6   Auf dem Weg in die Diktatur

In Seattle wurde 1999 der Beginn eines Aufbruchs einer noch jungen neuen internationalistischen Bewegung gefeiert. Zuerst einmal verwandelte die Polizei die nordwestamerikanische Stadt »in ein Kriegsgebiet«, wie Vandana Shiva, Trägerin des Alternativen Friedensnobelpreises, es beschrieb.236 Die Polizei trat RoboCopähnlich auf und setzte Gummigeschosse, Tränengas und Prügel ein – aber es nützte ihr nichts. Die Staatsmacht war auf die Intensität des Protestes gegen die WTO nicht vorbereitet. Die Tagung scheiterte auf spektakuläre Weise.

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November 1999, Konferenz der Welthandelsorganisation in Seattle: Hier sollte die »Millenniumsrunde«, die Jahrtausendrunde zu Handelsfragen, eröffnet werden, um die »Liberalisierung des Welthandels« und die »Marktöffnung« weiterer Staaten auszudehnen, eine Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Für einen großen Teil der Welt bedeutete das nichts anderes als eine Bedrohung. 50 000 Demonstranten belagerten das Treffen. Sie verhinderten nicht nur den geplanten Ablauf der Zusammenkunft, sondern erzwangen ihren vorzeitigen Abbruch. Die WTO-Konferenz brachte nicht einmal eine gemeinsame Abschlusserklärung zustande.

Sobald die Polizisten irgendwo Blockierer herausgezerrt und festgenommen hatten, setzten sich andere Demonstranten an ihre Stelle. Seattles Polizeipräsident gestand nach seinem Rücktritt: »Wir waren nicht auf die Tiefe der Anti-WTO-Gefühle vorbereitet. Und nicht auf die sehr große Zahl von Einzelpersonen, die eine Minderheit aller Protestierer repräsentierten, die auf Zerstörung und Gewalt aus waren.«237

Gewalt? Die Medien vermitteln die von der Politik der WTO ausgehende menschenvernichtende Gewalt niemals so eindringlich wie das vergleichsweise bedeutungslose Vorkommnis kaputter Scheiben bei McDonald’s. Das perspektivlose, von Hunger und Krankheiten geschüttelte Leben auch nur eines einzigen Menschen im Trikont wird nie so einfühlsam dargestellt wie der Zorn eines Konferenzteilnehmers über lästige Demonstranten.

Die Polizei hatte außer ihrer Überraschung über die Wut auf die WTO noch ein Problem. Der damalige US-Präsident Bill Clinton ließ sich nicht davon abhalten, nach Seattle zu kommen und die Teilnehmer der Konferenz mit einer Rede zu beglücken. Es war schließlich Wahlkampf. Wie man einem Interview mit Clinton später entnehmen konnte, hatte das Weiße Haus eine geheime Absprache mit der AFL-CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations), dem Dachverband der US-amerikanischen und kanadischen Gewerkschaften, getroffen.238 Die AFL-CIO nahm an den Anti-WTO-Protesten teil. Aber die Annahme, dass der Verband für seine Rücksichtnahme auf den wahlkämpfenden US-Präsidenten eine Mehrheit der Demonstranten und Blockierer gewinnen würde, war ziemlich unrealistisch. Warum sollten ernsthafte WTO-Gegner ausgerechnet dem höchsten Repräsentanten derjenigen Nation den Weg frei machen, die am meisten Schaden in und mit der WTO anrichtete? Die Mehrheit unter den 50 000 Protestlern war ein bunter Haufen aus gewaltfreien und militanten, linken, anarchistischen, sozialistischen und internationalistischen Gruppen und nicht so leicht zu vereinnahmen, wie es sich das Weiße Haus vorgestellt hatte.

Der Secret Service des US-Präsidenten verlangte von der Polizei von Seattle, dem Präsidentenwunsch absoluten Vorrang zu geben und einen großen Teil ihrer Kräfte von der Räumung der Blockaden abzuziehen, um Clinton die Straßen frei zu machen. Ronald Legan, der leitende Vertreter des Secret Service in Seattle, stellte der Polizei ein Ultimatum, denn »wir wollten seine Wagenkolonne aus 30 Autos nicht nach Seattle hinein- und wieder hinausprügeln müssen«239. Die Polizei gab nach, zog Einheiten von den Protesten ab, und so kam Clinton durch – aber die Konferenz blieb blockiert.

Eigene Erfahrungen in ihren Ländern mit den Folgen der WTO-Politik sowie der Druck der »Straße« schürten auch die Widersprüche unter den damals 135 (heute 157) WTO-Mitgliedsstaaten. Einige Handelsminister aus Asien, Afrika, Zentral- und Lateinamerika verweigerten ihre Unterstützung für den hinter verschlossenen Türen ausgehandelten »Konsens«. Es gelang den mächtigsten Regierungen in der WTO, den USA, der EU und Japan, nicht einmal, sich auf eine Tagesordnung für die Jahrtausendrunde zu einigen.

Seattle wurde zum Fanal, zum Triumph eines »konfrontativen Vorgehens« gegenüber dem »lobbyistischen Schmusekurs der Nichtregierungsorganisationen«, wie es der Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (BUKO) nannte. Indem die linken Aktivisten die WTO-Konferenz störten, verzögerten sie auch verheerende Beschlüsse. Aber das System, das mehr als 24 000 Kinder unter fünf Jahren240 täglich an Unterernährung sterben lässt und das dazu geführt hat, dass heute etwa eine Milliarde Menschen hungert, auch weil die Nahrungsmittelpreise durch Spekulation und Agrosprit gestiegen sind, wurde nicht gestoppt.241

Dennoch hatte der Erfolg von Seattle – zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, acht Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion, nach all dem Siegesgeschrei vom »Ende der Geschichte« und dem noch endgültigeren »Sieg des Kapitalismus« – eine der internationalen Agenturen des Kapitals für einen Moment ausgebremst und weltweit vielen Menschen klargemacht, um was für eine menschenverachtende Organisation es sich bei der WTO handelte. Und es wurde die Botschaft verbreitet, dass tatsächlich ganz gewöhnliche Menschen etwas tun können, wenn sie sich zusammenschließen.

