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Ich befand mich nur wenige Sekunden hinter ihm. Aber Dämonen können wahnsinnig flink sein, und als ich auf die Straße sprang, war er bereits verschwunden, untergetaucht in einem Meer aus Eltern und Großeltern, die alle über den Parkplatz auf den Eingang der Turnhalle zuströmten. Ich mischte mich unter die Leute und rannte los, wobei ich im Vorbeilaufen die Gesichter betrachtete, Sinclair jedoch nirgendwo entdecken konnte.

Verdammt!

Ich hastete in Richtung Schule. Ein Teil von mir hoffte, dass Sinclair tatsächlich hineingegangen war, während ein anderer sich wünschte, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte. Ich wollte die Höllenbrut das Fürchten lehren – das stimmte. Aber gleichzeitig wollte ich ihn auch weit weg von meiner Tochter wissen.

Ich drängelte mich durch eine Gruppe älterer Leute und wurde erst langsamer, als ich feststellte, dass es sich um die Gruppe meiner Senioren handelte. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, stehen zu bleiben, doch dann schnappte ich einige Gesprächsfetzen auf – »Ich frage mich ja, welche Vitamine der Arzt ihm gegeben hat« –, und mir wurde klar, dass sie Sinclair gesehen haben mussten. Wahrscheinlich hatten sie auch bemerkt, in welche Richtung er verschwunden war.

Ich verlangsamte also meinen Schritt. »Dieser Sinclair – wissen Sie vielleicht, wohin er ist?«

Mr. Morrison wies auf eine Eingangstür ganz in unserer Nähe. »Da entlang – «

»Kate!« Plötzlich tauchte Marissa neben mir auf und hielt mich wie ein Schraubstock am Ellenbogen fest. »Wo warst du? Es ist fast so, als müssten wir ein Rudel junger Hunde zusammenhalten. Kelly und ich brauchen dich hier.«

»Ich kann nicht.« Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen, den Blick nicht auf Marissa, sondern auf die Metalltür gerichtet. »Ich muss – «

» – deiner Pflicht nachgehen, meinst du?« Sie wies auf die Gruppe der alten Leute. »Wenn du gleich einmal damit anfangen könntest, sie in Zweiergruppen zusammenzubringen, dann könnten wir – «

Wieder trat ich von einem Fuß auf den anderen. »Gut. Sicher. Ich bin gleich wieder da. Als Erstes aber muss ich mal – «

»Kate! Was ist dein Problem?«

»Sieht so aus, als müsste sie dringend für kleine Mädchen«, meinte Mrs. Able.

»Genau!« Ich klammerte mich wie eine Ertrinkende an diese Ausrede. Gleichzeitig riss ich mich von Marissa los und rannte in Richtung Schule. Ihr frustriertes Stöhnen hallte in meinen Ohren wider. Irgendwann würde ich mich mit ihrer Wut auseinandersetzen müssen. Aber offen gesagt, würde ich mich lieber einem Kampf mit einem Dämon stellen.

Ich erreichte die Tür und riss sie auf. Im Inneren fand ich mich auf sowohl vertrautem als auch völlig unbekanntem Terrain wieder. Ich bin nie selbst auf eine Highschool gegangen, aber in den wenigen Monaten, seit Allie hier war, hatte ich mich bereits so sehr im Elternbeirat engagiert, dass ich die verlorenen Jahre meiner Jugend locker wieder aufgeholt hatte.

Die Schule war mehr oder weniger in der Form eines Christbaums angelegt. Im dreieckigen Hauptteil befanden sich die Klassenräume, und im braunen »Stamm« waren Cafeteria, Aula und Ähnliches untergebracht. Die Turnhalle bildete den Christbaumhalter. Mit anderen Worten gab es also ein großes Rechteck am unteren Ende.

Augenblicklich befand ich mich im orangefarbenen Flügel, der sich über die ganze Länge der einen Seite des Weihnachtsbaumdreiecks erstreckte. Der Dämon war nirgends zu sehen, aber auch sonst konnte ich keinen Menschen entdecken. Das war schon mal beruhigend. Mit etwas Glück befanden sich die Schüler bereits in der Turnhalle und warteten darauf, dass die Festlichkeiten des Familientags beginnen würden.

Sinclair hatte die Schule am einen Ende des Korridors betreten. Das bedeutete, dass er entweder leicht nach rechts abgebogen sein, die Doppeltür aufgemacht und den Aufenthaltsbereich zwischen dem orangefarbenen und dem blauen Korridor betreten haben musste, oder er war gleich scharf nach rechts um die Ecke und dann schnurstracks geradeaus den orangefarbenen Korridor entlanggerannt.

