Kapitel 13
Vier von uns fehlen.
»Der Einweihungstag ist ein Tag voller Hoffnung. Heute werden Sie, unsere neuen Studenten, offiziell in den Studiengang Regierung aufgenommen.« Professorin Holt steht hinter einem kleinen Pult, das unter der Weide in der Nähe des Wohnheims unserer Fakultät aufgestellt worden ist. Ihre Haare hat sie aus dem Gesicht gestrichen. Ihre scharlachrot geschminkten Lippen sind jovial geschürzt, als sie sich an uns wendet, die wir hier versammelt und ihr anvertraut sind. Wir Erstsemester stehen ganz vorne. Hinter uns drängen sich unsere älteren Kommilitonen, um die Tatsache zu feiern, dass wir nun in ihre Reihen aufgenommen werden. Jedenfalls die meisten von uns. Rawson ist tot. Olive ist nach ihrer Flucht nicht wieder zum Campus zurückgekehrt. Genauso wenig Izzy, der es nicht gelungen ist, die Einweihung mit ihrem Team zusammen zu beenden. Dies sind die Verluste, von denen ich weiß. Aber ein weiterer Student, den ich zu sehen erwartet habe, ist ebenfalls nicht da. Es ist Vance – der blonde Junge, das vierte Mitglied aus Olives Gruppe –, der fehlt. Ein ganzes Team ist also verschwunden. Es gibt Gerüchte, wonach Olive, Izzy und Vance die Universität verlassen haben und nach Hause zurückgekehrt sind. Um ihretwillen hoffe ich, dass das stimmt.
»Der Prozess der Einweihung wurde von den Studenten des Abschlussjahrgangs gestaltet. Sie wollten zeigen, dass Sie sich nicht nur auf Ihre eigenen Fähigkeiten und Stärken verlassen können, sondern auch Vertrauen entwickeln und in der Lage sein müssen, mit anderen effektiv zusammenzuarbeiten, um auf dem Karriereweg erfolgreich zu sein, den Sie eingeschlagen haben. Man kann denjenigen keine Führungsrolle übertragen, bei denen man nicht darauf vertrauen kann, dass sie über die Auswirkungen ihrer Handlungen auf andere nachdenken.« Professorin Holt seufzt. »Leider sind nicht alle Studenten zur Zusammenarbeit mit anderen fähig, auch wenn sie bewiesen haben, dass sie für den Studiengang Regierung die intellektuellen Fähigkeiten mitbringen. Wir arbeiten hart daran, diese Studenten möglichst früh auf ihrem Karriereweg ausfindig zu machen, sodass man sie von der Universität abziehen und angemesseneren Berufszweigen zuführen kann. Deshalb werden nur zwölf der sechzehn, die ursprünglich an diese Fakultät geschickt wurden, nun auch ihre Studien aufnehmen. Wir hoffen, dass wir unser Urteil über die verbliebenen zwölf in Zukunft nicht werden revidieren müssen.«
Die Anfänger neben mir treten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die Drohung war unüberhörbar. Dann wird der ernste Gesichtsausdruck von Professorin Holt von einem breiten Lächeln abgelöst. »Ihre Berater haben die Armbänder eingesammelt und abgegeben, die Sie als Mitglieder des Einführungsprogramms der Universität ausgewiesen haben. Es ist mir eine Ehre, diese nun durch das Symbol zu ersetzen, dem Sie für den Rest Ihres Lebens dienen werden.«
Sie ruft uns einen nach dem anderen namentlich auf und bittet uns, nach vorne zu kommen. Griffin stolziert zu ihr. Damone strahlt. Auch die anderen zeigen ihren Stolz auf verschiedene Art und Weise, während sie ihren Arm ausstrecken, sodass Professorin Holt die dicken Metallbänder um ihre Handgelenke befestigen kann. Als ich an der Reihe bin, zwinge ich mich dazu, ebenfalls hocherfreut auszusehen, obwohl meine Nerven blank liegen, als Professorin Holt nach meiner Hand greift. Bei diesem Armband sind Gold und Silber ineinander verschlungen, und es fühlt sich kalt an, als es über meine Haut gleitet. Es gibt ein hörbares Klicken, als Professorin Holt die Schließe an meinem Handgelenk zudrückt. Wills Name wird aufgerufen, als ich gerade auf meinen Platz in der Reihe zurückkehre und meine neue Identifizierung genauer betrachte. Gold und Silber. Die Verbindung der beiden Materialien, die für die Einführungsphasen der Leute aus den Kolonien und aus Tosu-Stadt benutzt wurden. Nun sind die beiden Metalle zu einem Muster zusammengefügt, bei dem sich unmöglich erkennen lässt, wo der Verschluss des Bandes liegt. In der Mitte ist eine kleine, silberne Scheibe integriert, die mit Gold eingefasst ist. Darin ist ein Bild von zwei Waagschalen in vollkommenem Gleichgewicht eingraviert. Quer darüber, von der Spitze der Waagschalenhalterung bis nach ganz unten, ist ein Blitz zu sehen. Mein persönliches Symbol, kombiniert mit dem Sinnbild für Gerechtigkeit.
Nachdem auch Enzo sein Armband erhalten hat, gratuliert Professorin Holt uns allen, ehe ihre Miene wieder ernst wird. »Auch wenn heute ein freudiger Tag ist, möchte ich doch nicht vergessen, an das Leben von Rawson Fisk zu erinnern. Er war ein Student mit scharfem Verstand, einer großen Liebe zur Geschichte und dem leidenschaftlichen Wunsch, alles Nötige zu tun, um das Leben seiner Familie und seiner Kolonie zu verbessern. Er wird vermisst werden. Aber obwohl sein Tod entsetzlich ist, war er nicht sinnlos.« Professorin Holts Ton verändert sich. Jetzt klingt sie nicht mehr freundlich, sondern voll hitzigem Eifer. »Diese Tragödie zeigt besser als jede Lektion im Klassenzimmer, dass Anführer sich niemals von ihren Gefühlen überwältigen lassen dürfen. Sie müssen stets einen kühlen Kopf bewahren und ruhig und logisch handeln, wenn sie unserem Land erfolgreich zu einem Zustand verhelfen wollen, wie er vor den Sieben Stadien des Krieges geherrscht hat.«
Ich höre zustimmendes Gemurmel hinter mir.
»Wir werden eine Erinnerungstafel im Wohnheim aufhängen, die diese Warnung wachhalten und dafür sorgen soll, dass niemand Rawson Fisks Lektion vergessen wird. Niemand.«
Als Professorin Holt uns zu einer kleinen Feier ins Wohnheim bittet, schaue ich zum Spalt und der Brücke, die vor Kurzem noch verschwunden war.
»Hey, die Party findet drinnen statt.«
Langsam drehe ich mich um und sehe, dass Ian mich beobachtet. »Ich weiß. Ich wollte ein paar Minuten Zeit haben, um Rawsons zu gedenken, ehe ich hineingehe.«
Das stimmt, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. »Professorin Holt hat die anderen Fehlenden nicht mal erwähnt. Sind sie von der Uni abgezogen worden?«
Ian wirft einen raschen Blick über die Schulter zum Wohnheim. »Ich habe keine Ahnung.« Aber ich kann an der Traurigkeit in seinen Augen sehen, dass er es sehr wohl weiß.
Ich spiele mit den Fingern an dem Armband an meinem Handgelenk herum. »Dürfen wir die hier abmachen?«
»Dr. Barnes besteht darauf, dass die Studenten ihre Identifikationsbänder immer und überall umhaben.« Ein mutwilliger Ausdruck schleicht sich auf Ians Gesicht. »Dr. Barnes glaubt, das Armband verdeutlicht allen Menschen, mit denen man in Kontakt kommt, dass man eine zukünftige Führungspersönlichkeit des Commonwealth ist. Und was noch wichtiger ist: Indem man sein Symbol trägt, zeigt man, dass man den Weg akzeptiert, für den es steht.«
Das klingt alles nachvollziehbar, aber ich bezweifle, dass es mehr als nur ein Bruchteil des eigentlichen Grundes ist. Plötzlich wird mir ganz schlecht vor Angst. Das Armband der Auslese war mit einer Abhörvorrichtung ausgestattet. Als ich bei den Hühnerställen war, habe ich selber noch keines der Armbänder der eingeweihten Studenten getragen, aber Tomas hatte bereits eines um. Haben die Offiziellen unsere Unterhaltung mitgehört? Weiß Dr. Barnes, dass Tomas sich an seine Auslese erinnert? Weiß er, dass wir beide zwar durch Schuldgefühle und Zorn voneinander getrennt sind, dass uns aber der Wunsch vereint, den Prozess zu beenden, der uns hierhergebracht hat?