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September 2000, IWF- und Weltbank-Konferenz in Prag: Die beiden Institutionen tagten zum ersten Mal in einem osteuropäischen Land. Eine Initiative gegen ökonomische Globalisierung (INPEG), ein Zusammenschluss vor allem junger Leute, koordinierte die Aktionswoche des Widerstandes. Wie in Seattle spielte das Internet eine große Rolle bei der Mobilisierung und der gegenseitigen Information. Das war auch dringend nötig, denn die tschechische Regierung führte in den Wochen vor der Konferenz einen Medienkrieg gegen die Demonstranten. Die Prager Regierung wollte der Welt zeigen, dass sie Ruhe und Ordnung durchsetzen konnte. Bloß keine Wiederholung des verlorenen »battle of Seattle«!

Das tschechische Gesundheitsministerium riet Krankenhäusern allen Ernstes, sich auf Angriffe mit chemischen und biologischen Waffen einzustellen. Man empfahl der Bevölkerung, sich zu Hause einzuschließen, Türen und Fenster gegen die »Barbaren« zu verrammeln, Lebensmittelvorräte anzulegen und Kinder und alte Leute aufs Land zu schicken.242

Viele IWF- und Weltbank-Gegner wurden schon an der tschechischen Grenze abgewiesen. Einem Sonderzug mit 1 000 italienischen Aktivisten wurde anfangs die Einreise verweigert. Polizisten filmten aus Hubschraubern jede größere Menschenansammlung in Prag. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, mindestens 70 Demonstranten wurden verletzt. Am Abend lobte der tschechische Innenminister Stanislav Gross die Arbeit der Sicherheitskräfte.

Dennoch drangen etwa 20 000 Demonstranten bis zum Tagungszentrum der Weltwährungskonferenz vor. Die Demonstranten kamen auch aus Indien, Brasilien, Griechenland, Spanien, Italien, Norwegen und Deutschland. Es waren Gewerkschafter, Bauern, Landlose, Linke verschiedenster Couleur. Die etwa 10 000 Konferenzteilnehmer, unter ihnen auch Finanzminister und Notenbankchefs, kamen nicht mehr hinaus. U-Bahn und Pendelbusse stellten am Nachmittag den Betrieb ein. Zuvor hatte es wieder massive Polizeiübergriffe gegen Demonstranten gegeben. Im Einsatz waren 11 000 Polizisten und 5 000 Soldaten, als wäre Krieg.

Die Weltbank brach ihr Treffen einen Tag früher als geplant ab. Einige Delegierte fühlten sich nicht mehr sicher. »Wir sehen es als Erfolg an, dass sie die Stadt so schnell wie möglich mit eingezogenen Schwänzen verlassen«, sagte ein Aktivist der INPEG selbstbewusst.

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Nach Prag wurde der schon länger schwelende Konflikt zwischen den verschiedenen Strömungen der Gipfelgegner noch deutlicher. Viele der NGOs, die an den Protesten gegen die Gipfel teilnehmen, wollen lediglich eine »Reform« von IWF und Weltbank, nicht deren Abschaffung. Manche sind nicht einmal gegen den Kapitalismus, sie wollen nur seine Modernisierung. Deshalb sind diese Gruppen in weiten Kreisen der internationalen Protestbewegung auch so unbeliebt. Viele trauen ihnen nicht, denn allzu häufig wechseln ihre Repräsentanten zur Gegenseite über, werden Politikberater oder Abgeordnete bürgerlicher Parteien. Attac gehört eher zu den linkeren NGOs und will doch nichts als eine Steuerreform. Eines der jüngeren Beispiele der Integration ins System ist der Übertritt des Mitgründers von Attac Deutschland, Sven Giegold, zu den Grünen und seine blitzschnelle (erfolgreiche) Kandidatur für das Europaparlament. Viele andere angeblich oppositionelle NGO-Funktionäre beziehen für ihre »konstruktive« Arbeit Gelder aus dem Staatshaushalt oder von Parteistiftungen.

Längst haben Weltbank und IWF begriffen, wie günstig eine Spaltung des Widerstandes ist – in die »vernünftigen« und »konstruktiven« auf der einen und die »unvernünftigen«, »destruktiven« Widersacher auf der anderen Seite. Wenn es um korrumpierende Angebote geht, haben nicht nur Parteien, Parlamente und Regierungen großes Potenzial, sondern auch die Weltbank und der IWF: Fonds, Stiftungen, Aufträge, Jobs und – vielleicht am wirksamsten – Reputierlichkeit, also die falsche Art der sozialen Anerkennung.

Aber es gab in Prag auch radikalere Vertreter der NGOs wie Walden Bello, den philippinischen Soziologieprofessor und internationalen Menschenrechtsaktivisten. Er diskutierte gemeinsam mit zwei anderen NGO-Vertretern auf Einladung des tschechischen Präsidenten Václav Havel auf einer öffentlichen Veranstaltung auf der Prager Burg. Auf der Gegenseite saßen Horst Köhler, damals der geschäftsführende IWF-Direktor, James Wolfensohn, Präsident der Weltbank, der US-Investor George Soros und der südafrikanische Finanzminister Trevor Manuel. Walden Bello spottete: »Ich hätte ja nie gedacht, dass ich jemals so dicht bei James Wolfensohn sitzen würde. Das ist es vermutlich, was man Nahkampf nennt.« Dann griff er Wolfensohn direkt an: »Sie haben geholfen, die Diktatur von Suharto [in Indonesien] zu rechtfertigen, und das wird Ihnen die Welt niemals verzeihen.« Der Vorsitzende von Friends of the Earth International legte offen, dass Wolfensohn und seine Kollegen in ihrer Begeisterung für den Bau von Dämmen in der Dritten Welt persönlich dafür verantwortlich seien, dass 400 Leute getötet und 10 Millionen Menschen zwangsumgesiedelt worden waren.

