5
Elena konnte nicht schlafen. Das Bettzeug scheuerte bei der kleinsten Bewegung an ihren Verbrennungen. Ihre Gedanken beschäftigten sich immer noch mit den erschreckenden Ereignissen in der Badekammer. So gern sie sich auch eingeredet hätte, dass sie an der Zerstörung des Raumes unschuldig war, wusste sie doch in ihrem Innern, dass es nicht so war. Auch diese Sorge hielt ihre Augen offen, hinderte sie am Einschlafen.
Was war geschehen?
Die Worte ihrer Mutter gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Vielleicht ist sie die Eine. In der Stimme ihrer Mutter hatte dabei eher Angst als Stolz mitgeklungen.
Elena zog die Hand zum hundertsten Mal unter der Bettdecke hervor und hielt sie hoch. In dem schwachen Licht wirkte der Fleck auf ihrer rechten Hand dunkler. Die Salbe, die ihr die Mutter auf die Arme gestrichen hatte, glitzerte im fahlen Mondschein, der durch die Vorhänge des Schlafzimmers hereinfiel. Der süße Geruch des Hexenhaselstrauchs ging von der Salbe aus. Hexenhaselstrauch. Die Luft, die sie atmete, drückte ihre Ängste aus.
Hexe.
Ihr Onkel Bol, ein nie versiegender Quell von alten Sagen und Märchen, hatte sie und ihren Bruder in ihren Schlafsäcken zum Zittern gebracht, wenn sie bei Jagdausflügen im Freien übernachteten und er sie mit Geschichten von Hexen, Og’ern und dem Feenvolk quälte - Geschöpfen sowohl des Lichts als auch der Finsternis, die der Fantasie und der Überlieferung entstammten. Sie erinnerte sich an den ernsten Zug um Onkel Bols Lippen und seine eindringlich blickenden Augen, angestrahlt vom Schein des Lagerfeuers, während er seine Geschichten vortrug. Anscheinend glaubte er selbst an seine Erzählungen, und er blinzelte dabei kein einziges Mal oder hob die Augenbrauen, um anzudeuten, dass er übertrieb. Der Ernst, mit dem er sprach, die tiefe, grollende Stimme - das war das Beunruhigendste an seinen Geschichten.
»Dies ist die wahre Geschichte unseres Landes«, pflegte er zu sagen, »eines Landes, das einst Alasea hieß. Es gab eine Zeit, da sprachen die Luft, das Land und das Meer zum Menschen. Die Tiere in der freien Natur waren den Zweibeinern ebenbürtig. Die bewaldeten Gebiete im fernen Westen - damals schon Westliche Marken genannt - brachten Geschöpfe hervor, die so ekelhaft waren, dass man bei ihrem Anblick zu Stein erstarrte, aber auch Geschöpfe von so wundervoller Art, dass man vor ihnen auf die Knie fiel, nur um sie zu berühren. Das war das Land Alasea, euer Land. Denkt immer daran, was ich euch erzähle. Es könnte euch das Leben retten.«
Und dann pflegte er bis spät in die Nacht hinein zu sprechen.
Elena bemühte sich, sich einige von Onkel Bols lustigeren Geschichten ins Gedächtnis zu rufen, um ihre Ängste zu verdrängen, ihr gepeinigtes Gehirn jedoch kehrte immer wieder zu den finsteren Geschichten zurück - zu Geschichten mit Hexen.
Elena rollte sich in ihrem schmalen Bett auf die Seite, die weiche Baumwolle rieb an ihren Beinen. Sie zog sich das Kopfkissen über den Kopf und versuchte auf diese Weise, die alten Geschichten und neuen Ängste zu verdrängen, aber es half nichts. Sie hörte trotzdem die Rufe einer Schleiereule von den Balken eines nahe gelegenen Schuppens. Sie nahm das Kissen wieder vom Gesicht und umklammerte es vor der Brust.
Die Schleiereule wiederholte ihren vorwurfsvoll klingenden Schrei, und einen Herzschlag später war das Schlagen schwerer Flügel vor ihrem Fenster zu hören, als die Eule ihren nächtlichen Raubzug begann. Mit dem Spitznamen Nadelschwanz versehen, verdiente sich die Eule ihre Logis dadurch, dass sie Mäuse und Ratten aus den Kornspeichern fern hielt. Nadelschwanz war beinahe so alt wie Elena; sie hauste zwischen den Balken der Scheune, seit Elena denken konnte, und begab sich jeden Abend zur selben Zeit auf die Jagd.
Obwohl der Vogel immer noch jagte, hatte das Alter das Sehvermögen des bedauernswerten Geschöpfs geschwächt. Um das Wohlergehen des Vogels besorgt, brachte Elena seit beinahe einem Jahr heimlich Küchenreste zu der alten Eule hinaus.
Elena lauschte, während Nadelschwanz an ihrem Fenster vorbeiflog; dieses vertraute Ritual spendete ihr etwas Trost. Sie stieß einen rasselnden Seufzer aus, um die Spannung in ihrem Körper zu lösen. Hier war sie zu Hause, hier war sie umgeben von einer Familie, die sie liebte. Morgen früh würde die Sonne scheinen, und genau wie bei Nadelschwanz würde ihr Alltag wieder beginnen. Alle diese absonderlichen Ereignisse würden allmählich in Vergessenheit geraten oder eine natürliche Erklärung finden. Sie schloss die Augen, da sie nun wusste, dass Schlaf an diesem Abend doch noch möglich war.