Da es für einen wütenden Dämon wahrscheinlicher war, dass er einfach geradeaus stürmt (Psychologie der Dämonen, Seite 101), lief ich ebenfalls in diese Richtung. Ich erreichte das Ende des Gangs, riss dort die Tür zum Aufenthaltsbereich auf und stürzte hinein.

Kein Sinclair. Verdammt! Also eilte ich durch den Raum, an dessen Wänden übergroße Landkarten der Vereinigten Staaten hingen, die aus dem Augenwinkel heraus wie blaugrüne Schlieren aussahen. Sekunden später riss ich die nächste Tür auf – und blieb abrupt stehen. Direkt vor mir stand meine Tochter. Und hinter ihr, am anderen Ende des Ganges, sah ich, wie Sinclair um die Ecke verschwand.

»Allie!«, keuchte ich verblüfft.

»Mami!« Sie warf ihre Arme um mich, drückte mich an sich und schien sich dann plötzlich daran zu erinnern, dass sie inzwischen ein Teenager geworden war. Also löste sie sich hastig von mir und steckte ein wenig ungelenk die Hände in die Jeanstaschen. »Mein Gott, Mami! Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ist bei dir alles in Ordnung?«

»Ich…« Ich schloss den Mund und zwang mich, Allie anzusehen und nicht mehr dem Dämon nachzublicken, der inzwischen gänzlich aus meinem Blickfeld verschwunden war. »Ich… Ja, klar. Bei mir ist alles bestens. Warum? Sehe ich denn nicht so aus?«

»Na ja. Wir haben ganz normal geredet, und dann hast du plötzlich geschrien und – «

»Ach das!« In dem ganzen Tumult hatte ich das völlig vergessen. Nun war es an mir, sie in meine Arme zu nehmen und an mich zu drücken. »Ich bin so stolz auf dich! Meine Tochter wird veröffentlicht. Meine Tochter, eine Autorin. Das ist fantastisch.« Ich trat einen Schritt zurück. »Aber ich muss jetzt wirklich gehen.«

»Ma-ami! Du hast geschrien.«

Ich hielt inne, da ich einsah, dass es sinnlos war, ihre Frage einfach zu ignorieren. »Stimmt. Ich bin gestürzt.« Das klang gut. Also fuhr ich fort. »Ich bin mit dem Bus der Coastal-Mists-Leute mitgekommen und habe mit dir am Telefon gesprochen, und da habe ich plötzlich das Gleichgewicht verloren. Ich bin flach auf dem Boden gelandet, und das Handy ist in tausend Stücke zersprungen.« In Wahrheit wusste ich gar nicht, wo sich das Telefon befand, aber es schien mir wahrscheinlich, dass es kaputt war.

»Hingefallen?«, wiederholte sie ungläubig, und ich konnte deutlich hören, dass sie ihre Zweifel an meiner Geschichte hegte.

»Ich schwöre es«, schwindelte ich weiter wie eine Weltmeisterin.

»Mann, Mami! Du hast uns echt zu Tode erschreckt!«

»Ach, Schätzchen«, sagte ich und nahm sie noch einmal in meine Arme, während mich das schlechte Gewissen plagte. »Es geht mir gut. Es tut mir wirklich schrecklich leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber… Uns?«

Erst in diesem Moment bemerkte ich den Mann. Er sah leicht zerknittert aus und hatte etwas Lehrerhaftes an sich, wie er da einige Schritte von uns entfernt stand und Allie und mir die Möglichkeit ließ, uns erst einmal zu begrüßen. Ais er nun merkte, dass die Unterhaltung auch ihn mit einschloss, trat er zu uns. Er stützte sich leicht auf einen Stock und humpelte ein wenig.

Wahrscheinlich war er so um die vierzig. Sein kastanienbraunes Haar begann an den Schläfen grau zu werden. Seine silbergrauen Augen waren hinter der Nickelbrille kaum zu erkennen. Irgendwie kam er mir seltsam vertraut vor. Ich runzelte die Stirn. Hatte ich ihn schon einmal gesehen? Auch er benahm sich fast so, als würde er mich kennen, und ich merkte, wie ich unter seinem klaren Blick nervös zu werden begann.

»Hallo, ich bin David Long«, stellte er sich vor und streckte mir die Hand entgegen.

»Nachdem die Verbindung plötzlich abgerissen war, bin ich losgerannt und habe ihn gesucht, weißt du«, erklärte Allie ganz aufgeregt.

Mr. Longs Lächeln hatte etwas Beruhigendes. »Ich habe ihr erklärt, dass Sie sich höchstwahrscheinlich nicht in Lebensgefahr befinden.«

»Äh… Vielen Dank.«

»Mr. Long unterrichtet Chemie«, klärte mich Allie auf. »Ich werde im nächsten Halbjahr den Einführungskurs bei ihm belegen.«

»Freiwillig?« Es fiel mir sehr schwer, die Konzepte »Allie« und »Naturwissenschaften« in eine Verbindung miteinander zu bringen.