»Hast du was dagegen, wenn ich mir dein Armband mal ansehe?« Ian nimmt meinen Arm und tastet das Band mit den Fingern ab. »Ich hatte das Gefühl, dass das Design dieses Jahr ein bisschen anders aussieht. Schau mal …« Mit Zeigefinger und Daumen drückt er auf zwei Stellen am Armband, und schlagartig öffnet sich der Verschluss. »Dieses hier ist dicker und sieht ein bisschen schwerer aus.« Mit einem Nicken befestigt er das Armband wieder. »Die Offiziellen haben letztes Jahr darüber gesprochen, das Abhörgerät durch einen Peilsender zu ersetzen. Einer unserer Anfänger hat sich verlaufen, als er von seinem Praktikum zum Campus zurückwollte. Er hatte großes Glück, dass unser Sicherheitsdienst ihn in einem noch nicht revitalisierten Teil der Stadt aufgriffen hat, ehe wilde Tiere ihn aufgespürt hatten.«
Ein Peilsender. Das also ist in diesem Metallarmband versteckt. Da Ian mir diese Information freimütig mitteilt, muss ich wohl nicht davon ausgehen, dass jemand unser Gespräch aufzeichnet oder belauscht.
»Hey, wir sollten hineingehen, damit wir nicht die ganze Party verpassen. Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass du nicht mehr viel Zeit zum Feiern haben wirst, sobald in zwei Tagen die Kurse erst einmal losgegangen sind.« Ian dreht sich lächelnd zum Wohnheim um, und ich folge ihm.
Ich esse. Ich lache über Scherze. Und die ganze Zeit über spüre ich das Gewicht des Armbands und des Peilsenders darin an meinem Handgelenk. Die Party dauert bis spät in die Nacht hinein. Aber erst als die älteren Studenten sich langsam in ihre Betten zurückziehen, habe ich das Gefühl, ebenfalls in mein Zimmer gehen zu können, ohne mir von den anderen Kommentare anhören zu müssen. Ich brauche ein Dutzend Anläufe, bevor es mir gelingt, so wie Ian das Armband aufzumachen. Ich nehme es ab, lege es auf den Tisch und reibe mein Handgelenk, ehe ich mir die ineinander verschlungenen Metalle genauer ansehe. Dann krame ich mein Klappmesser aus der Tasche, halte das Armband ins Licht und fahre mit der dünnsten Klinge über die Rückseite der Silberscheibe. Zweimal rutsche ich ab und schneide mich, ehe ich die beinahe nicht zu erkennende Rille am Rande der Scheibe finde und den rückseitigen Deckel abhebele. Im Innern der Scheibe entdecke ich eine kleine Batterie und einen noch kleineren kupfernen Impulstransmitter.
Professorin Holt hat davon gesprochen, dass man Vertrauen haben muss. Und nun sehe ich vor mir den Beweis des Gegenteils. Ich schaue mir den Sender genauer an. Mein Vater hat niemals Aufspürgeräte eingesetzt, aber Hamin und Zeen haben damit herumexperimentiert, weil sie eine Methode gesucht haben, Nutztiere lokalisieren zu können. Die Machart dieses Peilsenders wirkt einfach: Ein Impuls wird vom Transmitter aus zu einem Empfänger geschickt, der den genauen Ort des ausgehenden Signals bestimmen kann. Die Größe und das schlichte Aussehen der Batterie und des Transmitters legen die Vermutung nahe, dass sie nicht besonders ausgereift sind und vermutlich nur dann Daten zum Empfangsgerät senden können, wenn sich dieses irgendwo in der Nähe befindet. Nach mehreren Versuchen hatten meine Brüder es geschafft, die Reichweite ihrer Transmitter so zu vergrößern, dass sie auch Empfänger erreichen konnten, die bis zu einer Meile entfernt waren. Ich bezweifle, dass dieses Gerät hier viel leistungsfähiger ist, aber ich bin mir natürlich nicht sicher. Ich muss einfach davon ausgehen, dass es mehr kann, als ich denke, und einen Weg finden zu verhindern, dass es meine sämtlichen Bewegungen weitergibt.
Da ich keine Ahnung habe, wie ich das bewerkstelligen soll, lege ich mich stattdessen ins Bett. Träume von Tomas, der Zandri ersticht, und Dr. Barnes, der mich aus einem Versteck zerrt und in den Abgrund stößt, quälen mich vom Einbruch der Dunkelheit an bis zum Morgengrauen. Als ich aufwache, ist mir immer noch keine schlaue Idee gekommen, wie ich die Übermittlung meiner Bewegungen beschränken kann, ohne dass Dr. Barnes mitbekommt, dass ich über diese Vorrichtung Bescheid weiß. Ich könnte den Transmitter entfernen und ihn in meinem Raum lassen, aber dann würden sich die Leute vielleicht wundern, warum sich das Signal überhaupt nicht bewegt. Der beste Einfall, der mir kommt, besteht darin, den Transmitter mit einer dünnen Metallschicht zu überziehen, die das Signal blockiert, und zu hoffen, dass diejenigen, die meine Bewegungen überwachen, davon ausgehen, dass mein Gerät defekt ist. Allerdings könnte das mehr Fragen aufwerfen, als ich beantworten möchte.
Ich schlinge mir das Armband wieder ums Handgelenk, lasse es einrasten und mache mich auf den Weg nach unten zum Frühstück. Da der Unterricht noch nicht begonnen hat, sind die Erstsemester noch immer in Feierlaune. Aber im Laufe des Tages bemerke ich, wie die Gesichter ernster werden. Aus gutem Grund. Wir haben zwar alle die Einweihung des Studiengangs Regierung überstanden, aber unsere Aufnahme garantiert uns noch keinen Erfolg. Nur unsere Arbeit in den Kursen wird dafür sorgen.
Auch am nächsten Morgen ist mir noch nicht eingefallen, wie ich den Transmitter in meinem Armband ausmanövrieren kann. Sollten irgendwelche Offiziellen allerdings heute meine Bewegungen überwachen, werden sie genau das sehen, was sie erwarten: eine Universitätsstudentin, die sich das erste Mal auf den Weg zu ihren Kursen macht. Die Aussicht, Anregungen zu bekommen und neue Dinge zu lernen, ist sehr verlockend, aber ebenso groß ist meine Furcht, den Ansprüchen, die Professorin Holt an mich stellt, nicht gerecht werden zu können. Während ich nervös an meinem Armband herumspiele, frage ich mich unwillkürlich, wie viele andere Erstsemester-Studenten aus den Kolonien ihre Einweihung überstanden haben. Wird Stacia in einem meiner Kurse sitzen, oder werden sich die zukünftigen Medizinstudenten an sie erinnern, weil sie durch sie eine wichtige Lektion gelernt haben?
Die Unterhaltungen am Frühstückstisch sind gedämpft, und ich bemerke, dass ich nicht die Einzige bin, die das Essen vor uns auf dem Tisch kaum anrührt. Ian fängt meinen Blick auf, als ich meinen Stuhl zurückschiebe und mir meine Tasche über die Schulter hänge. Er nickt mir zu. Ich nicke zurück und bin dankbar für seine moralische Unterstützung, auch wenn ich mir über seine Gründe dafür nicht im Klaren bin. Es wird Zeit für meinen ersten Kurs.
Weltgeschichte.