Als sie gerade im Begriff war, wegzudämmern, fing Nadelschwanz an zu schreien.
Elena richtete sich mit einem Ruck im Bett auf. Nadelschwanz schrie weiter. Es war kein herausfordernder Jagdschrei oder eine Warnung an mögliche Eindringlinge in ihr Revier, es war ein Heulen voller Qual und Angst. Elena rannte zum Fenster und zog die Vorhänge weit auf. Vielleicht hatte ein Fuchs oder eine Wildkatze den Vogel erwischt. Sie umklammerte voller Sorge ihren Hals, während sie mit den Augen das Hofgelände absuchte.
Der Pferdestall stand genau auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes. Sie hörte das Wiehern der Stute und des Hengstes. Auch sie hatten offenbar begriffen, dass das Schreien der Eule Grund zur Wachsamkeit war. Der Hof unter ihrem Fenster war leer. Nur ein Schubkarren und ein von Steinen stumpf gewordener Pflug, den ihr Vater instand setzte, standen auf der festgestampften Erde.
Elena schob ihr Fenster auf. Als sie sich hinauslehnte, flatterte ihr Nachthemd in der kalten Luft, doch sie merkte es kaum. Sie blinzelte und versuchte, irgendeine Bewegung in der Dunkelheit auszumachen. Da war nichts.
Nein! Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück. Ganz am Rand des leeren Schuppens, in dem die Schafe während der Zeit der Schur untergebracht waren, bewegte sich ein Schatten, Eine Gestalt… nein, zwei Gestalten traten aus der Dunkelheit unter den Zweigen der Obstbäume ins schwache Mondlicht, das den Hof schemenhaft zeigte. Ein Mann mit Kapuze und einem Krummstab und ein dünner Mann, der seinen gebückten Begleiter um einen Kopf überragte. Irgendwie wusste sie, dass dies keine verirrten Wanderer waren, sondern finstere, bedrohliche Wesen.
Plötzlich flog Nadelschwanz kreischend in den leeren Hof, gerade eben eine Handspanne über den Kopf des größeren der beiden Männer hinweg. Der Mann duckte sich leicht und hob erschreckt einen Arm. Der Vogel nahm keine Notiz von ihm und glitt über den freien Platz, in dramatischer Schräglage und mit etwas kämpfend, das er in den Krallen gefangen hielt. Elena empfand Erleichterung, weil Nadelschwanz unversehrt war.
Da machte die Eule im Fluge kehrt, drosch mit den Flügeln wild um sich und trudelte zu Boden. Elena hielt die Luft an, doch bevor der Vogel auf der Erde aufprallte, breitete Nadelschwanz die Flügel aus, bremste den Fall ab und segelte wieder nach oben - genau auf sie zu! Elena taumelte ein paar Schritte vom Fenster zurück, als der Vogel zum Fenstersims schwebte und dort hart landete, den Schnabel zu einem zornigen Schrei aufgerissen.
Zunächst dachte Elena, der Vogel habe eine Schlange gefangen, aber sie hatte noch nie eine so ekelhaft weiße Schlange gesehen; das Ding sah aus wie der Bauch eines toten Fischs. Es wand sich im Griff des Vogels. Nadelschwanz hatte offensichtlich große Mühe, das Geschöpf nicht loszulassen, und dem Schreien des Vogels nach zu urteilen, bereitete diese Mühe dem Vogel äußerste Pein. Warum lässt Nadelschwanz das abscheuliche Etwas nicht einfach fallen?, dachte sie. Warum trägt er es weiter mit sich herum?
Dann wusste Elena, warum. Sie sah, wie sich das wurmähnliche Ding tiefer in die Brust der Eule hineinbohrte. Nadelschwanz trug das Ding nicht, er versuchte vielmehr, sich davon zu befreien. Nadelschwanz versuchte mit wild arbeitenden Klauen zu verhindern, dass es sich noch tiefer in ihn hineingrub. Der Vogel verdrehte die großen gelben Augen in ihre Richtung, als ob er sie um Hilfe anflehte.
Elena rannte zu ihm hin. Nadelschwanz zitterte auf dem Fenstersims und versuchte, sich mit einer Klaue im Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig mit der anderen gegen das widerliche Geschöpf zu kämpfen. Sie streckte die Hand zu ihrem Freund aus, doch da war es schon zu spät. Die Schlange riss sich aus den Krallen der Eule los und bohrte sich vollends in den Vogelrumpf hinein. Nadelschwanz erstarrte, sein Schnabel klaffte in Todespein weit auf, dann fiel er nach hinten, tot; er stürzte vom Fenster in die Tiefe.
»Nein!« Elena tat einen Satz zum Fenster, lehnte sich auf den Sims, suchte nach Nadelschwanz. Unten entdeckte sie seinen zerbrochenen Körper, zerschmettert auf der festgestampften Erde des Hofes. Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Nadelschwanz!«
Plötzlich wogte der Boden unter seinem Körper wie Treibsand. Elena schrie schrill auf, als Hunderte von Schlangenungeheuern wie eine einzige Masse aus der Erde krochen und den Vogel verschluckten. Innerhalb von zwei Herzschlägen war von ihm nichts anderes mehr übrig als ein Häuflein von dünnen weichen Knochen und ein Schädel, dessen leere Augenhöhlen sie anstarrten. Die Knie wurden ihr weich, als die Würmer wieder im Erdboden verschwanden. Irgendwie wusste sie, dass sie im Verborgenen auf der Lauer lagen, immer noch gierig nach weiterem Fleisch.
