8   Sackgasse Reformismus

Der Kapitalismus als das System der zerstörenden Ausbeutung des Menschen und der Natur könnte nur zugrunde gehen, wenn sich in den Zentren wie an der Peripherie das Bewusstsein einer Gegenwelt durchgesetzt hätte. Diese Gegenwelt, in der sich der Humanismus radikal verwirklichen würde, nannte Marx Kommunismus. Seine Grundidee hat nichts mit dem zu tun, als was ihn spätere »real-sozialistische« Gesellschaften ruinierten. Die übernahmen den falschen Fortschrittsbegriff des Kapitalismus, entwickelten meist keinen neuen humanen Begriff von Wissenschaft, mästeten Destruktivkräfte, schleppten die Warenwelt, das Geld und das Gewaltverhältnis Lohnarbeit in ihre nur vermeintlich freien und gleichen nichtkapitalistischen Gesellschaften und degenerierten zu Systemen bürokratischer Zwangsherrschaft und Kommandowirtschaft.

Viele Menschen haben sich von dieser Weltwirtschaftskrise den Niedergang des Kapitalismus erhofft. Aber der Kapitalismus wird auch an dieser Krise nicht zugrunde gehen, sondern, weil es kein entwickeltes Gegenbewusstsein gibt, an ihr wachsen. Betriebe und Investmentfirmen werden bankrott gehen, Länder zusammenbrechen, Inseln versinken, Wüsten sich vervielfachen, Milliarden Menschen im Elend leben, Millionen Menschen sterben. Aber der Kapitalismus kann, so lange er als alternativlos oder als reparabel und reformierbar gilt, das alles nicht nur »aushalten«: er wird sogar davon profitieren.

Rohstoffmangel wird er mit neuen imperialistischen Anstrengungen beantworten, und Kriege werden Profitraten hochschnellen lassen. Heerscharen neuer Sklaven werden Mehrwert produzieren, ohne dass ihr Lohn die Reproduktion ihrer Arbeitskraft noch trägt. Die Knappheit mancher Energiequellen wird das Kapital mit Baggern, Bohren und Schürfen in Teilen der Erde beantworten, nach Schätzen suchend, die ihm nicht gehören.

In dieser Krise versuchen manche Linke romantische »Erinnerungen« an die »soziale Marktwirtschaft« und den »rheinischen Kapitalismus« zu erzeugen. Sie tun so, als habe es sich bis 1990 in der Bundesrepublik um eine grundsätzlich andere Produktionsweise gehandelt, die gleichsam per Beschluss zurückgeholt werden könne. Die »soziale Marktwirtschaft« war aber die Folge der Hochkonjunktur im westlichen Teil jenes Deutschlands, das zuvor halb Europa verwüstet und den Tod von rund 60 Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte. Die Bundesrepublik profitierte vom antikommunistischen Kalten Krieg der Westmächte. Sie wurde als Frontstaat gegen den RGW-Block gebraucht. Selbst der Arbeiterbewegung, wenn auch ihr kommunistischer Flügel in den 1950er Jahren erneut verfolgt und zerschlagen wurde, nützten »Wiederaufbau« und der Marshallplan der USA materiell.

In dieser Phase mussten nachdrücklich vorgebrachte Forderungen der durch Krieg, Konzentrationslager und Gaskammern zahlenmäßig knapper gewordenen Lohnabhängigen nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen einen gewissen Erfolg haben, zumal es auch keine Sklavenarbeiter mehr gab. Gewisse Verbesserungen, die man damals noch Reformen nannte, wurden erkämpft, nicht weil es sich um ein anderes Wirtschaftssystem handelte, sondern weil sich der Kapitalismus in dieser Phase befand und in den »real-sozialistischen« Staaten mit ihrer Verheißung auf soziale Gleichheit eine scharfe ideologische Konkurrenz hatten. Selbst eine sozialpartnerschaftliche befriedete Arbeiterbewegung konnte da, befeuert von »Gastarbeitern«, von denen nicht wenige klassenkämpferische Erfahrungen mitbrachten, gewisse Erfolge haben – Erfolge, die allerdings in Zeiten der Schwäche sofort wieder einkassiert wurden.

Der Kapitalismus wurde also in der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit nicht »gezähmt«, ihm wurden auch keine »Zügel« angelegt. Das kann zudem nur behaupten, wer ignoriert, was deutsches Kapital in jenen Jahrzehnten jenseits bundesdeutscher Grenzen in aller Welt anrichtete. Es machte Geschäfte über Leichen: mit dem südafrikanischen Apartheidstaat, mit den Militärdiktaturen in Griechenland, Chile und Argentinien, es kooperierte in Sachen Atomwaffen mit Pakistan, Indien und Brasilien. Niemand legte dem Kapitalismus Zügel an, er zügelte sich höchstens im westdeutschen Zentrum aus taktischen Gründen selbst, um anderswo sein unmaskiertes Gesicht umso frecher zu zeigen.

Wenn aber die Analyse falsch ist, sind es auch Programm, Strategie und Taktik. Warum Menschen, die sich Linke nennen und es besser wissen könnten, dennoch alle Kraft in die Modernisierung und damit in die Rettung des Kapitalismus stecken, kann vielleicht sozialpsychologisch erklärt werden: Denkfaulheit, auch die Furcht von dem Unvorstellbaren, dem Unbequemen, vor gesellschaftlicher Marginalisierung und vor dem Isoliertsein, dazu das Wissen um die – im internationalen Vergleich – doch unerhört privilegierte eigene Lage, die erschüttert werden könnte – dies und mehr lässt einen hohen Anteil von »Kapitalismuskritikern« im System steckenbleiben.

Mich interessiert das hier nicht weiter, denn ich möchte selbstmitleidige bourgeoise Nabelschau nicht auch noch fördern. Es geht um soziale Interessen und darum, für welche Grundwerte sich ein Mensch entscheidet.278

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Auf manche trifft diese Kritik deshalb nicht zu, weil sie den Kapitalismus nicht einmal »überwinden« wollen. Zu ihnen gehört die maßlos überschätzte Piratenpartei.

Wer behauptet, dank moderner Kommunikationstechniken ließen sich soziale Revolutionen befördern (in anderen Ländern natürlich nur, hier ist es ja angeblich nicht notwendig), ist ungefähr so dumm wie einer, der einen Nagel in die Wand schlägt und anschließend behauptet, das Bild, das jetzt dort hängt, sei deshalb von ihm gemalt. Es ist die vollkommene Verwechslung von Form und Inhalt, von technischem Gerät und Anliegen.

Multimilliardenmal am Tag die Frage gestellt »Wo bist du?« entfernt vom Menschen, der neben einem steht. Die neuen Techniken bringen Menschen nicht näher zusammen, das ist nur der Schein, sie vergrößern vielmehr sowohl Entfremdung als auch Kontrolle. Das Lernen, dass für die technische Aneignung neuer Kommunikationsmittel gebraucht wird und für die Erforschung all der neuen Konsummöglichkeiten, frisst die Zeit für Nähe und Freundschaft, also vor allem für solche Beziehungen, die über den Austausch von konsumtechnischem Wissen hinausgehen.

Ich spreche natürlich nicht gegen die Nutzung moderner Kommunikations- und Informationstechniken. Sie sind nur ein moderner »Hammer« mit enormem Ausforschungs- und Überwachungspotenzial. Aber zu behaupten, erst sie hätten den »arabischen Frühling« möglich gemacht, beweist, wie tief die Erkenntnisse über die wirklichen sozialhistorischen und ökonomischen Voraussetzungen der Revolten in Tunesien und Ägypten unter Infoschrott versunken sind.

Die neue »Partei der Schiffbrüchigen« wird den Weg aller bürgerlichen Parteien gehen. Sie ist so »transparent«, dass man ihre inhaltlich-politische Leere und den Mangel an jedweder Subversivität leicht erkennt. Sie kokettiert mit ihrem Unwissen über das meiste, um sich umso schneller dem Druck der herrschenden Meinung, also der Meinung der Herrschenden, zu beugen. Ihre Domestizierung hat in Frankfurt/Main, Berlin, Kiel und Düsseldorf längst begonnen. Ihr derzeitiger Bundesvorsitzender Bernd Schlömer ist Diplom-Kriminologe, war brav bei der Bundeswehr (Panzergrenadier), ist Regierungsdirektor im Verteidigungsministerium und für Einsätze der Bundeswehr zur »Ressourcensicherung«, würde aber dagegen stimmen, wenn es die Basis will. Erwartungsgemäß fordert er »mehr Mut« von seiner Partei, sich an Regierungen zu beteiligen.279 Das löst langfristig auch sein militärpolitisches Dilemma: Es kommt in Deutschland keine Partei in eine Bundesregierung, die nicht kriegsbereit ist.

Auch andere Piratenfunktionäre gewährleisten der bürgerlichen Welt, dass »Ordnung« in den anfangs vermeintlich »chaotischen« Laden gebracht wird und auch die Reste dessen verschwinden, was einmal vielleicht sogar sympathisch war (nicht die technischen Neuerungen, sondern subkulturelle Elemente). Die Piratenfunktionäre selbst nennen es »Lernprozess«, das klassische Synonym für hundsordinäre Anpassungsprozesse an die herrschenden Verhältnisse.

