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»Ich glaube nicht an Wunder«, sagte Karen, sah ihre Schwägerin an und kniff die Lippen zusammen. Die Sonne beschien Karens blitzsauberes Gesicht und ließ sie aussehen wir ein »Vorher«-Model vor dem »Nachher«-Make-up. Aber das fehlende Make-up enthüllte nur einen makellosen Teint, hohe Wangenknochen und Augen wie dunkle Smaragde.

»Von Wundern habe ich kein Wort gesagt«, entgegnete Ann aufgebracht. Sie war so dunkel wie Karen blond, rund fünfzehn Zentimeter kleiner und sinnlich-füllig. »Ich sagte lediglich, daß du zu diesem Weihnachtsball in den Club gehen sollst. Was ist daran >wundervoll<?«

»Du sagtest, dort könnte ich vielleicht einen ganz wundervollen Mann kennenlernen und wieder heiraten«, wehrte sich Karen und verdrängte jeden Gedanken an den Autounfall, der ihr ihren geliebten Mann genommen hatte.

»Okay, okay, ich bitte kniefällig um Entschuldigung.« Ann musterte ihre früher so schöne Schwägerin mit zusammengekniffenen Augen und konnte sich kaum noch vorstellen, wie eifersüchtig sie einst auf Karens Aussehen gewesen war. Jetzt hingen ihr die Haare strähnig und schlaff um die Schultern. Und mit ihrem blassen Teint sah Karen ohne Make-up aus wie ein farbloser Teenager. Anstelle ihrer früher so eleganten Kleidung trug sie einen alten Jogginganzug, der Karens verstorbenem Ehemann Ray gehört hatte.

„Du warst einmal das atemberaubendste Mädchen im Country Club«, erklärte Ann bekümmert. »Ich sehe dich noch vor mir, wie du bei einem Weihnachtsball mit Ray getanzt hast. Erinnerst du dich noch an das rote Kleid, das du dabei getragen hast? So gewagt geschlitzt, daß man buchstäblich deine Mandeln sehen konnte? Aber was für ein faszinierendes Paar ihr doch gewesen seid. Deine endlosen Beine haben jedem Mann im Raum den Atem verschlagen. Jedem Mann in ganz Denver! Bis auf meinen Charlie natürlich. Der hat nie hingeguckt.«

Karen lächelte ihre Schwägerin über die Teetasse hinweg flüchtig an. »Deine entscheidenden Worte waren >Mädchen> und >Ray<. Das eine bin ich nicht mehr, den anderen gibt es nicht mehr für mich.«

»Ich bitte dich!« jammerte Ann nun. »Du hörst dich ja an, als wärst du zweiundneunzig und müßtest daran denken, dir einen Sarg auszusuchen. Du bist gerade dreißig, keine Woche älter! Ich werde in diesem Jahr fünfunddreißig, aber mein Alter hält mich von nichts ab.« Ann stand auf, drückte sich die Hände in den Rücken und lief unbeholfen zum Herd, um sich noch eine Tasse Kräutertee einzugießen. Sie war so voluminös schwanger, daß sie kaum an den Kessel heranreichte.

»Eins zu null für dich«, sagte Karen. »Aber ganz gleich, wie jung oder alt ich bin. Das bringt mir Ray auch nicht zurück.«

Ann seufzte resigniert auf, denn diese Unterhaltung hatten sie schon unzählige Male geführt. »Ray war mein Bruder, und ich habe ihn sehr geliebt, aber Ray ist tot, Karen. Und das schon seit zwei Jahren. Du mußt dich endlich wieder dem Leben zuwenden.«

»Du verstehst das eben nicht, Ann. Ray und ich ... Wir waren ...«

Ann griff über den Tisch und rückte mitfühlend Karens Hand. »Ich weiß, wieviel er dir bedeutet hat, aber du hast einem Mann noch eine Menge zu bieten. Einem lebendigen Mann.

»Nein!« erklärte Karen scharf. »Kein Mann auf der Welt könnte mir Ray ersetzen, und ich will nicht, daß jemand auch nur den Versuch dazu unternimmt.« Abrupt stand sie auf und trat ans Fenster. »Niemand versteht das. Ray und ich waren mehr als nur miteinander verheiratet. Wir waren Partner. Eine verschworene Gemeinschaft. Ray hat mich in allem um meine Meinung gefragt - von geschäftlichen Dingen bis hin zur Farbe seiner Socken. Jeder Mann, den ich vor oder nach Ray kennengelernt habe, will von einer Frau nur, daß sie hübsch aussieht und den Mund hält. Sobald man beginnt, ihm seine Ansichten mitzuteilen, bittet er den Kellner doch um die Rechnung.«

Dem hatte Ann nichts entgegenzusetzen, denn sie wußte aus eigener Anschauung, was für eine gute Ehe sie geführt hatten. Aber inzwischen war es Ann mehr als leid mit anzusehen, wie sich ihre Schwägerin vor aller Welt versteckte, daß sie sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als Karen zu sagen, daß sie nie einen Mann finden würde, der Ray auch nur halbwegs das Wasser reichen könnte.

»In Ordnung«, meinte Ann besänftigend, »ich höre schon auf. Wenn du so entschlossen bist, es den indischen Witwen nachzumachen, so ist das deine Sache.« Sie machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Erzähl mir lieber etwas über deinen Job.« Ihr Ton ließ keinerlei Zweifel daran, was sie davon hielt.

Lachend drehte sich Karen um. »Ann, du hältst mit deinen Meinungen auch wirklich nicht hinter dem Berg. Erstens gefällt es dir nicht, daß ich meinen Mann liebe, und zweitens bist du mit meiner Arbeit nicht einverstanden.«

»Ich finde nun einmal, daß du ewige Witwenschaft ebensowenig verdient hast wie einen langsamen Tod durch Dauermaschineschreiben. «

Karen konnte ihrer Schwägerin keine noch so ruppige Bemerkung verübeln, denn für Ann war sie nun einmal die Größte, und das hatte nichts mit ihrer verwandtschaftlichen Beziehung zu tun. »Mein Job ist ganz in Ordnung«, versicherte sie und setzte sich wieder an den Tisch. »Alle sind sehr nett, und alles läuft ganz gut.«

„Das ist doch aber ziemlich langweilig, oder?«

Karen lachte. >>Nicht sehr, nur ein bißchen.«

»Und warum kündigst du dann nicht?« Bevor Karen antworten konnte, hob Ann schnell die Hand. »Verzeih. Es geht mich nichts an, wenn du dich mit deinem Verstand und deinen Fähigkeiten in einem Schreibpool vergräbst.« Dann leuchteten Anns Augen auf. »Aber erzähl mir doch etwas von deinem göttlichen, wundervollen Chef. Wie geht es dem Traummann?«

Lächelnd ignorierte Karen die Anspielung auf ihren Chef. »In der letzten Woche haben mich meine Kolleginnen übrigens mit einer kleinen Geburtstagsfeier überrascht.« Sie hob herausfordernd die Brauen, denn Ann äußerte sich ausnahmslos abfällig über die sechs Frauen, mit denen Karen zusammenarbeitete.