Mit Tränen in den Augen spähte sie erneut zu den beiden Gestalten auf der anderen Seite des Hofes hinüber. Der mit der Kapuze, der seinen Stock wie eine Krücke benutzte, hinkte über den gespenstischen Hof, anscheinend ohne jede Spur von Angst vor den abscheulichen Wesen, die unter der Erde lauerten.
Dann blieb er stehen und hob das Gesicht zu Elenas Fenster. Zitternd sprang sie von der Öffnung zurück, plötzlich voller Entsetzen vor diesen Augen, die starr auf sie gerichtet waren. Die feinen Härchen in ihrem Nacken kitzelten bei dem Gespür von Gefahr.
Sie musste ihre Eltern warnen!
Elena rannte zu ihrer Schlafzimmertür und stieß sie auf.
Ihr Bruder war bereits im Flur. Joach rieb sich die verschlafenen Augen, er war nur mit Unterwäsche bekleidet. Er deutete auf den Hof. »Hast du das verfluchte Schreien gehört?«
»Ich muss Vater Bescheid sagen!« Sie packte ihren älteren Bruder am Arm und zog ihn zur Treppe, die ins Erdgeschoss hinunterführte.
»Warum denn?« fragte er widerwillig. »Ich bin sicher, sie haben es auch gehört. Das ist nur der alte Nadelschwanz, der sich mit einem Fuchs streitet. Er kann es mit zehn Füchsen aufnehmen. Ihm geschieht schon nichts.«
»Er ist tot.«
»Wie bitte? Was ist geschehen?«
»Da war etwas Böses. Ich… ich weiß es nicht.«
Elena zog Joach weiter die Treppe hinunter, voller Angst, ihren Bruder loszulassen; sie brauchte seine Berührung, um den Aufschrei in ihrer Brust zu unterdrücken. Sie rannte die Stufen hinunter und durch die Wohnstube zum Schlafraum ihrer Eltern. Im Haus herrschten Dunkelheit und Stille, die Luft war schwer wie vor einem Sommergewitter. Panik wogte in Elena auf, das Herz pochte ihr laut in den Ohren. Sie schob Joach zum Tisch. »Zünde eine Laterne an! Beeil dich!«
Er lief zur Zunderbüchse und befolgte ihren Befehl.
Sie hastete zur Schlafzimmertür ihrer Eltern. Gewöhnlich hätte sie vor dem Eintreten angeklopft, aber jetzt blieb keine Zeit für gutes Benehmen. Sie stürmte in dem Augenblick in den Raum, als Joach den geölten Docht entzündete. Licht schien auf und warf ihren Schatten auf das Bett ihrer Eltern.
Ihre Mutter, die schon immer den leichteren Schlaf gehabt hatte, wachte sofort auf, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. »Elena! Mein Liebling, was ist?«
Ihr Vater stemmte sich auf einen Ellenbogen hoch und blinzelte verschlafen ins Licht der Laterne. Er räusperte sich und sah sich verstört um.
Elena deutete zur Hintertür. »Da kommt jemand. Ich habe sie im Hof gesehen.«
Ihr Vater setzte sich aufrecht im Bett auf. »Wer?«
Die Mutter legte dem Vater eine Hand auf den Arm. »Bruxton, nimm nicht gleich das Schlimmste an. Vielleicht ist es jemand, der sich verirrt hat oder Hilfe braucht.«
Elena schüttelte den Kopf. »Nein, nein, sie führen Böses gegen uns im Schilde.«
»Woher willst du das wissen, Mädchen?« fragte der Vater und warf die Bettdecke zurück. Nur mit seiner wollenen Winterwäsche bekleidet, kletterte er aus dem Bett.
Joach trat in die Türöffnung, die Laterne in der Hand. »Sie sagt, Nadelschwanz ist tot.«
Tränen quollen Elena aus den Augen. »Es sind irgendwelche… Wesen. Schreckliche Geschöpfe.«
»Hör zu, Elena«, sagte ihr Vater streng. »Bist du sicher, dass du nicht nur geträumt hast?«
Plötzlich war von der Hintertür her lautes Klopfen zu hören.
Sofort erstarrten alle, dann sprach ihre Mutter. »Bruxton?«
»Hab keine Angst, Liebe«, wandte sich der Vater an die Mutter. »Ich bin sicher, es ist genau so, wie du gesagt hast. Jemand hat sich verirrt.« Doch die beschwichtigenden Worte ihres Vaters passten nicht zu seiner tief gefurchten Stirn. Er schlüpfte schnell in seine Hose.
Ihre Mutter glitt aus dem Bett und zog sich ein Kleid über. Sie durchquerte den Raum und umfing Elena mit einem Arm. »Dein Vater wird sich um die Sache kümmern.«
Joach folgte seinem Vater mit der Laterne, als dieser die Wohnstube durchquerte. Elena, die in einigem Abstand mit ihrer Mutter folgte, bemerkte, wie ihr Vater die Axt an sich nahm, die sie sonst dazu benutzten, Holzstämme zu Brennholz zu zerkleinern. Elena drückte sich fester an ihre Mutter.
Ihr Vater ging durch die Küche und näherte sich der Hintertür; Joach war neben ihm. Elena und ihre Mutter blieben beim Herd stehen.
