10
Die Morgendämmerung zog kalt in das winzige Zimmer des Gasthauses ein. Er’ril lag in eine Decke eingewickelt am Boden; sein Rucksack diente ihm als Kopfkissen. Er war schon früh aufgewacht und hatte beobachtet, wie die ersten Strahlen der Morgensonne die Staubteilchen im Raum in einem langsamen Tanz bewegten. Es war ein langer Abend gewesen. Er und Ni’lahn hatten bis spät in die Nacht hinein geredet, bis schließlich beide übereinstimmend fanden, dass sie unbedingt ein paar Stunden Schlaf brauchten, um dem neuen Tag entgegenzutreten.
Ni’lahn war auf dem Bett schnell eingeschlafen, noch angezogen, die Laute an die Brust gedrückt wie einen Liebhaber. Er’ril hingegen hatte nur hin und wieder ein wenig gedöst, und selbst diese wenigen Augenblicke des Schlummers wurden von schrecklichen Träumen heimgesucht. Schließlich hatte er es aufgegeben und stattdessen beobachtet, wie der Morgen dämmerte.
Während er in die zunehmende Helligkeit blickte, drehten sich seine Gedanken auf tausend Zapfen; alte Erinnerungen, Fragen, Ängste tauchten auf. Warum war er bei dieser seltsamen Frau geblieben? fragte er sich. Nachdem sie die Augen geschlossen hatte und ihre Atemzüge langsamer geworden waren, hätte er sich leicht davonschleichen können. Doch ihre Worte hielten ihn in dem Zimmer gefangen. Hatte die Begegnung mit dieser Nyphai-Frau eine tiefere Bedeutung, wie sie es unterstellte? War in dem tosenden Feuer im Obsthain ein Omen verborgen? Und warum… warum war er in dieses verfluchte Tal zurückgekehrt?
Er kannte die Antwort auf diese letzte Frage. In seinem Herzen konnte er sich nicht vor den Erinnerungen verstecken, die ihn in dieses Tal zurückzogen. Gestern Abend war der Jahrestag des Bindens des Buches gewesen - und des Verlustes seines Bruders. Er’ril sah immer noch Schorkan, Greschym und den Jungen - dessen Namen er nie erfahren hatte - vor sich, in dem Wachskreis kauernd, während in der Ferne Trommeln schlugen.
Vor fünfhundert Wintern hatte er sich in einer ähnlichen Gastwirtschaft befunden, das Buch fest im Griff, während das Blut eines Unschuldigen eine Lache um seine Füße bildete. Ohne dass Er’ril davon wusste, hatte die Vergänglichkeit der Zeit für ihn in diesem Augenblick aufgehört. Viele Jahre mussten ins Land gehen, bis ihm klar wurde, welcher Fluch ihm an jenem Abend auferlegt worden war: niemals zu altern. Er musste zusehen, wie jene starben, die er bis zum liebesfähigen Alter aufgezogen hatte, während er ewig jung blieb. Er hatte in den Augen der anderen Zorn gesehen: Warum muss ich altern und du lebst weiter? Schließlich hatte es ihn zu sehr geschmerzt, dieses immer wieder erleben zu müssen, und er hatte beschlossen, auf Wanderschaft zu gehen, nirgendwo zu Hause zu sein, keine Freunde zu haben.
Alle hundert Winter kehrte er in dieses Tal zurück, in der Hoffnung, eine Antwort zu finden. Wann wird das aufhören? Warum muss ich leben? Während das Land alterte, beobachtete er, wie die Narben der Schlacht jener schicksalhaften Nacht im Tal allmählich verheilten. Die Menschen vergaßen; niemand erinnerte sich mehr an die Toten, nichts wies auf ihre Gräber hin. Er aber kehrte jedes Jahrhundert zurück, zu Ehren der Gefallenen, die beim Marsch der Herren des Schreckens umgekommen waren. Sie verdienten wenigstens einen Menschen, der das Gedenken an ihre Tapferkeit und ihren Opfermut aufrechterhielt.