»Äh… Ja.«

»Chemie?«, wiederholte ich. »Das Fach mit den Reagenzgläsern und dem Bunsenbrenner, wo alles zischt, blubbert und raucht?«

»Mutter«, entgegnete sie in einem Tonfall, der so klang, als ob sie gerade auf etwas ausgesprochen Bitteres und Ekelhaftes gebissen hätte. »Ich bin schließlich nicht blöd oder so.«

»Natürlich bist du das nicht, mein Schatz«, erklärte ich automatisch. »Du schaffst immer alles, was du dir vorgenommen hast.«

»Genau.« Sie nickte zufrieden und sah dann David Long an, der ihr zulächelte.

Ich unterdrückte das Bedürfnis, mir einen Schlag gegen die Stirn zu versetzen, als ich begriff, was hier vor sich ging. Meine Tochter, die bisher immer irgendwelche Jungs mehr oder weniger in ihrem Alter toll gefunden hatte, hatte sich jetzt offensichtlich in ihren Lehrer verknallt. Eine andere vernünftige Erklärung gab es nicht.

Ich versuchte, diesen Gedanken zu verdauen. Was sollte ich davon halten, dass sich meine Tochter in den Chemielehrer verliebt hatte? Eigentlich hatte ich kein Problem damit, solange dieses Gefühl dazu führte, dass sie sich für Naturwissenschaften interessierte. Da konnte mir das nur recht sein. Solange Mr. Long rein professionell blieb und das tat, wofür er bezahlt wurde. Falls irgendetwas Unpassendes geschah, würde er sich jedoch wünschen, nie geboren worden zu sein. Bei einer Begegnung in einer dunklen Gasse würde ich bestimmt nicht zimperlich vorgehen.

Der Gedanke daran erheiterte mich und erinnerte mich gleichzeitig daran, dass ich bereits einen anderen Kandidaten auf meiner Dunkle-Gassen-Liste vermerkt hatte.

»Komm schon«, sagte Allie und nahm mich an der Hand. Ihre Sorge um mich war offenbar verflogen. »Ich habe beim Aufbauen geholfen, und wenn wir uns beeilen, bekommen wir vielleicht noch ein Stück Schokoladenkuchen, bevor die Festlichkeiten anfangen.«

Ich wollte nichts lieber, als mit meiner Tochter Kuchen essen. Aber leider gehen Dämonen tendenziell vor (schwer zu glauben, aber wahr), und an diesem Tag hatten Dämonen sogar den Vorrang vor meiner Familie. Eine Tatsache, die mir fast das Herz brach, vor allem da Allie so eifrig an meiner Hand zog. Sie freute sich darüber, dass ich da war, obwohl sie am Anfang ihrer Pubertät stand und die Hormone in ihr zu toben begonnen hatten.

Aber hatte ich eine Wahl? In der Highschool war ein Dämon los. Und um mein Kind zu retten, musste ich diesem Kind erst einmal weh tun.

Sanft befreite ich meine Hand. »Geh du schon einmal vor. Ich komme gleich nach.«

»Aber Mami!«

»Ganz ehrlich, Allie, ich muss nur noch schnell – « Was musste ich noch schnell? Was konnte ich sagen, was die Verletzung, die ich bereits in ihren Augen erkennen konnte, nicht noch größer machen würde?

In diesem Moment mischte sich Mr. Long ein. Er legte seine Hand auf Allies Schulter und kam mir zu Hilfe. »Deine Mutter muss nur noch ein paar Dinge machen, ehe sie in die Turnhalle kommen kann.«

Er wandte sich mir zu. Seine Miene wirkte völlig neutral, doch seine Augen sahen mich eindringlich an. »Sie sind doch im Elternbeirat, nicht wahr? Ich wette, dass Ihnen in letzter Minute noch ein halbes Dutzend Aufgaben aufgehalst wurden, die es noch zu erledigen gibt.«

»Das stimmt«, erklärte ich verblüfft, aber erleichtert. »Das stimmt völlig.« Natürlich war das eine Lüge. Es war mir auf geradezu brillante Weise gelungen, allen Verpflichtungen außer den Muffins aus dem Weg zu gehen. Ich hatte mich zwar ein wenig schlecht dabei gefühlt, aber diese Empfindung war rasch verflogen. Schließlich zählte doch auch die Dezimierung der Dämonenpopulation von San Diablo als wichtige Aufgabe – oder etwa nicht?

Ich wandte mich an Allie. »Warum gehst du nicht schon vor, und ich treffe dich dann drinnen?«

»Du wirst doch bestimmt da sein, bevor es anfängt – oder, Mami?«

»Natürlich«, erklärte ich. Und ich hatte auch vor, alles in meiner Macht Stehende zu tun, damit das zur Abwechslung einmal keine Lüge war.

