10 Wir werden alles selbst machen müssen
»Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.« Sagte Warren E. Buffett, der heute drittreichste Mann der Welt im November 2006 der New York Times.358 Das war ein Jahr vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, aber deren »Vorläufer«, die US-Immobilienkrise, hatte bereits begonnen. Buffet sagte dies keineswegs aggressiv, und er kritisierte zudem, dass reiche Leute wie er zu wenig Steuern zahlen müssen.
Der Krieg, von dem er sprach, ist nicht vorbei. Im Gegenteil, er ist längst in einer härteren Phase.
Buffett unterstützte Barack Obama in dessen erstem Wahlkampf 2008, er beriet den Präsidenten, und auch für die Wahl 2012 gilt: »Well, Barack Obama, he’ll be my choice.«359 Die USA erlebe ihr wirtschaftliches »Pearl Harbor«, erklärte Buffett Anfang 2009. Der Angriff der japanischen Luftwaffe auf Pearl Harbor hatte den USA 1942 den Anlass geliefert, in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. Obama sei einer, der »den Amerikanern die Schwere der wirtschaftlichen Situation richtig übermitteln« könne und der »gleichzeitig Hoffnung auf Besserung« verbreite.360
Wer die Geschichte der Black-Power-Bewegung in den USA kennt, wusste um die Bedeutung der Wahl des ersten Afroamerikaners zum Präsidenten der USA. Aber es war ein janusköpfiger Sieg, denn vor allem in Krisenzeiten nützen solche charismatischen Technokraten dem Kapital. Obama steht nicht für die reale Verbesserung des Lebens sozial benachteiligter US-Bürger, sondern lediglich für die Modernisierung des Kapitalismus. Seine Wahl war auch nicht der »Nebeneffekt« einer starken sozialen Bewegung, sondern nur das Symbol einer Wahlkampagne, die erfolgreich Erinnerungen an die Bürgerrechtsbewegung und an die Antikriegsbewegung früherer Jahrzehnte wachrief. Hätten sich Malcolm X und Martin Luther King träumen lassen, dass der erste schwarze US-Präsident Kriege führen und Foltergefängnisse unangetastet lassen würde? Dass er nicht einmal den Abbau von demokratischen und sozialen Rechten der vorangegangenen republikanischen Präsidenten zurücknehmen würde? Obama ist ein technokratischer Verwalter der kapitalistischen Krise, mehr Macht hat er nicht.
In Zeiten großer gesellschaftlicher Krisen muss in den Zentren des Kapitalismus gelegentlich auch die fortschrittlichere Fraktion der staatstragenden Parteien an die Regierung, um unzufriedene oder gar oppositionelle Teile der Bevölkerung zu befrieden und Revolten vorzubeugen, vor allem dann, wenn tiefe Einschnitte in das soziale Leben oder neue Kriege bevorstehen. So wurde 1998 die SPD in die Bundesregierung gewählt und als ihr Juniorpartner die Grünen. Der erste Krieg mit deutscher Beteiligung seit 1945, der gegen Jugoslawien, stand bevor, und das Kapital verlangte scharfe Einschnitte in den deutschen Sozialstaat. Zum Nutzen dieser Interessen mussten größere Teile der reformistischen Linken, Reste grüner Pazifisten und vor allem die Gewerkschaftsspitzen eingebunden werden.
Kein republikanischer US-Präsident hätte 1996 die Sozialausgaben so rigide zusammenstreichen können wie der demokratische US-Präsident Bill Clinton, ohne dass wütende Proteste ausgebrochen wären. Obama besitzt ein noch größeres Befriedungspotenzial, welches er und seine Regierung auch benötigen – falls er wieder Präsident wird –, um die USA in der Weltwirtschaftskrise zusammenzuhalten, so dass es nicht zu einem Chaos kommt, an dessen Ende die herrschende Ordnung zerrüttet ist. Auch in seiner möglichen zweiten Amtszeit wird die Armut wachsen und die USA ein kriegführender imperialistischer Staat sein. Auch unter einem demokratischen Präsidenten wird die soziale Frage – sofern die Betroffenen sich ihrem Schicksal nicht ergeben und ihre legitimen Aggressionen statt gegen die Schuldigen ausschließlich gegen sich selbst richten – weiterhin vor allem durch eine autoritäre Sozialverwaltung, Polizei, Justiz und Armee »gelöst« werden.
Um einer drohenden linksoppositionellen Bewegung den Boden unter den Füßen wegzuziehen und um das bürgerliche und rechte Lager noch weiter nach rechts zu verschieben, wurde in den USA die rechtspopulistische Tea Party gegründet, die teilweise rechtsradikal agiert. Sie wird von einem Haufen Milliardäre finanziert. Im Februar 2011 war ich zu einem Streitgespräch mit einer Vertreterin der Tea Party nach Harvard, Massachusetts, eingeladen, es ging um rechtspopulistische Bewegungen in Europa und den USA. Ich traf auf Keli Carender aus Seattle, eine der bekanntesten Aktivistinnen der Tea Party, heute ist sie State Coordinator für acht US-Bundesstaaten.361 Für die Tea Party ist ein staatliches Gesundheitssystem reinster Kommunismus, also die Hölle. Sie will die Gewerkschaften zerschlagen und am liebsten die totale Steuerfreiheit für Wohlhabende und Reiche durchsetzen. Im Carender-Sprech hört sich das so an: »… capitalism is the only system that protects the individuals rights … capitalism is the only moral system … capitalism is truly the system that allows you to say: power to the people.«362 Die Milliardäre Charles und David Koch können zufrieden beobachten, wie Tea Partyer für sie z.B. die Rechte der Gewerkschaften schleifen (»power to the people«), nicht nur in Wisconsin.363
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Einige Fachleute hatten den Weg in die kommende Weltwirtschaftskrise zutreffend analysiert. Dies waren vor allem Marxisten, aber auch kritische bürgerliche Wissenschaftler wie Nouriel Roubini, Professor an der Stern School of Business der New York University. Roubini sagte: »Ich bin kein Genie, ich habe nur richtig hingeschaut.« Er analysierte die Finanzkrisen in Mexiko 1994, Asien 1997 und Argentinien 2000 und fand Indikatoren, die er auf die USA anwandte. 2005 kam er zu dem Ergebnis, dass in den USA eine Rezession bevorstand. Im September 2006 stellte er seine Thesen einem Ökonomenkollegium des Internationalen Währungsfonds vor: In den USA werde der Immobilienmarkt kollabieren, ein Ölschock stehe bevor, das Konsumklima werde einbrechen, Billionen von Dollar an Hypothekenkrediten würden faul werden, das globale Finanzsystem werde erschüttert, Banken und Hedgefonds gingen unter. Und das Ganze im globalen Maßstab. Als er geendet hatte, sagte der Moderator: »Ich denke, wir brauchen jetzt einen starken Drink.« Einige Zuhörer lachten.364 Auch als Roubini Anfang Januar 2007 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos eine Krise prognostizierte, machte man sich über den Außenseiter lustig. Einige seiner damaligen Kontrahenten waren Repräsentanten von Finanzinstituten, die inzwischen bankrott gegangen oder vom Staat aufgekauft worden sind.365
Die Weltwirtschaftskrise hatte längst begonnen, als im Mai 2008 der damalige Deutsche-Bank-Chef Ackermann noch »keine Indizien« für sie sah.366 Erst Ende 2008 gestand die deutsche Bundesregierung eine Rezession ein. Anfang 2009 plapperten dieselben Mainstreamlinge, die seit Jahrzehnten dem Kapital applaudieren und grenzenlosen Profiten sowie dem deregulierenden Staat das Wort reden, dass die Krise im Sommer 2009 vorbei sein würde. Roubini sagte: »Das Schlimmste steht uns noch bevor.« Neben den USA würden auch Europa, Russland und China »hart« getroffen.367
Wer wird am unabsehbaren Ende der Weltwirtschaftskrise seine Stellung im Kampf um die rohstoffreichen Regionen der Welt verbessert oder verschlechtert haben?