»So? Und was haben sie dir geschenkt? Einen handgestrickten Schal oder vielleicht einen Schaukelstuhl und ein paar Katzen?«

»Stützstrümpfe«, entgegnete Karen und lachte. »Nein, nein. Nur ein Scherz. Sie haben zusammengelegt und mir ein wirklich hübsches Geschenk gemacht.«

»Und was?«

Karen trank einen Schluck Tee. »Einen Brillenhalter.« »Einen was?«

Karens Augen funkelten. »Einen Halter für meine Brille. Du weißt doch, so eine Kette, die man sich um den Hals legt. Eine sehr hübsche sogar, aus achtzehnkarätigem Gold. Mit ... äh, kleinen Katzen auf dem Verschluß.«

Ann lächelte nicht einmal ansatzweise. »Karen, du mußt da unbedingt raus. Zusammen müssen diese Frauen doch dreihundert Jahre alt sein. Und ist ihnen denn noch gar nicht aufgefallen, daß du gar keine Brille trägst?« »Dreihundertundsiebenundsiebzig.« Und als Ann sie verdutzt ansah, fügte sie hinzu: »Zusammen sind sie dreihundertundsiebenundsiebzig Jahre alt. Ich habe das irgendwann einmal addiert. Und sie betonten, sie wüßten genau, daß ich keine Brille trage, aber als nun Dreißigjährige würde ich bald eine brauchen.«

»Für eine Greisin wie dich ist es nur noch eine Frage von Minuten, bis du auch Stützstrümpfe brauchst.«

»Miss Johnson hat mir bereits letzte Weihnachten ein Paar geschenkt. Sie ist einundsiebzig und schwört auf sie.«

Jetzt mußte Ann doch lachen. »O Karen, ich meine es ernst. Du mußt wirklich da raus.«

»Hmhm«, machte Karen und blickte in ihre Tasse. »Mein Job hat aber durchaus seine Vorzüge.«

»Worauf willst du eigentlich hinaus?« fauchte Ann.

Karen warf ihrer Schwägerin einen Blick reiner Unschuld zu. »Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

Ann lehnte sich auf der Bank zurück und musterte ihre Schwägerin einen Moment lang schweigend. »Endlich beginne ich zu begreifen. Du bist viel zu klug, um alles wegzuwerfen. Also, Karen Lawrence, wenn du mir nicht alles erzählst, und zwar sofort, denke ich mir irgendeine fürchterliche Bestrafung für dich aus. Beispielsweise das Verbot, mein Kind vor seinem dritten Geburtstag zu sehen.«

Als Karen erblaßte, wußte Ann, daß ihre Drohung Wirkung zeigte. »Erzähle!«

»Es ist kein schlechter Job, und die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, sind...<<

Unvermittelt erhellte sich Anns Gesicht. »Mir brauchst du nicht die Märtyrerin vorzuspielen. Ich kenne dich, seit du acht Jahre alt warst. Du nimmst diesen alten Schachteln ihre Arbeit ab, damit du alles erfährst, was da so vor sich geht. Ich wette, du weißt inzwischen mehr über das Unternehmen als Taggert höchstpersönlich.« Ann belächelte ihre eigene Pfiffigkeit. »Und du vernachlässigst dein Äußeres, um alle in Sicherheit zu wiegen. Wenn dich dieser alte Drachen Miss Gresham so sehen würde, wie du vor ein paar Jahren ausgesehen hast, würde sie sich sehr schnell einen Grund ausdenken, dich zu feuern.«

Karens Erröten sagte ihr, daß sie recht hatte.

„Entschuldige meine Begriffsstutzigkeit», sagte Ann, »aber warum suchst du dir nicht einen Job, der sich ein bißchen besser bezahlt macht als der einer Stenotypistin?«

„Ich habe es versucht«, behauptete Karen vehement. »Ich habe mich bei einem Dutzend Unternehmen beworben, aber man zog mich nicht in Betracht, weil ich über keinen Collegeabschluß verfüge. Daß ich acht Jahre lang ein Eisenwarengeschäft geführt habe, zählt für einen Personaldirektor nun einmal nicht.«

„Du hast den Gewinn des Ladens in dieser Zeit ja auch nur vervierfacht.«

»Wie auch immer. Das besagt gar nichts. Sie wollen nur ein Papier, das bescheinigt, daß ich jahrelang langweilige Kurse absolviert habe.«

»Und warum gehst du nicht wieder zur Schule und holst dir dieses Papier?«

»Ich gehe doch zur Schule!« Karen trank wieder einen Schluck Tee, um sich zu beruhigen. »Hör mal, Ann, ich weiß, daß du es gut meinst, aber ich weiß genau, was ich tue. Mir ist bewußt, daß ich nie wieder einen Mann wie Ray finden werde, aber ich kann vielleicht genug lernen, um selbst ein Geschäft eröffnen zu können. Ich habe schließlich noch das Geld aus dem Verkauf von Rays Hälfte des Eisenwarengeschäfts und spare von meinem jetzigen Verdienst soviel ich kann. Und unterdessen lerne ich alles über die Führung eines Unternehmens von der Größe der Taggert-Firma.«

»Und wie willst du dieses Wissen nutzen?«

»Indem ich irgendwo ein Geschäft eröffne. Damit kenne ich mich aus, selbst wenn mir Ray für den zweiten Verlauf nicht mehr zur Verfügung steht ...»

»Du solltest wieder heiraten.«

»Aber ich will nicht heiraten!« entgegnete Karen heftig. »Ich werde nur schwanger!« Sie zuckte zusammen und sah ihre Schwägerin entsetzt an. »Vergiß, was ich eben gesagt habe«, sagte sie leise. »Hör mal, ich sollte jetzt besser gehen. Ich muß noch ...«

»Wenn du das tust, wirst du es bitter bereuen«, erklärte Ann gelassen.

Seufzend lehnte sich Karen wieder in die Polster der Küchenbank zurück. »Tu mir das nicht an, Ann.«

»Was tue ich dir denn an?« erkundigte die sich unschuldig. »Du fragst mich aus und mischst dich ganz allgemein in Dinge ein, die dich nichts angehen.«

»Ich weiß gar nicht, was du meinst. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getan. Aber nun erzähl endlich.«

Karen versuchte das Thema zu wechseln. »In der letzten Woche verließ schon wieder eine gutaussehende Frau tränenüberströmt Taggerts Büro«, sagte sie über ihren Chef, an dem Ann ein leidenschaftliches Interesse zu haben schien. Doch Karens Ansicht nach lag das lediglich daran, daß sie ihn nicht kannte.

