Sechstes Kapitel

In dem die Morgendämmerung die Schönheit der Welt nur vort ä uscht

Kaffeeduft weckte mich. Ein vertrauter morgendlicher Geruch, schon weit vor der Zeit mit Rosa. Sie aus dem Bett zu kriegen, war keine leichte Angelegenheit. Sie aufstehen und Kaffee kochen zu sehen, grenzte an ein Wunder. Seit Carmen vielleicht? Ich wusste es nicht mehr. Ich roch den Toast und beschloss aufzustehen. Babette war nicht nach Hause gefahren. Sie hatte sich zu mir gelegt. Ich war in ihren Armen eingeschlafen, den Kopf an ihrer Schulter. Ohne ein weiteres Wort. Ich hatte alles gesagt. Von meiner Verzweiflung, meinem Hass, meiner Einsamkeit. Auf der Terrasse war das Früh -stück fertig. Bob Marley sang Stir It Up. Das passte gut zu diesem Tag. Blauer Himmel, spiegelglattes Meer. Die Sonne begrüßte uns schon. Babette hatte meinen Bademantel übergezogen. Sie strich Butter aufs Brot, eine Zigarette im Mundwinkel, und bewegte sich fast unmerklich zum Rhythmus der Musik. Für den Bruchteil einer Sekunde existierte das Glück.

»Ich hätte dich heiraten sollen«, sagte ich.

»Hör auf mit dem Quatsch!« Und statt der Lippen hielt sie mir die Wange hin. Sie führte neue Umgangsformen zwischen uns ein. Wir waren in eine Welt eingetreten, in der die Lüge nicht mehr existierte. Ich mochte Babette gern. Ich sagte es ihr.

»Du bist vollkommen verrückt, Fabio. Du bist krank am Herzen. Ich bins am Hintern. Unsere Wege können sich nicht kreuzen.« Sie sah mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Letztendlich ist es mir lieber so. Denn ich hab dich auch gern.«

Ihr Kaffee war hervorragend. Sie eröffnete mir, dass sie der Libération eine Untersuchung über Marseille vorschlagen wollte. Über die Wirtschaftskrise, die Mafia, Fußball. Es ging darum, sich ihre Informationen f ü r mich bezahlen zu lassen. Bevor sie ging, versprach sie mir, in zwei bis drei Tagen anzurufen.

Ich blieb rauchend sitzen und sah aufs Meer. Babette hatte mich genau ins Bild gesetzt. Mit dem Marseiller Milieu war es aus. per Bandenkrieg der Bosse hatte es geschwächt, und niemand hatte heute mehr das Format für einen capi. Marseille war nur noch ein von der neapolitanischen Camorra beherrschter Umschlagplatz für Heroin und Kokain. Das Mailänder Wochenblatt Il Mondo hatte den Umsatz der Camorristen Carmine Alfieri und Lorenzo Nuvoletta 1991 auf sieben und sechs Milliarden Dollar geschätzt. Zwei Organi -sationen stritten sich seit zehn Jahren um Marseille. Die Neue Camor -ra unter Raffaele Cutolo und die Nuova Famiglia der Clans Volgro und Giuliano.

Zucca hatte sich entschieden, für die Nuova Famiglia. Prostitution, Nachtbars und Glücksspiel hatte er anderen überlassen. Einen Teil der arabischen Mafia, den anderen den Marseiller Ganoven. Für Letztere verwaltete er diesen traurigen Rest des korsischen Impe -riums. Seine wirklichen Geschäfte machte er mit dem Camorristen Michèle Zaza, auch O Pazzo, der Verrückte, genannt. Zaza operierte auf der A chse Neapel-Marseille-Sint Maar tens, dem holländischen Teil der Insel Saint Martin in der Karibik. Für ihn brachte er den Erlös aus dem Drogengeschäft in Supermärkten, Restaurants und Immobilien in Umlauf. Der Boulevard Longchamp, einer der schönsten der Stadt, gehörte praktisch ihnen.

Ich hatte Babette erzählt, dass Ugo Zucca niedergeschossen hatte. Um Manu zu rächen. Und dass ich mir nicht vorstellen konnte, wer ihm diese Idee in den Kopf gesetzt hatte und warum. Ich rief Batisti an.

»Fabio Montale. Sagt dir das was?«

»Der Bulle«, antwortete er nach einer kurzen Pause.

