Zwölftes Kapitel
In dem wir darauf stoßen, wie unendlich
mies und mickrig doch die Welt ist
Wir sprangen auf die Fähre, als sie gerade ablegte. Batisti stolperte mehr, als dass er sprang. Ich hatte ihn kräftig und gezielt vorwärts gestoßen. Er landete schwungvoll mitten in der Kabine. Einen Moment glaubte ich, er würde das Gleichgewicht verlieren und sich flachlegen, aber an einer Bank fing er sich. Er drehte sich um, sah mich an und setzte sich. Er nahm seine Mütze ab und wischte sich die Stirn.
»Die Itaker«, sagte ich und ging bezahlen.
Ich hatte sie entdeckt, als ich Batisti an der Anlegestelle an der Place aux Huiles traf. Sie folgten ihm in einigen Metern Abstand. Weiße Leinenhosen, geblümte Hemden, Sonnenbrillen und Umhängetasche. Wie Djamel gesagt hatte: Sie spielten Touristen. Ich erkannte sie sofort, neulich in der Bar de la Marine ha t ten sie hinter uns gesessen. Sie waren gleich nach Batisti gegangen. Batisti hatte sie am Hals. Wenn sie mir ins Panier-Viertel gefolgt waren, dann weil sie mich mit ihm gesehen hatten. So legte ich mir das zurecht. Es schien plausibel.
Die Itaker waren nicht mir auf den Fersen. Auch sonst war da niemand. Ich hatte mich vergewissert, bevor ich zu meiner Verabredung mit Batisti gegangen war. Als ich Marie-Lou verlassen hatte, ging ich die Rue Estelle hinunter, dann bog ich in die Rue Saint-Ferréol. Die große Fußgängerstraße Marseilles. All die großen Geschäfte lagen hier beisammen. Nouvelles-Galeries, Marks & Spencer, La Redoute, Virgin. Sie hatten die schönen Kinos der Sechzigerjahre verdrängt: Rialto, Rex, Pathé Palace. Keine Kneipe war übrig geblie -ben. Um sieben Uhr abends wurde es hier genauso trist wie auf der Canebière.
Ich war in den Fußgängerstrom getaucht. Spießbürger, Beamte, kleine und höhere Angestellte, Einwanderer, Arbeitslose, Junge, Alte ... Ab fünf Uhr abends zog ganz Marseille durch diese Straße. Ellenbogen an Ellenbogen, ohne jede Aggression. Marseille, wie es leibt und lebt. Erst an den äußeren Enden der Straße wurden die Risse wieder sichtbar. Auf der einen Seite die Canebiè re, die die innere Nord-Süd-Grenze der Stadt bildete. Und auf der anderen Seite die Place Félix-Baret, nur zwei Schritte von der Präfektur entfernt, wo immer ein Streifenwagen stand. Als Vorposten zu den gutbürgerlichen Vierteln. Die Bars dahinter, darunter die Bar Pierre, sind seit Jahrzehnten Haupttreffpunkt der Jeunesse dorée.
Unter den Augen der Bereitschaftspolizei überkam mich immer das Gefühl, in einer Stadt im Kriegszustand zu sein. Kaum waren die Grenzen überschritten, hagelte es feindliche Blicke und Angst oder Hass, je nachdem, ob einer Paul oder Ahmed hieß. Die falsche Visage zu haben, ist hier ein Delikt.
Ich war ziellos durch die Straße gegangen, ohne in die Schaufenster zu sehen. Ich ordnete meine Gedanken. Die Ereignisse zwischen Manus und Ugos Tod spulten sich vor meinem geistigen Auge ab. Auch wenn ich sie nicht verstand, konnte ich sie einordnen. Fürs Erste reichte mir das. Die jungen Leute, die durch die Straßen schlenderten, kamen mir schöner vor als zu meiner Zeit. An ihren Gesichtern konnte man die Himmelsrichtungen der Einwan -derung ablesen. Ihr Leben. Sie gingen selbstsicher ihrer Wege, stolz auf ihr gutes Aussehen. Die Mädchen hatten den verhaltenen Gang der Marseillerinnen angenommen und den frechen Blick, wenn ihnen jemand nachsah. Ich weiß nicht, wer einmal gesagt hat, sie seien Mutanten, aber es schien zu stimmen. Ich beneidete die jungen Männer von heute.