»Was meinst du damit, du würdest schwanger werden?« hakte Ann nach.

»Ungefähr eine Stunde später tauchte ein Juwelier mit einem kleinen Koffer und zwei bewaffneten Begleitern bei Taggert auf. Wir alle waren überzeugt, daß er sie abfinden - ihr sozusagen die Tränen mit Smaragden trocknen wollte.«

»Hast du schon irgend etwas unternommen, um schwanger zu werden?«

»Und am Freitag erfuhren wir, daß sich Taggert wieder einmal verlobt hat. Aber nicht mit der Frau aus seinem Büro. Diesmal handelt es sich um eine Rothaarige.« Sie beugte sich Ann zu. »Und am Sonnabend habe ich die voreheliche Vereinbarung getippt.«

Das erregte Anns Wißbegierde. »Und was steht drin?«

Mit angewidertem Gesicht lehnte sich Karen wieder zurück. »Er ist ein Lump, Ann. Ich weiß, er sieht sehr gut aus und ist unvorstellbar reich, aber rein menschlich ist er nicht viel wert. Mir ist klar, daß seine ... seine Partydamen wahrscheinlich nur hinter seinem Geld her sind, denn lieben können sie ihn mit Sicherheit nicht, aber es sind immerhin menschliche Wesen und sollten auch als solche behandelt werden.«

»Würdest du bitte mit dem Predigen aufhören und mir endlich sagen, was in der Vereinbarung steht?«

»Die Frau, seine Braut, muß alle Ansprüche auf- während der Ehe erworbene Besitztümer aufgeben. Soweit ich weiß, würde ihr gar nichts gehören. Im Fall einer Scheidung würde ihm sogar die Kleidung bleiben, die er ihr gekauft hat.«

»Tatsächlich?« Ann zog die Stirn kraus. »Und was will er damit anfangen?«

»Oh, ich weiß nicht. Vermutlich wird er sich eine neue, blendend aussehende Goldschürferin suchen, der sie passen. Vielleicht verkauft er sie auch, um sich neue Verlobungsringe zu kaufen. Immerhin hat er einen großen Verschleiß.«

»Warum verabscheust du diesen Mann eigentlich so?« fragte Ann. »Er hat dir doch einen Job gegeben, oder?«

»Oh, er hat ein Büro voller Frauen. Höchstwahrscheinlich hat der Personalchef Anweisung, sie nach der Länge ihrer Beine einzustellen. Er umgibt sich mit einer ganzen Schar gutaussehender Geschäftsführerinnen.«

»Und was paßt dir daran nicht?«

»Er läßt sie nie etwas entscheiden!« erklärte Karen mit Emphase. »Er trifft alle Entscheidungen selbst. Soweit ich weiß, fragt er sein Damenkränzchen nicht einmal um Rat, geschweige denn, läßt sie wirklich etwas tun.« Sie umklammerte den Henkel ihrer Tasse so heftig, daß er fast zerbrach. »McAllister Taggert könnte auch sehr gut auf einer einsamen Insel leben. Er braucht keinen anderen Menschen in seinem Leben.«

»Aber Frauen scheint er schon zu brauchen«, wandte Ann ein. Sie war Karens Chef bisher zweimal begegnet und fand ihn schlicht hinreißend.

»Er ist der amerikanische Playboy«, fauchte Karen. »Je länger die Beine, je länger die Haare, desto mehr gefallen sie ihm. Schön und dumm, das ist ganz nach seinem Geschmack.« Sie lächelte ausgesprochen maliziös. -Aber bisher war noch keine von ihnen dumm genug, ihn zu heiraten - nachdem sie herausgefunden hatten, daß es wenig ist, was sie von einer Ehe mit ihm zu erwarten haben.«

»Nun«, meinte Ann besänftigend, »vielleicht sollten wir lieber das Thema wechseln. Wie willst du eigentlich ein Baby bekommen, wenn du vor jedem Mann davonläufst, der dich auch nur ansieht? Ich meine, wie du dich anziehst, zielt doch darauf ab, jeden Mann auf Abstand zu halten, oder?«

»Meine Güte, war das ein guter Tee!« lobte Karen überschwenglich. »Du bist eine wirklich gute Köchin, und ich habe meinen Besuch bei dir sehr genossen, aber jetzt muß ich los.« Damit stand sie auf und strebte der Küchentür zu. »Au!« schrie Ann auf. »Die Wehen setzen ein. Hilf mir!« Mit kalkweißem Gesicht eilte Karen auf Ann zu. »Lehn dich zurück, entspann dich. Ich rufe das Krankenhaus an.« Aber als Karen das Telefon erreicht hatte, sagte Ann mit normaler Stimme: »Ich glaube, es ist wieder vorbei. Aber du solltest lieber hierblieben, bis Charlie kommt. Nur für den Fall des Falles, weißt du ...«

Nach einem verärgerten Blick auf Ann setzte sich Karen resigniert wieder hin. »Also gut, was willst du wissen?« »Ich weiß auch nicht warum, aber neuerdings interessiere ich mich ungeheuer für Babys. Muß an etwas liegen, was ich gegessen habe. Wie auch immer, als du vorhin Babys erwähntest, wollte ich unbedingt Genaueres wissen.«

»Da gibt es nichts zu erzählen. Wirklich nicht. Nur ...« »Was nur?« bohrte Ann nach.

»Ich bedauere nur, daß Ray und ich keine Kinder hatten. Wir dachten, dazu hätten wir noch alle Zeit der Welt.«

Ann schwieg und ließ Karen Zeit.

»Kürzlich war ich in einer dieser Fruchtbarkeitskliniken und ließ mich gründlich untersuchen. Ich scheine absolut gesund zu sein.«

Als Karen nichts mehr sagte, fragte Ann behutsam nach: »Du warst also in einer Klinik. Und nun?« „Ich habe mich entschlossen, mir einen Samenspender aus dem Katalog auszusuchen«, verkündete Karen.

