt, nicht einmal einen so mächtigen wie Hessler-Chemie, der nicht von denselben Menschen zerstört werden konnte, für die er gegründet worden war. Wenn die Menschen die Medikamente nicht mehr kauften, konnte vieles geschehen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte der Pelzhandel jedem ins Gesicht gelacht, der behauptet hätte, ein paar Tierschützer könnten ihn vernichten. Jetzt war dieser Geschäftszweig genauso vom Aussterben bedroht wie die Tierarten, die für die Pelze hatten sterben müssen.
Man brauchte sich nur die Meinung in der Bevölkerung über das Rauchen anzuhören. Und jetzt geriet auch der Alkohol immer mehr in die Schusslinie der öffentlichen Meinung. Es war nie klug anzunehmen, man sei in einer unangreifbaren Position. Und was Leo auch immer über die Methoden seines Vaters gedacht hatte, mit denen er den Konzern zu seiner Größe und Bedeutung geführt hatte, es war Leos Pflicht und Verantwortung, für das Überleben des Konzerns zu sorgen und damit für die Arbeitsplätze all derer, die für Hessler-Chemie arbeiteten.