Statt die Rue Vacon bis zum Anlegeplatz der Fähre am Kai Rive-Neuve weiterzugehen, bog ich links ab, um in den unterirdischen Parkplatz des Cours d'Estienne d'Orves hinunterzusteigen. Ich hatte mir eine Zigarette angezündet und gewartet. Als Erstes tauchte eine Frau um die dreißig auf. Lachsfarbenes Leinenkostüm, rundlich, stark geschminkt. Als sie mich sah, wich sie zurück. Sie drückte ihre Handtasche an die Brust und entfernte sich sehr schnell auf der Suche nach ihrem Auto. Nach meiner Zigarette war ich wieder hinaufgegangen.
Baristi saß auf der Bank und wischte sich mit einem großen, weißen Taschentuch die Stirn. Er wirkte wie ein biederer, pensionierter Seemann, ein guter alter Marseiller. In seinem weißen Hemd, das noch immer über der blauen Leinenhose hing, Espadrilles an den Füßen und eine Seemannsmütze fest auf dem Kopf. Baristi sah den Kai in der Ferne verschwinden. Die beiden Itaker zögerten. Selbst wenn sie ein Taxi kriegten, was ein Wunder wäre, würden sie zu spät auf der anderen Seite des Hafens ankommen. Sie hatten uns verloren. Für den Moment.
Ich lehnte mich aus einem Fenster und kümmerte mich nicht um Batisti. Er sollte in seinem eigenen Saft schmoren während der Überfahrt. Ich mochte diese Überfahrt. Die Fahrrinne zwischen den beiden Festungen Saint-Nicolas und Saint-Jean, die den Eingang von Marseille bewachten, mit dem Gesicht zum Meer und nicht zur Canebière. So musste es sein: Marseille, das Tor zum Orient. Ferne. Abenteuer, Traum. Die Marseiller reisten nicht gern. Alle Welt hält sie für Seefahrer und Abenteurer, glaubt, dass jedermanns Vater oder Großvater mindestens einmal um die Welt gereist sei. Dabei waren sie höchstens bis Niolon oder Cap Croi sette gekommen. Für die Kinder aus bürgerlichen Familien war das Meer tabu. Der Hafen war gut für Geschäfte, aber das Meer war schmutzig. Von dort kam das Böse. Und die Pest. Sobald die warmen Tage kamen, zogen sie aufs Land. Nach Aix und Umgebung, in die Landhäuser. Das Meer überließ man den Armen.
Der Hafen war der Spielplatz unserer Kindheit. Zwischen den beiden Forts hatten wir schwimmen gelernt. Einmal hin und zurück, hieß es eines Tages. Um ein Mann zu sein. Und die Mädchen zu beeindrucken. Beim ersten Mal mussten Manu und Ugo mich raus -fischen. Ich wäre fast ertrunken und war völlig außer Atem.
»Du hast Angst.«
»Nein, ich krieg keine Luft mehr.« Luft kriegte ich schon. Aber ich hatte Angst.
Manu und Ugo waren nicht mehr da, um mir zu helfen. Sie waren untergegangen, und ich hatte sie nicht retten können. Ugo hatte nicht versucht, mich zu treffen. Lole war auch verschwunden. Ich war allein, und ich tauchte in den Morast. Aus Solidarität. Mit unserer zerbrochenen Jugend. Freundschaft duldet keine Schulden. Am Ende der Reise würde nur ich übrig sein. Wenn ich überhaupt ankam. Aber ein paar Illusionen hatte ich noch im Leben. Und einige zähe, alte Träume. Jetzt wusste ich, was leben heißt, glaube ich.
Wir näherten uns dem Kai. Batisti stand auf und ging auf die andere Seite der Fähre. Er war beunruhigt. Er warf mir einen Blick zu. Ich konnte nichts darin lesen, weder Angst noch Hass, noch Resignation. Nur kalte Gleichgültigkeit. Keine Spur von den Itakern an der Place de la Mairie. Batisti folgte mir schweigend. Wir gingen am Rathaus vorbei und stiegen die Rue de la Guirlande hinauf.
»Wo gehen wir hin?«, fragte er schließlich.
