30

 

Elena sah, dass ihr Onkel neben Er’ril trat. Der Schwertkämpfer war an der Schwelle zur nächsten Kammer auf die Knie gesunken. Er hielt das Gesicht abgewandt von dem Licht, das aus dem Raum fiel. Auf Er’rils Wange ruhte eine einzelne Träne, die in der Strahlung glitzerte wie ein Juwel.

»Was ist los?« fragte Onkel Bol und legte dem Schwertkämpfer die Hand auf die Schulter.

Er’ril antwortete nicht, sondern deutete nur in den nächsten Raum.

Elena schlich im Schatten ihres Onkels vorwärts. Sie spähte hinter seinem Rücken hervor ins volle Licht. Die Quelle der Strahlung stand in der Mitte einer annähernd runden Kammer. Ansonsten war der Raum leer und ohne Zierrat.

»Eine erstaunliche Handarbeit«, sagte ihr Onkel, der in die Kammer blinzelte. »Aber was bekümmert dich so sehr, Er’ril?«

Er’ril schüttelte den Kopf und schwieg weiterhin.

Elena schlüpfte hinter Onkel Bols Rücken hervor, um besser in die Kammer hineinspähen zu können. In der Mitte des Raums stand auf dem nackten Boden eine kristallene Statue, die silbernes Licht verströmte. Auch wenn der Stein, aus dem die Statue gemacht war, die Quelle des reinen Lichts war, so stellte Elena dennoch fest, dass die Strahlung sie nicht blind machte für die Formen der Skulptur; vielmehr war das Gegenteil der Fall. Das Licht schien sich um die Statue herum zu drapieren und zu falten, was ihr eine gewisse Detailgenauigkeit und Substanz verlieh.

»Der Künstler, der dieses Stück geschaffen hat, verfügte über eine erstaunliche Begabung«, sagte Onkel Bol; er murmelte die Worte, während seine Augen immer wieder besorgt zu dem Schwertkämpfer abschweiften. »Mit Sicherheit ist dies nicht das Werk von Kobolden. Der glatte Schliff des Steins, die fein gearbeiteten Einzelheiten um die Augen und die Lippen sind überhaupt nicht zu vergleichen mit den grob geritzten Darstellungen auf den Steinbogen, die wir gesehen haben.«

Elena stellte fest, dass sie im Stillen ihrem Onkel Recht gab. Hier handelte es sich um ein Gebilde von außerordentlicher Schönheit - wenn auch von grausamer Schönheit.

Die Statue stellte einen kleinen Jungen dar. Nach Elenas Schätzung zählte er nicht mehr als zehn Winter. Die Figur kniete, eine Hand ruhte am Boden, der andere Arm war hoch erhoben wie in einem demütigen Flehen. Das Gesicht des Jungen, verzerrt vor Schmerz, war ebenfalls gen Himmel gewandt. Der Grund für die Qualen des Jungen war eindeutig.

»Siehst du, wie der Bildhauer die Materialien gemischt hat, um eine besonders dramatische Wirkung zu erzielen?« fragte ihr Onkel und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Der Junge ist aus Kristall, aber das Schwert besteht aus Silber.«

Elena nickte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Er’ril bei der Erwähnung des Schwerts zusammenzuckte. Auch ihr gefiel dieser Teil der Skulptur nicht.

Durch den Rücken des kristallenen Jungen war ein silbernes Schwert gestoßen, das Brust und Herz durchbohrte. Sein Knauf ragte eine Handbreit über dem Rücken des Jungen heraus, seine Spitze deutete auf das Gestein am Boden. Der Junge schien gegen sein Schicksal anzukämpfen, als ob ihm die todbringende Art des Schwerthiebs noch nicht bewusst wäre, sondern nur der Schmerz. Sein Gesicht, unschuldig und verloren, suchte den Himmel nach einer Erlösung von der Qual ab. Seine Augen waren weit aufgerissen und flehten um eine Antwort auf die Frage, warum dies hatte geschehen müssen.