Vierzehn von uns sitzen im Klassenzimmer, als Professor Lee mit einem Stapel Papiere unter dem Arm eintritt. Er lässt ihn vorne auf einen großen, schwarzen Tisch fallen, auf dem sich bereits abgegriffene Bücher stapeln. Die einzigen Studenten, die ich in diesem Raum kenne, sind Enzo und ein breitschultriger Junge namens Brick, der wie ich aus den Kolonien stammt. Die anderen kommen aus Tosu-Stadt, und über sie weiß ich überhaupt nichts. Alle plaudern miteinander, nur Enzo würdigt sie keines Blickes. Er schaut erst dann auf, als Professor Lee damit fertig ist, seine Unterlagen zu sortieren, und sich an die Klasse wendet.
»Willkommen im Kurs Weltgeschichte. Um sicherzustellen, dass wir jene Fehler, die zu den Sieben Stadien des Krieges führten, nicht wiederholen, müssen wir diese Fehler der Vergangenheit zunächst verstehen lernen. In unserem Kurs werden Sie erfahren, wie die Welt vor den Kriegen aussah, und die Länder und Regierungen vorgestellt bekommen, die diese Welt dominierten. Jede Woche werden wir uns eine andere Epoche vornehmen. Von Ihnen wird erwartet, die Namen der Anführer zu kennen, Länder auf Karten zu identifizieren und das Für und Wider der Regierungsstrukturen in den einflussreichsten Ländern der jeweiligen Zeit erläutern zu können. Die besten Studenten dieses Kurses werde ich für ein besonderes Programm auswählen, in dem wir uns mit der augenblicklichen Weltlage beschäftigen und uns fragen, was sie für die Zukunft bedeutet.«
Die Aussicht darauf zu erfahren, wie sich die Welt jenseits der Grenzen des Vereinigten Commonwealth erholt hat, bringt mich dazu, mich aufrechter hinzusetzen und die Ohren zu spitzen. Und da bin ich nicht die Einzige. Der ganze Raum vibriert vor Aufregung – und noch etwas anderem. Neben der Hochstimmung ist auch eine untergründige Anspannung spürbar. Nur einige wenige von Professor Lee Handverlesene werden an diesem Teil des Kursprogramms teilnehmen. Schon wieder ein Wettstreit. Schon wieder ein Test.
Der Professor lächelt uns strahlend an und drückt auf einen Knopf an der Wand. »Na, dann wollen wir uns mal an die Arbeit machen, nicht wahr?«
Ein großer Bildschirm senkt sich, und darauf ist die Welt der Vergangenheit zu sehen. Während der nächsten Stunde schwirren die Namen von Ländern und Menschen, die bereits lange tot sind, durch den Raum. Von Regierungen, die durch Krieg oder Korruption ausgelöscht wurden. Von neuen Regimes, die deren Plätze einnahmen. Mein Bleistift jagt über das Blatt Papier vor mir, denn ich versuche, alles mitzuschreiben. Ich weiß, dass jedes Detail, das mir entgeht, den Unterschied zwischen Erfolg und Versagen bedeuten kann. Beinahe zwei Stunden später schmerzt meine Hand, als ich mir die Anweisungen für die Hausaufgabe notiere, ehe ich zu meinem nächsten Kurs haste. Enzo läuft neben mir her über den Campus zum Naturwissenschaftsgebäude IV.
Fortgeschrittene Mathematik.
Vic lächelt mich von einem Tisch in der Ecke aus an. Ein Junge namens Xander sitzt in der ersten Reihe und begrüßt mich mit einem Nicken. Dann beginnt der Unterricht. Gewöhnliche Differenzialgleichungen. Partielle Differenzialgleichungen. Bessel- und Legendre-Funktionen. Wir bekommen mehrere Seiten Hausaufgaben auf. Am Mittwoch werden wir einen Test schreiben, in dem überprüft wird, ob wir den Stoff verstanden haben.
Als der Unterricht vorbei ist, gehe ich schnell hinaus, um den vertrauten Gesichtern im Raum zu entkommen. Ich bin zwar dankbar, sie zu sehen, aber ich bezweifle, dass ich bereit dafür bin zu hören, was sie zu sagen haben. Werden sie mir erzählen, dass Stacia, die ich noch nicht wiedergetroffen habe, oder andere Mitglieder aus unserem Durchgang der Auslese die Einweihung nicht bestanden haben? Dass sie von der Universität abgezogen worden sind? Stattdessen suche ich mir einen kaum einzusehenden Platz draußen, um meinen mitgebrachten Apfel und ein Brötchen zu essen. Ich habe eine Stunde, um schon mal mit den Hausaufgaben anzufangen, ehe es mit dem nächsten Kurs weitergeht.
Geschichte des Vereinigten Commonwealth und Jura, gefolgt von Sprachen der Welt. Dann mein letzter Kurs an diesem Tag: Chemie. Wir diskutieren über Zustände, Eigenschaften von Lösungen, Reaktionsabläufe und atomare sowie molekulare Strukturen und bekommen dann eine Projektaufgabe zugeteilt. Und endlich bin ich mit meinem Kursprogramm für heute durch, aber natürlich ist mein Tag noch lange nicht zu Ende. Ich muss chemische Gleichungen lösen, einen Essay über die Gründungsdebatte der Commonwealth-Regierung schreiben und Karten auswendig lernen. Alles muss bis Mittwoch fertig sein, und meine Professoren morgen werden ebenfalls Hausaufgaben aufgeben. Ich weiß, dass Dr. Barnes uns beobachtet, um zu sehen, welche Studenten nicht hinterherkommen. Zu ihnen werde ich nicht gehören.
Der Speisesaal ist von Gelächter und Unterhaltungen erfüllt. Studenten tauschen sich über Hausaufgaben und Lehrer aus, und man bespricht die Neuigkeit, dass die Praktikumsplätze noch mindestens eine Woche lang nicht vergeben werden. Ich sage nichts, als ich mir Gemüse, etwas gewürztes Schweinefleisch und Kartoffelspalten, die mit Zwiebeln und Walnüssen gekocht wurden, auf meinen Teller lade. Ein Teil von mir ist froh und dankbar, dass ich in den nächsten sieben Tagen eine Sorge weniger am Hals habe. Der andere Teil von mir kann es kaum erwarten zu erfahren, ob ich nun einen Praktikumsplatz erhalte, der es mir erlaubt, Informationen für Michal und die Rebellen zusammenzutragen, oder nicht. Ich schiebe die Gedanken an das Praktikum beiseite, ignoriere Ian und dann Will, die mich zu sich winken, und eile nach oben in mein Zimmer, um beim Essen weiterzulernen.
Als ich in dieser Nacht endlich schlafe, gesellen sich Malachi und Zandri in meinen Träumen zu mir. Sie fragen mich die Namen der Länderhauptstädte ab, helfen mir bei chemischen Gleichungen und beharren darauf, dass das Ende meines Essays noch verbesserungsfähig ist.
Sie haben recht. Als ich aufwache, schreibe ich die letzte Seite neu, ehe ich mich für die Kurse des zweiten Tages anziehe.
Noch mehr Professoren. Noch mehr Hausaufgaben.
Elektrische und magnetische Physik. Aufstieg und Fall der Technologie. Kunst, Musik und Literatur. Biotechnologie.
Hier und da sehe ich bekannte Gesichter. Brick und Kit in Physik. Will, ein Mädchen namens Jul und ein Junge aus der Boulder-Kolonie namens Quincy in Kunst und Musik. Und endlich begegne ich auch Stacia – zusammen mit Vic und einem Mädchen aus Grand Forks namens Naomy – in Technologie. Alle sind hier. Alle tragen ihre Armbänder, die Dr. Barnes und seinen Offiziellen Aufschluss über jede unserer Bewegungen geben.