Ihr Vater hielt die Axt mit einer Hand und brüllte durch die Eichentür hinaus: »Wer ist da?«
Die Stimme, die ihm antwortete, war hoch und gebieterisch. Irgendwie wusste Elena, dass es nicht die Gestalt mit der Kapuze war, die da sprach, sondern der andere Mann, der größere. »Auf Geheiß des Rates von Gul’gotha verlangen wir Zutritt zu diesem Haus. Eine Weigerung wird die Festnahme des gesamten Hausstandes nach sich ziehen.«
»Was wollt ihr?«
Dieselbe Stimme erklang wieder. »Wir haben Befehl, das Anwesen zu durchsuchen. Entriegelt die Tür.«
Ihr Vater warf der Mutter einen besorgten Blick zu. Elena schüttelte den Kopf und versuchte, den Vater zu warnen.
Er wandte sich wieder der Tür zu. »Es ist schon spät in der Nacht. Wie sollen wir wissen, ob ihr wirklich die seid, die ihr zu sein behauptet?«
Ein Blatt Papier wurde unter der Tür hereingeschoben, dem Vater vor die Füße. »Ich trage das Siegel des Prokurators der grafschaftlichen Garnison.« Ihr Vater wies Joach mit einer Handbewegung an, das Papier aufzuheben und ins Licht der Laterne zu halten. Von der anderen Seite des Raumes aus sah Elena das purpurne Siegel am Fuß des Schriftstücks.
Der Vater drehte sich um und flüsterte: »Es sieht offiziell aus. Joach, lass die Laterne hier, und bring Elena hinauf. Ihr beide verhaltet euch vollkommen still.«
Joach nickte, offensichtlich sehr beunruhigt; er wäre lieber geblieben. Aber wie immer tat er, wie sein Vater ihn geheißen hatte. Er stellte die Laterne an den Rand des Tisches und kam zu Elena. Ihre Mutter drückte sie noch einmal, dann schob sie sie zur Tür. »Pass auf deine Schwester auf, Joach. Und kommt auf keinen Fall herunter, bevor wir euch rufen.«
»Jawohl, Mutter.«
Elena zögerte. Das flackernde Licht der Laterne warf zuckende Schatten an die Wand. Es war nicht der Sprecher der beiden, der ihr Angst machte, sondern der andere, der Mann mit der Kapuze, der bis jetzt geschwiegen hatte. Sie hatte keine Worte für die kalte Übelkeit, die ihr Herz umklammerte, als sie sich an das Gesicht erinnerte, das versucht hatte, sie durchs Fenster zu erspähen. Also trat sie stattdessen noch einmal zu ihrer Mutter und umarmte sie lange und innig.
Ihre Mutter strich ihr liebevoll durchs Haar, dann schob sie sie weg. »Beeil dich, mein Liebling. Dies alles hat nichts mit dir zu tun. Du und Joach, ihr beide lauft jetzt schnell hinauf.« Die Mutter bemühte sich, ein tröstendes Lächeln zustande zu bringen, doch die Angst in ihren Augen machte die Bemühung zunichte.
Elena nickte und ging rückwärts zu ihrem Bruder; ihre Augen ruhten immer noch auf ihren Eltern in der Küche.
Joach sagte hinter ihr: »Komm, Schwesterchen.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter.
Sie erbebte unter seiner Berührung, ließ sich jedoch von ihm wegführen. Sie kehrten durch die Stube zurück zum dunklen Fuß der Treppe. Der Lichtschein der Laterne in der Küche fiel wie ein Leuchtfeuer durch das dunkle Haus und tauchte ihre Eltern in Helligkeit. Von der Treppe aus beobachtete Elena, wie ihr Vater sich abwandte und daranmachte, die Eisenstange zu heben, die die Tür gegen Einbrecher sicherte. Aber Elena wusste, dass jene Männer, die da draußen standen, viel schlimmer waren als Räuber und Banditen.
Diese Angst war der Grund, warum sie wie angewachsen am Fuß der Treppe stehen blieb. Joach zog sie am Arm und versuchte, sie hinaufzudrängen. »Elena, wir müssen gehen.«
»Nein«, flüsterte sie. »Sie können uns hier im Schatten nicht sehen.«
Joach stritt nicht mit ihr; offenbar wollte er selbst das weitere Geschehen beobachten. Er kniete sich neben seiner Schwester auf der ersten Stufe nieder. »Was meinst du, was die wollen?« flüsterte er ihr ins Ohr.
»Mich«, antwortete sie, ebenfalls flüsternd, ohne nachzudenken. Elena wusste anscheinend sehr genau, dass dies stimmte. Das Ganze war irgendwie ihre Schuld: die Veränderung an ihrer Hand, der verbrannte Apfel im Obsthain, die verwüstete Badekammer und jetzt dieser mitternächtliche Besuch. Es waren zu viele seltsame Ereignisse, als dass es sich um bloße Zufälle handeln konnte.
»Sieh nur!« flüsterte Joach.
Elena richtete den Blick auf ihren Vater, der gerade die Küchentür aufstieß. Er blockierte die Schwelle, die Axt immer noch in der Hand. Sie hörte die Stimmen.