Elena merkte, wie auch ihr Tränen in die Augen stiegen, während sie das Gesicht des Jungen betrachtete. Eine Eingebung gebot ihr, das Kind zu trösten, sein Leiden zu lindern. Aber ihr Verstand sagte: Es ist nur eine Statue. Der hier dargestellte Schmerz gehörte einer lange vergangenen Zeit an, nur die bildhauerische Arbeit war so kunstvoll, dass die Todesqual aus der Vergangenheit herüberreichte und ihr ans Herz griff.

»Es ist eine Schande, dass die Statue beschädigt ist«, sagte ihr Onkel in scharfem Ton; als Gelehrter in alter Geschichte hatte es ihm schon immer missfallen, wenn antike Stücke beschädigt waren. Er streckte mit finsterer Miene die Hand aus. »Einer der Kobolde muss etwas abgebrochen haben, als er sie hierher geschleppt hat.«

Zunächst konnte sich Elena keinen Reim darauf machen, was ihr Onkel meinte. Doch dann fiel ihr auf, dass dem linken Arm des Jungen, der zur Decke der Kammer erhoben war, die Hand fehlte, als ob sie mit einer Axt abgehackt worden wäre. Wie seltsam, dass ihr das nicht gleich aufgefallen war! Doch als sie das Stück weiterhin eingehend betrachtete, hatte sie das Gefühl, dass ihr Onkel sich irrte. Die Statue war nicht beschädigt, sondern unvollendet - wie ein trauriges Lied, das einige Takte vor dem Schluss abbricht, sodass das Ohr vergeblich auf das Ende wartet.

Ihr Onkel hatte sich inzwischen wieder Er’ril zugewandt. Onkel Bols Miene wirkte streng, sein Mund hart wie Eisen, und seine Wangen waren gestrafft vor Entschlossenheit. »Genug dieses Unsinns, Standi! Was bekümmert dich so sehr an einem Stück bearbeitetem Kristall?«

Er’ril schwieg, seine Schultern waren vor Kummer nach vorn gesunken. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme leise. »Dies ist ein Zeugnis meiner Schande«, murmelte er, »meine in Form gebrachte Schande.«

 

Als Er’ril den Kopf senkte, wusste er im Herzen, dass Bols Worte der Wahrheit entsprachen. Die Kobolde hatten ihn und seine Gefährten nicht wegen des Mädchens hierher getrieben, sondern seinetwegen. Irgendwie wussten die Felskobolde von seiner Schande und wollten sie ihm an diesem Ort vor Augen führen.

Wenn die Geschöpfe auf diesen Triumph aus waren, dann sollten sie haben, was sie verlangten. Wohl wissend, dass er sich ohnehin vor der Wahrheit nicht verstecken konnte, hob er schließlich die Augen wieder und sah die Statue an. Das Gesicht des Jungen, dessen Züge so kunstvoll in allen Einzelheiten ausgearbeitet waren, loderte in hellem Licht, und in Er’rils Geist flammte die Erinnerung auf. Er konnte dieses Gesicht niemals vergessen - und sollte es auch niemals vergessen. In einem ganz kleinen Maß konnte er das Opfer des Jungen wenigstens dadurch ehren, dass er ihn nie vergaß.

Während sein Blick auf dem kleinen erhobenen Gesicht ruhte, erinnerte er sich an den Raum in dem Wirtshaus und an die Nacht, in der das Buch geschaffen worden war. So vieles aus dieser Nacht war in den vergangenen paar Tagen zu ihm zurückgekehrt. Zunächst war Greschym auf einer Straße wieder erschienen, schwarz vor dunkler Magik. Und jetzt dies: eine Skulptur des Magikerjungen, der auf der Spitze von Er’rils Schwert geopfert worden war, damit das Buch sein Blut erhalten konnte. Die Spieler jener schicksalsschweren Nacht wurden wieder zusammengerufen.

Das Geheimnis, warum all dies geschah und warum er in diese Kammer gelockt worden war, durchstieß plötzlich die schmerzliche Schande in seinem Herzen. Er straffte sich. Nachdem der Anblick der Statue ihn zutiefst erschüttert und die alte Wunde aufgerührt hatte, bildete sich jetzt Zorn in seiner Brust und drängte das pochende Schuldgefühl zurück. Wer immer diese Statue geschaffen haben mochte, hätte ihm viele Fragen zu beantworten - und Er’ril war entschlossen, derjenige zu sein, der diese Antworten aus ihm herausquetschen würde.