Auch wenn Walden Bello einmal gemeinsam mit James Wolfensohn auf dem Podium saß, weiß er um die Gefahr solcher »Dialoge«. Weltbank und IWF seien hauptsächlich daran interessiert, die Opposition gegen ihre Projekte zu spalten, zum Beispiel indem sie einige Initiativen »vernünftige NGOs« und militantere »unvernünftige« nennen, schrieb er in einer Nachbetrachtung.243

Ende Oktober saßen noch etwa 20 der in Prag festgenommenen IWF- und Weltbankgegner in Haft. Zwei Monate nach den Protestaktionen kam, gegen eine Kaution von 50 000 Euro, der letzte Demonstrant aus einem Prager Gefängnis frei, ein 18-jähriger dänischer Schüler. Er war misshandelt worden und hatte wochenlang in Einzelhaft gesessen. Man warf ihm vor, mit einer Eisenstange auf einen Polizisten eingeschlagen zu haben, was er bestritt. Er sagte, dass er gesehen habe, wie ihm Polizisten Steine in seinen Rucksack steckten, als er am Boden lag.

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Juni 2001, EU-Gipfel in Göteborg: Für Kapital und Waren, für Billigarbeitskräfte und für Finanzspekulation gibt es in Europa kaum noch Grenzen. Für die Kritiker der herrschenden Verhältnisse hingegen ständig neue. Für viele Gegner des EU-Gipfels in Göteborg, die aus allen Teilen des Kontinents anreisten, war die Fahrt schon im Heimatland oder an der schwedischen Grenze zu Ende. Die schwedische Regierung setzte kurzerhand das Schengener Abkommen außer Kraft, um die Einreise von Gipfelgegnern zu verhindern. Ihre Busse wurden gestoppt, durchsucht und zur Umkehr gezwungen, Fähren aus Dänemark wurden scharf kontrolliert.

Man stelle sich einmal vor, was für ein Geschrei ausbräche, wenn auch nur einem Bus mit deutschen Touristen an einer europäischen Grenze die Durchreise verboten werden würde.

Und wie gut die europäischen Regierungen zusammenarbeiten, sobald es um die Diskriminierung von Oppositionellen geht! Der deutsche Bundesgrenzschutz (BGS) – seit 2005 Bundespolizei (BuPo) –, eine paramilitärische Truppe und Sonderpolizei mit viel zu umfassenden Rechten und Befugnissen, hatte der schwedischen Polizei detaillierte Informationen über sogenannte »bekannte Gewalttäter« zukommen lassen. Das Bundeskriminalamt (BKA) bespitzelte Busse. BKA-Leute reisten nach Göteborg. Es wurden sogar Akten aus Verfahren gegen Linke in Deutschland, die eingestellt worden waren oder mit einem Freispruch geendet hatten, an die schwedischen Behörden weitergeleitet.

Alles wurde für eine Eskalation vorbereitet. Dass dennoch so viele Menschen, vor allem viele junge, aus allen Ländern nach Göteborg reisten, ließ die europäischen Regierungen bald noch intensiver über eine »gemeinsame Strategie gegen herumreisende Gewalttäter«244 nachdenken.

Aber von alldem wussten die Demonstranten praktisch nichts. Zuerst sah es sogar so aus, als ob die schwedischen Behörden tolerant kooperieren wollten, und einige Behörden meinten das auch vermutlich so. Die Stadt Göteborg erlaubte den Gipfelgegnern, bestimmte Schulen als Schlafstätten, Kommunikations- und Konferenzzentren zu nutzen. Die Polizei versprach, sich zurückzuhalten und zum Beispiel keine Hunde und Reiterstaffeln gegen Demonstranten einzusetzen. Kaum hatte aber der Gipfel begonnen, stellte sich heraus, dass die Obrigkeit sich in Wahrheit für eine viertägige Strategie der Provokation, Aggression und Eskalation entschieden hatte.

Die Hvitfeldtska-Schule gehörte zu den Schulen, die den Demonstranten zur Verfügung gestellt worden waren. Sie war Schlafstätte, zentraler Anlaufpunkt und Informationszentrum. Hier sollten die Workshops stattfinden, und hier arbeitete die »Volxküche Rantanplan« für die Verpflegung der Gipfelgegner. Die Schule war also der wichtigste Teil ihrer Infrastruktur. Erst lange nach den Ereignissen wurde den Organisatoren klar, dass die Schule eine Falle war. Mitorganisatorin Annika Tigerryd fiel wieder ein, was der Leiter der Göteborger Polizei ihr vor dem Gipfel gesagt hatte: »Du sollst wissen, Tigerryd, immer wenn der Staat herausgefordert wird, ist es der Staat, der gewinnt.«245

Ausgerechnet diese Schule wurde gleich am ersten Tag, am Donnerstag, dem 14. Juni 2001, von der Polizei umstellt und angegriffen. Gegen 11 Uhr, nicht zufällig zu genau dem Zeitpunkt, als US-Präsident George W. Bush in Göteborg eintraf, umstellten 300 Polizisten – bis an die Zähne bewaffnete »Riotcops«, Reiterstaffeln und Hundeeinheiten – die Schule. In jenem Moment hielten sich dort mindestens 500 Gipfelgegner auf. Viele bereiteten sich gerade darauf vor, gegen Bush zu demonstrieren. Manche wollten ihm als ihre schärfste Waffe ihren nackten Hintern zeigen, das nannten sie »mooning to Bush«. Eine weitere Provokation – in den Augen der Polizei – schienen die Selbstschutzmaßnahmen der gewaltfreien spanischen Gruppe Ya Basta zu sein. Sie umwickelten empfindliche Körperteile zum Schutz vor möglichen Polizeiknüppeln mit allerlei Pappen und Schaumstoffen. Die Polizei nennt so was gern »passive Bewaffnung«. Man muss den Frust eines Polizisten verstehen, der auf einen Schädel schlägt, aber der platzt und blutet nicht …

Wer aus der Hvitfeldtska-Schule zu fliehen versuchte, auf den ritt die Polizei mit Pferden los oder hetzte ihre Hunde. Nach einiger Zeit entschieden die Eingeschlossenen, einen kollektiven Ausbruch zu wagen, dabei aber defensiv vorzugehen, einfach immer wieder beharrlich mit einer Masse von Leuten gegen die Polizeiketten zu drücken. Aber als sie dann merkten, dass das vergeblich war, gaben sie auf und zogen sich in die Schule zurück. Ein Polizist behauptete später vor Gericht, die Demonstranten hätten durch ihren Rückzug die Polizei in eine Falle locken wollen, um sie im großen Stil »totzuschlagen«.