Zentralasien hat bekanntermaßen keine Meeresanbindung, und auf anderen Routen stehen die Interessen oder Territorien Russlands oder des Irans im Weg. Die USA versuchen auch unter Obama in Afghanistan eine ihnen genehme Regierung zu installieren. Sie haben ein Interesse an stabilen Militärstützpunkten, um mit deren Hilfe Afghanistan zum Korridor für das Öl aus Zentralasien zu machen. Aussagen wie dieser über die USA werden viele Linke in Deutschland zustimmen, aber es fehlt oft das Bewusstsein, selbst in einem imperialistischen Land zu leben. Das weiß die Gegenseite und versucht, Teile möglichen Protestes in der Bundesrepublik abzubrechen, indem sie ihre Kriegseinsätze »ökologisch« oder »feministisch« rechtfertigt. Mit einiger Wirkung wurde die erfolgreiche Unterstützung afghanischer Frauen durch Kampfeinsätze behauptet. Das deutsche Fernsehen zeigte einmal eine »Demonstration« afghanischer Frauen ohne Burka. Aber TV-Chefs wie Kamerateams wussten, dass die kleine Gruppe von Frauen sich nur in einem Hof hinter Mauern bewegte.368
Die Krise verschiebt die Kräfteverhältnisse in der Welt. Massenarmut, Umweltkatastrophen, Aufstände, auch – von außen geschürte – Sezessionsbestrebungen, geostrategische Konflikte zwischen den USA, Russland, China, EU-Europa und anderen asiatischen Staaten. Es bedarf keiner allzu großen Vorstellungskraft, um das kriegsträchtige Potenzial allein in Zentralasien zu erahnen.
Nach wie vor wissen wir nicht, wann die Weltwirtschaftskrise vorbei und was ihr Höhepunkt gewesen sein wird, welche Kapitalfraktionen und Staaten am meisten von ihr profitiert haben werden. Wir stecken mitten in diesem Prozess. Wie viele Menschen werden durch die Krise an Hunger, Wassermangel und leicht heilbaren Krankheiten gestorben sein? Was wird aus den Sahraouis in den südalgerischen Flüchtlingslagern, wenn die internationalen Ernährungsprogramme schrumpfen oder gar ausbleiben und Deutschland und die EU weiter von ihrem schmutzigen Pakt mit Marokko profitieren? Was wird aus den Menschen um den früheren Aralsee und aus den usbekischen Baumwollarbeitern, wenn der Einsatz von nervenschädigenden und krebserregenden Pestiziden billiger bleibt (und profitabler) als eine Umstellung auf gesunde Baumwollanbaumethoden?
Bürgerkriege, Dürre, Krankheiten und Armut können zu Aufständen führen. Seitdem dieses Buch vor fast vier Jahren in seiner damaligen Fassung zum ersten Mal erschien, kam es zu weitgehend unerwarteten Widerstandsaktionen der Sahraouis, von Tunesien bis Ägypten zum »arabischen Frühling« (und zum arabischen Herbst, denn der vielköpfigen Schlange der Diktatur wurde nur ein nachwachsender Kopf abgeschlagen, die Militärdiktatur blieb), zur Bewegung der Indignados, der Empörten in Spanien, zur anhaltenden Revolte in Griechenland, zu Occupy und in der vielfach gespaltenen und reformistisch gelähmten deutschen Linken immerhin zu linksradikalen bis linken Aktionsbündnissen wie M 31 (März 2012) und Blockupy (Mai 2012).
Armut und Krieg bewirken, dass noch mehr Menschen versuchen, Europa zu erreichen. Klassenkampf drückt sich auch in Musik und Bildern aus. Im Frühjahr 2012 wurden wir mit gefühlten 500 Filmen zum 100. Jahrestag des Untergangs der Titanic überschüttet. Die Biografien einzelner Passagiere wurden uns bis ins Detail nahegebracht. Rund 1 500 Menschen auf der Titanic ertranken, darunter die meisten Arbeiter im Maschinenraum. Aber über sie gibt es meines Wissens nicht einen einzigen Film.
Etwa ebenso viele Menschen wie in jener Nacht im Atlantik ertrinken jedes Jahr im Mittelmeer, wenn sie versuchen, die Südküste Europas zu erreichen. Niemand – bis auf ein winziges Häuflein von Flüchtlingsorganisationen, Linken und Künstlern – bringt uns ihr Leben, ihre Sehnsüchte, ihren qualvollen Tod nah. Niemand taucht nach ihren Leichen und ihren Erinnerungen. Stattdessen erhalten Kapitäne Prämien, wenn sie vom Tod bedrohte Asylsuchende auf seeuntüchtigen Booten nicht retten; stattdessen rüstet auch Deutschland Frontex auf. Wir werden jeden Abend im Fernsehen mit den Börsenkursen behelligt, bleiben aber ohne Nachrichten über die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Die EU ist, unter deutscher Führung, eine feindselige, rassistische »Gated Community« geworden, eine gegen Flüchtlinge und Migranten verbarrikadierte, waffenstarrende Gemeinschaft, in deren Inneren sich soziale Segregation und Ghettoisierung breit machen.
Manche Linke haben gehofft, dass die Krise viel mehr Menschen dazu bringen kann, die soziale Frage neu zu entdecken. Aber neuere empirische Studien wie die von Wilhelm Heitmeyer an der Universität Bielefeld zeigen, dass Aggressionen gegen die Schwächsten und ihre Ausgrenzung wachsen. Die sich von der Krise bedroht fühlende Mittelschicht antwortet im Allgemeinen nicht mit Solidarität und dem Wunsch nach mehr sozialer Gleichheit auf den sozialen Absturz anderer.
Aber es gibt auch Brüche. Selbstverständlichkeiten zerbröseln, gewohnte Blickwinkel weiten sich. Junge Leute wachsen mit einer anderen Wahrnehmung der Welt auf. Angesichts der tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohung ihrer sozialen Lage fliehen nicht alle in reaktionäres Denken, um im Rattenrennen vor allem nur sich selbst zu retten. Krisen bieten Chancen, kritisches Denken zu befördern. Und das müssen wir, denn es gibt keine Stagnation. Die Gegenseite zögert keine Sekunde. Es geht ums Ganze. Das Kapital nutzt die Krise, um sich aller Profitbeschränkungen zu entledigen: soziale und demokratische Menschenrechte (das, was davon noch übrig ist), Umweltanforderungen aller Art – freie Fahrt wie lange nicht mehr für ihre Gift- und Verseuchungsproduktion einschließlich einer Renaissance der radioaktiven Atomstromerzeugung. Eine Linke, die die Systemfrage nicht stellt und ihren Blick ausschließlich auf z.B. die Streichung von Studiengebühren, die Durchsetzung von Lohnerhöhungen als Inflationsausgleich oder die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze richtet, ist gescheitert.
Der sich von Proletarisierung bedroht fühlende Teil der Mittelschicht möchte von der Welt des Proletariats nichts wissen. Es ist heute z.B. kaum noch vorstellbar, dass es in den 1980er Jahren radikale Linke und Sozialisten in den Grünen gegeben hat – alle sind zwischen 1989 und 1991 aus der Partei ausgetreten –, die sich auf Basis ihrer politischen Herkunft mit der »Zukunft der Arbeit« und mit den gesundheitlichen Arbeitsbedingungen in Fabriken befassten. Die neue Linke heute wird nicht weit kommen, wenn sie von den Bedingungen, unter denen die meisten Menschen leben und arbeiten, und von den Gewaltstrukturen, welche die Lohnarbeit bedeutet, nichts versteht. Der Blick auf die soziale Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland zeigt nicht nur die alltäglichen Gewaltstrukturen der normalen Lohnarbeit und die Entwürdigung eines Heeres von Leiharbeitern. So wie große Vermögen häufig auf Arisierung, Krieg und Zwangsarbeit beruhen, profitieren Teile der Mittel- und Oberschicht heute – neben der ganz gewöhnlichen Ausbeutung von Lohnarbeit – von neuen Formen der Sklavenarbeit, der Dienste von Illegalen und von der Billigstarbeit in aller Welt.
Es gibt keine gesellschaftliche Debatte über die Zerstörung der Gesundheit der Menschen durch ihre Arbeit, denn »sie sollen froh sein, dass sie welche haben«. Alle Ansprüche auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen haben sich in Luft aufgelöst. Bilder des 19. Jahrhunderts kehren zurück. In den Beobachtungen des jungen Friedrich Engels über Die Lage der arbeitenden Klasse in England spiegelt sich auch die Lage der arbeitenden Menschen in chinesischen Sonderwirtschaftszonen, von Müllarbeitern in afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanische Ländern wider, die ihre Gesundheit ruinieren, indem sie in Bottichen voller Chromfarbe waten, um Baumwolle oder Leder für den deutschen Markt zu färben, als Sklavenarbeiter feinste Schokolade herstellen oder für sich Ölreste aus rissigen Pipelines abzweigen, welche das Ackerland verseuchen, von dessen Früchten sie früher einmal lebten. Kapitalismus bedeutet die gleichmäßige Ruinierung aller Sinnesorgane und für so viele das Sinken ihrer Lebenserwartung. »Die Ökonomisierung der gesellschaftlichen Produktionsmittel, erst im Fabriksystem treibhausmäßig gereift, wird in der Hand des Kapitals zugleich zum systematischen Raub an den Lebensbedingungen des Arbeiters während der Arbeit, an Raum, Luft, Licht, und an persönlichen Schutzmitteln wider lebensgefährliche oder gesundheitswidrige Umstände des Produktionsprozesses, von Vorrichtungen zur Bequemlichkeit des Arbeiters gar nicht zu sprechen«, schrieb Marx.369
Vor gar nicht langer Zeit gab es die begründete Hoffung der abhängig Arbeitenden, dass sie endlich vom ungeheuren Zuwachs an Produktivität profitieren: Da gab es die Kampagne von fortschrittlicheren Gewerkschaftskreisen und der IG Metall für eine 35-Stunden-Woche. Beinahe niemand redet heute mehr darüber, ein auf absehbare Zeit verlorener Kampf. Eine Weltwirtschaftskrise hat mächtig viele Vorteile für das Kapital, jedenfalls für den Teil, der die Krise überstehen wird.