»An einen ruhigen Ort.«
An der Rue Caisserie gingen wir links. Wir standen vor Chez Félix. Auch ohne die Bedrohung der Itaker hatte ich ihn hierher bringen wollen. Ich nahm Batisti beim Arm, zwang ihn, sich umzudrehen, und zeigte auf den Bürgersteig. Trotz der Hitze bekam er eine Gänsehaut.
»Sieh genau hin! Da haben sie Manu niedergeschossen. Ich wette, du warst nicht dabei!«
Ich zerrte ihn in die Kneipe. Vier Alte spielten Karten und tranken Pfefferminzlimonade. Drinnen war es wesentlich kühler als draußen. Ich war seit Manus Tod nicht mehr hier gewesen. Aber Félix erwähnte es nicht. So, wie er mir die Hand schüttelte, freute er sich, mich wieder zu sehen.
»He, Céleste serviert immer noch ihr Aioli.«
»Ich komme mal wieder vorbei. Sag es ihr bitte.«
An Célestes Aioli kam nur Honorine heran. Der Stockfisch war genau richtig gewässert. Das ist selten. Die meisten weichen ihn zu stark ein, in nur zwei Wasserbädern. Mehrere Bäder sind besser. Einmal acht Stunden, dann dreimal zwei Stunden. Es empfiehlt sich auch, ihn mit Fenchel und Pfefferkörnern in siedendes Wasser zu tauchen. Céleste benutzte Olivenöl, um ihr Aioli »anzurühren«. Aus der Ölmühle von Rossi, in Mouriès. Zum Kochen oder für Salate verwendete sie andere Marken. Öle von Jacques Barles aus Éguilles, Henri Bellon aus Fontvieille oder Margier-Aubert aus Auriol. Ihre Salate schmeckten jedes Mal anders.
Bei Félix hatte Manu mit mir Verstecken gespielt. Seit ich ihm ins Gewissen geredet hatte, wich er mir aus. Er hatte übrigens eilig versucht, sich aus der Sache herauszuziehen. Vierzehn Tage bevor sie ihn umlegten, setzte er sich mir gegenüber an den Tisch. Freitag, Aioli-Tag. Wir gaben uns ein paar Runden Pastis aus, danach Rosé Saint-Cannat. Zwei Flaschen. Wir trafen uns auf eingefahrenen Wegen. Ohne Vorwürfe, nur verstimmt.
»So, wie die Dinge stehen, können wir alle drei nicht zurück.«
»Man kann immer erkennen, dass man auf dem falschen Dampfer ist.«
»Du spinnst! Es ist zu spät, Fabio. Wir haben zu lange gewartet. Wir sitzen zu tief drin. Bis zum Hals.«
»Sprich für dich!«
Er sah mich an. Seine Augen strahlten keine Bosheit aus. Nur müde Ironie. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten. Weil er Recht hatte. Was ich aus mir gemacht hatte, war kein Stück besser. »Okay«, sagte ich, »wir stecken bis zum Hals drin.«
Wir stießen mit dem Rest der zweiten Flasche an.
»Ich habe Lole etwas versprochen, vor langer Zeit. Es ist mir nie gelungen. Sie reich zu machen, sie von hier wegzubringen. Nach Sevilla oder irgendwo in die Gegend. Jetzt werde ich es tun. Ich bin an einem sicheren Ding dran. Diesmal klappts.«
»Geld ist nicht alles. Lole ist Liebe ...«
»Vergiss es! Sie hat auf Ugo gewartet. Ich habe auf sie gewartet. Mit der Zeit sind die Würfel gefallen. Für ...« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Lole und ich, unsere Liebe dämmert schon seit zehn Jahren so vor sich hin. Wir lieben uns ohne Leiden -schaft. Ugo hat sie geliebt. Dich auch.«
»Mich?«
»Wenn du dich nicht so angestellt hättest, wäre sie zu dir gekommen. Früher oder später. Mit oder ohne Ugo. Du bist solider. Und du hast Herz.«
»Heute vielleicht.«
»Immer schon. Von uns allen hast du am meisten gelitten. Deshalb, weil du Herz hast. Wenn mir was passiert, pass auf sie auf.« Er stand auf. »Ich glaube nicht, dass wir beide uns wieder sehen. Wir drehen uns im Kreis. Es gibt nichts mehr zu sagen.«
Und weg war er. Die Rechnung hatte er mir überlassen.