Die Nachricht von Rawsons Tod hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. In den Minuten vor und nach dem Unterricht sitzen wir zusammen und sprechen über den Verlust unseres Klassenkameraden. Ich hatte beinahe vergessen, dass Naomy und Rawson aus derselben Kolonie stammen. Doch Naomys rot geweinte Augen sprechen Bände über ihre Trauer und die Liebe, die sie seit ihrem zehnten Lebensjahr für Rawson empfunden hat. Auch wenn ich Naomy nie zu meinen engen Freunden zählen würde, habe ich Mitleid mit ihr. Während des Unterrichts bemerke ich, dass die Studenten aus Tosu-Stadt Zettelchen herumgeben. Nachrichten. Da Papier in Five Lakes so knapp ist, hätten unsere Lehrer dort ein solches Verhalten mit Extra-Aufgaben bestraft. Hier scheint man sich um Papier weniger Sorgen zu machen, heißt: Die Lehrer kümmern sich nicht darum. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum, dann reiße ich eine kleine Ecke vom Blatt vor mir ab, schreibe ein paar Worte darauf, mit denen ich Naomy frage, ob sie sich nach dem Abendessen mit mir zum Lernen treffen möchte, und schiebe das Zettelstück zu ihr. Das Lächeln, das sie mir zuwirft, als sie meine Nachricht liest, stimmt mich so fröhlich, wie ich schon seit Tagen nicht mehr war. Als Stacia mich fragend ansieht, reiße ich noch eine Ecke ab und schicke auch ihr ein Briefchen. Sie grinst, und ich fühle mich besser und nicht mehr so ausgeliefert. Einen Teil des heutigen Abends werde ich mit Freunden verbringen – wie auch immer sich das gestalten wird.
Ich merke, wie ich den ganzen Tag nach Tomas Ausschau halte. Als ich endlich seine vertrauten, grauen Augen sehe, die mich von einem Platz ganz hinten im Klassenzimmer der Biotechnologie beobachten, wird mir klar, dass ich nicht auf die Gefühle gefasst war, die jetzt auf mich einstürmen. Liebe. Schuldgefühle. Verlangen. Ungewissheit.
Mein Herz hämmert laut in meiner Brust, als ich mich auf den Stuhl neben Tomas sinken lasse. Ob ich es will oder nicht, mir fallen sofort seine blasse Haut und die dunklen Ringe unter seinen Augen auf, als seine Blicke die meinen suchen. Der Unterricht beginnt. Der Lehrer redet über Viskoelastizität, und die Finger meiner rechten Hand umklammern meinen Bleistift inzwischen so verkrampft, dass meine Schrift kaum lesbar ist. Ich versuche, das Ziehen in meinem Herzen zu ignorieren, und weiß dabei, dass in Tomas’ Herzen derselbe Schmerz sitzt angesichts der Vorstellung, dass wir uns vielleicht nie wieder in die Augen blicken werden, ohne Tod und Schuld in ihnen zu lesen.
Nach dem Ende des Kurses bleiben wir beide noch sitzen. Wir sagen nichts, sondern schauen zu, wie alle ihre Unterlagen in den Taschen verstauen und sich auf den Weg zur Tür machen. Ein paar Leute gucken beim Hinausgehen in unsere Richtung, aber keiner trödelt herum. Ich warte darauf, dass Tomas etwas sagt. Die Stille zwischen uns wird immer unangenehmer, je mehr Sekunden vergehen. In seinen Augen sehe ich Selbstvorwürfe und eine Müdigkeit, die mir Angst macht. Nun, da Tomas mir gegenüber seine Taten zugegeben hat, versinkt er in Schuldgefühlen. Und obwohl ich noch immer den Stich seines Verrats spüre, beginnt der Zorn, der sich seit seinem Geständnis in mir breitgemacht hat, zu verblassen und einer gewissen Angst Platz zu machen. Wenn Tomas nicht einen Weg findet, sich selbst Zandris Tod zu verzeihen, dann wird er an dem Gewicht der Schuld zugrunde gehen. Vor meinem geistigen Auge blitzt das Bild meiner Zimmerkameradin Ryme auf, die an einem gelben Seil baumelt. Ich will Tomas davon überzeugen, dass Zandris Tod ein Unfall war. Im Gegensatz zu so vielen anderen hat er sich nicht dafür entschieden zu töten. Aber ich kenne Tomas schon zu lange, um zu glauben, dass Worte helfen würden. Bis zu seinem Geständnis hat Tomas seine Schuldgefühle beiseitegeschoben, um mich zu beschützen. Er hatte ein Ziel. Nun braucht er ein neues.
Ich beuge mich vor und frage: »Hast du mit meinen Brüdern an dem Projekt zum Aufspüren von Vieh gearbeitet?«
Überraschte Neugier zeichnet sich auf Tomas’ Gesicht ab. »Mein Bruder hat die meiste Arbeit geleistet, aber ich habe ein paar Ideen beigesteuert. Wieso?«
Ich schaue mich im Klassenzimmer um. Da ich mir nicht sicher bin, ob uns nicht vielleicht jemand belauscht, greife ich mir meine Tasche und stehe auf. »Ich sollte mich beeilen, wenn ich rechtzeitig zum Abendessen zurück sein will. Begleitest du mich?«
Seite an Seite verlassen wir das Gebäude. Als wir weit genug von allen weg sind, sodass uns niemand hören kann, erzähle ich ihm von den Transmittern in unseren Armbändern und von meinem Wunsch, sie auszutricksen. Tomas stellt Fragen über Fragen, während wir zurück zu seinem Wohnheim laufen. Als wir dort ankommen, sehen seine Augen nicht mehr ganz so leer und trübe aus.
»Einige von uns treffen sich heute Abend in der Bibliothek, um zu lernen.« Ich streichele mit den Fingern über seine Hand. »Du könntest dich zu uns gesellen.«
Tomas hält seinen Blick auf unsere Hände gesenkt. Seine Finger drücken die meinen für einen kurzen Moment, dann nimmt er sie weg. »Es gibt ein paar Dinge, die ich erledigen muss.« Als er seinen Arm hebt, um dessen Handgelenk das Band mit dem Symbol der Biotechnologie befestigt ist, kehrt die Mischung von Entschlossenheit und Hoffnungslosigkeit auf sein Gesicht zurück.
Seine Lippen berühren zart meine Wange. Dann dreht Tomas sich um und geht davon, noch ehe ich irgendetwas sagen kann.
Die Stimmung beim Abendessen im Wohnheim ist unterschwellig angespannt. Mindestens ein halbes Dutzend Erstsemester beugen sich beim Essen über die Bücher. Die älteren Studenten scheinen weniger unter Druck zu sein, was mich zu dem Schluss führt, dass das Arbeitspensum für die Anfänger nicht nur dazu gedacht ist, unser Wissen zu erweitern, sondern auch, um zu prüfen, wie wir mit Stress und Widrigkeiten umgehen. Um zu verhindern, dass ich bei diesem Test versage, packe ich mir auch heute das Essen auf einen Teller und gehe damit hoch in mein Zimmer. Naomy und ich haben uns für sieben Uhr verabredet. Bis dahin will ich mich noch um andere Hausaufgaben kümmern.
Als ich noch zu jung war, um zur Schule zu gehen, habe ich meinen Brüdern immer dabei zugesehen, wie sie an unserem zerschrammten Küchentisch ihre Aufgaben erledigten. Ich sehnte mich nach dem Tag, an dem ich endlich neben ihnen sitzen würde, mit meiner Mutter immer in der Nähe, um uns zu helfen. Als es aber schließlich so weit war, fand ich es beinahe unmöglich, mich zu konzentrieren, solange meine Brüder neben mir saßen und herumalberten. Und so stand ich jeden Tag vom Tisch auf und breitete mich im Wohnzimmer auf dem Boden vor dem Kamin aus. Das ist der Grund, warum ich beim Betreten meines Zimmers den Schreibtisch ignoriere und stattdessen meine Tasche auf den Boden fallen lasse. Dann setze ich mich im Schneidersitz daneben und mache mich daran, meine partiellen Differenzialgleichungen zu lösen und schiebe mir ab und zu ein Stück Hähnchen und Karotten in den Mund.