»Der Freund von Manu und Ugo.« Ein kurzes, ironisches Lachen. »Ich will dich sehen.«

»Ich bin im Moment sehr beschäftigt.«

»Ich nicht. Ich habe sogar mittags Zeit. Und ich möchte gern, dass du mich an einen ruhigen Ort einlädst. Um zu reden. Nur wir zwei.«

»Sonst?«

»Kann ich dich in die Scheiße reiten.«

»Ich dich auch.«

»Aber du hast die Öffentlichkeit nicht so gern, soviel ich weiß.«

In bester Form traf ich im Büro ein. Und entschlossen. Meine Gedanken waren klar, und ich wusste, dass ich bis zum Ende gehen wollte, für Ugo. Für Leila würde ich weiter nachforschen. Erstmal. Ich ging in den Versammlungsraum hinunter, um das wöchentliche Ritual der Einteilung der Trupps durchzuführen.

Fünfzig uniformierte Männer. Zehn Wagen. Zwei Busse. Tagschicht, Nachtschicht. Verteilt auf die verschiedenen Sektoren, Wohnsiedlungen, Supermärkte, Tankstellen, Banken, Postschalter und Schulen. Routine. Männer, die ich nicht oder kaum kannte. Es waren selten dieselben. Meine Mission fand nicht mehr so viel Zulauf. Junge, Alte. Familienväter, Jungverheiratete. Bedächtige Alte, junge Krieger. Keine Rassisten, nur solche gegen die Araber. Und gegen die Schwarzen und die Zigeuner. Ich hatte nichts zu sagen, musste nur die Mannschaften aufstellen. Ich begann mit dem Appell und suchte die Leute nach ihrer Nasenspitze aus. Die Ergeb -nisse waren nicht immer die besten.

Unter den Jungs war einer aus der Karibik, der Erste, den sie mir schickten. Groß, vierschrötig, rasierte Haare. Ich mochte das nicht. Die Typen halten sich für französischer als ein Franzose aus der Auvergne. Die Araber sind nicht ihr Bier. Die Zigeuner auch nicht.

Ich war ihnen in Paris auf dem Revier von Belleville begegnet. Sie ließen es die anderen schwer spüren, dass sie keine echten Franzo -sen waren. Einer hatte mir anvertraut: »Beurs siehst du hier nicht bei uns. Wir wissen, zu welchem Lager wir gehören, verstehst du!« Ich hatte nicht das Gefühl, Teil eines Lagers zu sein. Einfach nur im Dienst der Justiz. Aber die Zukunft sollte ihm Recht geben. Diese Typen waren bei der Post oder den Elektrizitätswerken besser aufgehoben. Luc Reiver antwortete auf den Appell. Ich teilte ihn drei Alten zu. Und los gings!

Schöne Tage gibt es nur frühmorgens. Das hätte ich wissen müssen. Die Morgendämmerung täuscht die Schönheit der Welt nur vor. Kaum machen wir die Augen auf, holt die Wirklichkeit u ns ein. Und der ganze Mist beginnt von vorne. Das sagte ich mir, al s Loubet in mein Büro kam. Ich begriff es, weil er stehen blieb, die Hände in den Taschen.

»Die Kleine ist gegen zwei Uhr am Samstagmorgen getötet worden. Bei der Hitze, den Mäusen ... Es hätte noch widerlicher sein können als das, was du gesehen hast. Was vorher passiert ist, wissen wir nicht. Das Labor sagt, sie haben sie zu mehreren vergewaltigt. Donnerstag, Freitag. Aber nicht da, wo sie gefunden wurde ... Von vorne und von hinten, wenn du es wissen willst.«

»Ich pfeif auf die Details.«

Er zog einen kleinen Plastikbeutel aus seiner rechten Jackentasche und baute nacheinander drei Kugeln vor mir auf. »Die sind aus dem Körper der Kleinen.«

Ich sah ihn an. Ich wartete. Er holte noch einen kleinen Beutel aus der linken Tasche. Er legte zwei Kugeln parallel zu den anderen. »Die stammen von Al Dakhil und seinen Leibwachen.«

Sie waren identisch. Aus den gleichen Waffen. Die beiden Killer waren die Vergewaltiger. Meine Kehle schnürte sich zu.

»Scheiße, eh!«, brachte ich mit Mühe heraus.

»Die Untersuchung ist abgeschlossen, Fabio.«

»Eine fehlt.« Ich deutete auf die dritte Kugel. Aus einer Astra-Spezial.