Die Sehnsucht vieler ihrer Funktionäre, Mitglieder und Anhänger nach Reputierlichkeit verhindert jeden wirklichen Erkenntnisgewinn. »Wer von jetzt auf gleich in jeden Landtag einzieht, wen die Demoskopen, ohne einen anderen Grund dafür zu finden als ›Protest‹, bei dreizehn Prozent sehen und wessen Mitgliederzahl über Nacht auf 25 000 steigt, kann nichts wollen, was Zeit für einen Gedanken kostet, schon gar nichts Neues«, schrieb Hermann Gremliza im Mai 2012. Die Piraten verfügten über alle Voraussetzungen, bald »nützliche Mitglieder der Gesellschaft« zu werden.280

Vermutlich werden sie aus späterer Betrachtung auch die Funktion gehabt haben, eine Gruppe Menschen aus technisch hochqualifiziertem kleinbürgerlichen Milieu, das traditionell eher zum Umfeld der SPD gehört hätte, in Amt und Würden gehievt zu haben. Sie haben, inzwischen schon ohne große Leidenschaft, Proteste gegen Vorratsdatenspeicherung und Zensur vorgetragen. Und sie werden eines Tages vermutlich die Funktion gehabt haben, die Digitalisierung der Administration voranzutreiben. Das macht – solange die Machtverhältnisse die gleichen bleiben – die herrschenden Verhältnisse nicht humaner, sondern nur effizienter. An diesen rüttelt die Piratenpartei aber nicht einen Moment. Sie ist nur das Vernachlässigte vom Fleisch bürgerlicher Parteien, das lässt sich heilen.

Die Piratenpartei und ihre Klientel helfen dabei, die Urheberrechte der meist armen Künstler zu deregulieren. Die Piraten kämpfen nämlich nicht gegen das private Eigentum an industriellen Produktionsmitteln, sondern nur für die sogenannte Freiheit, sich das geistige Eigentum von Künstlern unter den Nagel zu reißen. Die Piraten der Geschichte waren aller Sozialromantik und Johnny Depp zum Trotz niemals wirklich freie Rebellen, sondern meist irreguläre militärische Truppen der einen oder anderen imperialen Großmacht.

So offen wie unbedeutend ist, ob die Piraten den bürgerlichen Parteien erst einmal noch eine Weile Stimmen wegnehmen, bald mit ihnen koalieren oder sich in sie auflösen, denen sie bis auf das noch häufige Fehlen grauer Anzüge in ihrem Blick auf die Welt doch am ähnlichsten sind. Die einzige substantielle Differenz sind (noch) die überdurchschnittlichen technischen Kenntnisse ihrer Mitglieder. Das macht sie aber nicht zu einer subversiven Kraft, sondern nur zu einer Fortbildungsveranstaltung für all die, die uns ohnehin nerven. Die einzig wirklich interessante Frage bleibt: Welcher Kapitalfraktion werden die Piraten am Ende am meisten genützt haben?

Wie wir wissen, hat die Modernisierung des Kapitalismus die Ausbeutung, Diskriminierung und Demütigung des Menschen sowie die Vernichtung der Natur niemals gebremst, sondern stets nur ihre Form verändert, den Sand aus dem Getriebe gekehrt (die Piraten sind ein neuer Besen) und die Ausbeutung und Naturvernichtung intensiviert. Eines ist heute schon sicher: Die Piratenpartei wird sich als »Systemadministrator« der »herrschenden Verhältnisse« nützlich machen. Es besteht leider kein Grund für eine andere Hoffnung.

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Occupy Deutschland, Sommerferien 2012. Die Behörden in Frankfurt/Main, Berlin und Kiel nutzen die Gelegenheit, um die lästigen kleinen Camps loszuwerden. Sie sind ihnen zu unansehnlich, und die Zeltansammlungen sind politisch so kraftlos, dass die drei Städte sich vermutlich sogar polizeiliche Räumungen leisten könnten, ohne dass sie einen hohen politischen Preis dafür bezahlen müssten. Die Stadt Frankfurt/Main hat das lokale Camp monatelang über die Maßen gehätschelt, es wurde von Polizei, Ordnungsamt, Bankern und allen Medien – außer der Bild-Zeitung – regelrecht zugrunde gelobt. Occupy Frankfurt war etwas, wohin gelangweilte Bankangestellte in der Mittagspause gaffen gingen und was Touristen fotografieren konnten.

Es ist nichts Verwerfliches daran, wenn ein Mensch, weil er keinen Arbeitsplatz findet oder weil seine Familie ihr Erspartes durch die Spekulationen von Banken verloren hat, ein Zelt in einer Grünanlage oder auf einem öffentlichen Platz aufstellt und ein Plakat malt. Niemand wird mit linkem Bewusstsein geboren. Wenn die Schlechtigkeit der Bank und die individuelle Erwerbslosigkeit aber das Wesentliche bleibt, was jemanden an dieser Gesellschaft stört, ist das ein Problem. Diese Art von Protest wäre ja sofort zu bändigen, wenn die schuldige Bank eine Abfindung zahlen und der Protestierende wenigstens Aussichten auf einen Job bekommen würde.

Der Staat muss die Integrierbaren von den Systemkritikern trennen. Er weiß das, beobachtet, analysiert und bleibt milde, wo ihm keine Gefahr droht. Von Occupy Deutschland drohte dem Kapitalismus zu keiner Sekunde eine Gefahr. Wir finden hier kaum Spuren eines emanzipatorisch-linken oder sozialrevolutionären Selbstverständnisses. Occupy Frankfurt wurde vom ersten Moment an von rechtspopulistischen Ideologen okkupiert, auch wenn ich die Linken, die sich dort abmühten, nicht übersehen habe. Occupy Deutschland beklagt am Kapitalismus oft nur die »falsche« Politik der Banken, aber nicht die kapitalistische Produktionsweise selbst. War je von Occupy Deutschland grundsätzlich Ablehnendes gegen Ausbeutung, Profit, Mehrwertproduktion und Lohnarbeit zu hören? Aber wenn die Bedingungen kapitalistischer Verwertung unbegriffen bleiben, kippen die Annahmen über die Ursache der Misere gern ins Verschwörungstheoretische. Abstrakte Strukturen zu durchdringen ist anstrengende Kopfarbeit, da ist es einfacher, jüdische Weltverschwörungen nicht auszuschließen.

Occupy Deutschland ist für das Gute, das »rein Menschliche« und gegen das Böse – und alle können mitmachen, auch der Nazi, sofern er nicht prügelt. Es herrscht die absolute »repressive Toleranz«, die Herbert Marcuse analysiert hat – genau die, welche letztlich »die Tyrannei der Mehrheit« stärkt. Sekten belagerten Occupy Frankfurt von Anfang an: das Zeitgeist-Movement und die Anthroposophen, Anhänger des antisemitischen Wirtschaftstheoretikers Silvio Gesell sowie der rechtsradikalen, rassistischen Frankfurter Freien Wähler. Vertreter solcher Gruppen beeinflussten wesentlich Kommunikation und Diskurs.

Occupy Deutschland ist keine soziale Bewegung, schon gar keine linke. Anders als etwa Occupy Oakland, Kalifornien, ist Occupy Deutschland ein weitgehend in den herrschenden Diskurs integriertes Projekt geblieben. Den Unterschied kann man leicht feststellen, wenn man Veröffentlichungen und Diskussionsbeiträge der Oakland-Aktivisten liest. Occupy Oakland ist gegenwärtig dabei, sich in Oakland Commune zu transformieren, ein Projekt, das sich noch stärker mit kommunalen und regionalen Kämpfen verbünden will.281

Gemeinsam mit fortschrittlichen Teilen der Arbeiterbewegung besetzte Occupy Oakland – insgesamt waren es Zehntausende von Leuten – im November 2011 den Hafen von Oakland, den fünftgrößten Containerhafen der Welt, der jährlich einen Umsatz von 39 Milliarden US-Dollar macht. Der Betrieb musste vollständig eingestellt werden. Die kalifornische Stadt hat etwa 390 000 Einwohner, sie ist eine Industriestadt und die sogenannte »weiße« Bevölkerung ist in der Minderheit. 1946 gab es hier den letzten Generalstreik der USA, als sich Stahlarbeiter, Verkäuferinnen, Lkw-Fahrer, Kriegsveteranen und ein Heer von weiteren Arbeitenden verbündeten.282 1966 wurde hier die Black Panther Party gegründet.

Occupy Oakland hatte 2011 nicht viel im Sinn mit der törichten Parole »Wir sind die 99 %«, denn dazu gehören »schließlich auch Rassisten, homophobe Sexisten und Polizeibeamte«. Lieber skandierte man auf Demonstrationen: »Wir sind das Proletariat.« Anders, als es im New Yorker Zucotti-Park der Fall gewesen war, wurde die Polizei stets aus dem Oaklander Occupy Camp vertrieben. Es gab keine zuckersüßen Beziehungen zur Polizei, vielleicht weil kämpferische Industriearbeiter und politisch bewusste Arbeitslose andere Erfahrungen mit staatlichen Repressionsorganen haben als weiße Mittelschichtskinder. »Die ›Frank Ogawa Plaza‹, wo sich das Occupy-Camp befindet, wurde in ›Oscar Grant Plaza‹ umbenannt, nach einem jungen Schwarzen, der 2009 von der Polizei erschossen worden war.«283

Es folgten Kampagnen wie die gegen die Arbeitsbedingungen der Busfahrer und die hohen Ticketpreise für Busse (Occupy AC / Transit), Kämpfe gegen Zwangsräumungen (Foreclosure Defense Group / FDG), Widerstand gegen die Diskriminierung vor allem afroamerikanischer alleinerziehender Mütter (Oakland Occupy Patriarchy / OOP), Unterstützung von und Teilnahme an Arbeitskämpfen (Occupy Oakland Labor Solidarity / OOLS) zusammen mit Arbeiterorganisationen (Worker’s Assembly / WA) und Arbeitslosengruppen (Assembly of the Unemployed / AU). Darüber hinaus wird ein antirassistisches Gesundheitsprojekt (People’s Community Medics) und das Anti-Repression Committee (ARC) unterstützt.