Er’ril wusste, er hätte sich in sein Schwert stürzen und diesen Fluch beenden können; dieser Gedanke war ihm in vielen schlaflosen Nächten durch den Kopf gegangen. Aber sein Herz erlaubte es ihm nicht. Wer würde sich dann noch an die Tausenden erinnern, die in jener Nacht vor so vielen Wintern gestorben waren? Und sein Bruder Schorkan, der durch seinen Tod dem Buch Leben gegeben hatte - wie hätte sich Er’ril seiner Verantwortung entziehen können, wenn sein Bruder so viel gegeben hatte?
Also kehrte er alle hundert Winter wieder hierher zurück.
Er’ril hörte, dass sich Ni’lahn bewegte. Er sah, wie sie die Hand hob und sich die Netze des Schlafs aus dem Gesicht wischte. Er’ril räusperte sich, damit sie merkte, dass auch er wach war.
Sie richtete sich ein wenig auf und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Ist etwa schon Morgen, so schnell?«
»Ja«, sagte er, »und wenn wir einen Platz im Gastraum ergattern wollen, um unser Frühstück einzunehmen, dann sollten wir uns bald darum bemühen. Ich habe gehört, wie die ganze Nacht über Menschen ein und aus geeilt sind.«
Sie rutschte vom Bett und strich sich verlegen das Kleid glatt. »Vielleicht könnten wir einfach hier essen. Ich… ich vermeide Menschenmengen gern.«
»Nein, das ist nicht möglich. Speisen und Getränke gibt’s nur im Gastraum.« Er’ril schlüpfte in seine Stiefel und stand auf. Er verdrehte den Hals nach beiden Seiten, um die Steifheit zu vertreiben; sein Genick knackte. Er sah zum Fenster hinaus. Im Westen war der Morgenhimmel von schlangenförmigen Rußstreifen durchzogen, und ein Leichentuch aus Rauch hing schwer über dem Tal. Über den Hügelkuppen häuften sich dicke Wolken und kündeten ein Gewitter an; zurzeit wäre ein Regenguss ein wahrer Segen für das Tal gewesen. Er’ril sah einen Flammenschwall nach oben züngeln. Rings um sie herum waren die Vorhügel vom Feuer geschwärzt und verwüstet, nur noch hie und da war ein Rest Grün bestehen geblieben.
Ni’lahn trat neben ihn und kämmte sich mit den Fingern die Haare. »Ein schlimmer Morgen«, flüsterte sie und blickte ebenfalls zum Fenster hinaus.
»Ich habe schon viel Hässlicheres gesehen.« Er stellte sich den Morgen nach der Schlacht um Wintershorst vor. Blut war rot durch die vielen Bachbetten gelaufen, Schreie hatten von den zerklüfteten Zahnbergen widergehallt, und der Gestank von verkohltem Fleisch war ihm Übelkeit erregend in die Nase gestiegen. Nein, im Vergleich dazu war dies ein angenehmer Morgen. »Das alles wird verheilen«, sagte er zu Ni’lahn und wandte sich von dem Anblick ab. Er schulterte seinen Rucksack. »Es verheilt immer wieder.«
Sie nahm ihre Tasche und band die Laute mit einem Riemen daran fest. Gemeinsam mit ihm ging sie zur Tür. »Nicht immer«, sagte sie leise.
Er sah sie an. Ihr Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Er wusste, dass sie an den von der Fäule befallenen Obsthain ihrer Heimat dachte. Er seufzte und öffnete die Tür.
Ni’lahn huschte durch die Tür hinaus in den Gang. Sie stieg vor ihm die Treppe hinunter. Die lauten Stimmen und der Lärm, die aus dem Hauptraum der Gastwirtschaft heraufschallten, hörten sich genauso grausam an wie am Abend zuvor. Irgendetwas sorgte immer noch für Erregung bei den Stadtbewohnern.
Als Er’ril und die Bardin den Gastraum betraten, stampfte ein dürrer Mann mit einem Wust roter Haare und aschegefleckter Kleidung gerade mit dem Fuß auf den Boden der Bühne. An der Rampe stand kein Sammelnapf; daran erkannte Er’ril, dass dies keine frühmorgendliche Darbietung war.