Als jemand gegen meine Tür hämmert, bekomme ich einen Schreck. Ian wartet kaum ab, bis ich ihm aus dem Weg gegangen bin, sondern drängt sich an mir vorbei in den Raum und schließt hinter sich die Tür.
»Hast du gedacht, ich mache Witze, als ich sagte, dass Dr. Barnes dich beobachtet? Was machst du denn hier oben?«
»Ich arbeite. Du hast mir doch gesagt, ich darf in meinen Kursen nicht den Anschluss verlieren.«
»Und das habe ich auch so gemeint.« Ians Blick wandert über die Papiere und die Bücher, die auf dem Boden verstreut liegen, und er knetet seinen Nacken. »Aber du kannst dich nicht von uns anderen absondern. Vor allem nicht nach Rawsons Tod. Jeder im Wohnheim wird glauben, dein Verhalten zeige, dass du nicht mit Verlusten umgehen kannst oder dass du dich nicht in die Universität integrieren willst.«
Bei seinen Worten liegen meine Nerven blank. »Dann sag ihnen, dass ich neun Kurse habe, für die ich lernen muss.«
»Nein, denn dann werden sie Dr. Barnes melden, dass dir deine Arbeitsbelastung zu hoch ist. Glücklicherweise hat Raffe erzählt, dass du dich heute im Unterricht nicht gut gefühlt hast. Enzo hat das bestätigt, was das meiste Gerede unterbunden hat.« Er runzelt die Stirn. »Cia, es reicht nicht, gute Noten zu haben. Du musst dabei außerdem wie alle anderen wirken. Das bedeutet, dass du deine Mahlzeiten in der Mensa einnehmen und eine gewisse Zeit im Gemeinschaftsraum verbringen musst; und dabei musst du es so aussehen lassen, als ob du Spaß hättest.«
»Ich soll den Anschein erwecken, es sei gar kein Problem, neun Kurse zu bewältigen, ja?«
Ian nickt. »So machen das Anführer, genau.«
Ich schaue auf die verstreuten Blätter auf dem Fußboden. Hinter meinen Augen und in meiner Brust baut sich mehr und mehr Druck auf. Es ist erst der zweite Tag nach Kursbeginn, und schon spüre ich die Auswirkungen des Stresses. Aber ich muss nur an das Oberhaupt der Five-Lakes-Kolonie denken, um zu wissen, dass Ian recht hat. Obwohl die Belange der gesamten Kolonie auf den Schultern von Magistratin Owens ruhen, sieht sie niemals geschafft aus. Selbst wenn sie ein ernsthaftes Problem ansprechen muss, lässt sie es eher wie eine Knobelaufgabe klingen als wie eine Sache, bei der es um Leben und Tod geht. Mein Vater ist genauso. Ganz gleich, wie besorgt er wegen der Bodenverseuchung ist, die die Ernte bedroht, oder wegen der Art und Weise, wie nicht revitalisiertes Land auf die Bemühungen seiner Mitarbeiter reagiert – er lässt es sich niemals anmerken. Nicht in der Öffentlichkeit. Nur zu Hause haben seine Frustration und seine Sorgen Platz. Im gleichen Augenblick, in dem er aus der Tür hinaustritt, weiß er, dass die Leute beobachten, was er tut. Der Erfolg seines Teams macht den Unterschied zwischen Verhungern und Überleben aus.
»In Ordnung«, sage ich. »Morgen beim Frühstück und beim Abendessen bin ich unten.«
»Gut«, sagt Ian und lächelt. Dann nimmt er einen Papierstapel vom Stuhl und setzt sich. »Wenn die Praktika anfangen, erwartet niemand mehr, dich bei jeder Mahlzeit zu sehen. Da gibt es jederzeit unerwartete Aufgaben zu erledigen. Die kannst du dann vorschieben, wenn du allein sein möchtest, um zu lernen. Jetzt, wo ich schon mal da bin: Willst du, dass ich mir deine Aufgaben mal ansehe, die du morgen abgeben musst?«
»Warum?«, frage ich. Misstrauen kämpft mit Dankbarkeit. Hat Ians Angebot etwas mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun, oder steckt noch mehr dahinter? »Hat jemand angedeutet, dass ich Hilfe brauche?«
Ich suche in Ians Gesicht nach einer Antwort auf die Frage, was seine wahren Beweggründe sind. Bietet er mir Hilfe an, weil ich auch aus den Kolonien stamme? Ist er der Freund, von dem Michal gesprochen hat, als er mir sagte, er sei mit einer anderen Aufgabe betraut worden? Die Tatsache, dass mir Ian von dem Peilsender in meinem Armband erzählt hat, sagt mir, dass er auf meiner Seite steht. Aber ich weiß immer noch nicht, warum.
»Ein Freund hat mir gesagt, einer hübschen Lady bei den Hausaufgaben zu helfen wäre eine gute Möglichkeit, ihr Vertrauen zu erlangen. Es kann schwer sein zu entscheiden, wem man vertrauen kann.« Ian macht eine Pause. Mein Herz hämmert in meiner Brust, als ich versuche, zwischen den Worten herauszuhören, was er wirklich sagen will. »Dieser Freund vertraut mir, Cia. Und du kannst das auch.«
Wortlos strecke ich ihm meine Seiten entgegen. Dann versuche ich weiterzuarbeiten, während Ian über meinen Lösungen brütet. Er macht mich auf einen Fehler in meiner Matheaufgabe aufmerksam und gibt mir Hinweise, wie ich das Ende eines Aufsatzes noch verbessern kann, bis mir plötzlich auffällt, wie spät es geworden ist. Stacia und Naomy warten schon auf mich.
»Ich muss los.
»Wohin gehst du denn?«
»Ich will in die Bibliothek, bevor sie zumacht.«
Ians Augen werden schmal. »Solange du dich da nicht mit deinem Freund Tomas triffst …«
Tomas’ Name auf Ians Lippen macht mich sprachlos. Soweit ich weiß, haben sich die beiden nie getroffen. Ian seufzt. »Wenn du vorhast, ihn zu sehen: Lass es sein! Du tust ihm damit keinen Gefallen. Bis wir herausgefunden haben, warum dich Dr. Barnes auf dem Kieker hat, kannst du deinen Freund nur dann vor Dr. Barnes beschützen, wenn du dich von ihm fernhältst.«
Da Tomas meine Einladung für heute Abend ausgeschlagen hat, dürfte das kein Problem sein. Aber wenn wir gemeinsam den Aufspürer überlisten wollen, dann werden wir uns in Zukunft treffen müssen. Wir könnten uns an geheimen Orten verabreden, aber bis wir einen Weg gefunden haben, die Transmitter in unseren Armbändern auszutricksen, werden die verantwortlichen Leute wissen, dass wir zusammen sind – was Ian zufolge Tomas in Gefahr bringt.
Ich weiß, was Zeen tun würde. Mein Bruder würde seine Pläne nicht auf Eis legen. Er würde einfach nach einem Weg suchen, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, ohne diejenigen auf den Plan zu rufen, die ihn überwachen. Der Transit-Kommunikator in meiner Tasche ist ein perfektes Beispiel für seine Fähigkeit, vor aller Augen seinen eigenen Ideen zu folgen, und zwar in einer Weise, dass niemand merkt, was er da eigentlich tut. Vielleicht kann ich denselben Trick anwenden, um jede Diskussion zu vertuschen, die ich mit Tomas führen werde.
Ich schiebe die Unterlagen, die ich brauche, in meine Tasche, schlüpfe in meine Jacke und gehe die Treppe hinunter. Aus dem Tagesraum höre ich Stimmen. Ich bleibe in der Tür stehen und halte nach vertrauten Gesichtern Ausschau. Die meisten der anwesenden Studenten stammen aus den höheren Semestern. Aber hinten in der Ecke entdecke ich auch Raffe und Damone mit ein paar anderen Anfängern.