Er hielt meinem Blick stand. »Die haben sie Samstagabend nicht benutzt.«

»Sie waren nicht nur zu zweit. Es muss ein Dritter dabei gewesen sein.«

»Ein Dritter? Wo hast du das denn her?«

Ich hatte eine Theorie über Vergewaltigungen. Eine Vergewaltigung konnte nur von einer oder drei Personen begangen werden. Niemals von zweien. Zu zweit ist immer einer dabei, der nichts zu tun hat. Er muss warten, bis er dran ist. Allein war klassisch. Zu dritt war ein perverses Spiel. Ich hatte die Theorie auf Intuition aufgebaut. Und auf Wut. Weil ich mich weigerte zuzugeben, dass die Untersuchung abgeschlossen war. Es musste noch einer übrig sein, damit ich ihn finden konnte. Loubet sah mich bekümmert an . Er sammelte die Kugeln ein und steckte sie wieder in den Beu tel. »Ich bin für alle Hypothesen offen. Aber ... Und ich hab noch vier andere Fälle am Hals.«

Er hielt die Kugel der Astra-Spezial zwischen den Fingern.

»Hat sie das Herz durchbohrt?«, fragte ich.

»Keine Ahnung«, sagte er überrascht. »Warum?«

»Ich wüsste es gern.«

Eine Stunde später rief er mich an. Er bestätigte es. Es war tatsächlich die Kugel, die Leilas Herz durchlöchert hatte. Das bewies natürlich gar nichts. Es verlieh dieser Kugel nur ein Geheimnis, das ich lüften wollte. Am Ton von Loubets Antwort meinte ich zu hören, dass der Fall für ihn doch noch nicht ganz abgehakt war.

Ich traf Batisti in der Bar de la Marine, seinem Stammlokal. Sie war zum Treffpunkt der Skipper geworden. An der Wand hingen immer noch Louis Audiberts Gemälde mit der Kartenpartie aus Marius sowie das Foto von Pagnol und seiner Frau im Hafen. Der Wirt Marcel erklärte zwei italienischen Touristen an einem Tisch hinter uns, ja, der Film war wirklich hier gedreht worden. Das Tagesge -richt waren gebratene Tintenfische und Auberginengratin. Dazu gab es einen kleinen Rosé aus den Kellern von Rousset, die Spezialität des Hauses.

Ich war zu Fuß gekommen. Um mit einer Portion gesalzener Erdnüsse am Hafen entlangschlendern zu können. Ich liebte diesen Spaziergang. Quai du Port, Quai des Beiges, Quai de Rive-Neuve. Der Geruch des Hafens. Meer und Schmieröl.

Die Fischfrauen priesen unermüdlich aus voller Kehle den Fang des Tages an. Goldbrassen, Sardinen, Seewolf und Rotbrassen. Vor einem afrikanischen Stand feilschte eine Gruppe von Deutschen um kleine Ebenholz-Elefanten. Der Afrikaner würde sie über den Tisch ziehen. Er legte ein falsches Silberarmband mit einer falschen Eingravierung dazu. Er würde sich mit hundert Francs für alles zusammen geschlagen geben. Und gut verdient haben. Ich musste lächeln. Es war, als hätte ich sie schon immer gekannt. Mein Vater ließ meine Hand los, und ich rannte zu den Elefanten. Ich hockte mich hin, um sie mir genau anzusehen. Ich wagte nicht, sie anzu -fassen. Der Afrikaner schaute mich an und ließ die Augen rollen. Es war das erste Geschenk meines Vaters. Ich war vier Jahre alt.

Mit Batisti war ich beim Nachtisch angelangt.

»Warum hast du Ugo auf Zucca angesetzt? Das ist alles, was ich wissen will. Und für wen springt was dabei heraus?«

Batisti war ein alter Fuchs. Er kaute hingebungsvoll und trank seinen Wein aus. »Was weißt du?«

»Dinge, die ich nicht wissen sollte.«

Er suchte nach einem Zeichen von Bluff in meinen Augen. Ich zuckte nicht mit der Wimper.

»Meine Informanten waren eindeutig.«

»Hör auf, Batisti. Deine Informanten ... dass ich nicht lache. Es gibt keine! Man hat dir gesagt, was du sagen solltest, und du hast es gesagt. Du hast Ugo losgeschickt, um zu tun, wozu niemand den Mumm hatte. Zucca stand unter Protektion. Und Ugo hat sich da -nach niedermetzeln lassen. Von Bullen. Gut informierten Bullen. Es war eine Falle.«

Ich kam mir vor wie beim Fischen mit der Langleine. Lauter Haken, und ich wartete darauf, dass er anbiss. Er stürzte seinen Kaffee hinunter, und ich hatte das Gefühl, meinen Kredit verspielt zu haben.

