Kapitel 25

Wie lange Dolchspitzen stachen die Minarette der Moscheen in den bleigrauen Winterhimmel. Im Westen, zwischen den schneebedeckten Gipfeln des Atlas-Gebirges, türmten sich dunkle Wolken auf. Sie würden bald ihre Schneelast dort abladen und die Hänge mit einer weißen Pracht überziehen.

Crofton Dunbar und Vesta Banshee interessierten weder die Minarette noch die fernen Wolken. Die Hexe achtete nur auf die Impulse des Amuletts. Und die waren stärker geworden.

Sie hatten auf einem Parkplatz am Straßenrand gehalten. An ihnen vorbei flutete der Verkehr nach Marrakesch hinein. »Müssen wir in die Stadt?«, erkundigte sich Red mit verzerrtem Gesicht. Er hatte von dem marokkanischen Verkehr bereits jetzt schon die Nase gestrichen voll.

Vesta schüttelte den Kopf. »Nein, wir können Marrakesch umfahren.«

Red fiel ein Stein vom Herzen.

»Dem großen Zampano sei Dank!«, sagte er. »Marrakeschs Verkehr ist für meine Nerven nicht gerade Balsam. Außerdem gibt es dort bestimmt kein irisches Bier.«

Vesta seufzte. »Kannst du nicht mal an was anderes denken?«

Red ließ die Mundwinkel nach unten hängen. »Schwer, meine Liebe. Sehr schwer.«

Vesta saß mit geschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz. Sie schien in sich hineinzuhorchen. Plötzlich legte sie eine Hand auf Reds Unterarm. »Fahr weiter, Red! Fahr weiter!«

»Und wohin?«

»Nach Süden! Immer nach Süden! Von dort kommen die Signale.«

»Wie du willst.«

Red startete den Motor. Er hatte sich die Straßen um Marrakesch herum anhand der Karte gut eingeprägt. Viel gab es da nicht zu behalten, und so hatte Crofton Dunbar keine Mühe, die südliche Umgehungsstraße zu finden. Sie war ziemlich gut ausgebaut und führte auch am Flughafen vorbei, der von zahlreichen Afrika-Touristen angeflogen wurde.

Der Landrover tat seine Pflicht. Red fuhr nicht zu schnell. Es störte ihn nicht, daß ihn Busse überholten. Doch als sich ein altes Dreirad mit röhrendem Motor an dem Landrover vorbeischieben wollte, gab er doch Gas, das war unter seiner Würde.

Im Innenspiegel sah Red, wie der Fahrer des Dreirads schimpfte und dazu noch mit den Fäusten drohte.

Der Radarturm des Flughafens tauchte auf. Eine Maschine setzte soeben zur Landung an. Eine Schleife fliegend, kam der silberne Vogel der Landebahn entgegengeschwebt.

»Damit möchte ich jetzt abhauen«, sagte Red.

Vesta enthielt sich einer Antwort. Noch immer konzentrierte sie sich auf die Strahlung des Amuletts.

Ein Hinweisschild wuchs vor ihnen am Straßenrand hoch. Der Name eines Vororts von Marrakesch war darauf zu lesen.

»Bieg links ab!«, sagte Vesta. »Schnell in die nächste Straße hinein! Die Signale werden intensiver.«

»Wie du meinst.«

Mit quietschenden Reifen fuhr der Landrover in eine schmale Straße. Sie war schnurgerade und endete nach etwa fünfhundert Metern auf dem Marktplatz. Eine hauchdünne Staubwolke lag über der Fahrbahn. Fliegende Händler zogen mit ihren Eselskarren dem Markt entgegen. Manche Menschen gingen auch zu Fuß. Tiefverschleierte Frauen balancierten Tonkrüge und Bastkörbe auf ihren Köpfen. Kinder liefen wild zwischen den Erwachsenen hin und her. Red mußte höllisch aufpassen, daß ihm keiner der Burschen vor die Räder lief.

Nach zweihundert Metern mußte er aufgeben. Parkende Autos und Karren verstopften die Fahrbahn.

»Endstation«, sagte Red.

Er und Vesta stiegen aus. Augenblicklich waren sie von einer Kinderschar umringt. Große, braune Augen starrten den hünenhaften rothaarigen Mann und die zierliche Frau an. Ein kleiner Junge faßte nach Reds Oberschenkel und prüfte seine Muskeln.

»Wirst du wohl!«, zischte Crofton Dunbar.

Der Junge verschwand.

»Ich komme mir vor wie auf dem Sklavenmarkt«, sagte Red und ging einen Schritt schneller, um Vesta einzuholen. Die Hexe hatte es plötzlich eilig.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte sie.

Red ging jetzt neben ihr. Er legte einen Arm um Vestas Schultern. Die Geste schien ihm doch geeignet, denn die Blicke, mit denen Vesta von den männlichen Personen bedacht wurde, sprachen Bände.

Red machte ein grimmiges Gesicht. Die linke Hand hatte er zur Faust geballt. Wenn einer zu nahe kommen sollte, konnte er sich schon jetzt bei einem Zahnklempner anmelden.