„Ah, und da sortierst du die Nieten aus und ...«

„Du hast gut reden«, unterbrach Karen sie wütend, »du hast ja einen Ehemann, der diese Aufgabe übernimmt, aber was soll ich denn tun? Mit einer Zeitungsanzeige nach einem Spender suchen? -Einsame Witwe möchte Kind, aber keinen Ehemann. Angebote unter Chiffre xy<?«

..Wenn du häufiger ausgehen und ein paar Männer kennenlernen würdest, könntest du ...« Ann brach ab, um Karen nicht noch mehr zu reizen. »Aber warum bittest du nicht deinen prachtvollen Chef um den Gefallen? Der ist bestimmt keine Niete.«

Karen wollte aufbrausen, entschied sich dann aber für Ironie. »Wie stellst du dir das vor? Soll ich vielleicht sagen: >>Verehrter Mister Taggert, könnten Sie statt einer Gehaltserhöhung vielleicht ein wenig Samen erübrigen? Ich habe auch ein Glas mitgebracht. Nein, es macht mir wirklich nichts aus, einen Moment zu warten.««

Ann mußte lachen, denn das war wieder die alte Karen, von der sie in den letzten Jahren kaum noch etwas gesehen hatte.

»Der Untersuchung zufolge bin ich an Weihnachten am fruchtbarsten«, lächelte Karen. »Also sollte ich vielleicht auf den Weihnachtsmann warten.«

»Aber hättest du dann keine Gewissensbisse wegen all der Kinder, die er vernachlässigt, weil er die ganze Nacht mit dir verbringt?« Ann lachte schreiend.

»So komisch war es nicht gemeint«, sagte Karen. »Vielleicht könnte Knecht Ruprecht ... Ann? Ann, was ist mit dir?«

»Ruf Charlie an«, ächzte sie und umklammerte ihren unförmigen Leib. »Zur Hölle mit Charlie«, stöhnte sie auf, als eine neue Wehe sie durchzuckte. »Ruf das Krankenhaus an und sage ihnen, sie sollen die Morphiumspritzen bereithalten. Das tut weh, verdammt noch mal!«

Mit weichen Knien lief Karen zum Telefon.

»Idiotin!« zischte Karen ihrem Spiegelbild zu, als sie sah, daß ihr schon wieder die Tränen kamen. Sie zog ein Papiertuch aus dem Spender, betupfte sich die Augenwinkel und sah, daß ihre Augen rot verschwollen waren. Aber das war kein Wunder, denn seit vierundzwanzig Stunden weinte sie nahezu ununterbrochen.

»Alle weinen bei der Geburt eines Kindes«, murmelte sie vor sich hin. »Bei frohen Ereignissen wie Hochzeiten, Verlobungen und Geburten weinen die Leute nun einmal.«

Sie sah erneut in den Spiegel und wußte, daß sie sich etwas vormachte. Letzte Nacht hatte sie Anns kleine Tochter in den Armen gehalten - so begeistert über das Kind, daß sie mit ihm fast zur Tür hinausgelaufen wäre. Stirnrunzelnd hatte Ann ihrer Schwägerin das Baby wieder abgenommen. »Meins kannst du nicht haben«, sagte sie. »Schaff dir ein eigenes an.«

Und jetzt stand Karen im WC-Vorraum ihres Büros und fühlte sich von ihrer Sehnsucht nach einer Familie und einem Heim fast überwältigt. Zu allem Überfluß fand heute auch noch die betriebliche Weihnachtsfeier statt, und alle anderen waren bester Stimmung. Die am Morgen verteilten großzügigen Gratifikationen von Montgomery-Taggert Enterprises und die Aussicht auf ein reichhaltigen Buffet am Nachmittag sorgten für eine geradezu übermütige Laune in den Büros, die nur ein Gesprächsthema zu kennen schien: McAllister f. Taggerts neueste Entlobung.

Am Morgen, kurz nach der Verteilung der Gratifikationen, kam eine hochgewachsene, gutaussehende Rothaarige mit einem Ringetui in den zitternden Händen ins Büro gestürmt. Das Mädchen am Empfang brauchte weder nach ihrem Namen noch nach ihren Wünschen zu fragen, denn erzürnte Frauen mit Ringetuis in den Händen waren ein üblicher Anblick im Umfeld von McAllister f. Taggert. Nach und nach hatten sich ihr alle Türen geöffnet, bis sie im Allerheiligsten stand: Taggerts Büro.

Eine Viertelstunde später war die Rothaarige wieder herausgekommen, schluchzend, ohne Ringetui, dafür aber mit einer Schatulle, die so aussah, als könnte es durchaus ein Armband enthalten.

,»Wie können sie ihm das nur antun?« hatten sich die Frauen im Büro zugeraunt und die Schuld einzig der Frau zugewiesen. -Er ist doch ein so liebenswürdiger Mann, so charmant und großzügig.«

..Sein Problem ist, daß er sich immer in die falschen Frauen verliebt. Wenn er doch nur eine wirklich gute Frau finden könnte, die ihn für immer liebt«, war die einhellige Ansicht gewesen. »Er braucht einfach eine Frau, die Verständnis für das aufbringt, was er durchmachen mußte.«

Und nach diesem Meinungsaustausch eilte jede Kollegin unter fünfundvierzig in den Waschraum, um ihre Mittagspause darauf zu verwenden, sich so verführerisch wie möglich zu machen.

Nur Karen nicht. Karen blieb an ihrem Schreibtisch und behielt ihre prinzipiell gegensätzliche Meinung über Mr. Taggert und seine Frauen für sich.

Jetzt seufzte Karen tief auf, betupfte sich noch einmal die Augen und verließ den Waschraum. Fast widerwillig ließ sie sich wenig später von vorfreudigen Kolleginnen in den Fahrstuhl ziehen, der zur Weihnachtsfeier in den oberen Etagen hinauffuhr.

Ein ganzes Stockwerk des der Familie Taggert gehörenden Gebäudes war Besprechungen und Sitzungen Vorbehalten. Aber anstatt in unterschiedlich große nüchterne Konferenzräume unterteilt zu sein, war die Etage so gestaltet, als handele es sich um ein verschwenderisch, wenn auch eigentümlich eingerichtetes Haus. Für japanische Kunden stand ein Zimmer mit Tatamimatten, Schoji-Wandschirme und Kunstobjekten aus Jade bereit. Dem Geschmack englischer Klienten entsprach ein von Colefax and Fowler gestalteter Raum mit Clubatmosphäre. Für Kunden mit einem Hang zur Literatur gab es eine Bibliothek mit Tausenden von Bänden in Pecanholzschränken. In einer kleinen Küche sorgte ein Koch für das leibliche Wohl der Kunden, aber es stand auch eine Küche für jene zur Verfü-gung, die sich ihre Mahlzeiten lieber selbst zubereiteten. Und es gab einen großen leeren Raum, der jeweils wechselnden Anforderungen diente. Dort stand jetzt der riesige, in Weiß und Silber geschmückte Weihnachtsbaum. Alle Angestellten waren stets aufs neue gespannt auf diesen Baum, der jedes Jahr anders dekoriert wurde, aber alljährlich einfach perfekt.