Ich nahm ein Bier. Batisti ein Glas Mandelmilch.
»Du magst Nutten, habe ich gehört. Das macht sich nicht gut. Bul-len, die zu Nutten gehen. Das haben wir dich spüren lassen. Punkt.«
»Du bist doch ein elender Schaumschläger, Batisti. Den richtigen Schläger habe ich erst vor einer Stunde getroffen. Farge, sein Auf -traggeber, ist seit heute Morgen in meinem Büro. Und glaub mir, wir reden nicht über Nutten. Sondern über Drogen. Und Waffen -besitz. In einem Appartement, das er im Bassens-Viertel gemietet hat.«
»Ah!«, sagte er lakonisch.
Wahrscheinlich wusste er schon davon. Farge, Mourrabed, meine Begegnung mit Toni. Erwartete darauf, dass ich mehr sagte. Wieder einmal saß er da, um mir die Würmer aus der Nase zu ziehen. Ich wusste es. Und ich wusste auch, wo ich ihn hinhaben wollte. Aber ich wollte nicht alle Karten auf einmal auf den Tisch legen. Nicht sofort.
»Warum kleben dir die Itaker an den Fersen?«
»Keine Ahnung.«
»Hör zu, Batisti, reden wir keine hundertsieben Jahre um den heißen Brel herum. Ich bin nicht hier, weil ich dich sympathisch finde. Wenn du redest, gewinne ich Zeit.«
»Du wirst dir eine Kugel einfangen.«
»Darüber denke ich später nach.«
Manu war der Kern des ganzen Durcheinanders. Nach seinem Tod hatte ich einige Informanten befragt. Hier und da in verschiedenen Lagern herumgehorcht. Nichts. Seltsam, niemandem der kleinste Hinweis zu Ohren gekommen, dass Manu liquidiert werden sollte. Ich hatte daraus geschlossen, dass ihn ein kleiner Gangster umgelegt hatte. Wegen irgendeinem bösen Streich aus der Vergangenheit. Etwas in der Art, ein dummer Zufall. Ich hatte mich damit zufrieden gegeben. Bis heute Mittag.
»Den Job bei Brunel, dem Rechtsanwalt, hat Manu sauber erledigt. Sauber. Wie es seine Art war, nehme ich an. Sogar noch besser, da er ja keinen Ärger riskierte. An jenem Abend habt ihr alle zusammen gefuttert. Im Restanques. Manu blieb keine Zeit, seine Kohle einzu -kassieren. Zwei Tage später war er tot.«
Während ich meinen Bericht schrieb, hatte ich Teile der Geschichte rekonstruiert. Die Ereignisse, aber nicht immer ihren Sinn. Ich hatte Lole über den berühmten Coup ausgefragt, von dem Manu gespro -chen hatte. Er erzählte in der Regel wenig. Aber diesmal sei alles gut gelaufen, hatte er ihr ausnahmsweise anvertraut. Ein wirklich gutes Geschäft. Er würde letztendlich das große Geld absahnen. In jener Nacht hatten sie sich Champagner gegönnt. Zur Feier des Tages. Der Job war ein Kinderspiel, den Tresor eines Rechtsanwalts am Boulevard Longchamp knacken und alle Dokumente darin ein -sacken. Der Rechtsanwalt war Eric Brunel . Zuccas Vertrauensmann.
Babette hatte mir diese Information gegeben, ich hatte sie angerufen, als mein Bericht fertig war. Wir hatten vereinbart, vor meinem Treffen mit Batisti nochmals zu telefonieren. Brunel wollte Zucca hereinlegen, und der Alte musste etwas geahnt haben. Er hatte Manu geschickt, um aufzuräumen. Irgendetwas in dieser Richtung. Zucca und die Poli-Brüder waren zwei verschiedene Welten. Und verschiedene Familien. Es war zu viel Geld im Spiel. Zucca konnte es sich nicht erlauben, sich hereinlegen zu lassen.