Viele Menschen werden Abstieg, Armut, Angst und Diskriminierung nicht ertragen. Viele werden ausrasten. Auf irgendwelche Sachbearbeiter in Behörden einschlagen. Sich in den Alkohol flüchten. Sich selbst und ihre Angehörigen zerstören. Der Sicherheitsstaat wird sich weiter dagegen aufrüsten, Staat und Justiz werden mit Repression und Wegschließen antworten, am besten gleich für immer, in Heime, Psychiatrien und Knäste. Auch die heutige schäbige Behandlung der Heimkinder der 1950er bis 1970er Jahre ist ein Indiz dafür, dass sich in der Heimerziehung die schwarze Pädagogik von gestern wieder ausbreitet sowie die aus der NS-Zeit stammende Sicherheitsverwahrung bis ans Lebensende. Das sind die klassischen Reaktionsweisen inhumaner Gesellschaften. Die soziale Ordnung einer permanent mit Repressionen drohenden Gesellschaft ist eine Gefängnisordnung.
In Deutschland muss man auch mit einem weiteren Rechtsruck rechnen. Den misst man nicht, wie fälschlicherweise oft getan, allein am Anteil faschistischer und rechtsextremer Parteien, sondern am Abdriften der bürgerlichen Parteien nach rechts und z. B. an der Kumpanei der Staatsschutzorgane mit dem NSU.
Um »die da unten« ruhig zu halten, lassen sich Staat und Medien viel einfallen: Sozialterror, Kontrollen, Drangsalieren mit immer mehr Bürokratie, Angst machen, bedrohen, spalten, spalten, spalten. Der in Jahrhunderten geformte Untertanengeist ist Produkt und Garant von Herrschaft. Bevor die meisten Deutschen auf die Idee kommen, den Herrschenden in den Arsch zu treten, ziehen sie hundertmal schneller gegen sozial Schwächere los und am liebsten gegen Menschen nichtdeutscher Herkunft oder solche mit abweichenden Lebensformen. Rassismus ist ein extrem wirksames Gift.
Der 39-jährige Blumengroßhändler Enver S¸ims¸ek wurde 2000 vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ermordet. Der 49-jährige Siemens-Arbeiter Abdurrahim Özüdogˇru 2001. Der 31-jährige Süleyman Tas¸köprü, Obst- und Gemüsehändler, verblutete 2001 in den Armen seines Vaters. Habil Kiliç hatte den gleichen Beruf und starb 2001 an zwei Kopfschüssen. Mehmet Turgut, Dönerverkäufer, starb 2004 an drei Kopfschüssen. Ismail Yas¸ar, den Inhaber eines Döner-Kebap-Imbisses, töteten 2005 fünf Schüsse. Theodorus Boulgarides hatte seinen Schlüsseldienst gerade eröffnet, als der NSU ihn 2005 ermordete. 2006 starb Mehmet Kubas¸ik als vermutlich nächstes NSU-Opfer. Halil Yozgat starb in seinem Internetcafe an zwei Kopfschüssen, die 22-jährige Polizistin Michèle Kiesewetter 2007.
Niemand weiß, ob diese Liste vollständig ist. Die Opfer, die meisten nichtdeutscher Herkunft, galten in den Augen deutscher Behörden lange als selbst schuld an ihrem Tod. Die Sonderkommission der Polizei wurde nicht »Rassismus« genannt, sondern »Bosporus«. Den Familien wurden all die Jahre kriminelle Geschäfte und sogar organisierte Kriminalität unterstellt. Die Medien übernahmen alle rassistischen Vorurteile und beförderten die Ausgrenzung der Opfer und ihrer Familien mit Schlagzeilen wie: »Döner-Morde« (Nürnberger Zeitung), »Döner-Mörder« (Frankfurter Allgemeine Zeitung), »Döner-Killer« (Bild, taz, Süddeutsche Zeitung), »Wettmafia«, »Halbmond-Mafia«, »Mordserie Bosporus«. Der Spiegel schrieb noch im Februar 2011 von einer »düsteren Parallelwelt« und plapperte wie so oft nach, was ihm staatliche Behörden aus eigenem Interesse zuraunten: »Viele Fahnder der Sonderkommission sind […] davon überzeugt, dass die Spur der Morde in Wirklichkeit in eine düstere Parallelwelt führt, in der eine mächtige Allianz zwischen rechtsnationalen Türken, dem türkischen Geheimdienst und Gangstern den Ton angeben soll.«370
So viel rassistisch durchtränkte Phantasie machte blind bei der Suche nach den »echt« deutschen Mördern, die auch durch die Hilfe deutscher Behörden hatten werden können, was sie wurden: von der staatlich finanzierten »Glatzenpflege«, jenen missratenen Projekten der »akzeptierenden Jugendarbeit« tumber Sozialpolitiker in den 1990ern, bis zur mit Hilfe von Staatsgeldern aufgebauten Nazi-Organisation Thüringischer Heimatschutz. Die NSU-Mörder kamen mitten aus Deutschland.
Im Juli 2012 war bereits der dritte Verfassungsoberschützer zurückgetreten. Noch ist nicht geklärt, welche genaue Rolle staatliche Organe bei der Finanzierung und Unterstützung des faschistischen Sumpfes spielten, aus dem die NSU-Mörderbande entsprang. Akten wurden geschreddert, Zeugen missachtet, wichtige Spuren »verschlampt«. Unglaubliche Zustände in den Geheimdiensten sind nur schemenhaft aufgedeckt. Alles legt den Verdacht nah, dass es in einflussreichen Stellen des deutschen Sicherheits- und Geheimdienstapparats, wie immer schon in seiner Geschichte, politische Kumpane der Neonaziszene gibt. Anders lassen sich die Flut und Art der »Fehler« bei den Ermittlungen nicht mehr erklären. Dass wir die ganze Wahrheit über die Beziehungen zwischen Staatsorganen und organisierten Nazibanden bald erfahren werden, ist zu bezweifeln.
Vielleicht geht der Staat mancherorts so unsagbar nachlässig gegen Nazis vor, weil er sie vor allem in Krisenzeiten braucht. Und was haben kritische Menschen und Linke von einem Staat wie diesem in Zeiten der Krise und der sozialen Polarisierung zu erwarten? Die Gefahr ist groß, dass sich rechtsextreme und faschistische Kräfte ausbreiten. Das müssen nicht unbedingt allein Schläger mit stahlkappenbewehrten Stiefeln sein. Es gibt sie auch in maßgeschneiderten Schuhen.