»Ich gehe in die Bibliothek, um an meiner Hausaufgabe für Technologie zu arbeiten«, sage ich, als erstaunte Blicke zu mir wandern. »Will einer von euch mitkommen?«
Die meisten lehnen, wie erwartet, ab. Doch zu meiner Überraschung steht Raffe auf, hängt sich seine Unitasche über die Schulter und sagt: »Da wollte ich auch gerade hin. Let’s go.«
Schweigend laufen wir zur Brücke. Raffes Schritte werden langsamer, als wir hinübergehen. Meine ebenfalls. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Raffe über das Geländer späht.
Als wir die Brücke hinter uns lassen, fragt er: »Gehen wir wirklich in die Bibliothek?«
»Wohin denn sonst?«
Er zuckt mit den Achseln. »Ich bin nur so froh, für eine Weile da rauszukommen. Griffin und Damone fangen an, mir auf die Nerven zu gehen.«
»Ich dachte, sie wären deine Freunde.«
Raffe bleibt stehen. »Nur weil wir alle aus Tosu-Stadt kommen, müssen wir noch lange nicht befreundet sein. Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber für mich ist Freundschaft immer ein Luxus gewesen, für den ich keine Zeit hatte. Ich war viel zu beschäftigt damit, die Konkurrenz auszustechen, um hierherkommen zu können.«
Ob ich will oder nicht: Ich grüble über Raffes Worte nach, als wir über den Campus laufen. Freundschaft ist etwas, das ich immer für selbstverständlich gehalten habe. In Five Lakes standen wir auch im Wettstreit um die besten Noten, aber wir haben alle viel dafür getan, gut miteinander auszukommen. Es ist unmöglich, mir vorzustellen, wie ich ohne die vertrauten Tuscheleien mit Daileen aufgewachsen wäre oder ohne Tomas’ liebevolles Verständnis. Sind die Menschen hier in Tosu-Stadt so anders, dass sie auf diese Art von Verbindungen keinen Wert legen? Aber vielleicht sucht Raffe auch nur nach einer Möglichkeit, meine Sympathie zu erringen, weil er darauf hofft, dass sie sich später als nützlich für ihn erweisen könnte.
Naomy und Stacia warten schon draußen vor der Bibliothek, als wir ankommen. Ich stelle sie Raffe vor. Wenn eine von beiden erstaunt darüber ist, dass ich einen Studenten mitbringe, der nicht aus den Kolonien stammt, dann lassen sie es sich nicht anmerken. Zu viert betreten wir die hell erleuchtete Bibliothek, suchen uns einen Tisch in der hintersten Ecke des Hauptraumes und machen uns an die Arbeit.
Mehrere der älteren Studenten und Professoren bemerken uns, aber niemand scheint überrascht zu sein oder sich durch die Gruppenarbeit gestört zu fühlen. Nichts könnte normaler sein als Studenten, die zusammenarbeiten, um Erfolg zu haben. Wenn ich Tomas überzeuge, sich uns anzuschließen, wird niemand zweimal darüber nachdenken, dass er nun auch dabei ist. Jedenfalls hoffe ich das.
Zwischen unseren Diskussionen darüber, wie viel Geschichte verloren ging, als die Computer-Netzwerke zerstört wurden, sprechen wir auch über uns selbst. Raffe erwähnt, dass er der jüngste Sohn des Direktors der Erziehungsbehörde beim Vereinigten Commonwealth ist. Von sieben Kindern der Familie sind sechs an der Universität angenommen worden. Naomy erzählt, dass sie große Familien beneidet. Ihre Eltern seien zwar stolz gewesen, dass sie für die Auslese ausgewählt wurde, aber sie hätten nicht verbergen können, wie traurig sie bei der Aussicht waren, von ihrem einzigen Kind Abschied nehmen zu müssen.
»Du konntest als Kind wenigstens in einem eigenen Bett schlafen«, sage ich. »Ich habe mir ein Schlafzimmer mit meinen vier Brüdern geteilt. Und alle vier schnarchen.«
Während wir Bücher holen und Informationen raussuchen, machen wir etwas noch viel Wichtigeres. Wir lachen. Es fühlt sich gut an. So normal. Fröhlich. Wie lange ist es her, dass ich irgendetwas davon gefühlt habe? Selbst Stacia, die für gewöhnlich reserviert ist, entspannt sich so, dass sie von ihrem kleinen Bruder Nate erzählt, der zu früh auf die Welt kam und deswegen langsamer lernt als seine Klassenkameraden. Sie fragt sich, wie es ihm nun wohl geht, wo sie nicht mehr da ist, um ihm bei seinen Schulaufgaben zu helfen und die anderen Kinder davon abzuhalten, ihn zu hänseln. »Dad und Mom haben nicht immer genug Zeit für ihn.«
Stacia schüttelt die Hand ab, die Raffe ihr auf die Schulter legt, und wechselt rasch das Thema. Dann bittet sie mich, ihr bei der Suche nach einem bestimmten Buch zu helfen. Wir beide steigen die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Mehrere Köpfe drehen sich zu uns um. Stacia sieht sich die Gesichter genau an, ehe sie mich an einem Regal mit Medizinbüchern vorbeiführt. Flüsternd erzählt sie von der Einweihung der Medizinstudenten, bei der die Erstsemester mithilfe eines medizinischen Fachbuchs die richtigen Behandlungen für ein Dutzend gewöhnlicher Krankheiten herausfinden sollten. Nachdem die Antworten abgegeben worden waren, wurde jeder Student in ein Behandlungszimmer geführt. Auf dem Tisch dort lagen zwölf Medikamente bereit, um an die Patienten ausgegeben zu werden, die nacheinander durch die Tür kamen. Die Medikamente im Innern des Bechers mit der richtigen Antwort waren ein Placebo. Bei den falschen Antworten war Gift im Becher.
»Die Studenten aus dem Abschlussjahr ließen uns zusehen, wie jeder Patient seine Medizin einnahm. Sie wollten prüfen, ob wir Vertrauen in unsere Diagnose haben und ob wir damit klarkommen, einen Patienten zu verlieren. Ich schätze, einige Leute können nur schwer damit leben, wenn sie einen Fehler gemacht haben, der jemand anderen sterben lässt. Jeder, der psychologisch nicht geeignet für das Medizinstudium ist oder mehr als zwei falsche Antworten gegeben hat, wurde abgezogen.«
Bittere Galle steigt in meiner Kehle auf. »Die Patienten sind doch aber nicht wirklich gestorben, oder?« Es dürfte für Dr. Barnes wohl kaum möglich sein, diese Verluste von Menschenleben zu erklären oder Offizielle zu finden, die sich freiwillig für diese Aufgabe hergeben.
Stacia zuckt mit den Achseln. »Der eine, den ich verloren habe, sah schon sehr tot aus, aber man hat mir verboten, ihn nach der Behandlung noch anzufassen. Also ist alles möglich.«
Stacia ist ehrgeizig, aber bisweilen auch sehr reserviert. Von allen Koloniestudenten war sie diejenige, die jeder Herausforderung, der wir gegenüberstanden, mit ruhiger Entschlossenheit begegnete. Aber die zu Fäusten geballten Hände und der bittere Zug um ihren Mund, wenn sie vom Sterben und von den drei Koloniestudenten spricht, die dem Direktor ihrer Fakultät zufolge von der Uni abgezogen und zur Arbeit in die Kolonien geschickt wurden, verraten eine Angst und Sorge, die sie nie zugeben würde. Aus irgendeinem Grund verstört es mich mehr, Stacia aus der Fassung gebracht zu sehen, als wenn sie weiterhin stoisch und gelassen geblieben wäre.
Das Deckenlicht fängt sich auf dem Armband an ihrem Handgelenk. In der Mitte sehe ich ein Symbol, das ich, wie ich mich erinnere, schon im Haus von Dr. Flint gesehen habe: eine Schlange, die sich um einen Stab windet. Dr. Flint hat ein solches Bild in seinem Behandlungszimmer hängen. Als ich ihn deswegen befragte, sagte er, dies sei ein uraltes Symbol für die Medizin. Allerdings hat diese Version hier im Gegensatz zu der bei Dr. Flint eine Art zweite zusammengerollte Schlange direkt darunter, die angriffsbereit aussieht. Nachdem ich Stacia über die Einweihung habe sprechen hören, kann ich nachvollziehen, warum dieses Symbol für sie ausgewählt wurde.