Ein Kollege in Rom hatte Babette erzählt, dass man in Neapel nicht besonders glücklich über Zuccas Tod war. Sie würden natürlich darüber hinwegkommen, wie immer. Aber einige dicke laufende Geschäfte bekamen doch einen kräftigen Dämpfer. Zucca war offen -sichtlich mitten in Verhandlungen mit zwei großen französischen Unternehmen. Das Waschen von Drogengeldern war ein notwen -diger Teil der wirtschaftlichen Wiederbelebung. Da waren Unter -nehmer und Politiker sich einig.
Ich packte vor Batisti aus, weil ich seine Reaktionen sehen wollte. Ein Schweigen, ein Lächeln, ein Wort - alles würde mir helfen, die Dinge zu kapieren. Batistis Rolle verstand ich noch immer nicht. Auch nicht, auf we l cher Seite er stand. Babette glaubte, er stehe Zucca näher als den Poli-Brüdern. Aber da war Simone. Einzige Gewissheit: Er hatte Ugo auf Zucca angesetzt. Diesen Faden ließ ich nicht los. Das war der rote Faden. Von Ugo zu Manu. Und irgendwo dazwischen kämpfte Leila mit den Monstern. Ich konnte immer noch nicht an sie denken, ohne ihre von Ameisen bedeckte Leiche vor mir zu sehen. Sogar ihr Lächeln hatten die Ameisen gefressen.
»Du bist gut informiert«, sagte Batisti, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich habe nichts anderes zu tun! Ich bin nur ein kleiner Bulle, wie du weißt. Deine Kumpel oder wer auch immer können mich ausra-dieren, ohne eine Lawine auszulösen. Und ich will nur fischen gehen. In Ruhe, ohne Ärger. Und ich habe es verdammt eilig, wieder fischen zu gehen!«
»Geh fischen. Niemand wird dich dort stören. Nicht mal, wenn du mit Huren schläfst. Das habe ich dir schon neulich zu verstehen gegeben.«
»Zu spät! Ich habe Albträume. Kapierst du das? Wenn ich nur daran denke, dass meine alten Freunde umgelegt wurden. Zugegeben, sie waren keine Heiligen ... « Ich holte tief Luft und sah Batisti fest in die Augen: »Aber die Kleine, die sie in den hinteren Räumen des Restanques vergewaltigt haben, hatte nichts damit zu tun. Du wirst sagen, sie war nur eine Araberin. Für dich und die von deiner Sorte zählt das nicht. Das ist wie mit den Negern, diese Tiere haben keine Seele. Nicht wahr, Batisti!«
Ich hatte meine Stimme erhoben. Am Tisch hinter uns blieben die Spielkarten für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft hängen. Félix sah von seinem Comic auf, den er gerade las. Ein alter, vergilbter Pieds Nickelés. Er sammelte sie. Ich bestellte noch einen Halben.
»Trumpf«, sagte einer der kleinen Alten.
Und das Leben ging wieder seinen Gang.
Batisti hatte verstanden, aber er ließ sich nichts anmerken. Er hatte ein halbes Leben an Mauscheleien und Intrigen hinter sich. Er wollte aufstehen. Energisch legte ich meine Hand auf seinen Arm. Ein Anruf von ihm genügte, und Fabio Montale würde seinen Abend im Rinnstein beenden. Wie Manu. Wie Ugo. Aber ich war zu wütend, um mich von meinem Kurs abbringen zu lassen. Ich hatte fast alle Karten auf den Tisch gelegt, aber einen Trumpf hielt ich noch in der Hand.
»Nicht so eilig. Ich bin noch nicht fertig.«
Er zuckte die Schultern. Félix stellte den Halben vor mich hin. Sein Blick wanderte zwischen Baristi und mir hin und her. Félix war nicht bösartig. Aber hätte ich gesagt: »Wenn Manu erschossen wurde, dann wegen diesem Schweinehund hier«, hätte er ihm, Alter hin, Alter her, eine dicke Lippe verpasst. Leider ließen sich Ba tistis Rechnungen nicht mit Ohrfeigen begleichen.
»Ich höre.« Der Ton war schneidend. Ich fing an, ihm auf die Nerven zu gehen, und genau das wollte ich. Ihn aus der Ruhe bringen.