»Hört mir zu, Leute!« schrie der dünne Mann mit hoher, schneidender Stimme zu den dicht besetzten Tischen hinunter. »Was ich euch berichte, habe ich vom Hauptmann der Garnison persönlich vernommen.«
Jemand, der eine Schaufel bei sich trug, brüllte zu dem Mann hinauf: »Vergiss es, Harrol! Zuerst müssen wir das Feuer löschen. Dann kümmern wir uns um diese Kinder.«
»Nein!« widersprach der Dünne streitlustig. »Diese Jugendlichen sind von Dämonen besessen.« Die letzten beiden Worte spuckte er förmlich in die Menge.
»Und wenn schon! Dämonen essen meiner Familie nichts weg. Wir müssen von der diesjährigen Ernte retten, was wir retten können, sonst leiden wir in diesem Winter alle Hunger.«
Das Gesicht des Mannes auf der Bühne war jetzt rot angelaufen, seine Schultern bebten. »Narr! Es waren doch diese Kinder, die den Brand gelegt haben. Wenn wir sie nicht finden, dann stecken sie die Obstgärten anderer Leute auch noch an. Möchtet ihr das? Soll das ganze verdammte Tal in Flammen stehen?«
Diese letzte Bemerkung brachte den Widerredner im Publikum zum Schweigen.
Ni’lahn war in Er’rils Schatten geschlüpft. Sie sah fragend zu ihm auf. Er zuckte mit den Schultern. »Nichts als Kutschentratsch. Es hört sich so an, als suchten sie nach einem Sündenbock.«
Ein grauhaariger alter Mann an einem Tisch in der Nähe hatte seine Worte gehört. »Nein, mein Freund. Die Botschaft ist von den Bergen gekommen. Es waren diese Morin’stal-Bälger. Das Böse hat von ihren Herzen Besitz ergriffen.«
Er’ril nickte und bedachte den anderen im Weitergehen mit einem schiefen Lächeln. Er zog Ni’lahn zur Theke, da er sich nicht in lokale Angelegenheiten hineinziehen lassen wollte. Er zog zwei Hocker heran, damit sie sich setzen konnten.
Der Wirt hatte seinen Posten hinter der Theke wieder eingenommen, aber heute Morgen spielte tatsächlich ein Lächeln um seine üblicherweise grimmige Miene. Das Feuer wirkte sich für das Gasthaus offensichtlich geschäftsfördernd aus. Nichts war so gut dazu geeignet, seine Truhen mit Geld zu füllen, wie eine allgemeine Aufregung.
Er’ril fing den Blick des Wirts auf, der entlang der Theke zu ihren Plätzen kam. »Gibt nur noch kalten Haferschleim«, sagte er als Einleitung. Er’ril bemerkte, wie der Blick des Wirts zu Ni’lahn wanderte. Während er mit den Augen ihre schmächtige Gestalt abtastete, leckte er sich die fetten Lippen. Sie wich von ihm zurück. Feixend wandte sich der Wirt wieder Er’ril zu.
»Allerdings, für fünf Kupferstücke zusätzlich wäre es mir vielleicht möglich, ein bisschen Heidelbeermarmelade für deine kleine Dame aufzutreiben.«
»Haferschleim und Brot reichen«, sagte Er’ril.
»Brot kostet ein Kupferstück zusätzlich.«
Er’ril runzelte die Stirn. Seit wann wurde Brot nicht mehr kostenlos zum Haferschleim gereicht? Der Wirt nutzte offenbar den großen Andrang aus. »In Ordnung«, sagte er kalt, »es sei denn, du berechnest uns auch noch etwas für den Löffel.«
Der eisige Unterton in seiner Stimme entging dem Wirt offenbar nicht. Er entfernte sich mit mürrischem Murmeln. Das Essen wurde von einer schüchternen Magd aufgetragen, deren Augen blutunterlaufen und müde aussahen, als ob sie die ganze Nacht hindurch gearbeitet hätte. Er’ril steckte ihr heimlich eine Münze zu. Bei diesen Preisen würden nur wenige Kunden den Mägden Trinkgeld geben. Er sah, wie ihre Augen aufleuchteten, als sie nach der Münze griff und sie in ihrer Tasche verschwinden ließ; ihre Hände waren so schnell wie die eines Jahrmarktzauberers.