»Jetzt komm schon«, forderte Mr. Long Allie auf. »Ich komme mit dir.« Er sah mich an. »Gehört zu den Aufgaben, die ich heute übernommen habe. Die Schüler in die Turnhalle bugsieren.«

»Bugsieren«, wiederholte Allie und rollte mit den Augen. »Klingt so, als ob wir Kleinkinder wären oder so.« Trotzdem ging sie ohne ein weiteres Widerwort mit, und David Long und ich tauschten noch einen Blick miteinander aus, der ganz einfach Teenager bedeutete.

Sobald die beiden verschwunden waren, rannte ich in die gleiche Richtung wie zuvor Sinclair. Ich bog wie er um die Ecke und folgte dem Korridor in der nächsten Farbe.

Etwa zwei Minuten später fand ich mich an einem Punkt wieder, an dem sich zwei Korridore kreuzten. Mir wurde klar, dass ich keine Ahnung hatte, wo der Dämon steckte. In Gedanken warf ich eine Münze, wählte dann einfach eine Richtung und hoffte, die Teufelsbrut dort zu entdecken.

In diesem Augenblick sah ich die Tür.

Es handelte sich um eine schlichte weiße Tür, die einen Spalt breit geöffnet war und zu der Sorte Schultüren gehörte, die unten ein Metallgitter aufweisen. So können die unangenehmen Dämpfe von Putzmitteln, die gewöhnlich hinter solchen Türen gelagert werden, entweichen. Ich warf einen Blick auf das Schild neben der Tür. Und tatsächlich handelte es sich um die Putzkammer.

Natürlich wusste ich, dass der Hausmeister vergessen haben konnte, die Tür abzuschließen. Das sagte mir meine Vernunft. Doch mein Instinkt war ganz anderer Meinung. Mein Instinkt erklärte mir, dass nicht der Hausmeister seine Pflicht vernachlässigt hatte, sondern dass vielmehr Dermott Sinclair hier seine Zuflucht gefunden hatte.

Ich zögerte. Falls ich nicht recht hatte, würde ich wertvolle Zeit verschwenden. Aber ich glaubte nicht, mich zu irren. Ich wollte meinem Instinkt folgen. Das hatte ich die letzten vierzehn Jahre getan und auf diese Weise meine Kinder erzogen. Und bisher hatte mich mein Instinkt noch nie im Stich gelassen.

Also trat ich ein. Die Tür führte jedoch nicht in eine kleine Putzkammer, wie ich das erwartet hatte. Hinter ihr befand sich vielmehr eine Treppe, die in den Keller hinabging. Auf beiden Seiten der Stufen waren Regale angebracht, in denen eine Vielzahl von Putzutensilien aufgereiht war – Glasreiniger, Desinfektionsmittel und eine stattliche Anzahl von Putzlappen.

Die Treppe führte um eine Kurve, und dort stand im Regal eine Werkzeugkiste. So vorsichtig wie möglich, um keinen Lärm zu machen, öffnete ich sie und holte einen Schraubenzieher heraus. Haarspangen mochten vielleicht in einer Notsituation hilfreich sein, aber diesmal wollte ich etwas in der Hand haben, worauf ich mich besser verlassen konnte.

Noch ein paar Stufen, und ich stand unterhalb der Regale. Vor mir öffnete sich der Keller. Einige dünne Metallstangen und ein Handlauf dienten als windiges Geländer. Zwei Glühbirnen tauchten den Raum in ein schwaches Licht und offenbarten mir ein Spülbecken in einer Ecke sowie am anderen Ende des Raumes – Dermott Sinclair.

Ich hielt den Atem an und versuchte, keinen Muskel zu bewegen. Noch hatte er mich nicht gesehen, da er zu sehr damit beschäftigt war, sich auf das zu konzentrieren, was er gerade tat. Da er mir den Rücken zuwandte, konnte ich nicht genau erkennen, womit er beschäftigt war. Aber ich hörte das leise Kratzen eines Steins, der über Mörtel fuhr. Er wirkte angespannt. Seine Arme bewegten sich rhythmisch hin und her, während er an einem Gasbetonstein zerrte, der sich in der Wand befand.

Ich fragte mich, was er wohl vorhatte. Was wollte der Dämon dort?

Ich streckte die Hand aus, um mich am Geländer festzuhalten und die letzten Stufen hinabzuschleichen. Als ich es jedoch berührte, musste ich feststellen, dass sich der Handlauf von den Stäben gelöst hatte. Meine zarte Berührung reichte, um den Handlauf zu lösen. So etwas konnte man wirklich eine grobe Verletzung der Bauvorschriften nennen. Ein Kind hätte sich jederzeit an den oberen Kanten der Metallstangen ein Auge ausstoßen können – meinen Sie nicht?