Schnell beantworte ich Stacias Fragen zu meinen Erfahrungen während der Einweihung, ehe ich ein Buch greife und wir wieder die Treppe zu den anderen hinuntersteigen.
Der Unterricht am nächsten Tag wird härter. Die Professoren sammeln unsere Hausaufgaben ein. Mehrere fragen uns ab, um einzuschätzen, wie gut wir die Grundlagen beherrschen. Andere verkünden, dass in der nächsten Woche Prüfungen für die fortgeschritteneren Themen anstünden.
Während der Kurse am Mittwoch gebe ich wieder Zettel herum. Tomas schreibe ich, dass er noch bis zur nächsten Woche warten soll, ehe er sich unserer Lerngruppe anschließt. Bis dahin, das hoffe ich zumindest, werden sich die Leute so daran gewöhnt haben, uns arbeiten zu sehen, dass niemand sich über einen Neuzugang wundern wird.
Am Abend treffe ich mich mit Stacia, Naomy, Raffe und Vic am selben Bibliothekstisch, an dem wir auch schon am Abend zuvor gesessen haben. Wir haben nicht alle dieselben Aufgaben zu erledigen, aber wir arbeiten trotzdem zusammen. Wir helfen uns, wenn einer eine Chemie-Gleichung nachgerechnet haben möchte oder wenn jemand benötigt wird, um einen Satz Korrektur zu lesen – genauso, wie ich es mit Tomas während unserer Einführungswochen gemacht habe.
Der Unterricht am Donnerstag läuft nach bekanntem Schema ab. Hausaufgaben werden eingesammelt. Wichtige Literatur wird vorgestellt, Grundlagen zur Zelltechnik und zu homogenen und heterogenen Stoffgemischen werden vermittelt. Man sagt uns, dass die Gebäude mit den Kursräumen während der nächsten Tage offen bleiben werden, sodass wir die Labors und das Versuchsmaterial in den Räumen nutzen können, um unsere Aufgaben abzuschließen. Das tue ich auch, vergesse aber darüber hinaus meine eigenen Projekte nicht: dass ich Michal versprochen habe, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen, und dass ich mich um das Armband an meinem Handgelenk kümmern will. Als ich an einer Hausaufgabe zu Impulsradios arbeite, glaube ich plötzlich zu wissen, was ich bezüglich des zweiten Projekts tun kann.
Am Montag zeichnen sich auf beinahe allen Gesichtern der Erstsemester die Anstrengungen der Arbeitsbelastung ab. Wir lesen zu viel. Schlafen zu wenig. Die Sorge, was es uns kosten würde, wenn wir versagen sollten, zeigt sich an den rot geränderten Augen und dem angespannten Lächeln der Anfänger. Ich habe damit begonnen, allein in meinem Zimmer Fitnessübungen zu machen, um meine Muskeln zu kräftigen, was zur Folge hat, dass es mir besser geht als vielen anderen. Trotzdem bin ich immer wieder gezwungen, ein Handtuch in kaltes Wasser zu tauchen und es mir über die Augen zu legen, damit man mir die Müdigkeit nicht ansieht nach den langen Nächten, in denen ich arbeite oder in meinen Träumen von verstörenden Bildern heimgesucht werde.
Nach jedem Traum schrecke ich hoch, sitze aufrecht in der Dunkelheit und versuche herauszufinden, ob der Geruch von Blut und das Geräusch von einer Kugel, die aus einem Gewehrlauf schießt, bloße Albträume sind oder vielleicht Erinnerungen an die Auslese, die sich tief in mein Unterbewusstsein eingebrannt haben. Wenn ich doch nur einen Weg finden könnte, um an sie heranzukommen.
Wieder schreibe ich im Unterricht Nachrichten, und unsere Lerngruppe wächst. Enzo schließt sich uns an. Ebenso Brick und ein Junge aus Tosu-Stadt namens Aram, der Biotechnologie studiert. Die Zuweisungen für Praktikumsplätze werden um eine weitere Woche hinausgeschoben. Die Anspannung wächst immer mehr.
Enzo hat angefangen, mich zu den Kursen zu begleiten. Er ist es, der bemerkt, dass Damone uns hinterherläuft. Als ich mich umdrehe, starrt Damone mich an. Am nächsten Tag verlassen Enzo und ich das Gebäude früher, aber Damone ist trotzdem schon da. Er beobachtet uns. Mir fällt auf, dass meine Tür voller Kratzer ist. Im Raum selber fehlt nichts. Es sind keine Kameras installiert. Aber ich komme nicht gegen das Gefühl an, dass jemand in mein Zimmer eingedrungen ist. Bevor ich schlafen gehe, schiebe ich einen Stuhl vor die Tür und liege lange wach; ich schrecke bei jedem Geräusch hoch und frage mich, ob Symons Rebellen einen Weg gefunden haben, die Auslese ohne Blutvergießen zu beenden, oder ob ein Krieg bevorsteht, während der Rest meiner Kommilitonen nichtsahnend in den Betten liegt und schläft.
Ich lasse Tomas eine Nachricht zukommen, in der ich ihn frage, ob er sich uns anschließen möchte, da ich eine Idee habe, die ich ihm mitteilen möchte. Als er in der Bibliothek zu uns an den Tisch kommt, an dem wir alle versammelt sind, sind seine Augenringe verblasst und haben einer Spur von Aufregung Platz gemacht.
Eine Weile arbeitet er schweigend neben mir. Als einige aus der Lerngruppe damit beginnen, gemeinsam Aufgaben durchzugehen, wendet Tomas sich mir zu und fragt: »Hast du die Aufgabe mit dem Transmitter schon fertig?«
Keiner am Tisch ist in unserem Kurs. Sie alle haben keine Ahnung, mit welcher Aufgabe wir beschäftigt sind. Also krame ich in meiner Tasche, ziehe eine Blatt Papier hervor und sage: »Ich habe ein paar Ideen aufgeschrieben.«
Während sich die Leute um uns herum über Physik und Literatur unterhalten, zeige ich Tomas meine Idee für einen externen Transmitter, der auf dieselbe Frequenz eingestellt sein müsste wie der in unseren Armbändern. Meiner Theorie nach würde der externe Transmitter für genug Interferenzen sorgen, sodass das Signal vom Gerät im Armband gestört werden würde. Wer auch immer uns am anderen Ende überwacht, würde das Problem für eine natürliche Signalstörung halten und nicht für eine Manipulation.
Tomas grinst, hilft mir dabei, mein Design zu perfektionieren, und schlägt vor, dass wir weitere externe Transmitter herstellen und auf dem Campus verteilen, sodass bei den Signalen der anderen Studenten dieselben technischen Störungen auftreten würden. Als wir es schließlich für diesen Abend genug sein lassen und unsere Bücher zusammenpacken, haben wir einen Plan fertig, mit dem sich etwas anfangen lässt. Kaum dass ich im Wohnheim zurück bin, begebe ich mich ins Labor und mache mich an die Arbeit. Im Materiallager des Labors suche ich mir verschiedene Drahtwiderstände, Batterien, Kondensatoren, Drähte, Spulen und Transistoren. Meine Augen sind müde und meine Finger verkrampft, als ich sechs Transmitter zusammengesetzt und ausprobiert habe. Jeder von ihnen ist fünf Zentimeter lang und zweieinhalb Zentimeter breit. Ich habe außerdem ein kleines Empfangsgerät mit einer anderen Frequenz gebaut, das anspringt, wenn ich einen kleinen Schalter an seinem Gegenstück betätige. Jetzt kann ich Tomas ein Signal zukommen lassen, wenn ich seine Hilfe brauche. Ich verstecke einen Störsender hinter einem Porträt im Tagesraum, in dem sich momentan niemand befindet, ehe ich nach oben gehe und ins Bett falle.