Wer die Geschichte der New Left und der Black-Power-Bewegung in den USA und das Ausmaß staatlicher Repressionen gegen sie kennt, wundert sich nicht über das Dissertationsthema eines Occupy-Aktivisten, Co-Autor besagter selbstkritischer Reflektion: Mike King schreibt über das Thema »Counterinsurgency« (Aufstandsbekämpfung) gegen Occupy Oakland.

Occupy Deutschland musste gar nicht erst Opfer staatlicher Aufstandsbekämpfung werden, es erledigte sich selbst. Natürlich gibt es individuelle Ausnahmen, aber das politische Bewusstsein von Occupiern in Deutschland ist von so viel Harmlosigkeit einerseits und von so viel Offenheit für rechte Ideologien andererseits geprägt, dass der deutsche Staat sich keine Sorgen über irgendeine Art von »Aufstand« machen musste. Aber wer weiß, vielleicht infiltrieren deutsche Geheimdienste eher Occupy-Gruppen, als dass sie Nazimorde aufklären.

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Und dann ist da noch die Linkspartei.

Nach der sogenannten Wiedervereinigung von 1990 gab es zwei reformistische Parteien, die SPD und die PDS. Beide waren sehr deutsch. Jede von ihnen erzählte ihren Anhängern gerne das Märchen, sie allein sei die Partei der sozialen Gerechtigkeit, was nicht zu verwechseln ist mit sozialer Gleichheit. Sie gingen feindselig miteinander um, was damit zu tun hatte, dass die SPD seit 1945 fortlaufend an den Weltfestspielen des Antikommunismus teilgenommen hatte, den Kapitalismus und die NATO als alternativlos rühmte und dafür sogar mehrfach auf dem Regierungsthron hatte Platz nehmen dürfen (1966–1969 als Juniorpartner der CDU/CSU; 1969–1982 als die größere Fraktion in einer SPD/ FDP-Regierung). Und obwohl die SPD die neuen Mitglieder aus dem Osten des Landes gut hätte brauchen können, fürchtete sie sich vor antikommunistischen Reaktionen. Sie meinte sogar, sich für Gespräche mit der »Ostzone« in früheren Jahren rechtfertigen oder diese herunterspielen oder gar leugnen zu müssen.

Und die PDS, die einmal SED geheißen hatte? Es gab viele aufrichtige Weltverbesserer in ihren Reihen, wissbegierige Humanisten. Aber auch viele Mühselige und Beladene sowie gekränkte Angehörige der früheren DDR-Oberschicht. Der Verlust eines ganzen Staates und ein Lebenswerk zerstört zu sehen, abgeräumt, als sei alles wertlos gewesen, schürten Verbitterung und Mutlosigkeit. Aber viele vermissten in ihrem neuen »gesamtdeutschen« Leben auch das Falsche – Macht und gesellschaftliche Reputation nämlich. Auch um die zurückzugewinnen, beugten sie den Rücken und taten Buße in allerlei Talkshows. Im Westen wurde die PDS der SPD schließlich so ähnlich, dass es Sozialdemokraten gab, die nicht mehr wussten, in welcher der beiden sozialdemokratischen Parteien sie gerade Mitglied waren.

Seit 1989 sind 23 Jahre ins Land gegangen. Eine Zeit lang traten frustrierte Sozialdemokraten, die kein Atomprogramm, keine Anti-Terror-Gesetze, kein Radikalenerlass, kein NATO-Doppelbeschluss und kein Jugoslawienkrieg je aus der SPD getrieben hatten, ohne Umweg in die Linkspartei ein. Ab und an traten auch ein paar PDS-Würdenträger zur SPD über. Mittlerweile hat die Linkspartei noch einige Abtrünnige aus der SPD geschluckt, vor allem über den Umweg der Neugründung als »Die Linke« aus »Die Linkspartei/PDS« und »WASG« (Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative) im Juni 2007. Die Strukturen der WASG hat die Linkspartei allerdings längst rückstandslos verdaut.

Die SPD hatte zu jener Zeit große Probleme, die Kriege gegen Jugoslawien und Afghanistan waren unvergessen, die Opfer von Agenda 2010 und Hartz IV mehrten sich, und die Dimension der von SPD und Grünen enthemmten Leiharbeit wurde klar. Davon profitierte die Linkspartei, die bei der Bundestagswahl 2009 mit 11,9 Prozent erfolgreich war. Sie ist heute in elf Landesparlamenten vertreten, in vier östlichen (Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen) sogar mit mehr als 20 Prozent. Hier sowie in Mecklenburg-Vorpommern stellt sie ein Heer von tausend oder mehr ehemaligen und derzeitigen Mandatsträgern. Derzeit hat sie einige Minister, 122 Landtagsabgeordnete, fünf Landräte, fünf Oberbürgermeister, 47 Bürgermeister und ungezählte Kommunalparlamentarier. Dazu kommen die hier nicht zu zählenden Würdenträger aus zehn Berliner Mitregierungsjahren.

Der Erfolg überstrahlte eine Zeit lang die Erfahrungen, die kritische Menschen inzwischen mit dieser Linkspartei gemacht hatten, sobald die an der vermeintlichen Macht beteiligt war, also in Ländern mitregierte. Auch für manche Linke ist »Erfolg« als solcher ein großer Reiz, und dann schaut man nicht mehr so genau hin. Mitregieren durfte die Linkspartei/PDS vor allem dort, wo die Armut besonders groß war und die Elendsverwaltung noch ein paar erfahrene und funktionstüchtige Apparatschiks brauchte wie von 1998 bis 2006 in Mecklenburg-Vorpommern, von 2002 bis 2011 in Berlin und seit 2009 in Brandenburg.

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221 Busfahrer der Verkehrsbetriebe Saarbahn GmbH hatten Angst, dass ihr Betrieb privatisiert werden würde, und traten im Sommer 2008 ausgerechnet in die Linkspartei ein, weil die sich angeblich als einzige Partei gegen »den Privatisierungswahn« stellte. Statt Arbeitskampf Parteieintritt, was für eine Emanzipation! Oskar Lafontaine jubelte: »Das ist wie Weihnachten!«284 Was der Weihnachtsmann bringt, hat man ja in Berlin unter dem SPD/ Linkspartei-Senat gesehen. Aber das wollten die Saarbrücker Genossen im fernen Westen offensichtlich nicht wahrnehmen.

Als Ministerpräsident des Saarlands, also genau in der Rolle, in der diese Busfahrer ihn am liebsten wieder haben wollen, hatte Lafontaine 1988 Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich gefordert285, längere Maschinenlaufzeiten insbesondere durch Ausdehnung der Sonntags- und Wochenendarbeit (1988/1989)286, die Erhöhung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst (1993)287 und die Verpflichtung zu Zwangsarbeit (1998)288. Beim Blick auf die Erwerbslosen hatte Lafontaine stets das Interesse des Kapitals im Auge. 1998 drohte er Sozialhilfeempfängern via Bild-Zeitung: »Wir werden ähnlich wie in England dafür sorgen, dass die Zahlung von Sozialhilfe an strenge Regeln geknüpft wird! Eine angebotene Arbeit muss angenommen werden. Sonst wird die Sozialhilfe gekürzt!«289 Sozialstaatliche Leistungen, zum Beispiel die Unterstützung Erwerbsloser, sollten nur noch nach »Bedürftigkeit« gewährt werden, das bedeutete nichts anderes als die Forderung nach Abschaffung der Arbeitslosenversicherung.290 Neben der Verarmung der Betroffenen erzielt so etwas die Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten, das freut das Kapital. Die Menschen arbeiten in den Augen Lafontaines auch nicht lang genug in ihrem Leben, er verlangte 2003 die Heraufsetzung des »tatsächlichen Renteneintrittsalters«.291

Damit der Zorn der Betroffenen sich nicht gegen ihn richtet, greift Oskar Lafontaine gern zu Ablenkungsmethoden mit langer deutscher Tradition, er bedient rassistische Ressentiments. 1989 war er auf Seiten derjenigen, die das Asylrecht abschaffen wollten, und ist stolz darauf, 1992, gleichsam als Konsequenz aus mehreren rassistischen Pogromen, zum »Asylkompromiss« von CDU, SPD und FDP beigetragen zu haben, der faktischen Abschaffung des Asylrechts.292 Der Vorsitzende der Linkspartei befürwortete, vermutlich nur, um die Ausländerfeindlichkeit zu vermindern, die Errichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika (in der Bild-Zeitung, 2004). »Ausländerfeindlichkeit« entsteht laut Lafontaine durch Zuwanderung (2005).293 Er lehnte den Eintritt der Türkei in die EU ab.294 2005 verlangte er, deutsche Arbeiter vor »Fremdarbeitern« zu schützen: »Der Staat ist verpflichtet, seine Bürger und Bürgerinnen zu schützen, er ist verpflichtet, zu verhindern, dass Familienväter und Frauen [sic!] arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.«295 Als er wegen seiner sich an die Nazis anlehnenden Terminologie kritisiert wurde, verwies er scheinheilig auf den Duden.296 »Es ist richtig, dass auch die Nazis Deutsch gesprochen haben.« Der Duden verweise beim Begriff Fremdarbeiter nicht auf die Nazivergangenheit. »Und die Sprachregelung des Duden darf man ja wohl noch anwenden, ohne dass irgendwelche Betroffenheitslyriker versuchen, einem ans Zeug zu flicken.«297 Schließlich diene sein Rassismus einem guten deutschen Zweck: »Wir dürfen das Thema Schutz vor Billiglohnkonkurrenz nicht der NPD überlassen. Die NPD hat Probleme, wenn eine linke Partei konsequent Arbeitnehmerrechte vertritt.«298 Auch Gregor Gysi wollte der NPD »irregeleitete Wähler wegnehmen«.299 Der NPD Stimmen abnehmen, indem man ihr ähnlicher wird?