Bol ergriff das Wort, als Er’ril in die Kammer trat. »Heraus mit der Sprache, Mann! Was ist los?«

Er’ril nickte in Richtung der Statue. »Das ist der junge Magiker, den ich in jener Nacht, als das Buch geschaffen wurde, getötet habe.« Er sah, wie sich Bols Augen bei diesen Worten weiteten, und selbst das Mädchen wich ein wenig von ihm zurück; doch diesmal senkte er den Blick nicht. Seine Stimme blieb standhaft. »Ich weiß nicht, welches Spiel hier gespielt wird. Aber ich bin entschlossen, es zu beenden.«

Er’ril ging näher zu der Statue. Während seines Näherkommens schien sich der Schmerz im gemeißelten Gesicht des Jungen zu verstärken, als ob die Statue ihn erkennen und sich vor einer erneuten Begegnung mit ihm fürchten würde. Nur eine Täuschung durch das Licht, dachte er. Er streckte einen Finger aus und berührte die harte Kristalloberfläche. Einen Augenblick lang erwartete er, dass sie ihn verbrennen oder ihm sonstigen Schaden zufügen würde, als Vergeltung für sein einstiges Verbrechen, doch der Stein war lediglich kühl und glatt und ein wenig feucht von dem Tau aus der nassen Höhlenluft.

Er’ril strich dem Jungen unwillkürlich über die Wange. Er hatte vergessen, wie jung das Büblein war. Und wie klein. Er’ril überragte die kniende Statue um einiges. Gewiss hatte das Kind dieses Schicksal nicht verdient. Er’ril rang nach Worten, weil er um Vergebung bitten wollte, aber er hatte den Namen des Jungen nie erfahren.

»Es musste getan werden«, sagte Bol leise hinter ihm. »Ich habe die alten Texte gelesen. Unschuldiges Blut musste vergossen werden.«

»Aber warum ausgerechnet durch mich?«

»Wir alle haben im Leben unsere Last zu tragen: meine Schwester Fila, Elena, der Junge. Wir leben in einer finsteren Zeit, und wenn wir um eine zukünftige Morgendämmerung beten, müssen wir auf die Knie fallen, wie müde unsere Knochen oder wie wund unsere Gelenke auch sein mögen.«

»Ich habe genug vom Beten. Wer hört denn schon zu?« Er’ril legte die flache Hand auf das angstvoll erhobene Gesicht des Jungen. »Wer erhört diesen Jungen?«

»Der Pfad, den du beschritten hast, war voller Seelenschmerz und Kummer, und ich will nicht behaupten, dass du es dort, wo du als Nächstes wandeln wirst, leichter haben wirst. Ich kann dir nur das eine sagen - es ist der eine Weg, der alles wettmachen wird, was du getan hast, eine Rechtfertigung aller Opfer, die gefordert wurden. Verlier nicht dein Herz, Er’ril von Standi.«

Er’rils Hand glitt vom Gesicht des Jungen. »Es ist zu spät. Mein Herz ist schon lange verloren.«

»Nein.« Bol streckte die Hand aus und drückte Er’rils Schulter. »Vielleicht versteckt es sich, hat sich im Laufe hunderter von Wintern verhärtet, aber ich wette, auf diesem Pfad wirst du dein Herz wieder finden.«

Er’ril verzog das Gesicht. Er hatte kein Verlangen danach, sein Herz wieder zu finden. Das würde einen Schmerz bedeuten, den er nicht ertragen wollte.

Elenas dünne Stimme ertönte plötzlich aufgeregt. »Hört nur!«

Er’ril hob den Kopf. Ein vertrautes Geräusch drang wieder bis zu ihnen - ein Zischen.

Kobolde näherten sich. Er’ril spähte in Richtung des Tunnels. Kein Anzeichen von den Kobolden. Er ließ den Blick durch die Kammer schweifen. Es gab noch einen anderen Tunnel, der in die Kammer mündete, und auch von dort ertönte das scharfe Zischen von Kobolden.