Karen gefiel der Baum in der Kindertagesstätte allerdings sehr viel besser. Der war knapp anderthalb Meter groß, so daß die Kinder gut an ihn heranreichen konnten, und mit Dingen geschmückt, die die Kinder der Angestellten gebastelt hatten, beispielsweise Buntpapiergirlanden und Maisketten.

Als sie in Richtung der Kindertagesstätte lief, wurde sie von drei Männern aus der Buchhaltung angehalten, die alberne Papierhüte trugen und offenbar bereits einen über den Durst getrunken hatten. Einen Moment lang versuchten sie Karen zum Mitkommen zu bewegen, erkannten sie dann aber und zogen sich schnell zurück. Schon vor langer Zeit hatte Karen ihren männlichen Kollegen sehr deutlich gemacht, daß sie tabu war - sei das während der Bürozeit oder bei so informellen Anlässen wie dem heutigen.

Die Kindertagesstätte quoll vor Kindern förmlich über, denn alle Angehörigen der Familie Taggert waren zur Feier erschienen.

»Eines muß man den Taggerts lassen - fruchtbar sind sie«, hatte Miss Johnson einmal bemerkt und damit alle bis auf Karen zum Lachen gebracht.

Und sie waren eine sehr nette Familie, gestand sich Karen ein. Nur weil sie McAllister Taggert nicht ausstehen konnte, mußte sie ihre Abneigung nicht auf die gesamte Familie übertragen. Stets waren sie sehr höflich zu jedermann, blieben aber unter sich. Mit so vielen Verwandten hatten sie vermutlich gar keine Zeit für Außenseiter. Als sie sich jetzt das Durcheinander im Spielzimmer betrachtete, hatte sie das Gefühl, überall doppelt zu sehen, denn in der Familie Taggert gab es ungewöhnlich viele Zwillinge.

Es gab erwachsene Zwillinge, Zwillinge im Krabbelalter und Babys, die einander so ähnlich waren, als wären sie geklont.

„Karen, du bist eine Masochistin«, rief sie sich zur Ordnung, machte auf dem Absatz kehrt und lief auf den Fahrstuhl zu. Die nach unten fahrende Kabine war leer, und erneut überkam Karen ein Gefühl hilfloser Einsamkeit. Eigentlich hatte sie das Fest mit Ann und Charlie verbringen wollen, aber nun, nach der Geburt des Kindes, würden sie kaum Wert auf die Gesellschaft einer ehemaligen Schwägerin legen.

In dem Büroraum angekommen, den sie sich mit den anderen Sekretärinnen teilte, wollte Karen ihre Sachen zusammenpacken, um nach Hause zu gehen. Doch dann tippte sie schnell noch zwei Briefe und legte sie in den Ausgangskorb. Sie waren nicht wichtig, aber warum sollte sie sie aufschieben?

Zwei Stunden später hatte Karen alle Arbeiten erledigt, die auf ihrem Schreibtisch und denen der anderen Sekretärinnen liegengeblieben waren.

Sie stand auf, streckte sich und griff zu den persönlichen Briefen, die sie für Taggert getippt hatte - in einem ging es um ein Grundstück, das er in Tokio kaufen wollte, der andere war an einen Cousin gerichtet - und ging über den Flur zu seinem Büro. Sie klopfte wie immer, machte sich dann aber bewußt, daß sie allein auf dem Flur war, und öffnete die Tür. Ohne die respektheischende Miss Gresham kam ihr das Allerheiligste ganz merkwürdig vor. Wie eine Löwin wachte die Frau über Taggert und gestattete niemandem, ihm über das unbedingt notwendige Maß hinaus nahezukommen.

Der Raum war ausschließlich in Weiß und Silber gehalten, genau wie der Weihnachtsbaum - und genauso kalt, dachte Karen. Sie wollte die Briefe gerade auf Miss Greshams Schreibtisch legen, als ihr Blick auf die Doppeltüren zu Taggerts Büro fiel. Soweit sie wußte, hatte noch niemand aus dem Schreibpool einen Schritt über die Schwelle dieses

Raums gesetzt, und Karen war so neugierig wie jedermann sonst, was sich hinter den Türen verbarg.

Karen wußte, daß der Wachmann auf seiner Runde hier hereinkommen würde, aber sie hörte ihn von fern mit jemandem sprechen, und wenn er sie ertappte, könnte sie sich immer noch damit herausreden, die Briefe in sein Büro bringen zu sollen.

Verstohlen öffnete sie die Tür uns spähte hinein. »Hallo? Ist da jemand?« rief sie leise. Vermutlich wäre sie vom Schlag getroffen worden, wenn ihr jemand geantwortet hätte, aber sie wollte nun einmal ganz sicher gehen.

Sie legte die Briefe auf den Schreibtisch und sah sich um. Sie mußte zugeben, daß er soviel Geschmack besaß, sich einen guten Innenausstatter zu suchen, denn diese Einrichtung konnte sich kein nüchterner Geschäftsmann ausgesucht haben. Nirgendwo war das übliche schwarze Leder oder das blitzende Chrom zu sehen. Statt dessen wirkte das Büro mit seinen Holzverkleidungen, den alten Fliesen auf dem Boden und dem großen Kamin wie der Raum eines französischen Chateaus. Die gobelinbezogenen Polstermöbel sahen sehr behaglich aus.

Eine Wand nahm ein gutbestücktes Bücherregal ein. Auf einem Brett standen gerahmte Fotografien, die Karen geradezu magisch anzogen. Ihrer Ansicht nach bedurfte es schon eines Taschenrechners, um alle Kinder auf diesen Bildern zusammenzuzählen. Ihr Blick fiel auf das Foto eines jungen Mannes, der eine Angel mit einem Fisch hochhielt. Er war offensichtlich ein Taggert, aber keiner, der Karen schon einmal unter die Augen gekommen wäre. Neugierig griff sie nach dem Foto.

»Haben Sie alles gesehen, was Sie sehen wollten?« ließ sie eine warme Baritonstimme hinter ihr zusammenzucken. Prompt ließ sie das Foto fallen. Und genauso prompt zerbrach das Glas auf den Fliesen.

»Ich ... Es tut mir leid«, stammelte sie. »Ich wußte nicht, daß jemand hier ist.« Sie bückte sich, um das Foto aufzuheben, und sah aus dieser unterwürfigen Stellung zu den dunklen Augen von McAllister Taggert auf, der aus seiner Höhe von gut einem Meter achtzig auf sie herabblickte. „Ich werde den Schaden bezahlen«, versicherte sie nervös und sammelte die Glasscherben auf.

Er sagte kein Wort, starrte nur mit gehobenen Brauen auf sie herab.