»Hör zu, Montale. Es gibt eine offizielle Version. Halte dich daran. Du bist ein Vorstadtbulle, bleib es. Du hast eine hübsche Hütte, versuch sie zu behalten.« Er stand auf. »Die Ratschläge sind gratis. Die Rechnung geht auf mich.«

»Und über Manu? Weißt du auch nichts? Das kannst du mir nicht erzählen!«

Ich sagte das aus Wut. Das war blöd. Ich hatte meine Hypothesen auf den Tisch geschmissen. Ebenso gut konnte ich Blech reden. Ich erntete nur eine kaum verhohlene Drohung. Batisti war nur gekom-men, um herauszukriegen, wie viel ich wusste.

»Was für Ugo gilt, gilt auch für Manu.«

»Aber Manu mochtest du doch gern, oder nicht?«

Er warf mir einen bösen Blick zu. Ich hatte ins Schwarze getroffen. Aber er antwortete nicht. Er stand auf und ging mit der Rechnung an den Tresen.

Ich folgte ihm. »Ich sag dir was, Batisti. Du bist mir soeben ganz schön um den Bart gegangen, okay. Aber glaub ja nicht, dass ich die Sache fallen lasse. Ugo ist zu dir gekommen, weil er einen Tipp brauchte. Du hast ihn prachtvoll verarscht. Er wollte nur Manu rächen. So einfach werde ich dich nicht davonkommen lassen.« Er sammelte das Wechselgeld ein. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und beugte mich dicht an sein Ohr. Ich murmelte: »Eins noch. Du hast solche Angst zu krepieren, dass du zu allem bereit bist. Du machst dir in die Hose. Du hast keine Ehre, Batisti. Wenn ich raus -kriege, was mit Ugo passiert ist, werde ich dich nicht vergessen. Das kannst du mir glauben.«

Er machte sich los und sah mich traurig an. Mitleidig.

»Wir werden dich vorher kaltmachen.«

»Das wäre besser für dich.«

Er ging, ohne sich umzudrehen. Ich schaute ihm nach und bestellte noch einen Kaffee. Die beiden italienischen Touristen standen auf und gingen mit einem überschwänglichen »Ciao, ciao«.

Wenn Ugo noch Familie in Marseille hatte, las sie offenbar keine Zeitung. Niemand war aufgetaucht, nachdem er sich hatte niederschießen lassen, auch nicht, nachdem die Todesanzeige in den Mor -genausgaben dreier Tageszeitungen erschienen war. Freitag hatte ich die Genehmigung erhalten, ihn zu bestatten. Ich musste mich entscheiden. Ich wollte ihn nicht wie einen Hund in einem Massen -grab verschwinden sehen. Ich hatte mein Sparschwein geschlachtet und die Beerdigungskosten übernommen. Dieses Jahr würde ich eben nicht in Urlaub fahren. Ich fuhr sowieso nie in Urlaub. Die Typen öffneten die Gruft. Es war die meiner Eltern. Für mich war auch noch ein Platz darin. Aber ich hatte beschlossen, mir Zeit zu lassen. Ich sah nicht ein, wieso es meine Eltern stören sollte, ein bisschen Gesellschaft zu bekommen. Es war höllisch heiß. Ich betrachtete das dunkle, feuchte Loch. Das würde Ugo nicht gefallen. Niemand mochte das. Leila auch nicht. Ihre Beerdigung war morgen. Ich hatte noch nicht entschieden, ob ich hingehen würde oder nicht. Für Mouloud und seine Kinder war ich nur noch ein Fremder. Und ein Bulle, der nichts verhindern konnte.

Die Fassade bröckelte ab. Ich hatte die letzten Jahre ruhig und gleichgültig gelebt. Weltverloren. Nichts berührte mich wirklich. Die alten Kumpel, die nicht mehr anriefen. Die Frauen, die mich verließen. Meine Träume und meine Wut, die ich auf halbmast gesetzt hatte. Ich wurde wunschlos alt. Ohne Leidenschaft. Ich schlief mit Huren. Und das Glück hing am Ende einer Angelrute.