Hinter ihm stritten sich die Männer immer noch darüber, wie am besten zu verfahren sei. Es hatte den Anschein, als steckten sie in einer Sackgasse fest, als ihr Streit plötzlich unterbrochen wurde.
Zwei Männer stürmten aus dem Hof herein, die Gesichter von der Morgenkälte gerötet. Der kleinere der beiden, gnomenhaft im Vergleich zu seinem riesigen Begleiter, humpelte beim Betreten des Gastraums und schwang mit dem schwachen Bein weit aus. Der Große hinter ihm hatte einen zotteligen Bart und breite Schultern und war bekleidet mit einer pelzbesetzten schweren Jacke. Er ließ die pechschwarzen Augen lauernd und suchend über die Menge schweifen; die Lippen waren bedrohlich schmal zusammengepresst. Er wirkte irgendwie gereizt, als ob die Gesellschaft von Menschen ihn über alle Maßen belästige.
Er’ril vermutete, dass er dem Bergvolk angehörte, den Nomaden, die zwischen den gefrorenen Gipfeln der Zahnberge lebten. Sie kamen außerhalb der Handelssaison, wenn Schnee und Eis auf den Pässen schmolzen, selten ins Flachland herunter. So kurz vor dem Winter einen von ihnen zu sehen war selten.
Der kleinere der beiden stieß mit der Faust in die Luft. »Wir haben Neuigkeiten. Neuigkeiten!«
Da der bisherige Streit in eine Sackgasse aus Murren und Streiten geraten war, wandten sich alle Augen den Neuankömmlingen zu; auch Er’ril sah ihnen neugierig entgegen. »Was habt ihr denn gehört, Simkin?« rief jemand von einem der Tische.
»Nicht gehört. Gesehen!« Der kleine Kerl mit dem Namen Simkin schüttelte den Kopf und bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge, während er gleichzeitig einen Pfad für den grobschlächtigen Mann aus den Bergen frei machte. Als er die Bühne erreicht hatte, kletterte er hinauf und winkte den Großen ungeduldig zu sich. Nun, da Simkin durch seinen Platz auf der Bühne an Höhe gewonnen hatte, stand er beinahe auf gleicher Augenhöhe mit dem Mann aus den Bergen und konnte dem Großen eine Hand auf die Schulter legen. Simkin wandte das Gesicht der Menge zu. »Dieser Mann hat den Dämon gesehen!«
Die Menge brach in ein verächtliches Zischen aus, obwohl sich einige den Daumen an die Stirn legten - für alle Fälle. »Erzähl uns keine Ammenmärchen!« brüllte jemand.
»Nein, hört zu. Es ist wahr.«
»Wen hat er gesehen? Deine Frau?« Die Menge brach in Gelächter aus, obwohl allenthalben eine deutliche Spur von Unbehagen zu bemerken war.
»Sag es ihnen!« Der Kleine stieß die Schulter des Großen mit einem Finger an. »Los, mach schon!« Er’ril sah einen kurzen Zornesblitz in den Augen des Großen aufzucken, als Simkin ihn auf diese Weise berührte. Es empfahl sich nicht, die Leute aus den Bergen zu etwas zu drängen.
Dennoch räusperte sich der Große - ein Geräusch, als ob die Rinde von einem Baum abgeschält würde. Dann fing er an zu sprechen; seine Stimme war so tief wie die Höhlen, die sich durch die eisbedeckten Gipfel gruben. »Er ist im Zwielicht über den Pass der Tränen geflogen, ganz in der Nähe der Stelle, wo wir leben. Blass wie der Pilz, der auf toten Bäumen wächst, und mit Flügeln von einer Spannweite wie die ausgestreckten Arme von drei Männern. Als das Wesen mit rot glühenden Augen vorbeiflog, gerieten unsere Tiere in Panik, und eine Frau von meiner Sippe erlitt eine Fehlgeburt.«
Niemand wagte es, einen Mann aus den Bergen einen Lügner zu nennen - jedenfalls nicht von Angesicht zu Angesicht. Sie waren bekannt dafür, die Wahrheit zu sprechen. Die Menge blieb nach seinen Worten stumm.