Ihr Vater sprach als Erster. »Also, was soll diese nächtliche Störung?«
Der dünne Mann trat in die Türöffnung, jetzt im Schein des Laternenlichts. Er war nur um einige Fingerbreit kleiner als ihr Vater, aber bei weitem nicht so breit in der Brust, und ein kleiner Bauch wölbte sich unter einem zerrissenen, zerknitterten Hemd. Er trug einen Reitmantel und schlammverkrustete schwarze Stiefel. Selbst aus der Entfernung sah Elena, dass der Mantel von einem teuren Schneider stammte; ein solches Kleidungsstück war bestimmt nicht im Dorf gekauft worden. Er rieb sich den dünnen braunen Schnauzbart unter der schmalen Nase, dann antwortete er ihrem Vater: »Wir kommen in Sachen einer strafbaren Handlung. Eine deiner Töchter wird beschuldigt… nun, eine üble Tat begangen zu haben.«
»Und welche strafbare Handlung soll das sein?«
Der Sprecher warf einen Blick über die Schulter zurück und scharrte mit den Füßen, als ob er Unterstützung brauchte. Die zweite Gestalt erschien jetzt in der Türöffnung. Elena sah, wie ihr Vater einen Schritt zurückwich. Das Licht der Laterne zeigte eine Gestalt in einem tiefschwarzen Umhang mit einer dunklen Kapuze. Ein Stab steckte in der Erde daneben. Mit einer skelettartigen Hand hielt der Träger des Umhangs den Rand der Kapuze zwischen seinem Gesicht und dem Licht der Laterne fest, als blende ihn die Helligkeit. Seine Stimme kreischte vor Wut. »Wir suchen ein Kind« - er hielt die knochige Hand hoch - »mit einer blutbefleckten Hand.«
Der Mutter entfuhr ein scharfes Keuchen, das sie schnell abwürgte, doch das Gesicht des Alten wandte sich ihr zu, sodass das Laternenlicht jetzt in die Kapuze fiel. Elena unterdrückte ebenfalls ein entsetztes Japsen, als sich diese Augen ihrer Mutter zuwandten - es waren tote Augen, wie die trüben Augäpfel tot geborener Kälber, milchig weiß.
»Wir wissen nicht, wovon du redest«, sagte der Vater.
Der Kapuzenmann nahm seinen Stab wieder an sich und wich in den dunklen Hof zurück.
Nun sprach der Jüngere wieder. »Wir wollen nicht deine ganze Familie behelligen. Komm heraus, damit wir unter uns reden und diese Angelegenheit möglichst ohne großes Aufheben regeln können.« Er deutete eine Verbeugung an und streckte die Hand zum Innenhof des bäuerlichen Anwesens aus. »Komm, es ist schon spät, und wir alle können etwas Schlaf gebrauchen.«
Elena beobachtete, wie ihr Vater einen Schritt zur Tür hin machte, und wusste, was ihn im Hof erwarten würde. Sie erinnerte sich, wie Nadelschwanz von den Ungeheuern, die unter der Erde lauerten, zerrissen worden war. Sie sprang auf und wollte in die Küche laufen, doch Joach packte sie mit der Faust am Nachthemd und riss sie zurück.
»Was hast du vor?« zischte er ihr zu.
»Lass mich los!« Sie wollte sich Joach entwinden, aber er war viel stärker. »Ich muss Vater warnen.«
»Er hat uns befohlen, uns versteckt zu halten.«
Sie sah, wie ihr Vater zur Türöffnung trat. Oh, bei allen Göttern, nein! Sie riss sich aus Joachs Griff los und rannte zur Küche. Joach folgte ihr. Die drei Erwachsenen wandten sich ihr zu, als sie ins Licht der Laterne stürmte.
»Warte!« rief sie. Ihr Vater war an der Schwelle stehen geblieben, sein Gesicht rötete sich vor Zorn.
»Ich habe euch doch gesagt…«
Der jüngere der beiden Eindringlinge packte den Vater an der Schulter und schob ihn beiseite. Elena stieß einen lauten Schrei aus, als der Vater schwankte und die drei Stufen zu der festgetretenen Erde hinunterstürzte. Die Mutter griff den Mann mit einem Küchenmesser in der erhobenen Faust an. Aber ihre Mutter war zu alt und der Mann zu schnell; er umfasste das Handgelenk der Mutter und drehte es gewaltsam um.
Joach brüllte vor Wut, doch der Mann feixte und schob die Mutter durch die Tür; sie landete als zerknittertes Bündel neben dem Vater. Joach, aus dessen Mund Speichel flog, stürzte sich auf den Eindringling. Der Mann zückte eine Keule aus einer Innentasche seines Mantels und versetzte Joach einen Schlag seitlich gegen den Kopf. Der Bruder brach krachend auf dem Holzboden zusammen.
Elena erstarrte, als der Blick des Mannes sich auf sie richtete. Sie sah, wie seine Augen zu ihrer rechten Hand wanderten, die rot gefleckt war. Dann wurden seine Augen groß.
»Es ist wahr!« rief er aus und trat einen Schritt durch die Tür zurück. Er blickte hinaus zu dem Kapuzenmann, der im Hof geblieben war. »Sie ist hier!«
Ihr Vater hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt. Er beugte sich beschützend über seine Frau, während diese sich den linken Arm rieb und sich auf die Knie aufrichtete. »Rührt meine Tochter nicht an!« fauchte der Vater die Eindringlinge an.
Joach, dessen Stirn blutete, rollte sich auf die Füße und stand leicht schwankend zwischen Elena und der Tür.