»Wir sitzen in der Klemme«, sagte Bol.

»Hier sind wir einem Angriff offen ausgeliefert«, gab Er’ril zu bedenken. »Die besten Aussichten haben wir in einem der Tunnel.«

Bol wandte sich an Er’ril. »Wir wären ihnen im Kampf hoffnungslos unterlegen. Wir besitzen nicht einmal eine Waffe. Sie haben uns aus einem bestimmten Grund hierher getrieben, aber bestimmt nicht, um uns umzubringen. Das hätten sie jederzeit und überall tun können.«

Er’ril entfernte sich von Bols Seite und trat wieder zu der Statue. »Ich traue der Logik eines Felskobolds nicht. Ich weiß nur, dass wir unbedingt eine Waffe brauchen.« Er huschte hinter die Statue, beugte sich vor, packte den Knauf des silbernen Schwerts und zog daran. Einen Augenblick lang blieb es noch verhaftet in dem bearbeiteten Kristall, und Er’ril fürchtete, seine Kraft könnte womöglich nicht ausreichen, um es herauszuziehen, doch als seine Muskeln sich noch mehr spannten, löste sich das Schwert, als ob eine Geisterhand einfach losgelassen hätte.

Er’ril taumelte nach hinten, das Schwert in der Hand. Nachdem er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, hob er die Waffe. Die lange Klinge glänzte so hell, dass das Silber aus purer Herrlichkeit geschmiedet zu sein schien. »Jetzt kämpfen wir. Genug der schleichenden Schatten und des drohenden Zischens!«

»Das wird nicht nötig sein.« Die Stimme kam von hinten.

Er’ril fuhr herum, sein Schwert schnitt durch die Luft, und die Spitze deutete auf den Sprechenden. Aus dem anderen Tunnel trat eine bucklige Gestalt hervor. In gekrümmter Haltung und mit schütterem grauem Haar erhob der Sprechende das Gesicht zum Licht. Es war ein Mann. Er trat auf sie zu. Er trug nichts als einen Lendenschurz, der ekelhaft schmutzig war. Seine Brust war übersät von Spuren vieler Krallen wie von Rechenzinken, und er humpelte auf dem Spann eines umgeknickten Fußes. Der rechte Arm war am Ellenbogen abgerissen und endete in einer narbigen Masse aus rosafarbenem Gewebe.

»Wer bist du?« fragte Er’ril.

Während er sprach, brach ein Schwarm Kobolde aus dem Tunnel hinter dem Mann in den Raum. Sie drängten sich um die Beine des Mannes wie unstete Schatten. Unterdessen war Elena nahe zu Er’ril getreten. Er hörte, wie sie neben ihm aufschrie, und als er den Blick wandte, sah er rote Augen, die aus dem anderen Tunnel herausstarrten. Sie saßen in der Falle!

Er wandte sich wieder dem verstümmelten Alten zu. »Wer bist du?« wiederholte er, und seine Stimme klang bedrohlich heiser.

Der Mann strich sich das schmutzige Haar aus dem Gesicht und enthüllte ein von Narben übersätes, schauerliches Antlitz. Seine Nase war, nachdem sie offenbar einst gespalten worden war, höckerig wieder zusammengewachsen; ein Auge fehlte. Er lächelte mit zahnlosem Mund. »Erkennst du mich nicht, Er’ril?« Der Mann stieß ein gackerndes Lachen aus, schrill vor Wahnsinn; seine Hand zuckte, als ob sie einen eigenen Willen hätte.

»So jemanden wie dich kenne ich nicht, du Höhlenwesen«, sagte Er’ril voller Abscheu.

»Höhlenwesen?« Erneut kicherte der Mann. Seine Finger fuhren zu den Haaren, klaubten dort etwas heraus und befühlten es einen Augenblick lang prüfend. Dann zerdrückte er es zwischen langen gelben Fingernägeln. »Dein Bruder war bei unserer letzten Begegnung nicht so ungezogen - als er um einen Gefallen bat.«

Er’rils Augenlider flatterten. Schreck lähmte seine Zunge. Wer war dieser Irre?