Er’ril richtete sich während dieser Aussage auf seinem Hocker auf, der Löffel mit Haferschleim verharrte auf halbem Wege zum Mund. Konnte das sein, nach so langer Zeit? Seit Jahrhunderten war kein solches Wesen mehr gesichtet worden.
Jemand aus dem hinteren Teil des Raums ergriff nun mit leiser Stimme das Wort. »Du bist den weiten Weg gekommen, um uns zu warnen?«
Die Stimme des Mannes aus den Bergen wurde noch tiefer, einem Brummen gleich. »Ich bin gekommen, um es zu töten.«
Er’ril senkte den Löffel und war überrascht, seine eigene Stimme zu hören, die dem Mann aus den Bergen zurief: »War dieses Ungeheuer dürr wie ein Hunger leidendes Kind, mit einer Haut so dünn, dass man hindurchsehen konnte?«
Der Mann aus den Bergen drehte den Bart schwungvoll in Er’rils Richtung. »Jawohl, das schwache Licht der Abenddämmerung schnitt durch den Körper hindurch wie ein Messer. Krank hat es ausgesehen.«
Ni’lahn flüsterte ihm zu: »Weißt du etwas über dieses Geschöpf, von dem er spricht?«
Ein anderer Mann aus der Menge sprach: »Du da, Gaukler, was weißt du über dieses Ungeheuer?«
Alle Augen waren nun auf Er’ril gerichtet. Er bedauerte seine vorlaute Zunge, aber er konnte seine Worte jetzt nicht mehr zurücknehmen. »Es bedeutet Verheerung«, sagte er zu der Menge und warf seinen Löffel auf die Theke. »Für euch besteht keine Hoffnung.«
Erregung breitete sich in der Menge aus. Nur der Mann aus den Bergen stand ruhig zwischen den aufgeregten Leuten. Seine zusammengekniffenen Augen waren starr und entschlossen auf Er’ril gerichtet. Er’ril wusste, dass seine Worte den Riesen nicht erschüttert hatten. Das Blut rann den Bergvölkern kalt wie das Eis der Gipfel durch die Adern, und ihr Gemüt war von der Sturheit des Granitgesteins ihrer Heimat. Todesdrohungen ließen sie selten in einem Entschluss wanken. Er’ril wandte sich von dem Riesen ab.
Ni’lahn fing Er’rils Blick auf und beugte sich näher zu ihm. »Welche Art von Ungeheuer ist das?«
Seine Stimme war ein Flüstern, nur für die eigenen Ohren bestimmt. »Eines von Gul’gothas Schreckensgeschöpfen - ein Skal’tum.«
»Die Ssonne geht auf.« Das Skal’tum stakte durch den dumpfigen Kellerraum der Garnison auf Dismarum zu. Es schüttelte seine Flügel, so wie sich ein nasser Hund im Regen schüttelt. Das Klappern der lederartigen Knochen hallte laut durch den Raum. »Isst alless vorbereitet?«
Dismarum wich einen Schritt zurück. Der in der Zelle herrschende Gestank nach verfaultem Fleisch und Schmutz stieß ihn ebenso ab wie die bedrohliche Erscheinung des Skal’tums. »Rockenheim reitet durch die Lande. Er verbreitet die Kunde über das Mädchen überall in der Stadt. Man wird sie bald finden. Sie kann nur hierher kommen.«
»Wollen wir hoffen, dassss ess soo isst. Dass Sschwarze Herz hungert nach ihr. Enttäusch ess nicht noch einmal.«
Dismarum verbeugte sich leicht und ging rückwärts zur Tür. Er griff blindlings nach der Klinke und stieß die Tür auf. Das morgendliche Sonnenlicht, für seine schwachen Augen kaum wahrnehmbar, flutete die nahe liegende Treppe herunter und lugte durch die Türöffnung, um sich um ihn herum zu ergießen. Dismarum lächelte innerlich, als das Skal’tum vor dem Licht zurückwich. Im Gegensatz zu einigen der Gefolgsleute der Schwarzen Herren konnten diese Geschöpfe die brennende Sonne ohne tödlichen Schaden ertragen; trotzdem zogen es die Ungeheuer vor, ihrer warmen Berührung zu entgehen. Wenn sie für längere Zeit der Sonne ausgesetzt waren, verfärbte sich ihre durchsichtige Haut dunkel, was bei ihresgleichen als unkleidsam galt.