Der Alte humpelte zu ihren Eltern. »Eure Tochter oder euer Leben«, quietschte er, und seine Stimme zischelte wie Schlangen in der Dunkelheit.
»Ihr werdet Elena nicht mitnehmen. Ich töte euch beide, wenn ihr es versucht.« Der Vater hielt dem Blick des Alten stand und bewahrte unbeirrt seine Haltung.
Die Gestalt in dem Kapuzengewand hob einfach nur den Stab und klopfte damit zweimal auf den Boden. Beim zweiten Schlag brach die Erde unter den Füßen ihrer Eltern eruptionsartig auf, und eine Staubwolke verhüllte ihre Eltern. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Elena ihren Vater schreien. Die Erde glättete sich wieder, und sie sah, dass ihre Mutter und ihr Vater von den weißen Würmern bedeckt waren, die Nadelschwanz angegriffen hatten. Blut rann überall an ihnen herab.
Elena schrie laut auf und fiel auf die Knie.
Ihr Vater drehte sich blitzschnell zur Tür um. »Joach!« schrie er. »Rette deine Schwester. Schne…« Weitere Worte wurden erstickt, als die Würmer ihm in den Mund und in den Hals krochen.
Joach eilte zu Elena zurück und zog sie hoch.
»Nein«, sagte er; seine Stimme war nur ein Flüstern. Dann wiederholte er lauter: »Nein!« Ihr Blut loderte auf wie Feuer. »Nein!« Ihr Sichtfeld färbte sich rot, und etwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie stand bebend auf, die Hände zu Fäusten geballt. Sie war sich der Anwesenheit Joachs, der mit weit aufgerissenen Augen von ihr zurücktaumelte, nur dumpf bewusst. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf den Hof gerichtet, auf ihre Eltern, die sich am aufgewühlten Boden wanden. Plötzlich stieß sie all ihre Wut in einem schrillen Schrei aus sich heraus.
Eine Mauer aus Feuer loderte auf und puffte in den Hof. Die beiden Männer taumelten aus dem Pfad der Flammen, ihre Eltern jedoch konnten sich nicht bewegen. Elena sah zu, wie die Flammen ihre Mutter und ihren Vater umfingen. Ihre Ohren, in denen es immer noch vor Energie summte, hörten, wie die Schreie ihrer Eltern jäh aufhörten, als ob eine Tür hinter ihnen zugeschlagen worden wäre.
Plötzlich packte Joach sie um die Mitte und zog sie aus der Küche in die dunkle Stube. Die Küchenwand brannte. Elena brach in seinen Armen zusammen, vollkommen erschöpft, nur noch eine schlaffe Lumpenpuppe. Joach kämpfte mit ihrem Körpergewicht, um sie aufrecht zu halten. Der Raum füllte sich mit Rauch.
»Elena«, hauchte Joach ihr eindringlich ins Ohr. »Ich brauche dich. Reiß dich zusammen!« Er hustete in dem öligen Rauch. Inzwischen hatte sich das Feuer bis zu den Vorhängen der Wohnstube ausgebreitet.
Sie strengte sich an, wieder einigermaßen fest auf den Beinen zu stehen. »Was habe ich getan?«
Joach sah sich zu den Flammen hinter ihm um, und Tränen schimmerten im Licht des Feuers auf seinen Wangen. Er richtete den Blick wieder nach vorn, suchend.
Rauch erstickte die Luft. Elena hustete.
Joach tat einen Schritt zur Vordertür, dann hielt er inne. »Nein. Damit rechnen sie. Wir brauchen einen anderen Fluchtweg.«
Plötzlich zog er sie zur Treppe. Elena spürte, wie ihre gefühllosen Gliedmaßen wieder wie von Nadelstichen prickelten. Sie bebte unter lautlosem Schluchzen. »Es ist alles meine Schuld.«
»Schnell, nach oben!«
Joach drängte sie zur Treppe, dann stieß er sie die Stufen hinauf. »Komm, los, El!« flüsterte er ihr beschwörend ins Ohr.
»Du hast gehört, was sie da unten gesprochen haben. Sie sind hinter dir her.«
Sie sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Ich weiß. Aber warum? Was habe ich denn getan?«
Joach wusste darauf keine Antwort. Er deutete auf die Tür zu seinem Zimmer. »Da hinein!«
Sie blickte zum Fenster am Ende des Gangs und schüttelte Joach von sich ab. »Ich habe nicht gesehen, was geschehen ist. Ich muss es sehen.« Sie wankte zum Fenster.
»Tu es nicht!«
Elena überhörte das eindringliche Flüstern ihres Bruders. Sie erreichte das Ende des Flurs. Das Fenster mit der dicken Scheibe ließ sich nicht öffnen, bot jedoch eine umfassende Aussicht auf den Hof. Sie legte die Stirn an das kalte Glas. Unten, nur ein paar Schritte von der Hintertür entfernt, beleuchtet von den Flammen, sah sie, was von ihrer Mutter und ihrem Vater übrig war. Rauch stieg in bauschigen Wolken auf.
Die verkohlten Knochen zweier Menschen, miteinander verschlungen, lagen auf der braunen Erde, zur Vorderseite des Hauses hin ausgerichtet.
Joach trat hinter sie und zog sie vom Fenster weg. »Du hast genug gesehen, Elena. Das Feuer breitet sich aus. Wir müssen uns beeilen.«
»Aber… Mutter und Vater…« Sie blickte zum Fenster.