Dass Lafontaine kein unerschütterlicher Demokrat ist, demonstrierte er 2004, als der Frankfurter Polizeivizepräsident Manfred Daschner den Kindsmörder Magnus Gäfgen mit Folter bedrohte. Die Folter wurde damit gerechtfertigt, das Versteck des entführten Kindes Jakob von Metzler zu finden. Aber Folter ist in jedem Fall inakzeptabel. Wo leben wir, dass das betont werden muss? Gemäß der UN-Anti-Folter-Konvention (Artikel 1) von 1984 ist die Androhung von Folter bereits Folter. Aber Lafontaine sagte, er hätte »genauso gehandelt« wie der Folter androhende Polizist. Würde der Beamte bestraft, sei das »eine Katastrophe für den Rechtsstaat«. Man müsse »formale Verfassungsartikel« schon mal außer Acht lassen, alles andere sei »Prinzipienreiterei«.300

Es gibt eine merkwürdige irrationale Sehnsucht mancher Linker nach einer auch finanziell starken Organisation, an die sie sich anlehnen können, die die Dinge für sie erledigt. Eine naive Hoffnung, durch Wahlen und eine Regierung vieles in Ordnung gebracht zu sehen und sich stärker zu fühlen, dazuzugehören. Eine kollektive Regression vieler, die es besser wissen könnten, würden sie nur kritische Gedanken zulassen. Es ist die links gewendete Unterwerfung des deutschen Untertanen unter die Obrigkeit.

Die Linkspartei benutzt die Hoffnung ihrer Wähler auf ein besseres Leben, und sie zerstört ihre dafür unabdingbare Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbstbestimmt zu organisieren. Stattdessen bietet sie die gewohnte Hierarchie einer deutschen Partei. Die Anpassung an sozialdemokratische »Vernunft« ist aber – genauso wie das Geschwätz von »Sachzwängen«, »Realpolitik« oder »Standortinteresse« – nichts als die Unterwerfung unter die Verwertungsinteressen des Kapitals. Die Linkspartei will so wenig den Bruch mit den Gewaltstrukturen des Kapitalismus, wie es die SPD will. Beide macht jeder Gedanke an eine wirkliche soziale Emanzipation aggressiv.

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Die heutige Partei Die Linke entstammt einer Umgründung der SED zur PDS-SED im Dezember 1989. Nur durch die Beibehaltung des alten Namens als Namensbestandteil war das Parteivermögen – und ein Teil der Mitgliedschaft – in die neue BRD zu retten. 1990 wurde der Name in PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) umgeändert, 2005 in Die Linkspartei/PDS. Inzwischen heißt dieselbe Partei anmaßend nur noch Die Linke. Wenn also im Folgenden von »PDS«, »Linkspartei« oder »Die Linke« die Rede ist, ist damit immer derselbe Laden gemeint.

Noch unsicher in ihrer künftigen Strategie, waren führende PDSler Anfang der 1990er Jahre interessiert daran, ihre Organisation nach Westen auszudehnen und dafür sogenannte Westpromis für sich zu gewinnen. Von 1984 bis 1988 war ich Bundesvorsitzende der Grünen gewesen. Die meisten linken Grünen traten zwischen 1989 und 1991 aus der Partei aus, ich im April 1991. Die PDS lud mich ein, mich auf der Wahlprogrammversammlung der Linken Liste/PDS im September 1990 in einem Gastvortrag mit dem Programmentwurf der Partei auseinanderzusetzen.301

In meiner Rede kritisierte ich, dass in »öffentlichen Äußerungen von PDS-Vertretern erstaunliche Illusionen und Wunschträume über die SPD« zu finden waren, »als sei die SPD Teil der gesellschaftlichen Opposition. Realistischer sei doch wohl, dass die SPD eine Kapitalpartei mit marginalisierter Sozialfraktion geworden ist. Oskar Lafontaine, der gegen Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung und gegen Flüchtlinge wettere und sich mit einem ›modernisierten‹ militaristischen Großdeutschland in der NATO längst versöhnt« habe, sei ein »prototypischer Sozialdemokrat«. – Irgendwer muss da etwas falsch verstanden haben: Zwischen 2007 und 2010 war Oskar Lafontaine, gemeinsam mit Lothar Bisky, Parteivorsitzender der Linkspartei. – Es gebe auch keinen »sozialstaatlichen Kompromiss« in der BRD (Programmentwurf der PDS), sagte ich, an den eine Linke Liste/PDS anknüpfen könnte:

»›Sozialstaatlicher Kompromiss‹ heißt in der BRD drei bis fünf Millionen Arbeitslose, viele Menschen in Psychiatrien, Altersheimen, Obdachlosenasylen, Isolation und Einsamkeit. Die Stärke einer linken Partei liegt auch in ihrer polarisierten Gegnerschaft zu Kapitalparteien und ihrer souveränen und bewussten Staatsfeindlichkeit. Die Hoffnung, linke Politik harmonisch und nicht polarisiert betreiben zu können, ist gefährlich falsch. Sozialistische Positionen stehen in antagonistischem Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen. Dummerweise lässt sich das nicht durch Parteitagsbeschluss ändern.«

Zum Fortschrittsbegriff der Linken Liste/PDS sagte ich:

»Einige PDS-Vertreter haben das Loblied der ›Modernität‹ und des ›hohen technischen Niveaus‹ des Kapitalismus gesungen. Aber dieses ›hohe technische Niveau‹ baut auf hemmungsloser Plünderung der ökologischen und menschlichen Ressourcen in der sogenannten Dritten Welt auf und hinterlässt seine Opfer auch in der reichen Bundesrepublik. Die Illusion, man könne Technik und Wissenschaft aus den konkreten kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen herausschneiden, war der SED, der KPdSU und der SPD gemein. Aber es gibt keine wertfreie Technologie. Eine für den Zweck der Profitmaximierung entwickelte Technologie sperrt sich gegen ihre humane und ökologische Umformung.«

Ich empfahl, das Verhältnis zu Technik, Wissenschaft und Natur aus der Tradition von Marx und Engels abzuleiten und nicht auf den zertretenen Pfaden des Sozialdemokratismus und des Stalinismus zu wandeln (Beispiel in diesem Buch: der Aralsee). Viele Fünfjahrespläne seien Belege dafür, dass die »realsozialistischen« Länder versucht hätten, den Kapitalismus in seiner eigenen Entwicklungslogik zu überholen, anstatt mit dieser, den Menschen und die Natur zerstörenden, Logik zu brechen: »Dabei entstanden miserable Kopien des Kapitalismus in der DDR und in Osteuropa und über sie vermittelt in der sogenannten Dritten Welt. Dass dort dabei ähnliche Umweltprobleme folgten, wenn auch zeitversetzt, war kein Wunder.«

Der Glaube, dass die technische Entwicklung der Produktivkräfte automatisch zum sozialen Fortschritt führe, sei Aberglauben. Eine wirklich fortschrittliche ökologische Linke wisse, dass es in der Entwicklung von Technologie und Wissenschaft einen Punkt gibt, an dem Produktivkräfte in Destruktivkräfte umschlagen können, wie die Atomenergie und die Gentechnik. Im Programm der PDS fehle die Forderung nach sofortiger Stilllegung aller Atomanlagen in West und Ost, das sei ein unumstößliches Prinzip linker ökologischer Politik. Vor allem diese Passage war bei verschiedenen Gelegenheiten über Jahre Gegenstand heftiger Kritik von PDS-Mitgliedern.