Crofton Dunbar und Vesta Banshee stürzten sich in das Marktgewühl. Es herrschte ein unwahrscheinlicher Trubel. Händler hatten ihre Stände aufgebaut. Oft standen die Waren nur auf Decken, die malerisch den rauhen Boden bedeckten. Es gab unzählige Dinge zu kaufen: Orangen, Bananen, Feigen, Datteln, viel Gemüse und auch lebendes Getier. In provisorischen Käfigen gackerten Hühner. Kleine, gerade aus dem Ei geschlüpfte Enten piepsten. Es wurden aber auch Esel, Schafe und Lämmer verkauft. An einer Ecke hatte ein Gewürzhändler seinen Stand aufgebaut. Eine Zeltplane überdachte ihn. Noch nie hatte Red so viele Gewürze beieinander gesehen.

Unbeirrt drängte sich Vesta Banshee durch die Menschenmassen. Sie lotste Red zu dem Teil des Markts, der den Töpfern vorbehalten war. Hier wurden die Erzeugnisse der heimatlichen Töpferkunst ausgestellt. Es waren originelle wunderbare Sachen darunter.

Man sah mehr Touristen. Es hatte sich wohl herumgesprochen, daß die Tonwaren noch eigenhändig hergestellt wurden.

Plötzlich blieb Vesta stehen.

»Hier muß es sein!«, sagte sie aufgeregt. Auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. »Ich spüre es ganz deutlich.«

Red war verwirrt. Er sagte nichts.

Vesta ging noch ein paar Schritte vor und stand plötzlich vor einem hochgewachsenen Mann, der einen schmuddeligen Burnus anhatte und einen Fes auf dem Kopf trug. Der Mann wandte Red und Vesta den Rücken zu.

Vestas Fingernägel verkrallten sich in Reds Arm. Der Ire spürte den Druck durch den Stoff.

»Das ist er«, wisperte Vesta. »Das ist er.«

Im gleichen Augenblick drehte der Kerl sich um. Er schien irgend etwas gespürt zu haben, denn er starrte Vesta und Red aus zusammengekniffenen Augen an.

Crofton Dunbar und Vesta hatten den Mann nie zuvor gesehen. Er hatte ein glatt rasiertes Gesicht; nur unter der Nase wuchs ein dünner Oberlippenbart.

Vesta sprach den Araber auf Französisch an. »Wo ist das Amulett?«

Der Mann verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Was quatschen Sie mich überhaupt an? Lassen Sie mich in Ruhe!«

Er drehte sich um und wollte weitergehen.

Damit war Red gar nicht einverstanden. Seine rechte Faust schoß vor. Seine Finger verkrallten sich im Burnus; Crofton Dunbar zog den Knaben zu sich heran.

»So haben wir nicht gewettet, Freundchen.« Red drehte den Kerl herum.

»Die Dame hier hat dich etwas gefragt, und sie bekommt eine Antwort – so oder so.«

Der Kerl begann plötzlich zu zittern. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Verzweifelt blickte er sich nach einem Fluchtweg um, doch Red hielt ihn eisern fest.

»Also, wo ist das Amulett?«

Der Mann nickte eingeschüchtert. »Ich habe es.«

»Wo?« Vesta war aufgeregt.

»In meiner Tasche.«

Vesta wollte hineingreifen, doch der Araber machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich habe das Amulett erst vor wenigen Minuten bekommen.«

»Und von wem?«, forschte Red.

»Ich kenne den Mann nicht. Er hat es mir nur gegeben und war schon wieder verschwunden.«

»Was willst du denn damit?«, fragte Vesta.

»Ich behalte es nicht für mich.«

»Sondern? Los, rede, verdammt! Sonst verdrehe ich dir den Hals so, daß er wie ein Korkenzieher aussieht.« Red wurde langsam aber sicher wütend.

»Ich – ich soll das Amulett abgeben. Ich darf es gar nicht für mich behalten.«

»Wer bekommt es?«

»Ein großer und berühmter Man. Ich – ich – kann euch zu ihm führen, wenn ihr wollt.«

Red und Vesta tauschten einen schnellen Blick. Der Vorschlag war gar nicht so übel. Der Bursche, den sie hier auf dem Marktplatz gestellt hatten, war nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe. Aber er konnte sie ein Stück weiterbringen. Schließlich wollten Red und Vesta den Mann gern kennenlernen, der so scharf auf das Amulett war.

Crofton Dunbar ließ den Burschen los.

Der schnappte erst einmal nach Luft.

Red bleckte die Zähne, dann sagte er drohend: »Wenn du versuchst, uns reinzulegen, dann kannst du deine Knochen jetzt schon mal numerieren. Verstanden?«

Der Mann nickte hastig. »Keine Angst, ich werde euch schon richtig führen. Kommen Sie! Wir gehen.«

Der Araber setzte sich in Bewegung.

Crofton Dunbar und Vesta Banshee folgten ihm in eine ungewisse Zukunft.