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In Deutschland hat radikaldemokratischer und linker Widerstand keine besonders erfolgreiche Tradition. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dem wir es verdanken, dass es zu den Auschwitz-Prozessen (1963–1965) gekommen ist, hat kurz vor seinem Tod im Juli 1968 darauf hingewiesen, dass ein ureigenes Widerstandsrecht des Menschen existiert, welches sich gegen den Staat und die Obrigkeit richtet. Mit den Notstandsgesetzen war im Mai 1968 das Grundgesetz zum 17. Mal geändert worden. Gegen die neue Notstandsverfassung hatten Linke und Radikaldemokraten zehn Jahre lang protestiert, eine der Ersten hieß 1960 Ulrike Meinhof. Scheinbar, um ihnen entgegenzukommen, ist in den Artikel 20 des Grundgesetzes ein vierter Absatz aufgenommen worden: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.«
Bauer schloss sich ausdrücklich den Kritikern an, die diesen Passus eine »Perversion des Widerstandsrechts« nannten: »Das Recht zum Ungehorsam und das Recht zum Widerstand […] sind historisch überlieferte Institutionen, deren Inhalt nicht beliebig umfunktionalisiert werden kann.« Die Notstandsgesetzgebung aber erfasse nicht nur den »Staatsstreich von oben, sondern auch den durch revolutionäre Kräfte aus dem nichtstaatlichen Bereich unternommenen Putsch von unten. Dieses ist mit dem Begriff eines Widerstandsrechts, wie er sich durch Jahrhunderte und Jahrtausende gebildet hat, schlechthin unvereinbar.« Fritz Bauer weiter: »Das Widerstandsrecht – wenn das Wort überhaupt einen Sinn haben soll – kann sich nur gegen den ungerechten Staat, den Unrechtsstaat, die Tyrannis, richten; nie hat das Wort einen anderen Sinn besessen. Der Staat selbst braucht kein Widerstandsrecht. Seine Beamten, seine Offiziere und Soldaten haben Machtmittel genug.«
Für Bauer war der Kontrast zwischen Deutschland und Frankreich augenfällig: »Frankreich hatte seine Revolution. Es bekannte sich zu den Menschenrechten. Hierzu wurde sofort das Recht auf résistance gezählt. Anders in Deutschland. Die deutschen Philosophen machten im Kielwasser des autoritären Staates dem Widerstandsrecht der Jahrtausende den Garaus.« Bauer zitierte Kant, der dem Untertan kein bisschen Widerstand erlaubt, was auch immer der Staat verbricht, um den Menschen unglücklich zu machen. »Die Worte Kants, denen ganz ähnliche Hegels, auch […] Treitschkes und vieler anderer entsprechen, sind das Spiegelbild der sozialen Realität in Deutschland.«371
Um diese fatale Tradition in der Bundesrepublik zu durchbrechen, mussten nach 1945 Karl Marx, Friedrich Engels und Rosa Luxemburg wiederentdeckt werden, musste die Frankfurter Schule mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nach der Befreiung vom NS-Faschismus aus dem Exil zurückkehren und einer der ihren, Herbert Marcuse372, auf die junge westdeutsche Linke einwirken. Ein emigrierter deutscher Jude, vor seinen deutschen Mördern geflohen, dessen Bücher 30 Jahre nach seiner Flucht gelesen wurden und der das Recht auf »résistance« nach Deutschland zurückbrachte. So sehr zerstört hat sich Deutschland in der Nazizeit, und über die Spuren und Folgen stolpern wir noch immer.
Marcuse sprach von
»politischen Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen […], die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören. Diese Art von Toleranz stärkt die Tyrannei der Mehrheit. […] Ich glaube, dass es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ›Naturrecht‹ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben […]. Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte.«373
Fritz Bauer kommentierte exakt diese Aussage Marcuses so: »Das ist ganz in Übereinstimmung mit dem, was Gemeingut der Rechtsgeschichte ist.«374
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Mit der Außerparlamentarischen Opposition (APO) von 1964 bis 1968 gelang es, die herrschende Ordnung durcheinanderzuwirbeln. Den Klugen in der APO war damals klar, dass sie nicht nur an der Oberfläche der gesellschaftlichen Ordnung kratzten, sondern dass ihre Gegner in Staat und Kapital sehr viel beunruhigter waren, als sie eingestanden. Überraschenderweise wurde das 40 Jahre später noch einmal deutlich, da war zu spüren, dass nicht nur die katholische Kirche in Frankreich den Mai 1968 »als Katastrophe fast schon in den Ausmaßen der Großen Revolution erlebt« hat.375 In Deutschland sollte 2008 das 40. Jubiläum von »68« angeblich gewürdigt werden. Es wurde, von Ausnahmen abgesehen, eine einerseits verniedlichende und andererseits denunziatorische Kampagne. Angesichts der aufkommenden Weltwirtschaftskrise und möglicherweise unberechenbarer Zeiten hatten die Macher der herrschenden Meinung kein Interesse an einer positiven kollektiven Erinnerung an einen der wichtigsten politischen Kämpfe der Nachkriegszeit.
Anlässlich der Konstituierung der großen Koalition 1966 hatte Rudi Dutschke auf einer Versammlung des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) zur »Außerparlamentarischen Opposition« aufgerufen. Später sagte er, dass die Revolte aber schon mit den Protesten gegen den Besuch des Diktators Moïse Tschombé 1964 in Westberlin begonnen hatte. Dass die SPD mit der CDU 1966 eine große Koalition einging und Willy Brandt (SPD) als von den Nazis Verfolgter Außenminister unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) wurde, der früher der NSDAP angehört hatte, war für die junge Linke Verrat. Willy Brandt verteidigte den Vietnamkrieg der USA, das vergrößerte die Kluft. Die älteren Linken erinnerten sich daran, dass die SPD ihre antimilitaristischen Positionen in den 1950er Jahren verraten, 1961 den SDS aus der Partei geworfen und 1968 den Notstandsgesetzen zugestimmt hatte.
Zehn Jahre nach 1968 hatte es kein Jubiläum gegeben, da steckte der Linken noch der Deutsche Herbst von 1977 in den Knochen. Die brachiale Vorgehensweise der SPD/FDP-Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) gegen jede staatsunabhängige Linke, unter dem Vorwand der Verfolgung der RAF, ließ 1978 keinen Raum für sentimentale Erinnerungen.
1988, 20 Jahre danach, gab es zum ersten Mal »Veteranentreffen«. »68« war schick geworden, die Zahl der 68er vermehrte sich nachträglich. Älter gewordene APO-Leute, viele in Parteien, Verbänden und Gewerkschaften etabliert, hielten Reden über ihre ruhmreiche Vergangenheit. Es waren auch gute Texte darunter. Ein Jahr später fiel die Mauer.
Ich weiß nicht, wie viele 68er 30 Jahre nach der Revolte an der Legende mitstrickten, bei der Bundesrepublik handele es sich nun um eine nachhaltig zivilisierte Gesellschaft. Adenauer und Brandt hatten Diktatoren und Mörder empfangen, man hatte Kriege wie den in Vietnam gutgeheißen, hatte sich die Hände zwar mit Rüstungsgeschäften, aber noch nicht wieder in einem Krieg schmutzig gemacht. Aber ein Jahr nach dem 30. Jubiläum, im März 1999, zog Deutschland in seinen ersten Krieg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nicht einmal 50 Jahre hatte der Schwur »Nie wieder Krieg« gehalten. An der Spitze der Bellizisten standen auch frühere linke Jungsozialisten wie Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und ehemalige 68er wie die grünen Funktionäre Joseph Fischer und Daniel Cohn-Bendit. Ohne sie, etwa unter einer Kohl-Regierung, wären die Bomben auf Belgrad in der rot-grünen Wählerschaft nicht durchzusetzen gewesen. Das obszönste Argument war jenes von Joseph Fischer, dass Deutschland sich wegen Auschwitz am Krieg beteiligen müsse.
Im 40. Jahr der Revolte, 2008, erlebten wir zum ersten Mal, dass sich frühere APO-Linke, gefördert mit Literaturpreisen und Bundesverdienstkreuzen, offen aggressiv und als Kronzeugen gegen die Linke auf die Seite der herrschenden Kreise schlugen.
Linke machen Fehler, manchmal sogar böse Fehler. Hätten gewisse APO-Leute offen über die theoretischen und praktischen Fehler ihrer politischen Zirkel gesprochen, wäre das unter Umständen lehrreich gewesen. Was sie aber 2008 fabrizierten, war etwas ganz anderes. Sie bauten hier und da marginale Selbstkritiken ein, um dann umso grobschlächtiger gegen die APO als Ganzes auszuholen. Die Geschichte wurde gefälscht. Es entstanden »wissenschaftliche« Texte und Beiträge, in denen sogar die Entstehungsbedingungen der APO geleugnet wurden: die alten Nazis, die uns damals überall umgaben, der Vietnamkrieg, die grausamen Verhältnisse in den Kinder- und Jugendheimen, die widerlichen autoritären Strukturen allüberall, pädagogische Konzepte und Ordnungsvorstellungen aus der Nazizeit und nicht zuletzt die wahre Religion der Nachkriegszeit, der Antikommunismus.
Der aufdringlichste Wendehals war Götz Aly, der in seinem Buch Unser Kampf die APO systematisch mit der NS-Studentenbewegung verglich.376 War also die faschistische Machtergreifung nichts als eine »schreckliche Jugenddiktatur« gewesen? Ähnlich trieb es Jutta Brückner mit ihrem Theaterstück Bräute des Nichts, in dem sie allen Ernstes Ulrike Meinhof mit Magda Goebbels gleichsetzte.377 Beider Botschaft war: Rebellion ist kriminell, der oder die Rebellierende wahlweise faschistoid oder geisteskrank. Die Abrechnung mit der APO war eine organisierte Kampagne, an deren Ende alle begriffen haben sollten, wie verwerflich Protest, Widerstand und Revolte sind – rechtzeitig für die sozialen Erschütterungen durch die kommende Weltwirtschaftskrise.
Aber die Sache war so übertrieben und durchsichtig und die Erfahrung neuer Kämpfe (z.B. die Anti-Gipfelaktionen in Heiligendamm) doch auch so positiv, dass der Plan nicht aufging.