»Von den beiden Itakern hast du, glaube ich, nichts zu befürchten. Die Neapolitaner suchen einen Nachfolger für Zucca. Sie haben mit dir Verbindung aufgenommen, denke ich. Du stehst noch immer im Adressbuch der Mafia. Rubrik: Ratgeber. Vielleicht haben sie dich sogar schon ausgesucht.« Ich beobachtete seine Reaktion. »Oder Brunel . Oder Émile Poli. Oder deine Tochter.«
Seine Mundwinkel zuckten leicht. Zweimal. Aha. Ich schien der Wahrheit näher zu kommen.
»Du bist ja vollkommen verrückt! Dir so was auszudenken.«
»Ganz und gar nicht! Das weißt du sehr gut! Nicht verrückt. Aber vielleicht hab ich ein Brett vor dem Kopf. Ich kapier rein gar nichts. Warum du Zucca hast von Ugo umlegen lassen. Wie das alles or -ganisiert werden konnte. Die Aktion von Ugo, kaum dass er in Marseille war. Warum dein Kumpel Morvan ihm nach dem Job aufgelauert hat. Was für ein faules Spiel du dabei spielst. Keine Ahnung. Und noch weniger, warum Manu sterben musste und durch wen. Ich habe nichts gegen dich in der Hand. So wenig wie gegen die anderen. Bleibt Simone. Die werde ich mir mal vornehmen.«
Ich war sicher, ins Schwarze getroffen zu haben. Seine Augen sprühten elektrische Funken. Er rang seine Hände, dass die Gelenke knackten.
»Rühr sie nicht an! Ich hab nur sie!«
»Ich habe auch nur sie. An ihr kann ich mich festbeißen. Loubet ist an der Sache mit der Kleinen dran. Du siehst, Batisti: Ich habe alles im Griff. Toni, seine Waffe, den Ort. Ich schiebe Loubet das alles zu, und eine Stunde später hat er Simone. Die Vergewaltigung hat bei ihr stattgefunden. Das Restanques gehört ihr, nicht wahr?«
Das war Babettes brandheiße Information in letzter Minute. Natür-lich hatte ich keinen Beweis für all das, was ich vorbrachte. Aber das machte nichts. Batisti wusste es nicht. Das Gespräch nahm für ihn eine unerwartete Wendung. Ich führte ihn auf offenes Gelände.
»Ihre Heirat mit Emile war ein Fehler. Aber die Kinder können ja nicht hören. Die Poli-Brüder konnte ich noch nie leiden.«
Die frische Brise war verschwunden. Ich hätte mich am liebsten aus dem Staub gemacht, mit meinem Boot mitten aufs Meer. Meer und Ruhe. Mir war die ganze Menschheit zuwider. All diese Geschichten zeigten wieder einmal, wie unendlich mies und mickrig diese Welt war. In größerem Maßstab wurden daraus Kriege, Massaker, Völkermorde, Fanatismus und Diktaturen. Als hätte man schon dem ersten Menschen, der zur Welt kam, so übel mitgespielt, dass er voller Hass war. Wenn es einen Gott gibt, sind wir alle Hurenkinder.
»Durch sie haben sie dich in der Hand, stimmts?«
»Zucca war jahrelang ihr Buchhalter. Mit Zahlen konnte er besser umgehen als mit dem Schießeisen. Der Krieg der Clans, Angriff und Vergeltung, das war nicht sein Ding. Aber er hat die Punkte gezählt. Die Mafia suchte eine Vertretung in Marseille und hat ihn als Mittelsmann ausgesucht. Er hat sein Schiff gut geführt. Wie ein Wirtschaftskapitän. Das war er die letzten Jahre. Ein Geschäfts -mann. Wenn du wüßtest ...«
»Das will ich gar nicht wissen. Es interessiert mich nicht. Ich bin sicher, es ist zum Kotzen.«
»Man konnte besser mit ihm arbeiten als mit den Poli-Brüdern, verstehst du. Die sind nur Handwerker. Ihnen fehlt der Weitblick. Ich glaube, Zucca hätte sie früher oder später eliminiert. Sie wurden zu unbequem. Besonders seit sie unter Morvans und Weplers Ein -fluss standen.«
»Sie wollen Marseille säubern. Träumen davon, die ganze Stadt abzufackeln. Ein großes Inferno, ausgehend von den nördlichen Vierteln. Meuten junger Leute beim Plündern. Wepler kümmert sich darum. Sie stützen sich auf die Dealer und ihre Netze. Sie sollen Druck auf die Jungen ausüben. Wie es scheint, sind sie zu allem bereit.«
Gewalt auf der einen Seite. Angst und Rassismus am anderen Ende. Damit wollen sie ihre faschistischen Kumpel ins Rathaus bringen. Sie selbst bleiben im Hintergrund. Wie zu Zeiten Sabianis, des allmächtigen Beraters des Bürgermeisters und Freundes von Carbone und Spirito, den beiden großen Gangsterbossen der Marseiller Unterwelt in der Vorkriegszeit. Sie werden ihre Geschäfte abwickeln, den Italienern Paroli bieten. Sie träumen schon davon, Zuccas Kassenschrank zurückzuerobern.