Als ihre Hände nichts mehr fassen konnten, erhob sie sich und wollte ihm die Scherben geben. Aber er nahm sie nicht, und so legte sie sie auf das Regalbrett. »Ich glaube nicht, daß das Foto beschädigt wurde«, versicherte sie ihm. »Ich ... äh, ist das einer Ihrer Brüder? Ich habe ihn noch nie gesehen.« Seine Augen wurden ganz groß, und plötzlich empfand Karen Angst vor ihm. Sie waren ganz allein auf dem Flur, und außer der Tatsache, daß sich eine Menge Frauen geweigert hatten, ihn zu heiraten, wußte sie eigentlich kaum etwas über ihn. Lag das an seinen vorehelichen Vereinbarungen oder etwas anderem? Vielleicht an seinem unberechenbaren Temperament?

»Ich muß gehen«, flüsterte sie, drehte sich um und rannte zur Tür hinaus.

Sie hörte nicht auf zu rennen, bis sie den Fahrstuhl erreicht hatte und auf den Knopf nach unten drückte. Während sie wartete, sah sie aus dem Augenwinkel einen Kellner mit einem Tablett voller Champagnergläser. Todesmutig und gegen ihren eigenen Rat, lieber keinen Alkohol zu trinken, da sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, stürzte Karen zwei Gläser hintereinander hinunter. Sobald sie in der Kabine stand, fiel ihr ein, daß sie ihren Mantel und ihre Handtasche in ihrem Büro im neunten Stock gelassen hatte. Wären draußen nicht null Grad und ihre Autoschlüssel nicht in ihrer Handtasche gewesen, hätte sie es dabei belassen, aber so mußte sie wohl oder übel zurückgehen. Sie lehnte sich an die Wand des Fahrstuhls und wußte plötzlich, daß sie nach den Feiertagen ohne Job sein würde. Sobald Taggert seiner Sekretärin berichtete, daß er eine unbekannte Frau - denn der bedeutende und immens beschäftigte McAllister Taggert nahm eine niedrige Stenotypistin

wie sie doch gar nicht zur Kenntnis - in seinem Büro ertappt hatte, würde Karen gefeuert.

Der Fahrstuhl hielt, und Karen wußte noch etwas: Auf keinen Fall wollte sie ein erneutes Zusammentreffen mit Taggert riskieren. Sie spähte aus der Tür nach rechts und nach links. Der Korridor war leer. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür des Schreibpools, öffnete sie lautlos und holte sich ihren Mantel und ihre Tasche aus dem Schrank. Schon wieder auf dem Rückweg, blieb sie an Miss Johnsons Schreibtisch stehen und holte sich weitere Briefentwürfe aus der Schublade. Auf diese Weise hätte sie während der Feiertage wenigstens etwas zu tun.

»Wieder am Schnüffeln?«

Karens Hand am Griff der Schublade erstarrte. Sie brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, wem die Stimme gehörte. McAllister J. Taggert. Hätte sie nicht so sinnlos dem Champagner zugesprochen, hätte sie sicher höflich alles erklärt. Aber da sie ohnehin gekündigt werden würde, war ihr alles egal. »Das mit Ihrem Büro tut mir leid. Ich war überzeugt davon, daß Sie anderswo gerade jemandem einen Heiratsantrag machen.«

Mit aller Hochnäsigkeit, zu der sie fähig war, wollte sie an ihm vorbeimarschieren.

»Sie können mich nicht besonders gut leiden, oder?«

Sie drehte sich um und sah ihm in die Augen, in diese dunklen, dichtbewimperten Augen, die alle Frauen im Büro vor Verlangen dahinschmelzen ließen. Karen beeindruckten sie nicht sonderlich, denn sie dachte an die Tränen der Frauen, die von ihm rücksichtslos in die Wüste geschickt worden waren. »Ich habe drei voreheliche Vereinbarungen für Sie getippt. Ich weiß, wie Sie sind.«

Er wirkte leicht verwirrt. »Aber ich nahm an, daß Miss Gresham ...«

»Um sich damit möglicherweise die gepflegten Fingernägel zu ruinieren? Wohl kaum.« Damit ließ sie ihn stehen und wollte dem Fahrstuhl zueilen.

Aber Taggert griff nach ihrem Arm.

Einen Augenblick lang packte sie die Angst. Was wußte sie schon über diesen Mann? Und sie waren ganz allein auf der Etage. Wenn sie um Hilfe rief, würde niemand sie hören. Nach einem Blick in ihr Gesicht ließ er ihren Arm los. »Ich versichere Ihnen, Mistress Lawrence, daß ich nicht die Absicht habe, Ihnen irgendeinen Schaden zuzufügen.«

„Woher kennen Sie meinen Namen?«

Er lächelte sie an. »Nachdem Sie mein Büro verlassen hatten, habe ich ein paar Erkundigungen über Sie eingeholt.« »Sie haben mir nachspioniert?« hauchte sie entsetzt.

»Ich war nur neugierig. Genau wie Sie in meinem Büro.« Karen machte wieder einen Schritt auf den Fahrstuhl zu, aber erneut packte er ihren Arm.

»Warten Sie, Mistress Lawrence. Ich möchte Ihnen einen Job über die Feiertage anbieten.«

Karen drückte heftig auf den Fahrstuhlknopf, während er ihr nicht von den Fersen wich. »Und was wäre das für ein Job? Soll ich Sie heiraten?«

»Im gewissen Sinne schon«, erwiderte er, riß den Blick von ihren Augen los und musterte sie von Kopf bis Fuß.

Karen hieb so gewalttätig auf den Liftknopf, daß es ein Wunder war, weshalb er nicht in der Wand steckenblieb. »Ich stelle Ihnen nicht nach, Mistress Lawrence. Ich biete Ihnen einen Job an. Einen ganz legitimen Job, für den Sie bezahlt werden. Und das nicht schlecht.«

Verzweifelt trat Karen einen Schritt zurück und blickte auf die Anzeigetafel. Beide Fahrstühle steckten in dem Stockwerk fest, in dem die Weihnachtsfeier stattfand.

»Bei meinen Erkundungen stellte ich fest, daß Sie als einzige an den letzten beiden Weihnachten gearbeitet haben. Ich fand auch heraus, daß Sie das Blümchen-rühr-mich-nicht-an des Büros sind. Einmal haben Sie die Krawatte eines Kollegen an Ihre Schreibtischplatte getackert, als er sich zu Ihnen beugte und Sie zu fragen wagte, ob Sie nicht mit ihm ausgehen wollen.«

Karen wurde hochrot, sah ihn aber nicht an.