Beim – erfolgreicheren – Versuch, 68 zu verharmlosen und zu verkitschen, halfen die merkwürdigsten Zeitgenossen mit. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann antwortete im Mai 2008 – im selben Interview, in dem er keine Weltwirtschaftskrise kommen sah – auf die Frage: »Sie sind ein Achtundsechziger?«: »Ich war kein Revoluzzer […]. Aber ich gehöre natürlich der Generation an, und ich habe miterlebt, wie eine in mancherlei Hinsicht erstarrte Gesellschaft, zum Beispiel in puncto Erziehung oder Sexualität, aufgebrochen wurde. Leider ist dann später aus manchen positiven Absichten und Ansätzen viel Negatives erwachsen. Aber zweifellos gab es damals eine Aufbruchstimmung.«378
Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll – es sei ihm gegönnt. Die Mitläufer und Zuschauer, so streberhaft sie sich auch auf ihre Karrieren vorbereiteten, profitierten eben auch von besserer Musik, freizügigerem Sex und entspannteren Umgangsformen. Aber natürlich bleibt in ihrer Erinnerung der politische Kern der außerparlamentarischen Revolte auf der Strecke: der Kampf gegen Krieg und Kapitalismus, der Abscheu gegen alte und neue Nazis und ein umfassender Begriff sozialer Emanzipation.
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Der Versuch, die APO endgültig zu diffamieren, misslang. Die nächste Runde ist 2018 zu erwarten. Heute setzt die politische Klasse auf die Stimulation nationaler Gefühle. Das soll helfen, die Vorstellung zu schwächen, dass diese Verhältnisse Widerstand verdienen. Wir sitzen aber nicht »alle in einem Boot«, sondern die einen ersaufen im Meer oder schuften im Maschinenraum und die anderen logieren im Penthouse der Reederei. Es bedarf also einer Meuterei. Das Gift des Nationalismus ist in Deutschland immer virulent. Es wird besonders gern gespritzt, wenn dem Kapitalismus Gefahr droht. Dann entwickelt sich die Ideologie der »nationalen Schicksalsgemeinschaft«, und auf einmal gibt es keine sozialen Klassen mehr und keine antinationale internationale Solidarität. Der Arbeitslose in England, der Wanderarbeiter in China, die Gewerkschafterin in Venezuela, der revoltierende Jugendliche in Griechenland – alle rücken plötzlich noch weiter weg. Dem national berauschten Deutschen ist sein deutscher Kapitalist näher als ein Mensch ähnlicher sozialer Lage, der wie der Zufall der Geburt es so will, in einem anderen Teil der Welt aufgewachsen ist.
Wenn der deutsche Untertan erst einmal mit Pomp und Fahnen Mitglied der nationalen Schicksalsgemeinschaft geworden ist, wird seine Opfer- und Verzichtsbereitschaft größer. Er fragt nicht mehr, was der tote Soldat eigentlich am Hindukusch verloren hatte, er verachtet Streikende und sieht auf Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe oder Religion herab. Dafür winkt ihm die scheinbare Hilfe der deutschen Volksgemeinschaft bei der Überwindung der Schrecknisse des Lebens, der Angst vor dem Fremden, vor Veränderungen und anderen »Sicherheits«-Problemen. Wirkliche Grundwerte wie soziale Gleichheit aller Menschen, Freiheit von Ausbeutung, Erniedrigung, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus, Solidarität über alle nationalen Grenzen hinweg und eine umfassende gesellschaftliche Emanzipation hat die Nation aber niemals im Angebot. Ganz besonders nicht die deutsche, die nicht mal ein Recht auf »résistance« kennt.
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Was ist »deutsch« außer einem Zufall der Geburt? Wie absurd und armselig ist die Identifikation mit einer Nation? Und dann mit dieser. Das Deutsche Reich wurde auf dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gegründet, den Bismarck angezettelt hatte, um Deutschland unter preußischer Führung als europäische Großmacht zu etablieren. Deutsche Truppen brannten französische Städte nieder und töteten mit Vorliebe Zivilisten, die es wagten, sich gegen die feindlichen Eindringlinge zu wehren. Die Deutschen belagerten Paris, die Menschen hungerten und aßen Ratten. Zur Demütigung Frankreichs ließ sich Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser krönen.
Vier Jahre vorher, auf der Weltausstellung in Paris, hatten sich die Pariser über die preußischen Exponate lustig gemacht: eine Kruppsche Riesenkanone und ein überlebensgroßes Reiterstandbild des preußischen Königs. Die siegreichen deutschen Armeen belagerten noch die französische Hauptstadt, als im März 1871 dort eine Revolution ausbrach: die Commune von Paris.
Die »sozialen Maßregeln« dieser ersten proletarischen Revolution sind bis heute nicht verwirklicht. Die soziale Gleichheit der Menschen, die Emanzipation der Frau, direkte Demokratie und jederzeitige Rechenschaftspflicht und Abwählbarkeit der Räte, die aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse zu bestehen hatten. Die Kommune schaffte die Guillotine ab sowie die politische Polizei. Beamte hatten kein höheres Einkommen als Arbeiter. Betriebe wurden von kooperativen Arbeiterassoziationen geführt. Das Bildungswesen war offen für alle. Staat und Kirche waren endlich getrennt und Religion Privatsache. Die Kunst war frei und die Todesstrafe verboten. Die katastrophale Gutmütigkeit der Kommune bestand erstens darin, die Bank von Frankreich nicht zu enteignen, so dass die nach Versailles geflohene Regierung sich und die Konterrevolution finanzieren konnte, und zweitens darin, nicht nach Versailles marschiert zu sein, um die Revolution auch national und militärisch abzusichern. Auch als die Niederlage absehbar war, kämpften so viele Männer, Frauen und Kinder an den Barrikaden, dass an einer Stelle 20 000 Regierungssoldaten volle drei Stunden benötigten, um eine Straße zu erobern.
Die deutschen Generäle beobachteten vom Stadtrand den Bürgerkrieg und das brennende Paris mit Vergnügen, einer schrieb nach Berlin: »Es (ist) himmlisch, dass sie nun selbst das heilige Paris zu bombardieren anfangen.«379 Auf den Straßen und den Treppen von Montmartre stapelten sich die Leichen von Kindern, Frauen und Männern. Das neue Deutsche Reich half der französischen Regierung, die Revolution niederzuschlagen. Der revolutionäre Funke sollte nicht nach Deutschland fliegen. »Dass nach dem gewaltigsten Krieg der neuern Zeit die siegreiche und die besiegte Armee sich verbünden zum gemeinsamen Abschlachten des Proletariats – ein so unerhörtes Ereignis« beweise, schreibt Marx, »die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat!«380
Wir können das als frühen Kommentar zur EU lesen.
Die Lehren aus der »Gutmütigkeit« der Pariser Kommune wurden gezogen – mit wenig Erfolg 1918/19 in Deutschland, mit umso größerem 1917 in Russland und während des Faschismus in der französischen Résistance. Die 5 Milliarden Goldfrancs Kriegsbeute von 1871 finanzierten die reichsdeutschen Gründerjahre, das war gleichsam der erste Versailler Vertrag. Auf den Krieg von 1870/71 folgten zwei von Deutschland angezettelte Weltkriege, dazwischen Kolonialkriege in Afrika und China, Sozialistenverfolgung, Freikorps und Putsch, Judenvernichtung und NS-Faschismus.381
Von der Pariser Kommune von 1871 bis zur Novemberrevolution von 1918/19, deren Scheitern den NS-Faschismus vorbereiten half, dauerte es 47 Jahre. Seit der Befreiung vom Faschismus haben wir 67 Jahre hinter uns, seit der Revolte von »68« sind es 44. Niemand von uns kann wissen, was genau auch nur die nächsten zehn Jahre bringen.
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Um das große Ziel zu erreichen, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, wie Marx es formuliert, haben wir, angesichts der Weltlage, künftig etwas mehr zu tun als bisher. Einerseits. Andererseits werden seit Beginn der Weltwirtschaftskrise manche Selbstverständlichkeiten auf zuvor unberechenbare Weise erschüttert. Der Kapitalismus heißt wieder Kapitalismus und nicht mehr nur Marktwirtschaft. Der Glaube an ihn als die höchste Stufe menschlicher Entwicklung ist nachhaltig angeschlagen. Risse zeigen sich auch in vielen Köpfen, und es ist unsere Aufgabe, in diesen Köpfen die Widerhaken unserer kritischen und subversiven Fragen zu verankern, bevor die mörderische alte Ordnung diese Risse erneut zuschmiert.
Ein paar Lektionen sollten nach ein paar hundert Jahren endlich klar sein: Der Kapitalismus ist durch Reformen nicht in eine humane Gesellschaft zu überführen. Die sozialen Interessen der Menschen können niemals in einer Gesellschaft entfaltet werden, in der gleichzeitig das Kapital seinen Verwertungsinteressen nachgehen kann, wie nicht nur Gregor Gysi uns glauben machen möchte, um seiner Partei eine Existenzberechtigung zu geben.382 Denn diese Kapitalinteressen sind unzähmbar, sie sind eine mörderische Maschine, die den Menschen und die Natur verschlingt. Sie dulden neben sich nicht den freien und gleichen Menschen.