Immer wieder versuchten die Eingeschlossenen auszubrechen. Die Polizei umstellte die Schule mit Transportcontainern. Ein paar sportlichen Leuten gelang es, über die Dächer der Container zu fliehen. Als gegen Abend mehrere größere Gruppen erneut auszubrechen versuchten, stürmte die Polizei die Schule und verletzte etwa hundert Menschen. Sie sperrte die meisten in Gefangenenbusse und verweigerte ihnen, nach der stundenlangen Freiheitsberaubung, erneut ihre Grundrechte. Niemand durfte einen Anwalt anrufen. »Sicherheitshalber« zerschlug die Polizei die Scheiben von Autos auf dem Parkplatz der Schule. Die Workshops und der Gegengipfel mussten ausfallen. Währenddessen demonstrierten 12 000 bis 15 000 Menschen in der Stadt, wo sich die Informationen über den Polizeiüberfall auf die Schule rasch verbreiteten. Viele versuchten, den Eingeschlossenen zu Hilfe zu kommen. Die Polizei rechtfertigte später ihr Vorgehen damit, dass in der Schule Straftaten vorbereitet worden sein sollen. Beweise legte sie nie vor.

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Ein junger Göteborger wohnte zusammen mit seiner Freundin und zwei Katzen im Stadtteil Biskopgården. Er arbeitete in der häuslichen Pflege. Er hatte eine Zahnoperation hinter sich und konnte nicht mitdemonstrieren. Aber etwas wollte auch er tun, also meldete er sich für das Infotelefon.

Infotelefone sind eine verbreitete und notwendige Sache bei großen Demonstrationen, sie gehören seit Jahrzehnten zu vielen Protestaktionen, auch sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen. Bei einer der Vorbereitungssitzungen für die Anti-EU-Gipfel-Aktionen wurde, wie für andere Arbeiten auch, öffentlich für die Mitarbeit beim Infotelefon geworben. So fand sich eine kleine Gruppe aus 18- bis 23-Jährigen, darunter der junge Mann aus Göteborgs Biskopgården. Wie immer wurden Telefonlisten angelegt, wer im Falle wichtiger Ereignisse per SMS benachrichtigt werden sollte. Die Listen hingen in der Hvitfeldtska-Schule offen aus, allein acht Telefonnummern gehörten den Mitarbeitern eines Dokumentationsfilmers. Jeder konnte sich eintragen.

Der Standort der Infozentrale war eine gewöhnliche Wohnung in einem Vorort. Die jungen Leute schliefen in Schlafsäcken. Der einzige Computer stand auf dem Couchtisch. Ein Polizeiexperte sagte dem Gericht später, auf dem Computer habe man ein spezielles Programm zum Versenden von SMS gefunden sowie ein Programm zur Verschlüsselung der Festplatte. Aber auf Nachfragen der Verteidiger musste der »Experte« zugeben, dass das SMS-Programm kostenlos zu haben war und mehrere Millionen Menschen es weltweit benutzten, und dass das Verschlüsselungsprogramm von jener Art war, welche die EU ihren Bürgern zum routinemäßigen Einsatz empfahl.

Als die Aktionstage am Donnerstag begannen, bezog das Infotelefon von überallher Informationen, hörte den Polizeifunk ab und gab die aktuellen Informationen an alle Interessierten weiter. Als die Hvitfeldtska-Schule überfallen wurde, riefen viele der Eingeschlossenen mit ihren Handys um Hilfe. Das meldete das Infotelefon natürlich weiter und verband die Information mit dem Aufruf, zur Schule zu gehen und den Eingeschlossenen zu helfen. Das Infotelefon verschickte, bis es von der Polizei überfallen wurde, nur zehn SMS-Nachrichten. Eine SMS lautete: »Wir brauchen Solidarität mit unseren Genossen in der Schule. Die Polizei hat Probleme, die Stellung zu halten, sie sind müde und hungrig.« Eine andere: »Menschen bereiten sich auf Verteidigung der Hvitfeldtska vor. Polizei sind zu wenige. Alle dorthin zum Helfen ihrer Genossen! Weiterverbreiten!«

In dieser Nacht zum Freitag stürmten maskierte Polizisten mit automatischen Waffen die Wohnung des Infotelefons. Zwölf Leute wurden verhaftet, unter ihnen der junge Pfleger. Er stand unter schwerem Schock, als sie ihn in das Gefängnis in Alingsås einlieferten. Der Leiter des ersten Verhörs sagte ihm, dass er zehn Jahre Gefängnis für Sabotage und Anstiftung riskiere. »Was?«, fragte der junge Mann entgeistert, »glaubst du, dass ich ein Terrorist bin?« Die Antwort: »Ich glaube, dass du ein feiges, ekliges Schwein bist, das andere auf der Straße die grobe Arbeit machen lässt.«

Vier SMS wertete der Staat als Aufforderung zum Handeln und als Aufruf zu gewalttätigen Übergriffen auf die Sicherheitskräfte. Was war so geheimnisvoll und kriminell an diesen SMS? Jeder in der Schule, der ein Mobiltelefon hatte, rief um Hilfe. In den Straßen Göteborgs verbreitete sich die Nachricht auch auf anderen Wegen. Aktivisten informierten durch Megaphone und riefen alle dazu auf, den Eingeschlossenen in der Schule zu Hilfe zu kommen.