Ich hatte genug gehört, um die Lust aufs nächste Jahrhundert zu verlieren. Zum Glück war ich vorher mausetot! Was konnte ich mit all dem anfangen? Gar nichts. Ich sah nicht, wie ich Batisti bei Loubet zum Sprechen bringen könnte. Ich hatte keinen Beweis gegen sie alle. Nur eine Anklage gegen Mourrabed. Den Letzten auf der Liste. Einen Araber. Das geborene Opfer, wie üblich. Babette konnte nicht mal einen Artikel darüber schreiben. Sie hatte strikte Anweisungen: Fakten, nichts als Fakten. Damit hatte sie sich bei der Zeitung einen Namen gemacht.
Ich wollte auch nicht den Arm der Gerechtigkeit spielen. Ich sah für mich überhaupt keine Rolle mehr. Nicht mal die des Bullen. Ich sah gar nichts mehr. Ich war durchgeknallt. Hass, Gewalt, Ganoven, Bullen, Politiker ... Und das Elend als Nährboden. Arbeitslosigkeit, Rassismus. Wir waren alle wie Insekten in einem Spinnennetz. Wir strampelten, aber am Ende würde die Spinne uns fressen.
Aber ich musste noch mehr wissen. »Und was hatte Manu mit all dem zu tun?«
»Er hat Bruneis Tresor nie geknackt. Er hat mit ihm verhandelt. Gegen Zucca. Er wollte noch mehr für sich herausschlagen. Sehr viel mehr. Er hat den Bogen überspannt, glaube ich. Zucca hat ihm das nicht verziehen. Als Ugo mich aus Paris anrief, begriff ich, dass ich meine Revanche bekommen würde.«
Er hatte schnell gesprochen. Als schütte er sein Gewissen aus. Aber zu schnell.
»Welche Revanche, Batisti?«
»Was?«
»Du hast von Revanche gesprochen.«
Er sah zu mir auf. Zum ersten Mal war er ehrlich. Sein Blick trübte sich. Er verlor sich in Regionen, in denen ich nicht existierte.
»Ich mochte Manu gern, weißt du«, stotterte er.
»Aber Zucca nicht, oder?«
Er antwortete nicht. Ich würde nichts mehr aus ihm herausholen. Ich hatte einen wunden Punkt getroffen. Ich stand auf.
»Du lügst immer noch, Batisti.« Er hielt den Kopf gesenkt. Ich neigte mich zu ihm: »Ich werde weitermachen. Herumschnüffeln. Bis ich Bescheid weiß. Alles. Ihr kommt alle dran. Simone auch.«
Es tat mir wahnsinnig gut, meinerseits zu drohen. Sie hatten mir nicht die Wahl der Waffen gelassen.
Schließlich sah er mich an, ein bösartiges Grinsen auf den Lippen. »Du Schwachkopf«, sagte er.
»Wenn du mich umlegen willst, mach schnell. Für mich bist du ein toter Mann, Batisti. Und die Idee gefällt mir. Weil du nur ein Stück Scheiße bist.«
Ich ließ Batisti mit seiner Mandelmilch sitzen. Draußen knallte mir die Sonne voll ins Gesicht. Ich hatte den Eindruck, das Leben wieder gefunden zu haben. Das richtige Leben. Wo das Glück aus einer Ansammlung kleiner, unbedeutender Nichtigkeiten besteht. Ein Sonnenstrahl, ein Lächeln, Wäsche, die vor einem Fenster trocknet, ein Junge, der eine Konservendose vor sich herkickt, eine Melodie von Vincent Scotto, ein leichter Windstoß unter den Rock einer Frau ...