Die SPD/Grüne-Bundesregierung (1998–2005) hat die Modernisierung von Atomanlagen und Atomprogramm (»Energiekonsens«) als »Ausstieg« mystifiziert. Die Linkspartei half beim Betrug, indem sie diese Modernisierung, die den nahtlosen Übergang zur Atomfusion möglich macht, als »zaghaften« Atomausstieg anerkannte. Gleichsam im Gegenzug lobte Bundeskanzler Schröder 2000 die PDS in Mecklenburg-Vorpommern, weil sie über das übliche Maß der Aufgabenverteilung hinaus die Atomfusion fördere.302

Der Ausstieg aus der Atomenergie war im PDS-Programmentwurf von 1990 so windungsreich beschrieben, dass man der Forderung nicht trauen konnte, schon deshalb nicht, weil wir ja die Geschichte der SED kannten. Ich hatte noch im Ohr, wie uns die DDR-abhängige DKP in den 1970er Jahren in Westdeutschland mit ihren Parolen genervt hatte, Atomkraftwerke seien zwar in der Hand des Kapitals gefährlich, nicht aber »in der Hand des Volkes«. Mein damaliger O-Ton:

»Es gibt Technologien, die sind ohne jede Rücksicht abzulehnen, selbst wenn es Arbeitsplatzprobleme gäbe. Atomenergie verseucht die Umwelt auch im ungestörten Normalbetrieb mit Dutzenden von Billionen Becquerel radioaktiver Strahlung. Es existiert keine Trennung in zivile und militärische Nutzung: Wer Atomanlagen hat, kann Atombomben bauen. Atomstrom ist idiotischste Energieverschwendung. Atomenergie ist leicht ersetzbar, und sie kostet so viel, dass Alternativen wie rationelle Energienutzung, Energieeinsparung und Entwicklung und sofortige Anwendung der vorhandenen erneuerbaren Energieträger, Sonne, Wind, Wasser, verhindert werden. Radioaktive Stoffe bedrohen für Zehntausende von Jahren die Erde. Plutonium von der Menge einer Apfelsine genügt, die ganze Menschheit umzubringen.«

Meine Rede wurde sehr freundlich beklatscht, vermutlich, weil man es schätzte, dass eine sogenannte Westprominente auf einem Parteitag der gesellschaftlich noch verfemten Ostpartei redete, aber nicht, weil meine Argumente eine Mehrheit interessiert hätten.

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Seit Mai 1990 verbrachte ich viel Zeit im Osten Deutschlands. Bis 1989 hatte ich aus politischen Gründen nie in die DDR einreisen dürfen. Es war interessant, eine Partei aus großer Nähe zu beobachten, die im Westen klein und stigmatisiert war, im Osten aber eine sehr deutsche Volkspartei.

Da waren PDS-Bürgermeister wie Horst-Dieter Brähmig aus Hoyerswerda, dem nach dem Pogrom vom September 1991 das Image seiner Stadt mehr am Herzen lag als Empathie für die Todesängste der Opfer.303 Wie zornig wäre die Schriftstellerin Brigitte Reimann darüber gewesen, die von 1960 bis 1968 in Hoyerswerda gelebt und im neuen Kombinat Schwarze Pumpe gearbeitet hatte! Dort hatten auch DDR-Vertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam gearbeitet, die bei den rassistischen, lebensgefährlichen Angriffen 1991 aus der Stadt gejagt wurden, während sie doch eigentlich dabei waren, über ihre Abfindungen zu verhandeln, denn sie mussten als Folge der Wiedervereinigung Deutschland verlassen. »Unter den Angreifenden erkannten die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter ihre deutschen Kollegen – vor allem Vorarbeiter – aus dem Braunkohlewerk.«304 Es war das erste rassistische Pogrom in Deutschland seit 1945.

Da gab es PDS-Bauunternehmer, deren Stasi-Vergangenheit ihren Auftraggebern aus dem Westen plötzlich vollkommen egal war, weil man mit ihrer Hilfe Autobahnen durchs neu eroberte Land schneiden konnte; ehemalige Vorsitzende sozialistischer, kollektiver LPGs, die in Blitzgeschwindigkeit zu Direktoren von hierarchischen und ökologiefeindlichen Massentierhaltungsbetrieben mutierten, und man musste PDS-Funktionäre beobachten, die in Sachsen politische Brücken zu Faschisten bauten.

Ohnehin war und ist die Linkspartei/PDS schrecklich deutsch und national. Hans Modrows Konzept »Deutschland einig Vaterland« vom Februar 1990 war weder der Anfang noch das Ende der nationalen Orientierung. Der PDS-Landesminister Helmut Holter beklagte rückblickend (1999) sogar den angeblich mangelnden Nationalismus in der DDR: »In der DDR durfte sich Nationalstolz nicht entwickeln. […] Aber ich finde es nicht anrüchig, zugleich Internationalist und Patriot zu sein.«305 Es waren von Anfang an eine Menge Flanken nach rechts offen. Gregor Gysi wollte 1993 Protesten zum Trotz mit dem Chefredakteur der Jungen Freiheit an einer Podiumsdiskussion in Potsdam teilnehmen. Wie ärgerlich für ihn, dass der Potsdamer SPD-Oberbürgermeister die Veranstaltung verbot. Dafür konnte Gysi 1994 in Stuttgart mit dem reaktionären Manfred Brunner (bis 1999 Vorsitzender des Bundes Freier Bürger) diskutieren und beklagen, dass die Linke »ein gestörtes Verhältnis zur Nation« habe.306 Wenn es denn so wäre.

Wer die Linkspartei/PDS im Osten kennt, weiß, wie national gesinnt viele ihrer Kreise sind. Das weiß auch die Parteiführung, auch deshalb hat sie sich nie von sich aus von ihrem extrem nationalen Flügel um Christine Ostrowski getrennt. 1992 traf Ostrowski sich mit Constantin Meyer, einem Funktionär der bald darauf verbotenen neofaschistischen Gruppe Nationale Offensive, zu einem nichtöffentlichen Gespräch über gemeinsame Jugendprojekte. Ostrowski sagte anschließend anerkennend: »Unsere sozialen Forderungen stimmen im Grunde überein – bis hin zum Wortlaut.«307 Als die Kritik an Ostrowski lauter wurde, verteidigte der Parteivorsitzende Lothar Bisky sie. Wie Gysi hielt er Ostrowskis Rücktritt aus dem Parteivorstand für unnötig. Das hätte die Linkspartei/PDS Wählerstimmen im Osten gekostet.

Christine Ostrowski wurde 1998 sogar mit einem Mandat im Bundestag belohnt. Im gleichen Jahr erklärte sie, die PDS müsse sich zur »Stimme des Protestes« auch ausländerfeindlicher Bauarbeiter machen:

»Warum gelang es der PDS nicht, viele von denen, die jetzt DVU gewählt haben […] für sich zu gewinnen? […] Jeder dritte Bauarbeiter im Osten ist arbeitslos. Gleichzeitig arbeiten nicht wenige ausländische Beschäftigte auf dem Bau. Kann man es einem hiesigen Bauarbeiter verdenken, daß er die Wut kriegt, wenn er nicht zuletzt deswegen seine Arbeit verliert? […] Die Richtung allerdings, in die er Schuld suchend schielt, zeigt nicht die wirklich Verantwortlichen, sondern die noch Schwächeren. […] Also seien wir die Stimme seines Protestes und denken wir darüber nach, warum wir es nicht sind, jedenfalls nicht genug.«308

Die Bundestagswahlen von 1998 bewiesen, wie stark sich ein erschreckend großes, rechtsextremes und völkisches Wählerpotenzial zur Linkspartei/PDS hingezogen fühlte. Die Forschungsgruppe Wahlen fand heraus, dass »23 Prozent der DVU-Wähler mit ihrer Erststimme die PDS unterstützt [haben], damit erhält die PDS mehr Erststimmen von den DVU-Anhängern als alle anderen Parteien«.309

Ostrowski war in der Linkspartei/PDS nie marginalisiert, im Gegenteil, sie machte Karriere: Stadtverbandsvorsitzende in Dresden (1990–2000), stellvertretende Parteivorsitzende (1993), Stadträtin in Dresden (1994–2008), Landtagsabgeordnete in Sachsen (1994– 1998), Mitglied im Bundestag (1990 und 1998–2002). Sie trat erst 2008 aus der Partei aus, nach Auseinandersetzungen um den Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft WOBA GmbH (rund 48000 Wohnungen) an die US-Investmentgesellschaft Fortress Investment Group, dem sie als Stadträtin der Linkspartei wie etwa die Hälfte ihrer Fraktion zugestimmt hatte. Die Mehrheit der PDS-Stadträte (9 von 17) hatte dem Dresdner OB Ingolf Roßberg (FDP) im März 2006 zur Durchsetzung des Beschlusses im Stadtrat verholfen.

Das Nationale in der Linkspartei/PDS machte und macht sich nicht nur an der Person Ostrowski fest oder an PDS-Bürgermeistern wie in Hoyerswerda. Auch ihr Antikapitalismus hat gelegentlich einen nationalen, aber auch antisemitischen Beigeschmack, in Zeiten der Weltwirtschaftskrise wird das nicht eben weniger: In Verlautbarungen und Redebeiträgen wird das Kapital künstlich getrennt, in das scheinbar voneinander fast unabhängige Produktivkapital einerseits und das Finanzkapital andererseits. Das produktive ist, in dieser Lesart, deutsch und gut und leistungsbegründet, das finanzielle international und böse und leistungslos, es rafft, statt zu schaffen, betätigt sich seltsamerweise vor allem in den USA und bekommt als »internationales Finanzkapital« eine antisemitische Färbung.310

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Fast 25 Jahre lang haben wir inzwischen die Praxis der Linkspartei/PDS beobachten und analysieren können, in Rathäusern, Stadträten, Parlamenten und vor allem dort, wo sie die vielbeschworene »Verantwortung« in einer Landesregierung trug. In Sachsen-Anhalt tolerierte die PDS eine SPD-Regierung (1994– 2002), eine Art Vorschule für Mecklenburg-Vorpommern, wo die PDS dann von 1998 bis 2006 mitregieren durfte. In Berlin regierte die Linkspartei/PDS zwischen 2002 und 2011 mit der SPD.

Welches Wesen eine politische Organisation hat, zeigt sich manchmal an winzigen, für den Lauf der Zeitgeschichte beinahe belanglosen Beispielen.