Eine gerechte Gesellschaft ist keine, in der die Gerechtigkeit nur eine Pseudogleichheit ist, die bloß darin besteht, dass ein Hartz-IV-Empfänger bei Wahlen genauso viele Stimmen hat wie ein Konzernchef. Letzterer kann nämlich anders auf den Staat Einfluss nehmen und bräuchte die Wahlstimme eigentlich nicht.
Eine gerechte Gesellschaft ist auch keine, in der für beide vor Gericht die gleichen Paragraphen gelten. Ihre ungleiche soziale Lage macht sie natürlich auch vor der bürgerlichen Justiz ungleich. Gesellschaftliche Reputation und einen erstklassigen Anwalt besitzen Stützeempfänger eher selten.
Es gibt also keine Gerechtigkeit bei ungleicher sozialer Lage und demzufolge auch keine Freiheit. Eine Gesellschaft von Freien und Gleichen anzustreben ist keine moralische Frage. Es macht sehr viel glücklicher, in einer Welt zu leben, die nicht von Hass, sozialer Gewalt und Not durchsetzt ist. Eine Gesellschaft, in der Kinder nicht früh gebrochen und zu ängstlichen und unfreien Menschen gemacht werden. Es ist die schönste vorstellbare Utopie, in einer Welt zu leben, in der alle Menschen, die geboren werden, die Chance haben, ihr soziales, intellektuelles und kreatives Potenzial vollständig zu entfalten.
In 500 Jahren kapitalistischer Entwicklung ist einiges an Fortschritt für den Menschen abgefallen. Oft sind es aber ambivalente Fortschritte, weil sie ja nicht angestrebt und finanziert wurden, um dem Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Ruinierung des Urwaldes produziert auch Zahnstäbchen. Bei der Forschung für die militärische Eroberung des Weltraums fiel die Teflonpfanne ab. Aber wäre all der Reichtum an Ressourcen, Wissenschaft und Technologie mit dem Ziel eingesetzt worden, das Leben der Menschen zu verbessern, wie viel anders würde die Welt heute aussehen?
500 Jahre Kapitalismus bedeuten 500 Jahre Fortschritt und zugleich Ruin des möglichen Fortschritts. Unbestritten sei der Fortschritt, den die Medizin uns gebracht hat, aber die Lage aller Menschen betrachtet, wäre sauberes Wasser in ausreichender Menge für alle ein größerer gesundheitlicher Fortschritt als Hochtechnologie für wenige und Verdursten für so viele. Alle Menschen brauchen Zugang zu beidem. Aber der Kapitalismus verschafft einer Minderheit die Vorteile, während er zugleich die Lebensmöglichkeiten der Mehrheit beschränkt.
Ein menschenwürdiges Leben für alle ist nur in einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit und Kapital vorstellbar, wenn die Banken überflüssig geworden sind und das Geld keine Rolle mehr spielt, wenn die innere Qualität der Ware entscheidet und das Design sekundär ist, wenngleich nicht belanglos. Also wenn in einer Gesellschaft Gebrauchsgüter gefertigt werden, die nicht von der Profitlogik deformiert sind und deren Herstellung nicht asketisch-zwanghaft von einer bürokratischen Kommandowirtschaft wie dem sogenannten Realsozialismus reguliert wird sowie ohne das grenzenlose Wachstum des kapitalistischen Wirtschaftens mit seinem Zwang zu Profit, Konsum, Konkurrenz und unsozialer Leistung.
Und wie kommen wir dahin? Es gilt der alte Dreiklang: Theorie, Aktion, Organisation. Nach geschlagenen Schlachten – wie nach der APO, nach den Massenstreiks, nach der Anti-AKW-Bewegung, nach der Frauenbewegung, nach der Friedensbewegung, nach der Hausbesetzerbewegung, nach den letzten wirklichen gewerkschaftlichen Kämpfen, nach dem Aufblühen der antifaschistischen Bewegung – kommt meist ein Wellental, eine große Erschöpfung. Soziale Kämpfe haben nun einmal solche Verlaufsformen. Manche Menschen steigen dann aus und bilden sich ein, alles sei vorbei. Dabei ist es die Zeit zum Atemholen, zur Analyse, zum Lernen, zur Vorbereitung des nächsten Angriffs. Oder wie der Schriftsteller Dietmar Dath sagt:
»Aber der Zerfall von Bewegungen tritt immer dann ein, wenn ein Anlauf genommen wurde und dieser an den herrschenden Verhältnissen abprallt. Die Lähmung ist das Resultat der jüngsten Niederlagen. Man kann dasselbe bei Marx sehen: Wann fängt er an, Das Kapital zu schreiben? Im Kommunistischen Manifest ist die Überzeugung, dass Europa alsbald umgestaltet werde, noch mit Händen zu greifen. Doch dann passiert das eben nicht. Also hat er sich noch einmal in die Bibliothek gesetzt und aufs Neue versucht, alles zu verstehen. Mal wird angegriffen, mal ausgewertet. So geht Denken.«383
Es gibt kein Ende der Geschichte. Die gewalttätigen kapitalistischen Verhältnisse, der Widerspruch von Kapital und Arbeit, werden Widerstand produzieren, solange es Menschen gibt. Die wirklich interessante Frage ist: Von welcher Qualität ist dieser Widerstand? Wie viel wissen die Widerstehenden von der Geschichte sozialer Kämpfe und von dem zerstörerischen Potenzial des Kapitalismus? Haben sie das Wellental der Bewegung, die Ruhe vor dem nächsten Sturm, die Zeit ohne täglichen Aktionismus genutzt, um klüger zu werden? Um die Entwicklung der Gesellschaft genau zu beobachten? Neues zu entwerfen? Sich im besten Sinne rücksichtslos und erkenntnisfördernd miteinander zu streiten?
Wer glaubte, nach der letzten Revolte käme nichts mehr, wer die eigene Biographie mit der Zeitgeschichte verwechselt hat und ausgestiegen ist und heute die Welt nicht mehr ganz versteht, der hat eben ein kleines Problem und muss nacharbeiten. Ungleich ist unser Erkenntnisstand ohnehin. Denn da es kein klassisches »revolutionäres Subjekt« in Gestalt einer von gleichen Arbeits- und Lebensbedingungen geformten Arbeiterklasse mehr gibt, sondern viele verschiedene potenziell revolutionäre Subjekte in national wie weltweit höchst unterschiedlichen Lebenslagen und -phasen, haben wir alle ungleiche Ausgangsvoraussetzungen. Darin liegen auch Chancen: Weiter ausholende soziale Erfahrungen kommen zusammen und ein hoffentlich offenerer Blick auf die Welt. Aber es gibt auch ein paar Komplikationen, was die Frage der Organisierung angeht.
Theorie, Aktion, Organisation: Zunächst also die Anstrengung der Kopfarbeit. Die Selbstdisziplin und Geduld, den eigenen Verstand zu strukturieren. Theoretisch arbeiten, lesen, denken. Wer das aber auf Dauer tut, ohne die Füße in politischer Praxis zu haben, läuft Gefahr, Hofnarr oder Elfenbeinturmbewohner zu werden. Er oder sie wird in beiden Fällen ungefährlich und von Angehörigen der besitzenden Klasse vereinnahmbar. Und ist es nicht eine sehr anregende Vorstellung, dass der Mensch ein so vielseitig begabtes, auch sinnliches Wesen ist, dass er besser denkt und lernt, wenn er auch praktisch kämpft (und umgekehrt)?
Dann gibt es diejenigen, die politische Praxis und Aktionen lieben, die das Machen gut können, mit einigem technischen und sportlichen Geschick, ohne allzu viel Angst und vielleicht sogar mit taktischer Phantasie. Ihr Problem kann sein, dass sich, ganz ohne Theorie, ohne Kenntnis der Geschichte, ohne Kopfarbeit eben, die eingesetzte Kraft nach einiger Zeit verflüchtigt und ziellos wird. Ihr Besitzer mag zwar festen Boden unter sich spüren, er kennt den historischen Grund aber nicht, auf dem er steht. Ganz abgesehen von der ärgerlichen Möglichkeit, bei theorieblindem oder sektiererischem Aktionismus allzu leicht kriminalisiert zu werden. Oder bei falscher politischer Praxis an Bürokratie zu ersticken.
Also Theorie und Praxis. Aber mit wem und in welchem organisatorischen Rahmen? Klar ist: An Bündnisse sind verbindliche inhaltliche Anforderungen zu stellen. Darunter geht gar nichts. Es gibt das alte reformistische Argument, dass man »auf die Menschen zugehen muss«, sie abholen muss an jeder Bushaltestelle. Allzu viele sind schon in den gleichen Bus gestiegen wie alle anderen und im ewig selben Trott mitgefahren. Sie haben nicht die Gesellschaft verändert, sondern sich ihr angepasst.