»Mistress Lawrence«, fuhr er so spröde fort, als kämen ihm die Worte nur mit Mühe über die Lippen. »Welche Meinung Sie auch immer über mich haben, so werden Sie nie gehört haben, daß ich einer Frau zu nahe getreten bin, die für mich arbeitet. Ich biete Ihnen einen Job an. Einen ungewöhnlichen Job zwar, aber nichts weiter. Es tut mir leid, wenn ich den Eindruck erweckt haben sollte, es ginge um mehr.« Er drehte sich um und schritt davon.

Karen wandte sich wieder der Anzeigetafel zu und sah, daß ein Fahrstuhl aus dem zwölften Stock direkt ins Erdgeschoß fuhr, ohne in ihrer Etage zu halten. Zögernd drehte sie sich um und sah ihm nach. Ganz gleich, was sie persönlich auch von ihm hielt - von allen anderen Angestellten wurde Taggert hoch geschätzt. Und ganz gleich, welche Mühe sich eine Frau auch gab, ihn zu becircen - er fiel nicht darauf herein. Als vor zwei Jahren eine Sekretärin behauptete, er hätte ihr nachgestellt, wurde sie von allen so schallend ausgelacht, daß sie sich drei Wochen später eine neue Anstellung suchte.

Karen holte tief Luft und ging ihm nach. »Also gut«, sagte sie, als sie ihn fast erreicht hatte. »Ich kann mir Ihr Angebot ja mal anhören.«

Zehn Minuten später saß sie in Taggerts behaglichem Büro. Im Kamin brannte ein Feuer und warf einen angenehm rosigen Schimmer auf den Tisch, der mit Delikatessen und einem schier unerschöpflichen Vorrat an eisgekühltem Champagner förmlich beladen war. Zunächst hatte Karen der Versuchung widerstehen wollen, doch dann fiel ihr ein, daß sie Ann erzählen konnte, sie hätte mit ihrem Chef Hummer gegessen und Champagner getrunken, und besann sich anders.

Während Karen aß und trank, begann Taggert zu sprechen. »Ich nehme an, Sie haben von Lisa gehört?«

»Ist das die Rothaarige?«

»Ja, die Rothaarige.« Er füllte ihr Glas erneut. »In zwei Tagen, am vierundzwanzigsten Dezember, sollten Lisa und ich eigentlich in Virginia auf der Hochzeit eines guten Freundes von mir erscheinen. Es wird eine gewaltige Feier,

mit mehr als sechshundert Gästen, die aus aller Welt angereist kommen.«

Einen Moment lang sah er sie nur schweigend an.

„Und?« fragte Karen schließlich. »Wofür brauchen Sie mich? Soll ich den Ehevertrag Ihres Freundes tippen?« Taggert bestrich einen Cracker mit Gänseleberpastete und hielt ihn ihr hin. »Ich habe keine Verlobte mehr.«

Karen trank einen Schluck Champagner und griff dann nach dem Cracker. »Verzeihen Sie meine Begriffsstutzigkeit, aber ich kann nicht erkennen, was das mit mir zu tun hat.«

„Das Kleid müßte Ihnen passen.«

Vielleicht lag es am Champagner, aber Karen brauchte eine gewisse Zeit, bis sie begriff, und als sie es tat, lachte sie laut auf. »Sie wollen, daß ich als Ihre Verlobte auf trete und die Brautjungfer für eine Frau spiele, die ich nicht kenne? Und die mich nicht kennt?«

»Genau.«

„Wieviel Champagner haben Sie eigentlich schon getrunken?«

McAllister Taggert lächelte. »Ich bin nicht betrunken. Es ist mir absolut ernst. Wollen Sie Näheres hören?«

Etwas in ihr riet Karen dringend, endlich nach Hause zu gehen, aber wer wartete dort schon auf sie? Sie hatte ja nicht einmal eine Katze, die von ihr versorgt werden wollte. »Ich höre.«

»Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, aber vor drei Jahren wurde ich ...« Er brach ab, und sie sah, daß seine Wimpern höchst attraktiv in Bewegung gerieten. »Vor drei Jahren wurde ich vor dem Altar von der Frau im Stich gelassen, die versprochen hatte, den Rest ihres Lebens mit mir zu verbringen.«

Karen leerte ihr Glas. »Wußte sie im voraus, daß Sie die Formulierung >und alles mit ihr zu teilen- nicht über die Lippen bekommen würden?«

Einen Moment lang starrte sie McAllister stumm an, dann lächelte er auf eine Weise, die nur als hinreißend bezeichnet werden konnte. Kein Wunder, daß sich so viele Frauen in ihn verliebten. »Ich glaube, Mistress Lawrence, daß wir ganz hervorragend miteinander auskommen werden.« Karen riß sich zusammen. Jetzt galt es, gewisse Dinge ein und für allemal deutlich zu machen. »Nein, das denke ich nicht, denn ich glaube Ihnen Ihre traurige Geschichte vom verlassenen kleinen Jungen einfach nicht. Ich weiß zwar nicht, was bei Ihrer Hochzeit oder den anderen unzähligen Malen vorgefallen ist, als sich Frauen weigerten, Sie zu heiraten, aber ich versichere Ihnen, daß ich keine dieser liebeskranken Sekretärinnen bin, die Sie für geradezu tragisch mißverstanden halten. Meiner Meinung nach sind Sie vielmehr ein ...« Sie brach gerade noch rechtzeitig vor einer handfesten Beleidigung ab und suchte ihr Heil in einem geradezu blendenden Vorschlag. »Engagieren Sie als Begleiterin für die Hochzeit doch eine Schauspielerin.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber wer weiß, was man da bekommt? Möglicherweise zitiert sie Lady Macbeth während des Essens. Oder es stellt sich heraus, daß sie die Hälfte der männlichen Gäste auf eine Weise kennt, die ziemlich peinlich ist.«

»Aber Mister Taggert, Sie müssen doch ein kleines schwarzes Buch mit den Namen unzähliger Frauen besitzen, die nur zu gern bereit sind, Ihnen überallhin zu folgen.« »Genau das ist ja das Problem. Das sind alles Frauen, die ... nun ja, die mich mögen ... und jetzt, nach der Sache mit Lisa. Also ...«

»Verstehe. Und wie wollen Sie sie loswerden? Sie können ihnen natürlich immer einen Heiratsantrag machen. Das scheint jede Frau auf Dauer von Ihnen zu kurieren.« »Sehen Sie? Sie sind für den Job einfach perfekt. Jeder, der mitbekommt, wie Sie mich ansehen, weiß, daß unsere Trennung bevorsteht. Wenn ich die dann eine Woche später bekanntgebe, ist keiner überrascht.«

»Was ist für mich drin?«

»Ich zahle Ihnen, was Sie fordern.« ..Einen von diesen Verlobungsringen, die Sie en gros verteilen?“ Sie wußte, daß Sie unhöflich war, aber der Champagner machte sie mutig, und bei jeder Grobheit, die sie ihm an den Kopf warf, blitzten seine Augen mehr.