Bol sprach in die Stille. »Lebst du bei den Felskobolden?«

Der Mann vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie fürchten mich. Sie nennen mich Mann-der-wie-Stein-lebt in ihrer klackenden und zischenden Sprache.«

»Du beherrschst ihre Sprache!« Bols Stimme überschlug sich fast vor Erstaunen.

»Ich hatte viel Zeit, sie zu erlernen.«

Inzwischen hatte Er’ril seinen Schreck einigermaßen überwunden. Ihn kümmerten die Felskobolde und ihre Sprache wenig. »Du hast meinen Bruder erwähnt«, sagte er schließlich.

Das helle Auge des Mannes richtete sich wieder auf Er’ril. »O ja, Schorkan zeigte immer eine Mischung aus Freude und Enttäuschung. Sehr schade, dass wir ihn verlieren mussten.« Sein Blick wanderte zu der Statue. »Wir haben in jener Nacht so viel verloren.«

»Genug dieser Torheiten, Alter. Wer bist du, und warum sind wir hierher getrieben worden?«

Der Mann stieß einen tiefen Seufzer aus. »Mein Name war einst Re’alto, von meinen Schülern wurde ich Meister Re’alto genannt. Erkennst du den Direktor der Schule immer noch nicht?«

Er’ril rang nach Luft und stieß einen glucksenden Laut aus; seine Schwertspitze senkte sich. Meister Re’alto? Unmöglich! Doch Er’ril entdeckte unter den Narben und dem Schmutz eine entfernte Ähnlichkeit. Wie konnte das sein? Wie war es möglich, dass der Schuldirektor noch lebte? Man hatte allgemein angenommen, dass in jener Nacht, als die Schule von den Skal’ten und den Hundesoldaten überfallen und ›gesäubert‹ worden war, alle Magiker vernichtet worden seien. Der Junge war angeblich der einzige Überlebende gewesen. »W… wie das?«

Der Alte schwieg, während sein angestrengtes Lächeln zu einer traurigen Grimasse wurde. Ein gewisses Funkeln trat in sein helles Auge. Seine Stimme wurde leiser unter der Last der Erinnerung. »In jener Nacht… ich habe deinen Bruder dem Jungen in den Lehrlingsflügel nachgeschickt, damit sie fliehen konnten. Ich selbst hatte ebenfalls die Absicht zu fliehen, aber die Herren des Schreckens haben mich gefangen genommen. Zum Glück beschlossen sie, nur mit mir zu spielen.« Er deutete auf seinen verstümmelten Arm und die narbenübersäte Brust. Plötzlich wirkte der Alte benommen. Er blickte sich suchend um, als ob er etwas verloren hätte. Sein Auge war auf einen winzigen Kobold gerichtet, der viel kleiner war als die anderen. Er packte das zappelnde Geschöpf und hielt es hoch. »Sind sie nicht niedlich, wenn sie jung sind?«

Er’ril verzog angeekelt den Mund. Er hatte noch nie Hochachtung für den Schuldirektor empfunden, da er ihn für einen feigen und weinerlichen Kerl gehalten hatte. Aber jetzt… »Meister Re’alto, genug dieses Unfugs. Was ist geschehen?«

Er’rils Worte brachten den Alten wieder zu sich. Er ließ den Kobold fallen, wischte sich die Hand am Lendenschurz ab und fuhr fort: »Ich… ich war noch am Leben, als meine Häscher die Kunde erreichte, dass Schorkan mit einem Jungen entkommen sei. Sie hielten mich für tot und ließen mich einfach liegen, krank von ihren Giften. Ich schaffte es, mich in einen der tiefsten Keller zu schleppen, und dort kannte ich einen Weg in die unterirdischen Höhlen.«

»Du hast deine Schule im Stich gelassen.«

Die Stimme des Mannes wurde streng. »Ich bin kein Kapitän zur See, der mit seinem Schiff untergehen muss! Die Schule war verloren. Die Säle waren nur noch erfüllt von den Schreien der Sterbenden und den umherstreifenden Hunden des Herrn der Dunklen Mächte.« Der Alte wischte sich über die Stirn, als wolle er die Erinnerung auslöschen. »Ich wollte einfach nur in Frieden sterben und nicht im Bauch eines der Schrecklichen landen. Deshalb habe ich mich hierher geschleppt.« Er machte eine Handbewegung, die die Kammer umfasste.