Als sich der Handlauf von den Geländerstäben löste, gab es ein lautes Krachen. Sinclair wirbelte herum. Er hielt den Stein fest in den Händen und schleuderte ihn nun in meine Richtung. Ich hechtete nach vorn. Der Stein verfehlte meinen Kopf nur knapp. Ich landete auf dem harten Betonboden, wobei ich es gerade noch schaffte, mich mit den Händen abzustützen.

Meine Tasche öffnete sich, und ihr Inhalt, einschließlich des Schraubenziehers, ergoss sich in alle Himmelsrichtungen. Die Landung war ziemlich schmerzhaft. Doch es gelang mir, mich auf den Rücken zu rollen. Meine Hand berührte etwas Langes und Glattes. Ich fasste danach, wobei ich keine Ahnung hatte, was es war. Dann zog ich die Knie an und streckte sie mit einem Ruck wieder, so dass es mir gelang, mit einem Satz aufzuspringen – eine Bewegung, die Cutter, meinen Sensei, bestimmt stolz gemacht hätte.

Anschließend holte ich mit dem Fuß aus und traf Sinclair mitten in den Magen. Er stieß einen dumpfen Schrei aus, als er rückwärtsstolperte und auf den Boden fiel. Ich finde es stets recht befriedigend, mitanzusehen, wie ein Dämon auf seinem Hintern landet, und auch diesmal beobachtete ich schadenfroh das Spektakel.

Jetzt stürzte ich mich auf den Kerl. Meine Finger umklammerten noch immer den Gegenstand, den ich aufgehoben hatte und der, wie sich nun herausstellte, ein Eiszapfen aus Glas war. Wahrscheinlich hatte ihn mir Timmy in die Tasche gesteckt, als er mit dem Weihnachtsschmuck gespielt hatte. Das eine Ende war abgebrochen, und eine scharfe Kante hatte sich gebildet. Genau die Art von Gegenstand, mit der Timmy auf keinen Fall spielen soll – aus dem gleichen Grund, weshalb ich nun froh war, ihn in meinen Händen zu halten: Solche Dinge sind gefährlich.

Sinclair hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt, und seinem hässlichen Blick nach zu urteilen, schien er sich auf den bevorstehenden Kampf zu freuen. Mir erging es nicht anders. Wenn man meinen Kindern Angst einflößt oder sich sonst wie in mein Leben einmischt, geht es für mich nicht mehr nur um berufliche Pflichten. Dann wird das Ganze persönlich, wie es immer so schön heißt.

Er sah mich hasserfüllt an. Seine Hände hielt er in der klassischen Kampfposition, während sich seine Füße ununterbrochen bewegten, als ob er ein Boxer wäre, der nur auf den perfekten Schlag wartete. Ich hatte nicht vor, ihm diesen zu gönnen.

»Warum bist du hier?«, fragte ich, während ich mich ihm vorsichtig näherte. Von außen betrachtet, sahen wir zwei wahrscheinlich wie ein Paar aus, das einen seltsamen Tanz aufführt. Leider war das Ganze nicht so amüsant, wie es vermutlich wirkte.

»Das geht dich nichts an, Jägerin.«

»Das stimmt nicht. Es gehört zu meinem Beruf, herauszufinden, warum du hier bist. Das solltest du doch wissen, oder?«

Er grinste höhnisch. »Vielleicht solltest du dir besser einen neuen Job suchen«, schlug er vor. »Denn diesmal hast du verloren. Die Maschinerie hat sich bereits in Bewegung gesetzt.«

Mein Magen krampfte sich zusammen. Welche Maschinerie? Doch mir blieb jetzt keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn Sinclair stürzte sich ohne weitere Vorwarnung auf mich.

Ich tat das Gleiche, wobei ich den Eiszapfen fest umklammert hielt. Er riss den Arm hoch, und ich traf ihn mit dem scharfen Glas. Zuerst geschah nichts. Doch dann spürte ich, wie meine Waffe in seine Haut eindrang. Die Wunde ging tief, aber sie war noch nicht schlimm genug, um einen Dämon aufzuhalten. Während ich fluchte, holte er mit dem Fuß aus und traf meine rechte Kniescheibe.

Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich darauf vorbereitet gewesen war. Doch das war leider nicht der Fall. Ein Fußtritt gegen das Knie tut wirklich brutal weh, und ich ging zu Boden, während ich noch versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren… oder zumindest nicht den Eiszapfen loszulassen.