Zwischen den Kursen am nächsten Tag verstecke ich drei weitere Transmitter auf dem Campus. Als Tomas und ich uns über den Weg laufen, gebe ich ihm sein Empfangsgerät, einen Transmitter und einen kurzen Bericht, wo ich die übrigen Blocker versteckt habe. Beim Abendessen bekommen wir eine Mitteilung. Die Praktikumsplätze werden am Freitag vergeben werden.
Bei Tagesanbruch am Freitag werden die Erstsemester und unsere Berater aufgefordert, nach dem Frühstück im Versammlungsraum zusammenzukommen. Die meisten Studenten haben ihre beste Garderobe angezogen. Die Jungen tragen Jacketts, die Mädchen bunte Kleider. Ich habe keine schicken Klamotten zur Auslese mitgebracht, und so trage ich auch heute meine braue Hose, ein türkisfarbenes T-Shirt und meine schäbigen Stiefel. Anstatt mein Haar wie üblich zum Pferdeschwanz zu binden, bürste ich es, bis es glänzt, wie meine Mutter es bei mir getan hat, als ich noch klein war. Da ich heute nichts dagegen habe, dass die Offiziellen meine Bewegungen verfolgen, lasse ich meinen Störsender unter der Matratze versteckt, als ich nach unten gehe, um zu erfahren, welcher Praktikumsplatz mir zugeteilt wird.
Professorin Holt ist in Purpurrot gekleidet und steht neben dem Kamin. Ihre Lippen sind, passend zu ihrem Jumpsuit, geschminkt und zu einem Lächeln verzogen. »Heute beginnt einer der wichtigsten Abschnitte in Ihrer Ausbildung. Es reicht nicht aus, Prüfungsfragen richtig zu beantworten. Sie müssen auch in der Lage sein, gut mit anderen zusammenzuarbeiten und das Wissen, das Sie erlangt haben, auf Situationen im wirklichen Leben zu übertragen. Ihre Praktikumsplätze ermöglichen Ihnen wichtige Erfahrungen, die Ihnen dabei helfen werden, nach Ihrem Universitätsabschluss eine qualifizierte Führungspersönlichkeit zu werden.«
Ihre Blicke wandern durch den Raum. »Wir haben mit Ihren Beratern aus dem Abschlussjahr und Ihren Professoren gesprochen, und bedauerlicherweise befürchten wir, dass einige von Ihnen den Herausforderungen nicht gewachsen sein werden. Bei der Vergabe der Praktikumsplätze haben wir Ihre bisherigen akademischen Leistungen berücksichtigt. Einige von Ihnen werden über die Entscheidungen, die wir getroffen haben, enttäuscht sein, aber wir haben das Beste für Ihre Zukunft und die Zukunft des Vereinigten Commonwealth im Sinn. Denken Sie daran, dass wir diese Praktika zwar für essenziell wichtig für Ihre Ausbildung erachten, Ihre Studien in den Ausbildungsräumen jedoch nicht weniger. Wir werden uns nach Alternativen für diejenigen umsehen, die hinter einen akzeptablen Standard zurückfallen.«
Alternativen.
Abzug von der Universität.
Tod.
»Wenn Ihr Name aufgerufen wird, dann wird Ihr Berater aus dem Abschlussjahr Sie zu einem Vertreter der Regierungsabteilung bringen, für die Sie arbeiten werden. Ganz egal, welchem Praktikumsplatz Sie heute zugeordnet werden, Sie sollten stolz sein darauf, wie weit Sie gekommen sind und was Sie erreicht haben. Wir beginnen mit Juliet Janisson.«
Die dunkelhaarige Juliet steht von ihrem Platz in der Ecke auf, geht zu ihrem Berater Lazar hinüber und verschwindet mit ihm durch die Tür. Ich wische mir meine Handflächen an der Hose ab, während wir auf den nächsten Namen warten. Niemand sagt ein einziges Wort, während die Sekunden verstreichen. Mehrere Male fange ich Blicke von Griffin auf, der mich beobachtet. Er flüstert Damone etwas zu, und beide lächeln.
Ein Student nach dem anderen wird aufgerufen. Die Berater verlassen mit ihren Schützlingen den Raum und kehren später wieder zurück, um als Eskorte für den nächsten Studenten aus dem ersten Semester zur Verfügung zu stehen. Schließlich bleiben nur noch Professorin Holt und ich übrig.
Das Feuer knistert.
Die Decke über uns knackt.
Ich kämpfe darum, mich nicht unter dem eindringlichen Blick von Professorin Holt zu winden. Endlich bricht sie ihr Schweigen. »Ich bedaure, dass Sie bis zum Ende warten mussten, Malencia.«
»Irgendjemand muss die Letzte sein«, antworte ich und bin froh zu hören, dass meine Stimme nicht verrät, wie nervös ich bin.
Professorin Holt nickt. »Das stimmt, aber in Ihrem Fall war es eine bewusste Entscheidung. Gewisse Geschehnisse während Ihrer Einweihung haben Fragen aufgeworfen bezüglich der Art Ihrer Zukunft in dieser Institution.«
Mein Herz rutscht mir in die Hose, und meine Beine werden schwach. Ich bin dankbar, dass Professorin Holt keine Antwort von mir erwartet, denn ich bezweifle, dass ich auch nur ein einziges Wort hervorgebracht hätte; meine Kehle fühlt sich wie zugeschnürt an.
»Aufgrund außergewöhnlicher Aspekte mussten wir abwarten, bis die Offiziellen, die Interesse an Ihrem Fall bekundet haben, für ein Gespräch zur Verfügung stehen.« Sie schaut auf ihr Handgelenk und lächelt. »Und jetzt ist dieser Zeitpunkt gekommen. Bitte folgen Sie mir.«
Professorin Holt marschiert ohne einen Blick zurück zur Tür, und ich folge ihr. Ich sehe Ian an, der neben mir herläuft. Als er meine Hand nimmt und sie sehr fest drückt, bin ich überzeugt davon, dass ich in ernsthaften Schwierigkeiten stecke.
Ich werde über die Brücke geführt, wo ein schmaler, silberfarbener Gleiter im Sonnenlicht glänzt. Am liebsten würde ich so schnell und so weit, wie ich kann, davonlaufen, denn es gibt nur eine einzige Erklärung dafür, dass ein Gleiter hier ist: um mich von der Universität wegzubringen. Ich habe keine Ahnung, wohin, aber es kann nichts Gutes bedeuten. Trotz meines Reflexes, die Flucht ergreifen zu wollen, halte ich Ians Hand fest und warte auf die Überraschung, die Professorin Holt für mich vorgesehen hat.
Die Tür zur Passagierkabine öffnet sich, und Professorin Holt bedeutet mir einzusteigen. Ian lässt meine Hand los. Auf unsicheren Beinen gehe ich zum Gleiter. Nach einem letzten Blick zu Ian hole ich tief Luft, steige in die Kabine und sehe Dr. Barnes auf einem der weichen, grauen Sitze entlang der Wand. Er lächelt mich in üblicher Weise an.
»Bitte. Nehmen Sie doch Platz.«
Auch wenn sein Ton freundlich ist, verstehe ich die Worte als das, was sie sind: ein Befehl. Einer, den ich befolge.
»Ich entschuldige mich für den ungewöhnlichen Ort dieses Treffens. Wie Sie wissen, entscheiden Professorin Holt und ich an dieser wichtigen Stelle Ihrer Universitätskarriere über die Praktikumsplätze, und zwar so, wie wir meinen, dass sie am besten zu den gezeigten Fähigkeiten und Leistungen passen. In einem einzigen Fall jedoch wurden wir gebeten, diese Entscheidung jemand anderem zu übertragen.«
Hoffnung keimt in mir auf, als ich begreife, dass Dr. Barnes tatsächlich über einen Praktikumsplatz spricht.
Ich werde nicht von der Universität abgezogen.
»Und wer weist mir den Platz für mein Praktikum zu?«, frage ich.
»Ich tue das.«
Als ich mich umdrehe, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Im Eingang steht, in einem streng geschnittenen, blutroten Kleid, die Präsidentin des Vereinigten Commonwealth, Anneline Collindar.