Nur einer der SMS-Empfänger konnte identifiziert werden, ein 20-Jähriger. Der hatte um 14:46 Uhr, mehrere Stunden nach Beginn des Polizeiangriffs auf die Schule, den Hilferuf empfangen. Weitere vier Stunden später soll er in der Demonstration durch »winkende Handbewegungen« die Menschenmenge dazu aufgefordert haben, zur Schule zu gehen. Nichts weiter. Er hatte keinen Stein geworfen, keinen Polizisten angegriffen, nicht mal einen Papierkorb angezündet. Die Staatsanwaltschaft setzte sich mit ihrer Auffassung durch, dass das Infotelefon mit Hilfe des jungen Manns einen »våldsamt upplopp«, einen »gewalttätigen Aufruhr« (vergleichbar dem deutschen »besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs«, § 125a Strafgesetzbuch), gesteuert habe.

Der Vorwurf des »våldsamt upplopp« bzw. des Landfriedensbruchs war in der schwedischen wie in der deutschen Geschichte immer politisch umstritten, weil der Staat mit ihm politische Oppositionelle unverhältnismäßig willkürlich und übermäßig hart bestrafen kann. Mit der EU gleichen sich diese Repressionsgesetze über die Grenzen hinweg an. »Landfriedensbruch«, sagt das deutsche Strafgesetzbuch (StGB), bezeichnet »Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen« aus einer Menschenmenge heraus. Schon das »Einwirken« auf diese Menschenmenge, »um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern« – was immer das sein mag: ein Winken? Ein Lachen? Eine Rede? –, kann mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden (§ 125 StGB).

Für den »besonders schweren Fall«, der mit Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren geahndet werden kann, muss ein Täter eine Waffe mit sich führen, einen anderen in Todesgefahr versetzen oder, sonderbare Gleichsetzung von Menschen und Sachen, »bedeutenden Schaden an fremden Sachen« anrichten (§ 125a StGB). Nichts davon traf hier zu. Der junge Mann wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Während des Prozesses bildete sich die Solidaritätsgruppe Föräldrar 2001 (Eltern 2001). Sie sagten: Auch wir haben dazu aufgerufen, den Leuten in der Schule zu Hilfe zu kommen, wir zeigen uns jetzt selbst an. Viele taten es ihnen nach.

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Auch am zweiten Tag des Gipfels, am Freitag, brach die Polizei erneut alle Absprachen, als eine große Demonstration in Richtung Tagungsort zu ziehen versuchte. Nach den vorangegangenen Ereignissen wollten die Demonstranten sich dieses Recht nicht nehmen lassen. Etwa 15 000 Menschen – oder waren es mehr? – und ein Meer von Fahnen. Die Polizei versuchte keinen Augenblick zu deeskalieren oder die Demonstration nur abzudrängen. Eine Pferdestaffel ritt in die Demonstration, die Reiter prügelten nach allen Seiten. Hunde wurden in einen »schwarzen Block« gehetzt. Die Wut der so Angegriffenen entlud sich in Steinwürfen. Scheiben gingen zu Bruch, von Wartehäuschen, Fast-Food-Kneipen, Banken und Cafés.

Eine große Demonstration am Abend, an der auch bürgerliche Demonstranten und Prominente teilnahmen, ließ die Polizei jedoch in Ruhe. Aber auf der Avenyn, Göteborgs zentraler Einkaufsstraße, und im Vasapark feierten junge Leute eine hippieske »Reclaim the Street«-Party. Ihre Fete war lange angekündigt, nichtsdestotrotz sah sich der Staat bedroht. Die Polizisten, in voller RoboCop-Montur, umstellten den Park und griffen die Teilnehmer der Fete an. Daraus entwickelte sich eine mehrstündige Straßenschlacht, zu der mehr und mehr Demonstranten eilten, die die Ereignisse des Tages und der Nacht nicht vergessen hatten. Fast kein Medium erklärte diese Hintergründe, die Fotos von brennenden Caféstühlen und Müllcontainern hatten »Erklärung« genug zu sein.

Hannes Westberg warf in der Vasagatan einen Stein. Der fiel kurz vor der Polizeikette auf die Straße. Der 19-jährige Schwede drehte sich um. Ein Polizist zog seine Waffe, zielte auf ihn und schoss. Der junge Mann fasste sich an den Rücken, stolperte noch ein paar Schritte und stürzte auf die Straße.246 Er schwebte tagelang in Lebensgefahr. Die Polizisten schossen noch zweimal und trafen noch einen Demonstranten sowie einen freiberuflichen Fotografen.

Am Samstagmorgen demonstrierten nahezu 25 000 Menschen gegen die Militarisierung der EU, gegen »neoliberale« Wirtschaftspolitik und gegen die Festung Europa. Gegen Abend versammelten sich ein paar hundert auf dem zentralen Platz Järntorget, um spontan gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Alle Anwesenden, auch Zuschauer und Passanten, wurden eingekesselt, viele festgenommen. Gegen Mitternacht wurde der Kessel plötzlich geöffnet. Es war vorbei. Aber nicht für alle.

Ein Abschlussangriff musste schon sein. Gegen 22 Uhr stürmte eine mit Maschinengewehren bewaffnete Anti-Terror-Einheit die Schillerska-Schule. Auch diese Schule war den Gipfelgegnern von der Stadt als Schlafstätte zur Verfügung gestellt worden, offensichtlich eine ganz spezielle Form von Göteborger Gastfreundschaft. Diesmal lautete die Ausrede, ein »deutscher Terrorist« mit Handfeuerwaffen halte sich hier versteckt. Es hat dafür nie einen Beweis gegeben. Die 78 Gäste der Schule mussten sich auf den Schulhof legen. Wer einen schwedischen Pass hatte, wurde freigelassen – man wollte noch größeren Ärger meiden –, aber alle Demonstranten mit ausländischen Pässen wurden in Gewahrsam genommen.