Dummerweise gelang mir weder das eine noch das andere. Jetzt besaß Sinclair die Waffe. Er zog sie aus seinem Arm und richtete sie mit einem bösartigen Grinsen auf mich. Nur wenig Blut befand sich daran – schließlich war er bereits eine Weile tot. Irgendwie ließ die Tatsache, dass kein Blut zu sehen war, die ganze Situation seltsamerweise noch unheimlicher erscheinen.

Mir blieb allerdings keine Zeit, mich zu gruseln, denn er stürzte sich erneut auf mich. Diesmal riss ich meinen Arm hoch, um seine Schläge abzuwehren, während er versuchte, den Eiszapfen in mein Herz zu rammen.

Alte Männer mögen normalerweise nicht mehr so stark sein wie junge, aber leider trifft das nicht auf Dämonen zu. Meine unangenehme Rückenlage verschaffte Sinclair einen deutlichen Vorteil. Wir befanden uns inzwischen direkt neben der Treppe, und so versuchte ich mich an der untersten Stufe hochzuhieven, ohne dabei aufzuhören, ihn mit der anderen Hand weiterhin abzuwehren.

Es war sinnlos. Sinclair hatte die Oberhand. Er stand nun so nahe, dass ich den Gestank seines Dämonenatems trotz des Zimtkaugummis riechen konnte.

Und in diesem Moment sah ich ihn. Den Schraubenzieher. Er war hinter eine gelbe Kehrschaufel gerollt und sein orangeschwarzer Griff gerade noch auszumachen.

Mit einer Hand stieß ich Sinclair von mir und versuchte ihn davon abzuhalten, mir den Eiszapfen in den Körper zu rammen. Mit der anderen bemühte ich mich verzweifelt, den Schraubenzieher zu fassen zu bekommen. Meine Fingerspitzen berührten zwar den Plastikgriff, aber ich konnte ihn nicht erreichen. Und Sinclair kämpfte wie ein Besessener.

Verdammte Scheiße!

Er versuchte nun, irgendwie an mein Gesicht zu kommen. Ein letztes Mal probierte ich, den Schraubenzieher zu fassen. Es war sinnlos. Sinclair hatte sich inzwischen auf mich geworfen. Blitzschnell packte ich ihn am Hals.

Er keuchte und ließ den Eiszapfen fallen. Mit der freien Hand packte er mich am Handgelenk. Ich reagierte, ohne nachzudenken. Heftig stieß ich mein Knie in seine Weichteile, wobei ich vor Schmerzen einen Schrei ausstieß, denn meine Kniescheibe tat noch immer höllisch weh.

Viel Kraft lag nicht in meinem Stoß, und Dämonen macht es nichts aus, in die Weichteile getroffen zu werden. Trotzdem stolperte er ein paar Schritte rückwärts und ließ mein Handgelenk für einen Moment los.

Das war alles, was ich brauchte.

Ich streckte mich und versuchte erneut, den Schraubenzieher zu erreichen. Diesmal gelang es mir. Als ich aufstehen wollte, hechtete Sinclair erneut in meine Richtung. Er schlug gegen meine Beine, und ich verlor mein gerade wiedergefundenes Gleichgewicht von neuem.

Mit aller Kraft warf er sich auf mich. Seine Hand umschloss die meine, in der sich inzwischen der Schraubenzieher befand. Er schlug meine geschlossenen Finger auf den Boden und versuchte sie zu öffnen.

Wie in einem Traum kam es mir plötzlich vor, als ob ich uns von oben zusehen würde. Es gelang ihm, einen besonders empfindlichen Punkt an meiner Daumenwurzel zu treffen. Meine Finger gaben nach, und ich musste den Schraubenzieher loslassen.

Sinclair bekam ihn zu fassen und nutzte ihn nun seinerseits als Waffe. Er stürzte sich wieder auf mich und ächzte zornig: »Stirb endlich, Jägerin! Du bist schon so gut wie tot.«

Bilder von meinen Kindern tauchten vor meinem inneren Auge auf, und ich schrie, während ich nach links hechtete. Es gelang mir, seinem tödlichen Stoß auszuweichen, aber dadurch verloren wir beide die Balance und gingen zu Boden. Ich rollte nach rechts. Es gelang mir gerade noch, einer erneuten Attacke mit dem Schraubenzieher zu entgehen.

Der Eiszapfen lag direkt neben mir. Das abgebrochene Ende war durch den Aufprall auf den Zementboden noch spitzer geworden.

Ich ergriff ihn und schaffte es auf die Füße, wobei ich den stechenden Schmerz ignorierte, der durch mein verletztes Knie schoss. Auch Sinclair war wieder auf den Beinen. Wir stürzten uns erneut aufeinander, wobei ich den Christbaumschmuck vor mich hielt, während der Dämon den tödlich wirkenden Schraubenzieher auf mich richtete.