Eine interventionsfähige, emanzipatorische politische Bewegung ist kein eingetragener Verein von Sozialarbeitern. In der Geschichte der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften hat der Spruch vom »Abholen« immer die Ausrede geliefert, sich opportunistisch dem Mainstream zu unterwerfen. War der Arbeiter rassistisch, hatte man Verständnis. War die Arbeiterin national gesinnt, galt das nicht als Streitfall, sondern als konstruktiver Anknüpfungspunkt.
Unter heutigen Bedingungen könnte das auch heißen, sich in end- und sinnlosen Gesprächen mit Bild-Zeitungs-Lesern, BWL-Studenten und neoliberalen Journalisten zu verzetteln. Auf »die Menschen« zuzugehen ist richtig, sofern es bedeutet, Erkenntnisse zu vermitteln, an ihre soziale Lage anzuknüpfen, ungewohnte und radikale Gedanken populär zu vermitteln und sich in emanzipatorischer Absicht auseinanderzusetzen. Mit Menschen anderer Herkunft zu reden und zu streiten, das müssen einige Linke noch lernen.
Für die kommenden Kämpfe nützt uns keine qualitätslose Masse, die mal einen Tag auf dem Marktplatz Reden lauscht, mit Fähnchen winkt, Glühwein trinkt und sich zählen lässt. Aber nichts ist gegen eine politisierte Masse von Menschen einzuwenden, die sich lernend wehrt und vielerlei Aktionen kennt.
Es geht um die politische Qualität der kommenden sozialen Auseinandersetzung. Wir sollten nicht unterschlagen, dass wir das Ziel haben, den Kapitalismus abzuschaffen. Das muss Konsens sein. Die Bewegung, die dort hinführt, ist kein Selbstzweck und keine Party (Feten gibt es zusätzlich). Diese Auseinandersetzung ist ein Prozess, dessen Verlauf wir noch nicht kennen. Manche Rahmenbedingungen ändern sich gerade. Unsere Schritte in diesem Prozess müssen wir miteinander aushandeln. Einige Bedingungen sind fest.
Wir haben das Recht, uns gegen die Demütigung, Ausbeutung und Vernichtung von Menschen und gegen die Zerstörung der Natur zu wehren. Das ist unverhandelbar. Für Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Nationalismus ist kein Platz. Gewalt ist, wo immer möglich, zu vermeiden. Aus prinzipiellen Gründen, denn die Methoden der politischen Auseinandersetzung sollten von unseren Grundwerten getragen sein. In einer durch und durch gewalttätigen Gesellschaft aber wird »Gewaltlosigkeit« nicht immer möglich sein, und sie kann auch kontraproduktiv werden, sofern wir keine Opfer oder Märtyrer werden wollen. Allerdings ist unsere Definition von Gewalt eine andere als die derjenigen, die sich heute das Gewaltmonopol anmaßen und ihre Interessen weltweit überhaupt nur mit Gewalt durchsetzen – mit struktureller Gewalt, mit sozialer Gewalt, mit ökonomischer, polizeilicher und militärischer Gewalt.
Auf einem Plakat an der Wand meines Zimmers, als ich in Glasgow lebte, stand: »Streik ist Gewalt. Ohne Streik kein Acht-Stunden-Tag.« Zwei Sätze von schöner Klarheit. Alle sozialen Rechte, die wir heute verteidigen müssen, sind Resultate von oft blutigen Auseinandersetzungen. Auf das pharisäerhafte Gerede von der furchtbaren Gewalt, die zum Beispiel in Betriebsbesetzungen oder Blockaden gegen Militärmanöver liege, kann man den guten Bürgern, die nicht mal wissen, woher ihre Privilegien kommen, gut mit Dietmar Dath antworten: »Die bürgerliche Demokratie hat auch ein paar Anläufe gebraucht. Zunächst mal ist sie in Frankreich im Blut ersoffen, alle haben sich gegenseitig geköpft.«384
Wenn man sich überlegt, wie viel Schweiß und Blut, wie viel Verachtung, Prügel und Gefängnisfolter Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts auf sich nahmen, nicht, um sich soziale Gleichheit, sondern nur, um sich das Wahlrecht zu erkämpfen! Wie groß die Anstrengung, wie klein der Erfolg, misst man ihn am Grundanliegen der Gleichheit. »Humanismus auf Erden, jener schwere Versuch einer Vereinigung von Vernunft und lebendigem Herzschlag, Vereinigung von Freiheit und [sozialer] Gleichheit, fällt uns nicht in den Schoß. Widerstand und Ungehorsam im Kampf um eine humane Welt fordert Schweiß, Tränen und Blut«, sagte Fritz Bauer kurz vor seinem Tod.385 Natürlich war der Kampf der Suffragetten richtig und bewundernswert. Noch über hundert Jahre später aber haben Frauen nicht einmal gleichen Lohn für gleiche Arbeit, leiden Männer wie Frauen unter alten und neuen Ungleichheiten und moderneren Formen der Sklaverei.
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Die Justiz unterscheidet nicht mehr zwischen Sachen und Menschen. Die Straftat »Landfriedensbruch« setzt die Beschädigung einer Sache mit der Verletzung von Menschen gleich und nennt beides Gewalt. Auf diese Weise kamen die Göteborger Demonstranten länger ins Gefängnis als die Folterer von Genua.
Wir hingegen unterscheiden: Menschen sind uns mehr wert als Dinge. Es war wunderbar, dass die Bauern und Winzer vom Kaiserstuhl, als sie auf den ausgelatschten Trampelpfaden der Bürgerbeschwerden nichts erreichten, einen Zaun durchschnitten und ganz handgreiflich einen Bauplatz besetzten, um das Atomkraftwerk in Wyhl zu verhindern, was ihnen auf diese Weise und mit ein paar weiteren Aktionen und in wachsenden Bündnissen gelang.
Unserer staatsunabhängigen, gewaltfreien, aber phasenweise auch militanten Anti-AKW-Bewegung der 1970er Jahre gelang es, direkt und indirekt, rund 70 geplante Atomkraftwerke in Deutschland zu verhindern386, in wenigen Jahren, ohne Staatsgelder und ohne auch nur einen parlamentarischen Vertreter. Ihre Politisierung, ihre Unberechenbarkeit und ihr Erfolg waren der Grund, warum die erste Anti-AKW-Bewegung im Deutschen Herbst von 1977 unter die Räder des Staates kam, ohne dass ihr aber bis heute – im Großen und Ganzen – ihr Erfolg wieder weggenommen werden konnte.
Mit wem also mittel- und langfristige Bündnisse? Mit sozialdemokratischen Organisationen sind sie ausgeschlossen, das ist klar, egal ob diese nun SPD oder Linkspartei heißen. Für einen Tag gemeinsam z.B. in Dresden gegen Nazis zu demonstrieren, ist natürlich okay. Längere und festere Bündnisse sind ausgeschlossen seit der SPD/Linkspartei-Koalition von Berlin, seit dem Deutschen Herbst, seit den Notstandsgesetzen, seit der großen Koalition, seit Godesberg, seit Ebert und Noske, seit den Kriegskrediten von 1914. Wenn es auch bei manchen lange gedauert hat, den Charakter des Reformismus zu begreifen, Hauptsache, man hat ihn endlich begriffen. Also kein Bündnis mit SPD und Linkspartei. Und natürlich ebenso wenig mit einer antisozialen bis reformistischen, naturzerstörerischen grünen Kriegspartei und auch nicht den bürgerlichen Piraten. Also: reformismusfreie Zonen!
Eine neue staatsunabhängige antikapitalistische Linke wird sich aufmerksam umschauen: Wo sind Bündnispartnerinnen und Bündnispartner, auch solche, an die man vielleicht noch nicht gedacht hat? Das klassische revolutionäre Subjekt, die Arbeiterklasse mit einem kollektiven Bewusstsein ihrer sozialen Lage, existiert so nicht mehr. Es gibt die Arbeiterklasse natürlich nach wie vor soziologisch, aber eben nicht als sich selbst als revolutionäre Klasse betrachtend.
Unsere heutigen potenziellen Bündnispartner sind: Migranten, Subproletarierinnen, Straßenkinder, Facharbeiter, Schüler, Studentinnen, Leiharbeiterinnen, Künstler, Hartz-IV-Empfänger, Intellektuelle – was die Sache ein bisschen mühsamer macht, aber auch ziemlich interessant. Es kommt auf Grundüberzeugungen an, jenseits aller Unterschiede.