Der Seher hielt die Tür länger und weiter auf als nötig und jagte das Skal’tum in den hinteren Teil der Kammer, um die Gelegenheit zu nutzen, das Ungeheuer in der Mittagssonne zu quälen und zuzusehen, wie es sich krümmte und wand. Sein Hass auf das geflügelte Geschöpf war während all der Jahre nicht geringer geworden.
Endlich zischte das Ungeheuer wütend und trat auf Dismarum zu. Zufrieden darüber, dass er es so weit gebracht hatte, schlug Dismarum die Tür zu. Im Augenblick war das Geschöpf noch von Nutzen, aber wenn dem Seher die Möglichkeit gegeben würde… Er wusste sogar ein Skal’tum zum Heulen zu bringen.
Indem er sich mit der Hand an der feuchten Steinmauer entlang tastete, folgte er dem Gang zur Treppe. Fackeln beleuchteten die Stufen so deutlich, dass er grobe Umrisse erkennen konnte. Mithilfe seines Stabes mühte er sich die ausgetretenen Stufen hinauf. Beim Steigen schmerzten seine Knie vor Anstrengung. Er musste mehrmals stehen bleiben, um sich auszuruhen. Mit geschlossenen Augen und schwer atmend versuchte er sich zu erinnern, wie es war, jung zu sein: mit scharfen Augen zu sehen; ohne schmerzhafte Stiche in den Knochen gehen zu können. Es kam ihm so vor, als wäre er schon immer alt gewesen, ehrwürdig, aber gebrechlich. War er wirklich jemals jung gewesen?
Während einer dieser Pausen wäre ein Soldat, der die Treppe herunterkam, beinahe mit ihm zusammengeprallt. Der Mann drückte sich an die Wand, um ihm Platz zu machen. »Verzeihung, Herr.«
Dismarum bemerkte, dass der Mann einen Eimer mit Essen für die Gefangenen in den Kellerzellen trug. Der Gestank von ranzigem Fleisch und Schimmel entstieg ihm. Selbst seine schwachen Augen sahen die Maden, die sich in dem ekelhaften Fraß tummelten.
Offenbar entging dem jungen Soldaten nicht, dass der Seher vor Abscheu die Nase rümpfte. Er hob den Eimer und erklärte: »Zum Glück ist zurzeit nur ein Gefangener dort unten. Es würde mir widerstreben, noch mehr von solchem Dreck herumzutragen.«
Dismarum nickte unwillig und setzte seinen Weg die Treppe hinauf fort, wobei er sich schwer auf seinen Stock aus Poi’holz stützte. Er fragte sich, wer dem jungen Soldaten wohl diese Bestrafung auferlegt haben mochte. Es gab nur einen Insassen im Labyrinth der Zellen - das Skal’tum. Und es würde sich gewiss nicht mit den Abfällen in dem Eimer abspeisen lassen!
Er hörte, wie der Soldat pfiff, während er in die Eingeweide der Garnison hinabstieg. Dismarum ging weiter zum Hauptsaal. Als er zum nächsten Treppenabsatz kam, schallte der Schrei des jungen Soldaten von unten herauf, um gleich darauf jäh zu verstummen.
Dismarum seufzte. Vielleicht würde die Mahlzeit das Skal’tum in eine bessere Stimmung versetzen. Er legte den Rest der Stufen zurück, ohne noch einmal anzuhalten, indem er seinen unwilligen Gelenken keine Beachtung schenkte. Gerade jetzt wollte er einen möglichst großen Abstand zwischen sich und das Geschöpf da unten bringen.