Die Chancen für mich standen ziemlich schlecht, doch das war mir in diesem Moment völlig egal. Ich hatte nicht vor, zu verlieren. Ich wusste nur noch nicht genau, wie ich gewinnen wollte.

Ich rang verzweifelt um Luft. Inzwischen hatte mein Instinkt die Führung übernommen, obwohl mein Verstand noch immer versuchte, einen guten Plan auszuhecken. Oder auch nur irgendeinen Plan. Sinclair und ich umkreisten einander, bis sich die Treppe und mit ihr das wackelige Geländer direkt hinter ihm befanden.

In diesem Moment kam ich auf eine Idee…

Ich stürzte mich mit dem Eiszapfen auf ihn, änderte aber in letzter Sekunde die Stoßrichtung, so dass ich nicht sein Gesicht traf, sondern das Glas tief in seinen Oberschenkel rammte.

Er versuchte, meinem Angriff auf sein Gesicht auszuweichen, hatte aber nicht die Attacke auf sein Bein erwartet. Instinktiv wandte er sich ab, um die Wunde zu schützen. Ich hatte diese Bewegung vorhergesehen und mich in die entgegengesetzte Richtung geworfen, so dass ich hinter ihm landete. Dann stürzte ich mich auf seinen Rücken, packte ihn am Hals und hielt mich dort so fest, wie ich nur konnte, während Sinclair nach vorn fiel.

Und dann – ich nahm alle mir noch verbliebene Kraft zusammen – zielte ich und hoffte das Beste.

Ich hörte ein scharfes Knacken, und dann spürte ich, wie ein Ruck durch den Körper des Dämons ging. Eine der Metallstangen des Treppengeländers hatte ihr Ziel erreicht und das hervortretende graue Auge des Ungeheuers durchstoßen. Sinclairs leises Stöhnen war bald kaum mehr zu vernehmen, und ich sah das mir vertraute Schimmern in der Luft, als der Dämon den Körper des alten Mannes verließ und in den Äther zurückkehrte.

Erschöpft sackte ich zusammen, vor Erleichterung auf einmal ganz entspannt.

Dieses Gefühl dauerte jedoch nur einen Moment. Ich hatte zwar ein Problem gelöst (das des Dämons), sah mich aber jetzt einem völlig neuen gegenüber (seinem Plan). Er war aus gutem Grund hier im Keller gewesen, und ich musste herausfinden, was ihn dazu getrieben hatte.

Der Stein, den er auf mich geworfen hatte, war groß gewesen und hatte ein ebenso großes Loch in der Wand zurückgelassen. Es handelte sich um ein finster aussehendes Loch, dem ich mich misstrauisch näherte. Ich beugte mich herab und blickte hinein, konnte jedoch nichts erkennen.

Da ich nicht besonders scharf auf Spinnen und andere Lebewesen bin, die oft in Kellern hausen, hatte ich eigentlich keine Lust, meine Hand in diese Öffnung zu stecken und blind darin herumzusuchen. Aber was blieb mir anderes übrig? (Dieser Beruf ist nichts für Hasenfüße.)

Zum Glück berührte ich nichts, was sich schnell bewegte oder schleimig war. Ich fand überhaupt nichts.

So was Doofes. Ich war mir so sicher gewesen, dass Sinclair wusste, was er tat. War jemand bereits vor ihm hier gewesen?

Oder war es Sinclair gelungen, das Ding, um das es ging, vor meinem Eintreffen in Sicherheit zu bringen? Hatte er es vielleicht sogar eingesteckt?

Ich schnitt eine Grimasse, als ich mir diese Möglichkeit und das, was sie bedeutete, vor Augen führte. Noch immer suchte ich mit der Hand in dem dunklen Loch herum. Ich habe zwar als Mutter schon viele ekelhafte Windeln gewechselt, aber die Vorstellung, einen toten Dämon zu filzen, jagte mir einen kalten Schauder über den Rücken.

Gerade hatte ich mich mehr oder weniger dazu durchgerungen, es trotzdem zu tun, als meine Finger unerwartet auf eine Spalte zwischen den Mauersteinen stießen, eine Stelle in der hintersten Ecke des Lochs, wo sich der Mörtel auf einmal ganz anders anfühlte. Er schien dort viel glatter und kühler zu sein.

Ich tastete weiter, und mein Herz schlug schneller. Mit dem Finger fuhr ich die ganze Länge der Spalte entlang, bis ich wieder auf den üblichen rauen Mörtel stieß. Auf einmal verstand ich, worum es sich hier handelte. Es war ein Buch. Ich spürte deutlich den Rücken eines Buches, das zwischen zwei Mauersteine gesteckt worden war.