Helmut Holter, heute Landtagsfraktionsvorsitzender der Linkspartei, war 1991 bis 2001 Landesvorsitzender der PDS und von 1998 bis 2006 Minister für Arbeit und Bau in der SPD/PDS-Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern. SED-Mitglied seit 1973, in Moskau ausgebildeter Kader und sehr wendig. Während seiner Amtszeit verkaufte die Treuhand die Ostseehalbinsel Wustrow an die nordrhein-westfälische Investmentgruppe Fundus. Holter hatte es in der Hand, zu entscheiden, wie viel die Fundus-Gruppe an Profit aus der Nutzung der Halbinsel herauspressen könnte – wie dicht durfte das verwilderte Stück Natur bebaut werden? »Als Minister für Raumordnung liegt es in seiner Hand, wie viel Geld die Fundus-Gruppe mit Wustrow verdienen wird. In seinem Ministerium wird das Raumordnungsverfahren durchgeführt«, schrieb Brigitte Fehrle in der Berliner Zeitung im Dezember 1999. Der Investor plante keinen Naturpark, wofür sich das seit Jahrzehnten verlassene Gelände wunderbar eignen würde, oder wenigstens eine autofreie, schonend bebaute Halbinsel, sondern eine luxuriöse, dichte Bebauung samt Jachthafen und mit allen Schikanen.

Das gab Ärger mit der Parteibasis. Viele Mitglieder verstanden sich noch als Sozialisten und sahen nicht ein, warum so viel öffentliches Eigentum privatisiert werden sollte. Der PDS-Minister hatte zwar im Großen und Ganzen leichtes Spiel, denn viele Menschen hatten nach der sogenannten Wende größere private Sorgen als je zuvor, und viele waren es zudem gewohnt, ihrer Parteiführung zu vertrauen. Aber der Unmut war so groß, dass es zu Versammlungen kam, bei denen der Minister sich rechtfertigen musste.

Ein älterer Mann fragte ihn auf einer PDS-Basisveranstaltung: »Aber, Genosse Holter, stärken wir damit nicht das Kapital?«

Der gab die unnachahmliche Antwort: »Natürlich, Genossen, stärke ich damit das Kapital. Aber, Genossen, es sind doch unsere Leute.«311

Ein Hotel, dazu 2 000 bis 10 000 Betten, ein seeseitiger Yachthafen und ein Golfplatz sollen entstehen. Inzwischen hat die Fundus-Gruppe sogar geführten Besuchergruppen das Betreten der Halbinsel Wustrow verboten. Sie ist durch einen hohen, bewachten Zaun abgetrennt.

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Als die SPD 2006 mit dem Ende der Koalition drohte, stimmte die Schweriner PDS der umstrittenen Verwaltungsreform (Verwaltungsmodernisierungsgesetz) zu. Sonst wäre es, drohte die SPD, aus gewesen mit den schönen Minister- und Staatssekretärsposten und den vielen anderen Ämtern. Auch die PDS-Bundestagsfraktion hatte ihre Landtagsfraktion zur Zustimmung gedrängt.

Die absehbaren Folgen der Verwaltungsreform sind: Entdemokratisierung, eine extreme Zentralisierung und Entmündigung von Gemeinden (18 Landkreise und kreisfreie Städte wurden zu nur sechs Landkreisen und zwei kreisfreien Städten zusammengelegt), Abbau von kommunaler Selbstverwaltung, eine höhere Kostenbelastung für Kommunen, die Zusammenlegung oder Auflösung von 100 Behörden und die Privatisierung eines ganzen Bündels bisher öffentlicher Aufgaben, das bedeutete Massenentlassungen und eine noch höhere Arbeitslosigkeit.

Alle Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern protestierten gegen das undemokratische Gesetz, auch die Mehrheit der PDS-Fraktion war ursprünglich dagegen gewesen. Jetzt aber stimmten so viele PDS-Abgeordnete zu, wie für eine Mehrheit notwendig waren. Die PDS hatte sich ganz offenkundig den »Ströbele-Trick« bei den Grünen während der SPD/Grüne-Koalition im Bund abgeguckt: Man spielt Opposition, gibt der anderen Regierungspartei aber so viele Stimmen, dass das angeblich bekämpfte Projekt durchkommt, und so fällt man nicht aus der Regierung und behält all die Mandate und Ämter.

Der PDS-Abgeordnete Gerhard Bartels, der u.a. wegen der Zustimmung seiner Fraktion zur Verwaltungsreform aus der Landtagsfraktion austrat, sagte 2007: »Die Angst vor dem Verlust von Regierungsverantwortung wog schwerer als die vor der Preisgabe grundsätzlicher Inhalte. Bei den Landtagswahlen hat sich das gerächt. Gemessen an den absoluten Zahlen haben wir jede Menge Wähler in den Nichtwählerbereich verloren.«312

Inzwischen ist, begleitet von heftigen juristischen Auseinandersetzungen, die »Reform« durch. Seit 2006 koaliert in Mecklenburg-Vorpommern die SPD mit der CDU und verdünnt die Infrastruktur des Landes weiter. Die Linkspartei protestiert, als habe sie überhaupt nichts damit zu tun.

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War die Linkspartei/PDS/Linke jemals eine Bewegungspartei, Protest- oder Oppositionspartei? Natürlich nicht. Schon seit vielen Jahren ist es die höchste Sehnsucht der Linkspartei/PDS, Teil einer Bundesregierung zu sein, das aber gibt’s in einem kapitalistischen Zentrum nur um den Preis der Zustimmung zu Kapitalismus, EU-Aufrüstung und NATO. Ihr Wunschpartner bleibt die SPD, aber große Teile der Partei nähmen auch jeden anderen Regierungspartner, wenn der sie nur wollte.

1994 lautete eine Wahlkampfparole der PDS: »Veränderung beginnt mit Opposition.« Das klang noch links. Aber der letzte Schritt der Partei war schon mitgedacht: »… und endet mit Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse.« Die Linkspartei/ PDS liebäugelte eine Zeitlang mit der außerparlamentarischen Linken, mit neuen sozialen Bewegungen, ja gar mit antiautoritären Protesten – während ihre Amts- und Würdenträger lieber für Ruhe und Ordnung sorgten.

Um einem Teil der Parteibasis und der Wählerschaft vorzutäuschen, dass sie eine sozialistische Partei sei, während sie sich in Wirklichkeit auf striktem Kurs in die Arme des Systems befand, musste die Linkspartei die Widersprüche weichzeichnen. Da das nur wahrheitswidrig funktionierte, musste ziemlich viel antiaufklärerischer Blödsinn geredet werden. Gysi plapperte 1999 in einem Interview: »Wir sollten uns von der Vorstellung trennen, dass unser System in Deutschland nur kapitalistisch ist. Hunderte von Elementen sind kapitalistisch gar nicht zu erklären. Nehmen Sie die Bypass-Operation eines 70-Jährigen. Rein marktwirtschaftlich ist sie nicht zu erklären, nicht einmal für den Arzt. Ich behaupte, in der Bundesrepublik gibt es einige sozialistische Elemente.«313

Rein markwirtschaftlich ist auch nicht zu erklären, warum Gysi so einen Unsinn redet. Weiß er als ausgebildeter Marxist-Leninist wirklich nichts davon, dass soziale Leistungen in einer kapitalistischen Gesellschaft vom Stand der Klassenkämpfe abhängen und auch der Befriedung und Integration dienen? Es würde (noch) für viel zu viel soziale Unruhe sorgen, stürben heute massenhaft 70-Jährige, denen einen solche Operation verweigert würde.

Im selben Interview gab Gysi eine weitere bahnbrechende Erkenntnis über den Kapitalismus und über die Rolle einer vermeintlich sozialistischen Partei preis: »Es ist Aufgabe einer sozialistischen Partei, diese Elemente zu stabilisieren gegen neoliberale Angriffe, sie auszubauen, bis an die Stelle der Dominanz der Kapitalverwertungsinteressen die Dominanz der sozialen Interessen der Menschen tritt. Es darf also Kapitalverwertungsinteressen geben, sie dürfen nur nicht dominieren.«314 Und wie im Märchen will man heimlich den Kapitalismus abschaffen, ohne dass das Kapital was davon merkt. Und wenn sie nicht gestorben sind …

Wenn eine Partei so strukturkonservativ ist und die nationale Flanke so weit offen hat wie die Linkspartei/PDS, sind auch Wahlbündnisse mit der CDU auf Dauer nicht mehr auszuschließen. Gregor Gysi sagte schon 1999, er wolle Berlin noch zu Lebzeiten »vereint« erleben. Da sah es so aus, als könne nach den Landtagswahlen eine numerische Mehrheit von CDU (vor allem im Westen) und PDS (vor allem im Osten) entstehen. Es gehe ihm allerdings nicht um eine Koalition, sondern um einen »Dialog« mit der CDU. Nichts Geringeres wollte er, als den »Kalten Krieg [zwischen PDS und CDU] beenden« und Berlin vor der Gefahr der »Provinzialität« retten.315 Sein Ziel für das Jahr 2000 sei »ein ganz wichtiges: Linke und Konservative haben in Deutschland zum ersten Mal seit Kriegsende eine gemeinsame Verantwortung. Das ist die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands. Für die CDU geht es dabei vor allem um die nationale Frage, für uns um die soziale. Das ist eine Aufgabe nicht nur für ein Jahr. Aber sie darf auch kein ganzes Jahrhundert dauern.«316

Auch der frühere Parteivorsitzende Lothar Bisky konnte sich vorstellen, dass irgendwann auch eine Koalition mit der CDU denkbar sei: »Denn es ist auf längere Sicht eine Neuorientierung der Parteienlandschaft in der Bundesrepublik zu erwarten.«317 Nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2001 wurde es um die C-Frage stiller, weil es zu einer von der PDS tolerierten SPD/Grüne-Landesregierung kam und 2002 zu einer Koalition von SPD und PDS.