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Als es später wegen der Schüsse gegen die Demonstranten zum Prozess kam, behauptete die Regierung, die Polizisten seien bedroht worden und hätten um ihr Leben fürchten müssen. Die Videofilme der Polizei zeigten scheinbar, wie vermummte Demonstranten die Polizei attackierten und auch nicht aufhörten, als diese Warnschüsse abgab. Aber schwedische Fernsehjournalisten wiesen nach, dass Filmschnipsel hineinmontiert worden waren, die aber Demonstranten zeigten, die sich an einer anderen Stelle in der Stadt aufgehalten hatten. Es sollte so aussehen, als seien die Polizisten in einer bedrohlichen Situation gewesen. Die Journalisten wiesen auch nach, dass die Polizei eine Szene herausgeschnitten hatte, die dokumentierte, wie ein Polizist einem auf den Boden liegenden Demonstranten auf den Kopf trat. Die Polizei fügte sogar – ob es für diese Fälschungsmethoden an den Polizeischulen wohl gesonderte Kurse gibt? – Soundeffekte hinzu, um die Handlungen von Hannes Westberg und anderen als bedrohlicher erscheinen zu lassen, wie Amnesty International kritisierte.247

Der Staatsanwaltschaft war die Manipulation peinlich, die sie doch eigentlich selbst hätte aufdecken müssen. Noch gilt, dass auch Beweise für die Unschuld von Beschuldigten und Angeklagten zu ermitteln sind. Schwedens Oberster Staatsanwalt Bengt Landahl erklärte: »Ich habe die Filmversion, die die Polizei vorgelegt hat, nie in Frage gestellt. Künftig werde ich Videoaufnahmen kritischer begegnen.«248 Wo lebt der Mann eigentlich?

Die Schüsse blieben ohne juristische Konsequenzen für die beteiligten Polizisten. Die Göteborger Staatsanwaltschaft kam zwar zu dem Schluss, dass sie sich nicht in einer Notwehrsituation befunden hatten, dennoch wurden die Ermittlungen gegen den Schützen am 28. Mai 2003 zum dritten Mal eingestellt.

Der 19-jährige Hannes Westberg lag mehrere Tage im Koma, die Ärzte mussten ihm eine Niere und die Milz entfernen, die Aorta war verletzt. Er wäre beinahe gestorben. Nach seiner Genesung wurde er zu einer 18-monatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt – wegen gewaltsamen Aufruhrs und Gewalt gegen Polizeibeamte. Die Strafe wurde später wegen Westbergs schweren Verletzungen um zehn Monate herabgesetzt. Die Ermittlungen gegen die Polizisten wurden eingestellt. Zum ersten Mal seit der Niederschlagung eines Arbeiteraufstands im Jahr 1931 im nordschwedischen Ådalen hatten Polizisten in Schweden wieder auf Demonstranten geschossen.

Westberg hat nicht aufgegeben. Er ist heute 30 Jahre alt, hat eine kleine Tochter, interessiert sich für Musik, studiert und ist immer noch links. Manchmal tritt er bei Diskussionsveranstaltungen auf.

Der 19-jährige Sebastian St. aus Bad Münstereifel hatte gerade sein Abitur gemacht und war mit einem Freund nach Göteborg gefahren. Ein Polizist schoss ihm bei der »Reclaim the Street«-Party in der Vasagatan ins Bein. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft war, dass Sebastian mit einem Stein auf einen Polizisten losgegangen sei. Er bestritt das, er habe nur bei lauter Musik auf der Straße getanzt und sei dabei auf die Polizisten zugelaufen. Es wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen, vor seinem Zimmer in der Göteborger Universitätsklinik standen zwei Polizisten Wache, es herrschte absolutes Besuchsverbot. Sebastian wurde im Juli 2001 von einem Göteborger Gericht zu einem Jahr und acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Seine Verwundung wurde nicht als ein Grund für eine Haftmilderung angesehen.

Die Regierung »musste« eine Notwehrsituation für eine ganze Großstadt erfinden, um den Delegationen der 15 EU-Staaten sowie den rund 2000 akkreditierten Journalisten eine Ausgangssperre zu verpassen. Das war einmalig in der Geschichte der EU, und es gab eine Menge interner Kritik nicht am Verhalten gegenüber Andersdenkenden, sondern an den lästigen Nebenwirkungen, die das für die ehrenwerten Gäste bedeutet hatte: Abgeordnete durften ihre Unterkünfte nicht mehr verlassen, festliche Abendessen wurden abgesagt, der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker und der niederländische Ministerpräsident Wim Kok flüchteten über die Feuertreppe aus ihrem von Demonstranten belagerten Hotel.

Die schwedischen Behörden waren, im besten Fall, heillos überfordert. Die rot-grüne deutsche Bundesregierung unterdessen gab eine harte Linie vor. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sagte über die Demonstranten: »Das sind Verbrecher, die mit der ganzen Härte der Gesetze zu rechnen« haben. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) verlangte eine sofortige Sondersitzung der EU-Innenminister, um sich »sehr rasch auf ein koordiniertes und hartes Vorgehen gegen diese neue Form grenzüberschreitender extremistischer Kriminalität zu verständigen«. Man könnte linke Aktivisten registrieren und mit Einreiseverboten belegen, schlug er vor.

Die Botschaft wurde gehört und verstanden. Einige inhaftierte deutsche Demonstranten wurden nach einem Terroristenparagraphen im Ausländergesetz verhaftet, isoliert, in sechs Quadratmeter große Zellen gesperrt und durften nur mit schwedischen Pflichtverteidigern, nicht aber mit Anwälten ihres Vertrauens und mit Angehörigen und Freunden kommunizieren. Nach drei Wochen bekamen sie Einzelhofgang, manchmal durften sie Radio hören oder fernsehen. Es waren Haftbedingungen, die ihre deutschen Anwälte, Volker Ratzmann und Hans-Christian Ströbele, an die Behandlung politischer Häftlinge im Deutschland der 1970er Jahre erinnerten. Die Anklagepunkte blieben lange unbekannt, was vermutlich damit zu tun hatte, dass die meisten Verdächtigen fernab jeder Randale aufgegriffen worden waren, auf dem Heimweg zum Hotel zum Beispiel oder an einer Bushaltestelle.