Er stützte sich auf seinen Stab und schleppte sich in den Hauptsaal der Garnison. Die hohen Türen standen zum großen Innenhof hin offen; er war in morgendliches Sonnenlicht getaucht, Pferde und Wagen drängten sich und machten sich gegenseitig den Platz streitig. Soldaten eilten zwischen den klackenden Hufen und quietschenden Rädern umher. Das Klingen geschlagenen Eisens war aus der Schmiede auf der anderen Seite des Hofes zu hören.
Dismarum wandte der Tür den Rücken zu und schritt durch den Saal, wobei er mit seinem Stab auf den gefliesten Boden schlug. Um ihn herum liefen Soldaten geschäftig hin und her. Schwerter schlugen gegen Schenkel, und der Geruch von geölten Waffen stieg ihm in die Nase. Er bahnte sich unbehelligt seinen Weg durch das Gewirr. Kein Soldat wagte es, auch nur auf Armeslänge seiner in eine Robe gehüllten Gestalt nahe zu kommen. Als er die drei Türen durchschritt, die zu den Schlafunterkünften der Soldaten führten, bemerkte er die Reihen von leeren Feldbetten. Alle Männer waren im Dienst. An diesem Morgen strotzten die Straßen vor Gerüsteten und Bewaffneten.
Plötzlich rief eine vertraute Stimme ihm von hinten zu: »Dismarum! Warte, Alter!« Es war Rockenheim.
Dismarum drehte sich zu dem Mann um. Rockenheim hatte sich umgezogen; statt seiner versengten Reitkleidung trug er nun die Farben der Garnison, Rot und Schwarz. Seine auf Hochglanz polierten schwarzen Stiefel reichten bis zu den Knien, und seine rote Jacke war mit Messinghaken und -knöpfen verziert. Er hatte seinen Schnauzbart gewichst und sich endlich den Ruß aus dem Gesicht gewaschen, doch als er über den steingefliesten Boden heranstolzierte, roch Dismarums empfindliche Nase immer noch den Rauch an ihm.
Rockenheim blieb vor dem Seher stehen. »Es kann sein, dass wir zu viele Patrouillen draußen haben«, sagte er.
»Und warum das?« fragte Dismarum verunsichert; er fühlte sich immer noch sehr unbehaglich wegen des Skal’tums.
»Mit so viel Getue erschrecken wir den Jungen und das Mädchen vielleicht so sehr, dass sie aus der Stadt verschwinden.« Rockenheim deutete zur Tür. »Man kann keine zwei Schritte weit gehen, ohne auf einen Bewaffneten zu stoßen. Ich selbst hätte Angst, diese Stadt zu betreten.«
Der Seher nickte und rieb sich die Augen. Vielleicht hatte der törichte Kerl Recht. Wäre er nicht so erschöpft gewesen, wäre er vielleicht zu derselben Ansicht gelangt. »Was schlägst du vor?«
»Den Rückzug der Soldaten. Ich habe die Kunde verbreitet. Die Leute sind entbrannt. Sie übernehmen das Jagen für uns.«
Dismarum lehnte sich schwer auf seinen Stab. »Sie darf unserem Zugriff auf keinen Fall entkommen.«
»Sobald sie sich in der Stadt blicken lässt, wird sie geschnappt. Das Feuer und das Gerede über Dämonen haben die Stadtbewohner aufgeschreckt. Jede Straße wird von hundert Augen beobachtet.«
»Also Schluss mit dem Jagen.« Dismarum wandte sich ab. »Wir warten einfach, bis sie zu uns kommt.« Er humpelte über die Fliesen und stellte sich vor, wie das Skal’tum in der Trostlosigkeit der Zellen kauerte wie ein hungernder Hund, der auf seinen Knochen wartet. Der Gedanke, seine Gier auszunützen, um den Herrn, dem es diente, zu betrügen, entsprang dem Gehirn eines Wahnsinnigen.
Aber Dismarum wartete schon so lange.