»Wir werden später um sie trauern.« Joach führte sie zu seinem Zimmer. Er zog die Tür auf. »Heute Nacht geht es zuerst einmal um unser Überleben.« Seine nächsten Worte waren kalt wie Eis. »Morgen ist immer noch Zeit für Vergeltung.«
»Was hast du vor, Joach?« fragte sie, als sie den Raum betrat.
»Wir müssen fliehen.« Trotz des Dämmerlichts in dem Zimmer sah sie den entschlossenen Zug um seinen Mund. Wie konnte ihr Bruder so hart sein? Er hatte ein paar Tränen vergossen, das war alles. »Wir brauchen etwas Wärmeres zum Anziehen. Nimm meinen Wollmantel.« Ihr Bruder schlüpfte in seine Hose und zog sich die dicke Jacke an, die seine Mutter ihm im letzten Jahr zur Wintersonnenwende gestrickt hatte.
Sie erinnerte sich an den Abend jenes Feiertags, und erneut flossen die Tränen. »Los jetzt!« drängte Joach.
Sie nahm seinen langen Mantel vom Haken in seinem Schrank und schlüpfte in die dicke Wärme. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie kalt ihr war, bis sie die warme Wolle einhüllte.
Ihr Bruder stand am Fenster seines Zimmers. »El, wie gut ist dein Gleichgewicht?«
»Es wird besser. Warum?«
Er winkte sie zum Fenster. Es zeigte zur Seite des Hauses hinaus. Ein großer Walnussbaum breitete seine dicken Äste weit aus und streifte sowohl die Dachrinne des Hauses als auch das Dach des Pferdestalls. Ihr Bruder stieß das Fenster weit auf. »Tu, was ich tue«, sagte er und kletterte auf den Fenstersims.
Er lehnte sich hinaus, griff mit der Hand nach einem dicken Zweig und schwang sich hinauf auf einen dickeren Ast. Offensichtlich tat er das nicht zum ersten Mal. Er drehte sich um und winkte sie voran.
Sie kletterte auf den schmalen Sims. Ihre nackten Zehen klammerten sich an das Holz. Sie sah hinunter zum Erdboden tief unten. Wenn sie abstürzen würde, wäre ein Knochenbruch das geringste Unglück. Es war vielmehr die Gefahr, die unter der Erde lag, die sie auf dem Sims zum Schwanken brachte.
Ihr Bruder pfiff wie ein Singvogel, damit sie sich wieder ihm zuwandte. Sie lehnte sich aus dem Fenster und griff nach demselben Zweig, den er gepackt hatte. Joach half ihr, sich auf den dicken Ast neben ihm zu ziehen.
»Folge mir!« murmelte Joach mit gedämpfter Stimme, aus Angst, die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen. Sie hörte Stimmen an der Vorderseite des Hauses, gefolgt vom Klirren von Glas. Sie folgte ihm zwischen den Ästen des Baumes hindurch, ohne auf die kleineren Zweige zu achten, die ihr die Haut zerkratzten und an der Kleidung rissen.
Im Schutz der Zweige durchquerten sie den gefahrvollen Hof. Als sie zu den kleineren Ästen kamen, schwankten diese unter ihrem Gewicht. Joach deutete auf die offene Tür des Heubodens. »Mach es so!« Er bog einen geschmeidigen Ast zu sich herunter, hievte sich darauf und schnellte mit einem weiten Satz über den freien Platz zum Heuboden. Mit einem Purzelbaum landete er auf einem Heuhaufen. Sofort war er wieder auf den Beinen und an der Tür. »Schnell!« zischte er ihr zu.
Sie holte tief Luft und machte es ihm nach. Sie musste es tun! Und vielleicht wäre es ihr gelungen, wenn sich bei ihrem Sprung nicht ein Ast in einer ihrer Manteltaschen verfangen hätte. Der Mantel verhakte sich und drehte sie mitten in der Luft herum. Sie fuchtelte im Fallen mit den Armen und konnte einen Schrei nicht unterdrücken. Immer noch schreiend stieß sie gegen die Scheune direkt unter der Tür zum Heuboden.
Bevor sie abstürzen konnte, hatte Joach ihren Mantelkragen gepackt. Sie hing in dem Mantel an seinem Arm. »Ich schaffe es nicht, dich heraufzuziehen«, keuchte er atemlos. »Streck die Hand nach oben, und greif nach dem Rand! Schnell! Bestimmt haben sie dich schreien hören.«
Während ihr das Herz wie wild in den Ohren pochte, bemühte sie sich, den Rand der Öffnung zum Heuboden zu ergreifen. Nur mit den Fingerspitzen reichte sie bis zu der Holzkante. Aber das genügte. Indem sie sich mit den Fingerspitzen hochkrallte und Joach an dem Mantel zog, schafften sie es, sie auf den Heuboden zu hieven.
Beide waren von der Anstrengung außer Atem und japsten nach Luft, während sie sich durch das Heu zu der Leiter wühlten, die nach unten führte.
Elena zögerte auf der obersten Sprosse und deutete auf den aus Erde bestehenden Boden der Scheune. »Was ist, wenn die Würmer auch da unten sind?«
Joach deutete auf den Hengst und die Stute in ihren Boxen. »Sieh dir Spürnase und Nebelbraut an.« Die beiden Pferde, aufgeregt wegen der Unruhe, die Augen vor Angst weit aufgerissen und verdreht, waren noch am Leben. »Komm!« Ihr Bruder ging voraus und kletterte die Leiter hinunter.