>O weh! Diese Meinung hat man also von mir?<. »Spielen Sie mir nicht wieder den kleinen mißverstandenen Jungen vor. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihre Vereinbarungen getippt habe. Ich weiß, wie Sie wirklich sind.« »Und wie bin ich?«

„Bis zum Überdruß argwöhnisch, vielleicht sogar liebesunfähig. Sie haben prinzipiell nichts gegen die Ehe, aber die Vorstellung, sich selbst - geschweige denn Ihr Geld - einem anderen Menschen anzuvertrauen, erschreckt Sie. Soweit ich weiß, teilen Sie überhaupt nichts gern.«

Einen Moment lang starrte er sie nur an, dann lächelte er wieder. »Sie haben mich tatsächlich durchschaut, aber kaltherzig, wie ich nun einmal bin, macht es mir noch immer sehr zu schaffen, daß Elaine mich so öffentlich bloßgestellt hat. Diese Hochzeit hat mich immerhin zweiunddreißigtausend Dollar gekostet. Außerdem mußte ich die Geschenke zurückschicken. <<

Unwillig, seinem Flehen um Mitgefühl nachzugeben, wiederholte sie: »Was ist für mich drin? Und Geld möchte ich nicht. Geld habe ich selbst.«

»Ja. Genau zweiundfünfzigtausend Dollar und achtunddreißig Cent.«

Um ein Haar hätte sich Karen an ihrem Champagner verschluckt. »Woher ...«

»Meiner Familie gehört die Bank in diesem Gebäude. Da ich davon ausging, daß Sie ihre Dienste nutzen, habe ich einen Blick in die Kontoauszüge geworfen.«

»Weitere widerliche Schnüffelei!«

»Reine Neugierde. Ich wollte wissen, wer Sie sind. Immerhin war ich dabei, Ihnen einen Job anzubieten, und da es sich um einen sehr privaten Job handelt, wollte ich natürlich mehr über Sie erfahren. Und nun zum Geschäftlichen, Mistress Lawrence. Ich möchte Sie für drei Tage als meine Begleitung engagieren. Da ich auf Sie angewiesen bin, bitte ich Sie, mir Ihren Preis zu nennen.«

Karen leerte ihr Glas. Das wievielte war es eigentlich? Ihr sechstes? »Falls ich dazu bereit bin, möchte ich kein Geld.« »Verstehe. Was wollen Sie dann? Eine Beförderung? Wollen Sie Chefsekretärin werden? Wie wäre es mit einem Sitz im Aufsichtsrat?«

»Damit ich den ganzen Tag tatenlos in einem großen Büro herumsitze? Nein, danke.«

Das verschlug ihm zwar fast die Sprache, aber er wartete geduldig darauf, daß sie etwas sagte. Als sie schwieg, fragte er: »Wie wäre es mit ein paar Aktien? Auch nicht?« Als sie noch schwieg, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sah sie nachdenklich an. »Sie wollen etwas, was man für Geld nicht kaufen kann, oder?«

»Ja«, erwiderte sie kaum hörbar.

Wieder sah er sie lange Zeit schweigend an. »Soll ich herausfinden, was man für Geld nicht bekommt? Glück vielleicht?«

Karen schüttelte den Kopf.

»Liebe? Aber Sie werden sich kaum wünschen, von einem Menschen wie mir geliebt zu werden.« Seine Miene spiegelte seine Verblüffung wider. »Sie sehen mich ratlos.« »Ein Kind.«

McAllister Taggert fuhr so heftig zusammen, daß der Champagner statt in seinem Mund auf seinem Hemd landete. Während er sich mit der Serviette abtupfte, sah er sie höchst interessiert an. »Oh, Mistress Lawrence, das gefällt mir sehr viel besser, als mich von meinem Geld trennen zu müssen.« Als er nach ihrer Hand greifen wollte, schnappte sie sich ein Fischmesser.

»Rühren Sie mich ja nicht an.«

Er zog sich wieder zurück und füllte ihre Gläser neu. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erklären, wie ich Ihnen zu einem Kind verhelfen soll, wenn ich Sie nicht einmal berühren darf?«

»Mit Hilfe eines Behälters.« .»Ah, verstehe. Ihnen geht es um eine Invitro-Befruchtung.« Er senkte die Stimme, und in seinen Augen schimmerte Mitgefühl auf. »»Sind Ihre Eierstöcke ...«

.»Meine Eierstöcke funktionieren perfekt, keine Sorge«, fauchte sie. »Es geht mir vielmehr um Ihren ... Ihren ...« »Jetzt begreife ich.« Er sah sie an und trank einen Schluck. »Aber eines verstehe ich noch immer nicht ganz. Wenn Sie mich für einen so zweifelhaften Charakter halten, warum möchten Sie dann ausgerechnet mich zum Vater Ihres Kindes?«

»Aus zwei Gründen. Die Alternative wäre eine Klinik, in der ich mir einen Vater in der Computerdatenbank aussuchen kann. Vielleicht ist der ja ganz gesund, aber was ist mit seiner Familie? Was immer ich auch von Ihnen halte - Ihre Familie ist sehr nett, und das laut der Lokalpresse bereits seit Generationen. Und ich weiß, wie Sie und Ihre Verwandten aussehen.«

»Offenbar bin ich nicht der einzige, der herumgeschnüffelt hat. Und was ist der zweite Grund?«

»Wenn ich sozusagen Ihr Kind zur Welt bringe, können Sie später nicht zu mir kommen, um unter Umständen Geld von mir zu fordern.«

Offenbar überstieg diese Feststellung nun doch McAllister Taggerts Fassungsvermögen, denn er starrte eine ganze Weile nur verwirrt vor sich hin. Dann lachte er laut auf, ein tiefes, wohliges Lachen, das tief aus seiner Brust zu kommen schien. »Mistress Lawrence, ich glaube, wir kommen sogar sehr hervorragend miteinander aus.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Okay, wir sind uns einig.«

Nur einen kurzen Moment lang überließ ihm Karen ihre Hand und gestattete sich einen Blick in seine Augen. Dann entzog sie sich hastig wieder seiner Berührung. »Wo und wann?«

»Morgen früh um sechs wird Sie mein Wagen abholen. Wir fliegen mit der ersten Maschine nach New York.«

»Ich dachte, Ihr Freund lebt in Virginia«, merkte sie mißtrauisch an.

»So ist es, aber zunächst müssen wir nach New York, um Ihnen etwas zum Anziehen zu kaufen«, erklärte er, als wäre sie eine splitterfasernackte Eingeborene, die er - der große weiße Jäger - aufgespürt hatte.