Bol sprach als Nächster. »Du bist nicht gestorben - weder an deinen vergifteten Wunden noch am Alter.«

Meister Re’altos Auge richtete sich auf die Statue. Sein Blick verlor sich im Leeren; er summte vor sich hin und wippte leicht auf den Füßen.

Bol merkte, dass keine Antwort mehr zu erwarten war, und räusperte sich.

Re’alto zuckte bei dem Laut zusammen, dann sprach er im Flüsterton: »Nein, ich bin nicht gestorben. Stattdessen ist er zurückgekommen.«

»Wen meinst du damit?« fragte Er’ril.

»Der Junge brauchte mich. Irgendwie wusste er, wo ich war, und er erschien bei mir, reich ausgestattet mit chirischer Macht. Sein Licht heilte mich, und solange ich mich in der Nähe des Lichts aufhalte, verhindert seine Magik, dass die Jahre mich altern lassen. Er brauchte einen Wächter, jemanden, der auf ihn aufpasst.« Er wandte den Blick von der Statue ab und sprach zu ihnen in einem verschwörerischen Ton, als ob er Angst hätte, die Statue könnte lauschen. »Anfangs weigerte ich mich, auf sein Begehr einzugehen, aber ich hatte so jämmerlich darin versagt, meine Schule vor Schaden zu bewahren.« Der Mann erschlaffte vor Erschöpfung. »Wie hätte ich da ablehnen können?«

»Wieso weißt du das alles?« fragte Bol. »Spricht die Statue mit dir?«

Re’alto wischte sich über die Stirn, als ob er den Gedanken vertreiben wolle. »Nein, er spricht zu mir im Schlaf, und nur diese Träume halten mich bei klarem Verstand.«

Bol warf Er’ril einen vielsagenden Blick zu, denn er bezweifelte, dass der Alte gegenwärtig bei klarem Verstand war.

Plötzlich tat der Alte einen Satz nach vorn und brüllte sie an: »Haltet die da fern!« Die Kobolde um seine Füße erhoben ein wütendes Schnattern.

Er’ril warf einen Blick zur Seite und sah, dass Elena die Hand, die rot gefleckte Hand, zu der Statue ausstreckte. Anscheinend war sie nur neugierig. Bei den Worten des Alten erstarrte sie. »Das lässt du besser sein«, warnte Er’ril sie.

Der Mondfalke auf ihrer Schulter keifte ihn an, doch sie ließ die Hand sinken und trat näher zu Er’ril.

Als sie sich von der Statue entfernte, beruhigte sich der Alte allmählich, und nach einigen Atemzügen verebbte das Schnattern der Kobolde zu einem gedämpften Zischen. »Sie darf ihn nicht berühren!« sagte der Alte.

»Warum nicht?«

»Der Junge wartet nur auf dich, Er’ril, auf niemanden sonst. Wir beide haben diese Begegnung seit langem ersehnt.«

Er’ril kniff die Augen zusammen. »Zu welchem Zweck?«

Der Alte deutete mit seiner einen Hand zu dem erhobenen Arm des Jungen. Der Arm der Statue hörte am Handgelenk auf. Als Er’ril ihn lediglich verständnislos ansah, ruckte Re’altos Arm mit stoßenden Bewegungen vor. »Um die Statue zu vollenden, du Dummkopf!«

Wovon redet er? dachte Er’ril. Der Mann ballte die Hand zur Faust und schwenkte sie in seine Richtung. Dann begriff Er’ril plötzlich - eine Erkenntnis wie das Krachen eines Holzscheits im heißen Feuer! Er fauchte den Alten an: »Also deshalb hast du den Schlüssel gestohlen!«

»Es wird allmählich Zeit, dass du dahinter kommst«, sagte Meister Re’alto, dann murmelte er etwas, als ob er mit sich selbst streite. Plötzlich hob er den Kopf und brüllte Er’ril an: »Du warst immer schon ein Dickschädel!«