Und in welche Form bringen wir das Ganze? Muss es eine haben? Ja, sogar eine verbindliche und zugleich bewegliche. Ist sie nicht verbindlich, scheucht uns der Gegner auseinander wie die Fliegen. Passen wir uns den herrschenden bürgerlichen Formen zu sehr an, ersticken wir. Erstarrt die Form, bricht sie.
Marx war der Meinung, die Befreiung müsse das Werk der Ausgebeuteten selbst sein, an eine Partei dachte er nicht, er analysierte die neu geschaffene SPD, an der im 19. Jahrhundert noch nicht alle Hoffnung verloren war. Seine Kritik am Gothaer Programm der SPD war allerdings weitsichtig.387 1871 korrigierte Marx das Kommunistische Manifest (1847) in einem Punkt, indem er eine Lektion aus der Pariser Kommune zog: Vor allem die »Pariser Kommune, wo das Proletariat zum ersten Mal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte«, habe »den Beweis geliefert, daß ›die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann‹«, sondern dass es, so schrieb er im April 1871 an Louis Kugelmann, darum gehe, »die bürokratisch-militärische Maschinerie [statt sie] aus einer Hand in die andere zu übertragen […] sie zu zerbrechen«, dies sei »die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent«.388
Wie ist unsere Lage? Mit Parteien haben wir schlechte Erfahrungen, aber mit Bewegungen auch. Beides hat Mängel. Bewegungen können an ihrer Unverbindlichkeit ermatten, können leicht zerfallen, einzelne Teile lassen sich gegeneinander ausspielen und von der Gegenseite vereinnahmen. Sind sie mehr als ein spielerisches Ventil? Sind sie interventionsfähig? Verlässlich? Eine Partei, die ja eine in einer bürgerlichen Gesellschaft wäre, trüge andere Krankheitskeime in sich. Die verbindlichere Struktur kann Hierarchie, Verspießerung und Selbstzweck im Gepäck haben. Gibt es eine Art der Organisierung, die all diese Mängel aufhebt?
Die Lösung könnte eine verbindliche Organisation sein, die in der Lage ist, ihre eigenen Strukturen permanent in Frage zu stellen, damit sie nicht erstarrt, aber ihre Grundsätze nicht zur Disposition zu stellen. Eine Organisation, die beweglich und stark zugleich auf die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse eingehen kann. Es gibt natürlich kein kopierbares Vorbild, wie sollte das auch möglich sein. Aber in vielen Kämpfen finden wir – neben vielem Kritikwürdigen – in bestimmten Phasen auch vorbildliche Elemente: in der Pariser Commune, in der Anfangsphase der russischen Oktoberrevolution, in den kurzen Lebenstagen der deutschen Novemberrevolution, in der spanischen CNT (Confederación Nacional del Trabajo), in Phasen der kubanischen Revolution, in den fast vergessenen sozialen Experimenten Chiles vor 1973 und in der portugiesischen Revolution von 1974.
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Manche Menschen reagieren allergisch auf Worte wie »Organisation« und »Verbindlichkeit«, sie unterschätzen die korruptive und integrative Kraft ihrer täglichen vermeintlich unpolitischen Geschäfte in einer bürgerlichen Gesellschaft.
Viele haben versucht, das Wellental zu nutzen, zum Klügerwerden, zum Analysieren, zum Ausruhen nach jahrelangen Kämpfen, zur Vorbereitung für neue. Jetzt, während der Weltwirtschaftskrise, ändern sich die Bedingungen so, dass wir schauen müssen, in welcher größeren Formation sich die vielen kleinen Gruppen zusammenschließen können. Aufmerksam und vorsichtig natürlich, viele von uns haben ja schon einschlägige Erfahrungen gemacht. Auch anderswo werden neue Versuche unternommen. Und während wir nebenbei neu über die Frage »Wie organisieren?« nachdenken, gibt es eine Menge zu tun, wovon wir uns währenddessen nicht abhalten lassen sollten.
Es geht für uns alle darum, dass wir besser lernen, uns unsere Welt wieder anzueignen. Die gequälte Natur von menschengemachten Schäden zu entlasten. Den überwachten öffentlichen Raum zurückzuerobern. Unsere Angst bekämpfen zu lernen. Hoffnung zu schöpfen. Unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dinge zu lernen, die wir alle in der Schule nicht erfahren haben. Und dass wir viel stärker als bisher über deutsche Grenzen in alle Welt schauen müssen, um Bündnispartner zu finden.
Darum geht es: sich die Welt aneignen. Lernen. Ausprobieren. Sich mit anderen solidarisch zusammenrotten. Meistens wird das zwischen Gleichaltrigen und Gleichgesinnten erst einmal leichter sein. Wenn der andere die gleiche Musik mag und einander die gleiche schulische oder berufliche Erfahrungswelt verbindet, erleichtert das die Zusammenarbeit. Wenn es aber darum gehen soll, die Gesellschaft tiefgreifend zu verändern, dann brauchen diese sozialen Inseln Brücken, dann wäre es gut, wenn wir lernten, mit sehr verschiedenen Menschen solidarisch zusammenzuarbeiten.
Es wird vom Kapital und seinen Handlangern viel dafür getan, dass der Funke einer Bewegung nicht von einem Land auf das nächste überspringt. Deshalb erfahren wir üblicherweise wenig von den sozialen Kämpfen in aller Welt. Große Streiks in Kanada? Bergarbeiterstreiks in den USA? Millionen Menschen auf einer Demonstration in Athen? Nicht einmal aus den Zentren des Kapitalismus erfahren wir regelmäßig, was uns besonders interessiert. Wir sollen es auch nicht. Dafür kriegen wir Tratsch und Klatsch in Tsunami-Dimensionen. Natürlich ist die Sache gewollt. Ob nun jede einzelne Moderatorin irgendeiner hirnrissigen TV-Sendung weiß, was sie tut, ist bedeutungslos. Wir müssen unsere eigene Gegenöffentlichkeit schaffen.
Wo sind die strategisch richtigen Konflikte, denen man auf keinen Fall aus dem Weg gehen soll, weil man mit ihnen in die gesellschaftliche Debatte eingreifen kann? Wie überwindet man törichte Milieubeschränkungen? Es muss ja nicht auf ewig so sein, dass Menschen, die dem Kapitalismus die Harke zeigen wollen, nur deshalb nicht zusammenkommen, weil sie unterschiedliche Musik hören. O.k., es gibt Grenzen der Toleranz: Deutsche Volksund Marschmusik sind auf ewig ausgeschlossen.
In Deutschland ist die Opposition gegen die Kapital- und Staatsverhältnisse traditionell diskreditiert. Nicht nur wenn sie konkret und praktisch wird. Dass die Verhältnisse eine Umwälzung verdienen, soll nicht einmal mehr gedacht werden. Bestimmte Paragraphen, die angeblich dem Kampf gegen den Terrorismus dienen, machen inzwischen selbst die abweichende Gesinnung strafbar. Würden alle Gesetze auf einen Schlag angewendet, die sich gegen streikende Arbeiter, agitierende Studentinnen, Besetzerinnen von Plätzen und Straßen, Gipfelgegner, Antifaschisten und NATO-Gegner richten könnten, wäre auch unpolitischen Menschen schnell klar, dass dieses Land ein anderes ist als das, in dem sie zu leben glaubten. Aber dieses juristische Waffenarsenal liegt in einer Art Vorratskammer, es wird nicht immer angewendet und nicht gleichermaßen gegen jeden, den es betrifft.
Je breiter eine Bewegung ist, je besser vernetzt, umso mehr kann sie sich leisten. In Zeiten der Krise, in Zeiten des Zorns, wenn die Erschütterungen mehr Menschen aus dem Alltagstrott und täglichen Sorgen reißen und wenn sie aufmerksamer werden für die Welt jenseits des Tellerrands und vielleicht für die Sorgen anderer, muss ein Staat vorsichtiger sein, allzu schnell und allzu hart zuzuschlagen gegen diejenigen, die in Opposition sind. Der Funke soll schließlich auch nicht von einem sozialen Milieu auf das nächste überspringen.
Unser Ziel ist, dass Menschen ein Leben ohne Ausbeutung, Diskriminierung, Hunger und Krieg führen können. Dafür sind energischere Maßnahmen als Mahnwachen und Kundgebungen nötig. Ein Bündel von Maßnahmen, dessen Wirksamkeit am größten ist, wenn wir viele sind und wissen, was wir tun. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, die auf Solidarität aufbaut und auf sozialer Gleichheit, in der es keine Ausbeutung und keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt, eine Gesellschaft, in der wir basisdemokratisch entscheiden, wie wir leben und arbeiten wollen. Das ist ein tollkühner Plan. Und wir müssen alles selbst machen. Die Mittel, durch die wir dieses Ziel erreichen könnten, werden manche eine soziale Revolution nennen. Einverstanden.
Und wie wird die Sache ausgehen? Das soll Marx beantworten: »Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen werden würde.«389