Mit der Schulter stützte ich mich an der kühlen Wand ab und versuchte, den Rücken des Buches zu fassen zu bekommen. Es gelang mir, und ich zog daran. Das Ding bewegte sich kaum von der Stelle, und einen Moment lang war ich irritiert. Falls sich dieser Band bereits seit Jahren dort befunden hatte, brauchte ich etwas wesentlich Stärkeres als meine Fingernägel, die selbst mit dem besten Nagelhärter der Welt nicht kräftig genug waren.

Ich holte tief Luft und zerrte erneut. Hoffentlich war der Band erst viel später dort hineingesteckt worden und stellte sich nicht in einer Minute als Teil der Gesamtkonstruktion des Kellers heraus.

Diesmal hatte ich Glück. Natürlich ruinierte ich dabei den Lack dreier Nägel und brach zudem den Nagel meines Zeigefingers ab, aber es gelang mir, das Buch herauszufischen. Ich hatte gesiegt. Meine Nägel sahen zwar fürchterlich aus, aber ich hatte gesiegt.

Ich zog den Band ans Licht heraus und betrachtete ihn. Von außen fanden sich keinerlei Hinweise auf seine Bedeutung. Das Buch war groß – etwa so groß wie Timmys Bilderbücher, aber dicker als sein geliebter Band Gute Nacht, kleiner Bär. Es war etwa drei Zentimeter breit. Und im Gegensatz zu Timmys bunten Geschichtenbüchern war es in dunkelrotes Leder gebunden, das an einigen Stellen aufgesprungen oder über die Jahre stark verkratzt worden war. Auf dem Buchrücken mochte sich irgendwann ein Titel befunden haben, doch von den früher einmal goldenen Buchstaben waren nur noch winzige Fleckchen übrig geblieben.

Früher mochte dieses Buch bestimmt sehr imposant gewirkt haben. Doch jetzt war es mitgenommen und lädiert, und man konnte den eingestanzten Titel nicht einmal mehr ertasten. Nirgends war etwas zu entziffern, und es gab auch keine verräterischen dämonischen Symbole. Nur die Andeutung eines leicht erhobenen Dreiecks auf dem Buchdeckel, wenn ich mich nicht täuschte.

Nun gut.

Normalerweise halte ich mich an die Regel der Forza, Bücher nicht einfach zu öffnen, die ein Dämon versteckt oder auch gesucht hatte. Man konnte schließlich nie wissen, was man darin fand.

Doch in diesem Fall wollte ich die Regel zur Abwechslung einmal nicht beachten. Es ging nicht nur um ein x-beliebiges Buch eines Dämons. Ich musste herausfinden, was darin stand. Sinclair hatte gesagt, dass ich zu spät dran war, dass sich die Maschinerie bereits in Bewegung gesetzt hatte. Er war in die Schule eingedrungen – einen Ort, den ich bisher für sicher gehalten hatte. Vielleicht hatte ich bewusst nicht genau hinsehen wollen, aber das hatte es einfacher gemacht, wenn ich meine Tochter in die Welt hinausschicken musste, von der ich besser als jede andere Mutter wusste, wie gefährlich sie war.

Die Dämonen besaßen jedenfalls einen Plan, und dieses Buch gehörte dazu. Ich musste herausfinden, worum es sich handelte. Ich musste sicherstellen, dass für den Moment alles in Ordnung war. Dass sich nicht plötzlich Horden von Dämonen auf die Schule stürzen würden.

Mit anderen Worten: Ich musste wissen, ob meine Kinder in Gefahr waren.

Also legte ich das Buch auf einen alten Holztisch, bewaffnet mit einem Weihwasser-Feuchtigkeitstuch, um mich für den Fall der Fälle gegen die Kräfte des Bösen wehren zu können. Langsam hob ich den Deckel an.

Der Buchrücken knarzte, doch nichts Böses sprang mir entgegen. Auch keine Flammen der Hölle züngelten heraus. Ermutigt öffnete ich es ein wenig mehr und beugte mich herab, um in die Lücke zwischen Buchdeckel und oberstem Blatt zu schielen. Ich konnte nichts erkennen und wagte es, das Buch nun ganz aufzuschlagen.

Nichts.

Und das meine ich wörtlich: nichts.

Keine Dämonen. Keine Manifestationen. Nicht einmal ein Erscheinungsvermerk.

Einfach nur ein leeres Blatt Papier, das brüchig und fleckig war.

Ratlos blätterte ich den Rest des Bandes durch.

Nichts.

Alle Seiten waren leer. Das Buch enthüllte nichts von seinem Geheimnis, überhaupt nichts.

Ich drehte mich um, um die groteske Gestalt Sinclairs zu betrachten, dessen Kopf noch immer auf die Metallstange gespießt war.

»Was soll das? Worum geht es hier, Sinclair?«, wollte ich wissen.

Der Dämon jedoch weigerte sich stur, zu antworten.