In vielen Landkreisen und Gemeinden, vor allem in den östlichen Bundesländern, gibt es Bündnisse zwischen Linkspartei und CDU. Sie sind längst Alltag. Auch regelrechte Koalitionen mit der CDU werden kommen. Wulf Gallert, der langjährige Fraktionschef der Linkspartei in Sachsen-Anhalt, schloss 2008 eine Zusammenarbeit mit der CDU »nicht auf alle Ewigkeit« aus, »in zehn Jahren« sei sie denkbar: »Man kennt sich von früher. In Stendal wurde ein hochrangiger DDR-Grenzoffizier Oberbürgermeister; da redet man anders über Vergangenheit.«

Gemeint war hiermit der NVA-Offizier Klaus Schmotz. Er hatte zu DDR-Zeiten 16 Jahre Dienst in der Führung des Grenzkommandos Nord an der innerdeutschen Grenze getan. Die Stasiunterlagen-Behörde protestierte gegen den Kandidaten. Aber die CDU verschaffte ihm die notwendigen Stimmen. »Schäuble macht Wahlkampf für DDR-Grenzoffizier«, titelte Die Welt.318 Gallert erklärte, die CDU sei in vielen Kommunen im Osten besser als die SPD in der Lage, »auf den Stimmungswandel in der Bevölkerung zu reagieren«. Oftmals sei die Distanz zwischen CDU und Die Linke nicht größer als die zwischen SPD und Die Linke. In vielen Ostkommunen gebe es eine »punktuelle Zusammenarbeit« zwischen Linken und CDU, aber »viele in der Linken wollen nicht, dass darüber geredet wird – was für die CDU übrigens ebenso gilt«. Die »Basis« für diese Kooperation ist eher eine »sozial-konservative«, die CDU sei dagegen, »dass Strukturen verändert werden, und wir sind es auch«.319

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Wie sozial ist die Linkspartei eigentlich, wenn es ernst wird? Es gab 2004 laut einer Forsa-Umfrage mehr Bundestagsabgeordnete der PDS (58 Prozent) als der SPD (52 Prozent), die »die Meinung vertraten, dass den Bürgerinnen und Bürgern ›weitere Einschränkungen zuzumuten‹ seien«.320 Dass die Linkspartei/PDS fest auf dem Boden des Kapitalismus steht, wurde früh deutlich. 1996 erklärte der damalige Parteivorsitzende Gregor Gysi, dass »demokratischer Sozialismus« à la PDS das Privateigentum an Produktionsmitteln einschließt und dass die Interessen dieser Privateigentümer zu schützen seien.321

Die Steuerreform der SPD/Grüne-Bundesregierung von 2000 war einer der größten Beutezüge für das Kapital.322 Die beiden Parteien machten deutschen Banken und Versicherungen »ein milliardenschweres Steuergeschenk«: »Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen, die eine Kapitalgesellschaft an einer anderen Kapitalgesellschaft hält, sind nicht steuerpflichtig.« Das bedeutete: Banken und Konzerne konnten künftig Unternehmensanteile verkaufen, ohne dafür Steuern zu bezahlen. Die Aktienkurse von Dresdner und Deutscher Bank, von Allianz und Münchner Rückversicherung »explodierten förmlich«. Es war, »als falle Weihnachten und Ostern auf einen Tag«, jubelten Banker.323 Im Schatten blieb, zum Vorteil der Linkspartei, dass die Steuerreform auch mit der Stimme der mecklenburg-vorpommerschen SPD/PDS-Landesregierung verabschiedet wurde. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Zeitung des Besitzbürgertums, informierte ihr Publikum: »Die PDS ist überraschend, aber doch deutlich und endgültig und aus freien Stücken im Westen angekommen: Sie hat, erstens, einer Steuerreform zugestimmt, die dem Kapital zugute kommt, und sie hat es zweitens gern getan.«324 Oskar Lafontaine war 1999 als SPD-Parteivorsitzender und als Bundesfinanzminister zurückgetreten, war aber noch Mitglied der SPD und verfasste Kolumnen für Bild. Er lobte in einer Kolumne in der Welt den Anpassungsprozess der Linkspartei/PDS: »Die schrittweise Integration der PDS und ihrer Wähler in die Demokratie ist nicht aufzuhalten.« Und weiter: »Die PDS Mecklenburg-Vorpommerns hat im Bundesrat einem Steuergesetz zugestimmt, das vor allem das Großkapital um 30 Milliarden Mark im Jahr entlastet. Da kann man nur staunen. Ein solches Gesetz, das eine massive Umverteilung von unten nach oben zur Folge hat, hätte die Regierung Kohl dem Bundesrat nicht vorgelegt.«325

Zum Chemnitzer Parteitag titelte der Der Spiegel im Oktober 2003: »PDS im Kapitalismus angekommen«, und schrieb weiter: »Was der SPD ihr Godesberg, ist der PDS Chemnitz: Die letzte sozialistische Partei Deutschlands ist nun keine mehr. Mit einem neuen Grundsatzprogramm bekannte sich die SED-Nachfolgepartei erstmals zu den Grundsätzen der Marktwirtschaft.«326

Wo sie mitregiert, betreibt die Linkspartei/PDS die Bereicherung kleiner Kreise und stützt den Raubzug gegen Millionen Arme. Ihr Image als »sozialistische« oder wenigstens irgendwie »linke« Partei wird vor allem von ihren antikommunistischen Gegnern aufrechterhalten.

Die zehn Jahre dauernde SPD-PDS-Regierung in Berlin zeigte, was »Wenn wir mal an der Macht sind« bedeutet. Die PDS hat mitzuverantworten, dass städtische Wohnungsbaugesellschaften privatisiert wurden, zum Beispiel:

  • durch den Verkauf der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft (GSW) an ein Konsortium der internationalen Fondsgesellschaften Whitehall (Goldman Sachs) und Cerberus für 405 Millionen Euro (2004),

  • durch den Verkauf von 1 700 Wohnungen der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM) an den Investor Puma Brandenburg Limited327,

  • durch den Verkauf weiterer über 4 500 Wohnungen (zwischen Anfang 2007 und Herbst 2008).328

Während die Mieten stiegen, kürzte und strich Rot-Rot Mieterberatungsinitiativen die Zuschüsse. Es wäre ja auch ärgerlich, wenn gutinformierte Mieter sich besser wehrten.

Der Berliner Soziologe Andrej Holm hat ausgerechnet: Seit 1995 wurden in Berlin 209 000 kommunale Wohnungen privatisiert, mehr als 57 Prozent davon, 120 000, allein von 2002 bis 2005 – unter der Mitverantwortung der Linkspartei.329

Der Berliner SPD/PDS-Senat hat das Berliner Gesundheitswesen in seit 1945 nie dagewesener Weise zerschlagen. Große Teile des Krankenhauswesens sind inzwischen der direkten parlamentarischen Kontrolle entzogen. Neuer Träger ist die Firma Vivantes GmbH, die zu 100 Prozent dem Land Berlin gehört. Inzwischen ist in Berlin eine medizinische Versorgung von Kassenpatienten auf dem Niveau der besten wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten nicht mehr gewährleistet.330

Damit viele Millionen Euro eingespart werden konnte, mussten 13 000 Beschäftigte auf ihr Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichten, anderenfalls drohten ihnen der »linke« Senat und die Vivantes-Geschäftsleitung mit Kündigung. Seit der Firmengründung sind fast 4 000 Vollstellen und etwa 1 000 Ausbildungsplätze gestrichen worden. Die Beschäftigten wurden erpresst: Insolvenz oder Lohnverzicht? Die Beraterfirma McKinsey strich währenddessen ein Honorar von 2,7 Millionen Euro ein. Für die Patienten ist durch die Personalknappheit und den Stress des Krankenhauspersonals eine (lebens-)gefährliche Situation entstanden.331

In der Regierungszeit der PDS in Berlin seit 2002 kam es, neben anderen neoliberalen Entgleisungen wie (Teil-)Privatisierung der Strom- und Wasserversorgung, der Krankenhäuser und Wohnungen, zu massivem Sozialabbau. Berlin strich Zuschüsse für Obdachlose und für Behinderteneinrichtungen (2002), schaffte das Blindengeld ab (2005), beseitigte das Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr (2004), um es später, wegen der heftigen Proteste, zu einem dreimal so hohen Preis wieder einzuführen. Des Weiteren wurde Berlin Vorreiter bei der Abschaffung der Lernmittelfreiheit (2003), erhöhte die Kita-Gebühren (2003), strich den Jugendhilfeetat von 400 Millionen (2001) auf 230 Millionen Euro herunter (2005) und schuf 24 000 Ein-Euro-Jobs, womit sich prima tariflich bezahlte Arbeitsplätze beseitigen lassen. Nicht selten fanden sich entlassene Beschäftigte als Ein-Euro-Jobber in genau den Stellen wieder, die sie zuvor als Festangestellte ausgeübt haben – zum Beispiel in Kindertagesstätten.