Die meisten Verhafteten waren zwischen 18 und 23 Jahre alt. Sie wurden sofort in Isolationshaft gesteckt, etliche für mehr als drei Monate, obwohl das Gesetz für so junge Leute möglichst kurze Haftzeiten vorschreibt. Man quälte sie mit nächtlichem Lichtanschalten, einige mussten Schlaftabletten und Psychopharmaka einnehmen. »Dies machte sie für die Verhöre ›umgänglicher‹«, schrieb der schwedische Prozessbeobachter und Journalist Erik Wijk.249

Die Bilanz der staatlichen Gewalt in Göteborg waren drei angeschossene Jugendliche, Hunderte von verletzten jungen Leuten, mehr als 550 Festnahmen, zehn Abschiebungen per Charterflugzeug nach Hamburg, 51 Untersuchungshäftlinge, viele Gerichtsprozesse und sehr harte Gefängnisstrafen. 55 Gipfelgegner wurden verurteilt, 41 zu Haftstrafen, der Rest zu sonstigen Strafen wie Arbeitsstunden. Der Anklagevorwurf war in den meisten Fällen der »våldsamt upplopp«, der »besonders schwere Landfriedensbruch«. Die durchschnittliche Haftstrafe lag bei 13,6 Monaten, die härtesten Haftstrafen betrafen zwei Leute und beliefen sich auf zwei Jahre und sechs Monate. In sieben Fällen wurden die Angeklagten freigesprochen oder das Verfahren eingestellt.

Damit galten die »Taten« nicht mehr als geringfügige oder als Ordnungswidrigkeiten. Das Oberste Gericht in Stockholm überprüfte im Januar 2002 einige der noch nicht rechtskräftig gewordenen Göteborg-Urteile, aber nur das Strafmaß und nicht die Beweissituation oder die Urteilsbegründung. In einigen Revisionsverfahren wurde die Haftdauer gesenkt. Indem sie nicht in Frage gestellt wurden, wurden gleichzeitig aber auch die Urteilsbegründungen, die ja teilweise auf Falschaussagen und auf manipulierten Beweismaterialien beruhten, höchstinstanzlich gerechtfertigt.

Die Medien, die das Infotelefon als »Zentrale des Terrors« vorverurteilt hatten, waren erfolgreich. Vor Gericht malte die Staatsanwaltschaft das Schreckensbild an die Wand, beim Infotelefon habe es sich um eine gleichsam militärische Organisation gehandelt. Die acht jungen Leute, die das Infotelefon betrieben und SMS verschickt hatten, wurden zu Freiheitsstrafen von drei bis vier Jahren verurteilt. Mit ihren SMS-Nachrichten hätten sie gewalttätige Ausschreitungen unterstützt. Der Fall kam viermal vor Gericht, hinauf bis zur höchsten Instanz. Aus dem Vorwurf der Anstiftung zum schweren Landfriedensbruch wurde Beihilfe zu schwerem Landfriedensbruch. Am Ende wurden die Angeklagten zu Gefängnisstrafen zwischen vier und 21 Monaten verurteilt. »Alle sind«, sagte mir der schwedische Schriftsteller Jörgen Gassilewski 2008, »durch die Zeit der Untersuchungshaft und im Gefängnis mehr oder weniger traumatisiert.«

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Die Göteborger Ereignisse haben auch gezeigt, wie schnell Grenzen zu schließen sind – mehrere Busse mit Demonstranten durften erst gar nicht einreisen – und wie grenzenlos die Kooperation der europäischen Polizei- und Strafbehörden ist. Es ist zum Beispiel im Falle deutscher Demonstranten möglich, sofern die vorgeworfene Handlung in beiden Ländern strafbar ist und in gleicher Maximalhöhe bestraft werden kann, dass die Göteborger Staatsanwaltschaft Anklage erhebt und diese dann an das schwedische Justizministerium weiterleitet, welches die Anklage schließlich den zuständigen Behörden zum Beispiel in Deutschland überstellt.

Im Mai 2002 erklärte die Göteborger Staatsanwaltschaft, dass gegen 18 Ausländer, darunter sieben Deutsche, in ihren Herkunftsländern Anklage erhoben werden würde. Die deutschen Behörden, darunter das LKA Berlin, nahmen eigene Ermittlungen gegen mindestens elf Personen auf, darunter auch gegen solche Demonstranten, die auf ihrer Reise weder kontrolliert noch in Göteborg in Gewahrsam genommen worden waren. Man »identifizierte« sie auf Fotos oder Filmen.

Ab August 2002, mehr als ein Jahr nach dem Gipfel – die deutschen Demonstranten aus Göteborg hatten von den Ermittlungen gegen sich nichts gewusst und vieles vielleicht längst vergessen –, kam es zu ziemlich ruppigen Hausdurchsuchungen und Vorladungen in Deutschland. Die Anwälte der Beschuldigten erhielten keinen Zugang zu den vollständigen Ermittlungsakten der schwedischen Behörden, wo sie vielleicht auch entlastendes Material hätten finden können. Im März 2003 wurde, nach einer solchen Hausdurchsuchung, zum Beispiel Timm E. in Berlin wegen schweren Landfriedensbruchs zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Wegen angeblicher Fluchtgefahr saß er 34 Tage in Untersuchungshaft: täglich eine Stunde Hofgang, im Monat nur zweimal 30 Minuten Besuch, Nazis in seiner Zelle. Die Fluchtgefahr wurde damit begründet, dass er sich ja schon einmal im Ausland, nämlich in Göteborg, aufgehalten hatte.