Elena folgte ihm und zog sich beim Hinabklettern einen großen Splitter in die rechte Hand ein. Sie zog sich das Stück Holz aus der Handfläche und bemerkte dabei, dass der rote Fleck zu einem schwachen Rosa verblasst war, das sich kaum noch von der Farbe der anderen Hand unterschied.
Joach hatte die Flügel der Stalltür bereits weit aufgestoßen, und, beunruhigt durch den Rauch, schnaubten die beiden Pferde aufgeregt, als sie aus ihren Boxen traten. Der Bruder warf ihr Zügel und Zaum zu. Sie strich schnell über Nebelbrauts Hals, um sie zu beruhigen, und legte ihr Zaum und Zügel an. Sie hatten keine Zeit zum Satteln.
Joach sprang auf Spürnase und beugte sich zur Seite, um ihr beim Aufsteigen auf Nebelbrauts nackten Rücken zu helfen. Als beide saßen, durchquerte er den Stall zu der Tür an der hinteren Wand des Stalls und löste mit den Fußzehen den Riegel. Die Tür schwang auf und öffnete sich zum Rand des Obsthains. Joach hielt die Tür weit auf, um Nebelbraut das Hindurchgehen zu erleichtern.
Als Elena Nebelbraut hinausführte, betrachtete sie aufmerksam die dunkle Stelle zwischen dem Stall und den Bäumen. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, und die Luft war von dichtem Rauch erfüllt. In dem Augenblick, als sie Nebelbraut zu den Bäumen lenkte, leuchtete ein Licht hinter Joach auf. Elena ruckte im Sitzen herum und hielt die Luft an. Hinter ihrem Bruder, an der Ecke des Stalls, trat der Mann mit der Kapuze auf den freien Platz. Sein Gefährte hielt eine Laterne hoch.
»Elena, reite los!« Joach wandte sein Pferd um, den beiden Männern entgegen. »Ich halte sie auf.«
Elena missachtete seine Anweisung und sah zu, wie der Mann seinen gebogenen Stab hob und mit der Spitze auf den festgestampften Erdboden schlug. Durch die Wucht dieses Aufschlags hob sich der Boden um die beiden Männer herum, und kreisförmige Kräuselungen breiteten sich aus, wie die Wellen in einem Teich, wenn man einen Kieselstein ins Wasser wirft. Die brodelnde Erde raste auf Joach zu. Der Boden wimmelte von dicken, wurmartigen weißen Körpern. »Nein! Joach, weg!«
Joach sah, was da auf ihn zu eilte. Er riss an Spürnases Zügeln und drehte den Hals des Gauls herum. Spürnase wieherte vor Angst, sträubte sich einen Augenblick lang, dann tänzelte er im Kreis und floh mit großen Sprüngen vor den Verfolgern. Aber das Pferd bewegte sich zu langsam. Der sich nähernde Rand der bösartigen Woge verschluckte die Hinterläufe des Reittiers.
Vor Elenas Augen versank der hintere Teil des Pferdes in der Erde wie in einem Sumpf. Der Schlamm färbte sich rot von Blut. Spürnase bäumte sich auf und schrie vor Schmerzen, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Joach hielt die Zügel fest gespannt. Das Pferd brach am Boden zusammen. Die Hufe seiner Vorderläufe gruben sich tief in den festen Erdboden, während es versuchte, die hinteren Gliedmaßen herauszuziehen.
Joach drängte das Pferd zum Weiterlaufen, doch Elena wusste, dass es aussichtslos war. Die Räuber in der Erde konnten innerhalb weniger Herzschläge das Fleisch vom Knochen trennen. Elena trieb ihre Stute in schnellem Galopp zu den beiden in Not. Sie hielt kurz vor Spürnase an. Den einen Arm von den Zügeln umwickelt, musste Elena alle Kraft aufwenden, um Nebelbraut vor dem keuchenden, wild um sich blickenden Hengst zu halten. »Zu mir!« schrie sie ihrem Bruder zu.
Joach erkannte die Aussichtslosigkeit seiner Lage. »Kümmre dich nicht um mich! Reite los!«
»Nicht ohne dich!« Nebelbraut rutschte einen Schritt zurück. Die Woge, die vorübergehend zum Halten gekommen war, weil sich das gefräßige Gezücht an dem Pferd zu schaffen gemacht hatte, rollte jetzt auf sie zu. Spürnases Vorderläufe waren in der brodelnden Erde gefangen. »Spring!« rief sie ihrem Bruder zu.
Joach hielt die Zügel krampfhaft mit den Fäusten umklammert, in Unentschlossenheit erstarrt. Dann schüttelte er den Kopf und stieg auf den Rücken des sich gegen das Versinken anstemmenden Pferdes. Mit dreschenden Armen um Gleichgewicht ringend, sprang er von Spürnases Rücken ab und landete bäuchlings quer über Nebelbrauts Rumpf. Sein plötzliches Gewicht befeuerte die Beine des Pferdes. Nebelbraut raste los, wie von einer Peitsche geschlagen.
Elena ließ Nebelbraut rennen und lenkte sie nur gerade so viel, dass sie in Richtung des dunklen Obsthains steuerte. Mit dem anderen Arm war Elena angestrengt damit beschäftigt, ihren Bruder auf dem Pferderücken festzuhalten. Die drei stürmten in die Apfelplantage.