Die Berliner Linkspartei/PDS war daran mitbeteiligt, die Mittel für die Universitäten zu kürzen und zugleich private Elitehochschulen zu fördern. Unter Wirtschaftssenator Gregor Gysi – den es nur ein halbes Jahr im Amt hielt – wurde eine »Eliteuniversität« begründet, die ESMT (European School of Management and Technology). Der SPD/PDS-Senat gab den Betreibern, darunter so ärmlichen Einrichtungen wie die Allianz, DaimlerChrysler, Eon und Thyssen-Krupp, eine städtische Immobilie in bester Lage: das ehemalige DDR-Staatsratsgebäude samt zugehörigem Grundstück kosten- und mietfrei.332

Wirtschaftssenator Gysi betrieb massiven Stellenabbau im öffentlichen Dienst, um eine halbe Milliarde Euro einzusparen, und erpresste mit einem sogenannten solidarischen Beschäftigungspakt von den Beschäftigten den Verzicht auf Gehaltserhöhungen und auf die Hälfte des Urlaubsgeldes, indem er mit »betriebsbedingten Kündigungen« drohte.333

Während laufender Tarifverhandlungen kündigte der SPD/ PDS-Senat im Jahr 2003 seine Mitgliedschaft im Verband öffentlicher Arbeitgeber und wurde damit zum »Vorreiter für eine bundesweite tarifpolitische Destabilisierung«, wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) es formulierte.334 Wirtschaftssenator Gregor Gysi – auch sein Sein bestimmt sein Bewusstsein – war voller Mitgefühl für die Arbeitgeberseite: »Ich habe es hautnah erlebt, wie kompromisslos sich die Gewerkschaften verhalten, wenn es darum geht, Lohnerhöhungen für die Arbeitsplatzbesitzer durchzusetzen, auch wenn sich ein Arbeitgeber dies gar nicht leisten kann.«335

Das Ökologieverständnis der Linkspartei schwimmt irgendwo zwischen konservativer Wachstumskritik, Esoterik, Bioenergiedörfern und einem sehr kleinen bisschen Marx. In der Berliner Regierungspraxis setzte sich das Unvereinbare dann ganz konventionell um: Die Partei brach ihr Wahlversprechen und stimmte für den Bau des Großflughafens Berlin-Brandenburg und ließ auch die weitere Ausdehnung des Autoverkehrs zu Lasten des öffentlichen Nahverkehrs und der Schiene zu.

Die Linkspartei half 2002, den Stromversorger Bewag an den schwedischen Konzern Vattenfall zu verscherbeln und im folgenden Jahr die Berliner Wasserwerke zur Berlinwasser Holding AG teilzuprivatisieren. Die Bürgerinitiative Berliner Wassertisch stritt, behindert 2008 auch vom SPD/Linke-Senat, um die Zulassung eines Volksentscheids, mit dem wenigstens erst einmal erzwungen werden sollte, dass die Geheimverträge über die Privatisierung des Wassers veröffentlicht werden. Der Senat behauptete, das verstoße gegen »höherrangiges Recht«. Konzerninteressen sind im Kapitalismus nun mal wichtiger als Bürgerrechte. Es kam dann nach großen Anstrengungen doch noch zu einem Volksentscheid: 666 000 Berliner stimmten im Februar 2011 für die Offenlegung der Verträge. Bis heute geht der Kampf um die Rekommunalisierung weiter.336

Gegen die Pläne des Investorenvereins Mediaspree e.V., der das Spreeufer in Kreuzberg-Friedrichshain mit Luxusbauten, Hotels und Bürohochhäusern zubauen und der Öffentlichkeit enteignen will, hatte sich völlig überraschend mit originellen Aktionen und guten Argumenten die Initiative »Mediaspree versenken« zusammengerottet, die ein »Spreeufer als Kultur- und Grünfläche mit vielfältiger und kleinteiliger Nutzung für Alle« erhalten und durchsetzen will.337 Bei einem Bürgerentscheid hatten 87 Prozent von rund 35 000 Bewohnern aus Friedrichshain und Kreuzberg 2008 für eine Änderung der Baupläne gestimmt. Die Linkspartei stand auf der Gegenseite. Der Bürgerentscheid wird ignoriert. Das Spreeufer wird zugebaut.338

* * *

Seit dem Jugoslawienkrieg präsentiert sich die Linkspartei als Antikriegspartei, das gilt als der Kern ihrer angeblichen Andersartigkeit. Für viele ihrer Mitglieder trifft das sicher zu. Die Hauptlinie der Partei ist allerdings eine andere. Sie ist eine Befürworterin des undemokratischen, unsozialen, prokapitalistischen und militärischen Projektes EU, aber sie gibt seit Jahren vor, das sie enorm kritisch und fast ganz dagegen ist.

2001 war Lafontaine noch Mitglied der SPD. Da machte er das Bekenntnis zur NATO zu einer Bedingung für mögliche Koalitionen der SPD mit der PDS: »Solange sie [die PDS] die NATO ablehnt, kann man mit ihr keine Außenpolitik machen.«339 Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center hielt Gysi begrenzte militärische Einsätze der NATO zur »Strafverfolgung« für möglich.340 Gysi und der damalige EU-Abgeordnete der PDS, André Brie, forderten 2002 in einem offenen Brief an Lafontaine, dass die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, also der Aufbau einer EU-Militärmacht, zu stärken sei – als Antwort auf den imperialistischen Kriegskurs der USA.341 Damit rannten sie bei Lafontaine offene Türen ein.

Auf dem Parteitag in Chemnitz 2003 korrigierte die Linkspartei/PDS eine antimilitaristische Entscheidung eines vorangegangenen Parteitags. Sie erkannte mit ihrem neuen Grundsatzprogramm das Gewaltmonopol der UNO uneingeschränkt an und stimmte damit UN-Militäreinsätzen und sogenannten friedenserzwingenden UN-Einsätzen zu.342 Im Mai 2005 stimmte die Berliner SPD/PDS-Regierung für die EU-Kriegsverfassung.343 Drei Jahre später sagte Oskar Lafontaine, da war er zusammen mit Gysi Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag: »Wenn der UN-Sicherheitsrat einen Blauhelm-Einsatz beschließen würde, würde dieser von der Linken unterstützt.«344 Usw. usf.

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Die Rückkehr in die Rolle als staatstragende Partei, wenngleich es ein anderer Staat ist, den sie nun so gern mittragen möchte, ist offensichtlich abgeschlossen. Die Linke/PDS ist dort, wo ihre Führung und ein großer Teil ihrer Mitglieder seit fast 25 Jahren hinwollte: angekommen im kapitalistischen System Bundesrepublik Deutschland. Wer die Linkspartei wählt, akzeptiert den Kapitalismus als unveränderliches Schicksal, sagt grundsätzlich ja – Gequengel in Einzelfällen nicht ausgeschlossen – zu: Sozialterror, Militär, IWF und Weltbank, UNO und EU.

Die Linkspartei/PDS ist weder sozialistisch noch radikaldemokratisch. Sie ist prokapitalistisch und betreibt, sobald sie an der Regierung ist und es von ihr verlangt wird, Sozialabbau. Sie behauptet, antimilitaristisch zu sein, aber sie fördert die Aufrüstung und ist, unter bestimmten Voraussetzungen, für Krieg. Sie ist ein Gegner emanzipatorischer linker Politik. Sie steht uns im Weg.

Selbstverständlich hätte die PDS, wäre sie Teil der Bundesregierung gewesen, auch die Agenda 2010 der SPD/Grünen-Regierung mitgetragen, wegen deren Ablehnung sie heute für viele Wähler so interessant ist. Die Linkspartei ist heute nicht deshalb in der Krise, weil irgendwelche Parteipromis sich nicht leiden können, schwache Texte über den Kommunismus verfasst werden oder Briefe an Fidel Castro geschrieben wurden. Sie ist in der Krise, weil sie, sobald sie an die Regierung kommt, sehr viele Menschen vor den Kopf stößt, die etwas anderes als eine nichtsoziale, neoliberale Politik von ihr erwarten. Die Linkspartei bringt sich selbst um die soziale Basis, die sie hätte haben können. Sie verprellte Protestwähler aus allen Richtungen und in Berlin sogar Teile ihrer Stammwähler. Dort konnte sie noch 2001 ein Wahlergebnis von 22,6 Prozent einfahren, 2006 waren es nur noch 16,3 Prozent, 2011 nur noch 11,7 Prozent. Die Piratenpartei hatte leichtes Spiel, auch bei der Linkspartei abzukassieren – rund 13 000 frühere Linke-Wähler wählten diesmal die Piratenpartei345 –, und schoss aus dem Stand auf 8,9 Prozent hoch.

Wie zerrissen die Linkspartei ist, spiegelt sich in ihrem Programm wieder, denn nicht nur in ihrer Regierungspraxis, sondern auch in ihrem Programm ist sie keine antikapitalistische Partei. Das aktuelle Parteiprogramm (Erfurter Parteitag 2011) ist ein Mix aus sozialdemokratischer Reformillusion und antikapitalistischen Sprüchen. Oskar Lafontaine, einem zentralen Sprecher des linken Flügels, ist es zu verdanken, dass der Weg für die Bundeswehr in alle Welt – und mit ihr die Schleimspur in eine Bundesregierung –, nicht verbaut wurde. Der Parteitag in Erfurt stimmte auf seine Intervention hin gegen den Antrag, Auslandseinsätze zu verbieten, und Deutschland tritt, Lafontaine und seiner Parteimehrheit sei Dank, auch nicht aus der NATO aus.346