Bevor Er’ril etwas erwidern konnte, drehte sich der Alte blitzschnell zu den Kobolden um. Er sprach in klackenden und zischenden Lauten mit ihnen. Einer der Kobolde in seiner unmittelbaren Nähe schoss davon. Re’alto sprach, den Rücken Er’ril zugewandt. »Ihr Gefühl für Magik ist sehr stark. Deshalb haben sie mich gefunden. Licht macht ihnen Angst, aber die Magik zieht sie an. Sie halten mich für einen Gott.«

Tiefer im Innern des Tunnels war ein Tumult zu hören. Ein Kobold schob sich zwischen den anderen hindurch. Seine Hände waren ineinander verschränkt und mit etwas Schwerem beladen; sein Schwanz peitschte aufgeregt hin und her, als er vor den Alten trat. Mit gesenktem Kopf bot er ihm dar, was er in den Krallenhänden hielt. Re’alto nahm das Geschenk mit einem Zischen und einem Schnauben entgegen.

Der Kobold schlurfte von dannen, und Re’alto wandte sich wieder Er’ril zu. »Sie hatten keine Mühe herauszufinden, wo du den Schlüssel versteckt hattest. Der Junge hat im Traum zu mir gesprochen, und ich habe sie losgeschickt, um ihn zu holen. Wir wussten, dass du zurückkämst, um den Schlüssel zu holen; deshalb haben wir einfach gewartet. Als mich die Nachricht von deiner Ankunft erreichte, trug ich dem kleinen Kobold auf, den Schlüssel als Köder zu benutzen, um dich hier herunter zu locken.«

»Warum hast du mich nicht selbst geholt und uns diese Verfolgungsjagd erspart?«

Der Alte runzelte die Stirn und verdrehte das Auge. »Ich darf die Reichweite des Lichtes nicht verlassen. Das wäre gefährlich für mich.« Er hielt Er’ril den Schlüssel hin. »Ich habe lange genug gewartet. Vollende die Statue.«

Er’ril sah den Schlüssel an. Er hatte so viel aufs Spiel gesetzt, um ihn wiederzuerlangen, doch nun zögerte er. Das Stück Metall, geschmolzen aus dem Eisen, das aus dem Blut von tausenden Magikern destilliert worden war, glänzte leuchtend rot im silbernen Licht. Er’ril betrachtete es und wusste, was er zu tun hatte.

Der Schlüssel war in die Form einer Faust geschmiedet - der Faust eines kleinen Jungen.

Er’ril übergab das Schwert an Bol, der ihn fragend ansah. Mit zitternder Hand nahm Er’ril den Schlüssel entgegen; beinahe wäre die Eisenfaust seinen gefühllosen Fingern entglitten. Er umklammerte sie fester, und seine Faust spannte sich um die kleinere Faust. Er trat zu der Statue.

»Nur du kannst es tun, Er’ril«, sagte der Alte. »Durch deine Hand ist er gestorben.«

Er’ril hielt die Faust dicht über das leere Handgelenk der Statue. Sie passte hervorragend. Als er den Schlüssel losließ, haftete die Faust an der richtigen Stelle. Er trat zurück. Nun, da die Statue vollendet war, hatte sich ihre Aussage verändert. Der Junge, der zuvor klagend ausgesehen hatte, mit hoch erhobener Faust einen gleichgültigen Himmel anflehend, wirkte nun trotzig, herausfordernd. Das Gesicht erstrahlte im Bewusstsein ernster Verantwortung, die Faust war in zorniger Entschlossenheit erhoben.

Es war nun nicht mehr ein Junge, der da kniete, sondern ein Mann.

Während Er’ril ihn mit Tränen in den Augen betrachtete, drehte sich das kristallene Gesicht zu ihm um und sah ihn an; ihre Blicke trafen sich.

Hinter ihm stieß Elena einen überraschten Schrei aus, und Bol entwich ein rasselndes Keuchen. Doch Er’rils Ohren vernahmen nur die gemurmelten Worte seines ehemaligen Schuldirektors, dessen Stimme zwischen leidenschaftlicher Erregung und Irrsinn schwankte. »Nur du konntest das vollbringen, Er’ril von Standi. Durch deine Hand ist er gestorben. Nur die deine konnte ihm die seine zurückgeben.«