Schuldig gesprochen zu werden hieß auch, enorme Kosten aufgebürdet zu bekommen. Wohl um die jungen deutschen Angeklagten mit hohen Geldforderungen sozial zu schädigen, mussten sie, sobald sie ein Verfahren verloren hatten, Tausende von Euro an unsinnigen Reisekosten für Polizeizeugen aus Schweden übernehmen, deren Aussagen – so Prozessbeobachter – ohne Substanz waren.

Wolfgang Kaleck, der Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins e. V. (RAV), kritisierte die »Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten« sowie die miserable Qualität des Beweismaterials. Die deutschen Behörden wären weder ihrem Auftrag nachgekommen, das schwedische Material auf Widersprüche und Fehler zu prüfen, noch hätten sie, wie das Gesetz es (noch) vorschreibt, auch Entlastungsmaterial gesammelt und ausgewertet. Die Staatsanwaltschaft habe Videos gezeigt, die nur der Stimmungsmache dienten und die seit den Erkenntnissen, dass die Polizei in Schweden Videos gefälscht habe, unter Manipulationsverdacht stünden.

Alle Verfahren gegen Polizisten wurden eingestellt. Dass zwei Demonstranten und ein Fotograf angeschossen worden waren, einer davon lebensgefährlich, dass andere geprügelt worden waren, gejagt und eingesperrt in der Schule, Hunde und Reiterstaffeln auf sie gehetzt worden waren, dass Polizisten, wie sie selbst zugaben, Steine auf Demonstranten geworfen hatten, dass sie falsch ausgesagt und Videofilme gefälscht hatten und all die willkürlichen Einreiseverbote und Abschiebungen – nichts zählte. Nicht ein einziger Polizist erhielt als Strafe auch nur eine winzige Sozialstunde.250

Die Europäische Union demonstrierte, für wen sie da ist: für die sogenannten Sicherheitsinteressen ihrer Mitgliedsstaaten, nicht für Freiheit und Bürgerrechte. Diese neue europäische Repressionspraxis war mit Göteborg einen großen Schritt in Richtung einer europäischen Diktatur gegangen. Die polizeilichen und juristischen Maßnahmen gegen die Gipfelkritiker während und insbesondere nach den Göteborger Ereignissen zeigen, dass diese Repressionspraxis darauf zielt, den Handlungsraum der linken antikapitalistischen Opposition so zu beschränken, dass sie sich nicht mehr entfalten kann. EU-Europa rückt nicht nur wegen seiner vielen rechtsextremen und faschistischen Organisationen nach rechts – die autoritärer werdenden bürgerlichen Parteien schieben die ach so freie und »grenzenlose« EU in die Richtung einer Diktatur.

In der strafrechtlichen Aufarbeitung setzte sich der autoritäre Teil des Staatsapparates, in bestem Einvernehmen mit politischen Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften in anderen europäischen Staaten, in voller Härte durch. Es kam zu Verurteilungen, die eines Rechtsstaates unwürdig sind und die das Ziel verfolgten, eine junge politische Generation mit aller Staatsgewalt abzuschrecken, ihr zu schaden und sie nachdrücklich einzuschüchtern. Es ist schön, dass das offensichtlich nicht gelang.

Eine der wenigen schwedischen Zeitungen, die fünf Jahre danach ausführlich über die Ereignisse in Göteborg berichtete, war Arbetaren. Die ganze Redaktion war im Juni 2001 nach Göteborg gefahren und hatte die Webseite des Blattes »mit einer schockierenden Meldung nach der anderen« gefüllt.

Alle nachträglichen Untersuchungen, sagte Hannes Westberg, »von Amnesty International, vom Helsinki-Komitee für Menschenrechte oder auch von der Polizei selbst, bestätigen, was wir vergebens versucht haben zu sagen: Dass es das Vorgehen der Polizei war, das kleine Zwischenfälle zu Krawallen werden ließ. Dass Beweismaterial gefälscht wurde oder verschwand, dass Polizisten Meineide schworen, dass Unschuldige in politisch gefärbten Gerichtsverfahren zu jahrelangen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Dass auf Demonstranten geschossen wurde und es zu illegalen Massenverhaftungen kam. Dass es bei den brutalen Polizeieinsätzen keine klare Aufteilung der Verantwortung gab, dafür eine umso deutlichere Verantwortungslosigkeit. Und dass das alles von einer Politikerklasse gedeckt wurde, die es eifrig anfeuerte, bis schließlich alles in einem medialen Gefühlssturm aus Nonsens und noch einmal Nonsens begraben wurde.«

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Die Ereignisse vom Juni 2001 waren ein traumatischer Einschnitt für eine Generation junger schwedischer Linker. Vielen saß das schockartige Ausmaß der Repression jahrelang tief in den Knochen. Während Teile der Bewegung auf diese Weise zerschlagen wurden, habe Schweden, so Hannes Westberg, »was repressive Gesetzgebung und Überwachung angeht, seitdem eine Führungsrolle in der EU übernommen«.251

Im ersten Halbjahr 2001 hatten sich, nach Seattle und Prag, viele neue Gruppen gegründet. In Porto Alegre fand das erste Weltsozialforum statt. Die Zapatisten marschierten in die mexikanische Hauptstadt, ein Gipfeltreffen der Weltbank in Barcelona musste annulliert werden. Es wuchs die Hoffnung, die kapitalistischen Gesellschaften menschlicher zu machen.

Aber Göteborg war nicht das Ende der Aufbruchphase. Es sollte noch härter kommen, nur vier Wochen später in Genua. Und dann am 9. September 2011 veränderte sich die Welt durch die Anschläge auf die Twin Towers in New York noch einmal. Die Herrschenden in Schweden und Italien, die politischen Eliten und Apparate, die die Gipfel trugen, mussten sich niemals wirklich verantworten. Die hinter ihnen stehenden Kapitalfraktionen ohnehin nicht.