Manus Tod hatte vieles aufgerüttelt. Aber immer noch zu schwach auf meiner Richterskala. Erst der Mord an Ugo brachte alles zum Einsturz. Er riss mich aus meinem künstlichen Schlaf. Ich erwachte zum Leben. Und wurde verrückt. Was immer ich von Manu und Ugo hielt, es änderte nichts an meiner Vergangenheit. Sie hatten gelebt. Ich hätte mich gern mit Ugo unterhalten, seinen Reisebe -richten gelauscht. Nachts auf den Felsen vor der Fischerhütte hatten wir nur von Abenteuerfahrten geträumt.

»Guter Gott, warum wollen sie nur so weit wegrennen?«, hatte Toinou geschimpft. Er hatte Honorine als Zeugin genommen. »Was wollen sie denn sehen, diese Gören, he? Na, kannst du mir das sagen! Alle Länder sind hier versammelt. Vertreter aller Rassen. Eine Kostprobe aus allen Breiten.« Honorine hatte uns einen Teller Fischsuppe hingestellt.

»Unsere Väter sind von woanders gekommen. Sie sind in dieser Stadt gelandet. Na und! Sie haben gefunden, was sie gesucht haben. Und wenn nicht, mein Gott, sind sie trotzdem geblieben.«

Er hatte tief Luft geholt und uns wütend angesehen.

»Probiert das!«, hatte er geschrien und auf unsere Teller gezeigt. »Das ist Medizin gegen eure Flausen!«

»Man stirbt hier«, hatte Ugo zu sagen gewagt.

»Woanders stirbt man auch, mein Junge. Das ist schlimmer!«

Ugo war zurückgekommen, und er war tot. Ende der Reise. Ich nickte den Sargträgern zu. Der Sarg wurde von dem dunklen, feuchten Loch verschlungen. Ich schluckte meine Tränen hinunter. Der Blutgeschmack im Mund blieb.

Ich hielt bei der Taxizentrale an der Ecke Boulevard de Plombiere und Boulevard de la Glacière. Ich wollte die Spur des Taxis zurückverfolgen. Sie führte vielleicht nirgendwohin, aber sie war die einzige Verbindung zwischen den beiden Mördern vom Opern -platz und Leila.

Der Typ im Büro blätterte gelangweilt in einem Pornoheft. Der perfekte Mia. Haare hinten lang, vorn hochgeföhnt. Offenes geblümtes Hemd über schwarz behaarter Brust, dicke Goldkette, Jesusanhänger mit Diamantenaugen, zwei gewaltige Klunkern an jeder Hand, Ray-Ban-Brille auf der Nase. Der Ausdruck Mia kam aus Italien, von der Autofirma Lancia. Sie hatte einen Wagen auf den Markt gebracht, den Mia, mit einer Öffnung im Fenster, durch die der Fahrer den Ellenbogen heraushängen kann, ohne die Scheibe herunterzukurbeln. Das war zu hoch für das Marseiller Genie!

Die Bistros waren voll von Mias. Aufschneider, Sprücheklopfer, Schönlinge. Sie verbrachten ihren Tag mit Ricard an der Theke. Nebenbei kam es vor, dass sie ein bisschen arbeiteten.

Dieser hier fuhr bestimmt einen Renault 12, mit Scheinwerfern gespickt, dem Dédé-&-Valérie-Schriftzug auf dem Kühlergrill, Bommeln am Sitzpolster und Plüsch auf dem Lenkrad. Er blätterte um. Sein Blick blieb zwischen den Schenkeln einer üppigen Blon -dine hängen. Dann ließ er sich dazu herab, zu mir aufzublicken.

»Was willst du?«, fragte er mit einem starken korsischen Akzent.

Ich zeigte ihm meine Karte. Er sah kaum hin, als kenne er sie auswendig.

»Können Sie es entziffern?«, fragte ich.

Er rückte leicht an seiner Brille und sah mich desinteressiert an. Sprechen schien ihn anzustrengen. Ich erklärte ihm, dass ich wissen wolle, wer am Samstagabend den Renault 21, Zulassungsnummer 675 JLT 13, gefahren habe. Es ginge um eine überfahrene rote Ampel auf der Avenue des Aygalades.

»Nach solchen Sachen fahndet ihr?«

»Wir gehen allem nach. Sonst schreiben die Leute ans Ministerium. Wir hatten eine Beschwerde.«

»Eine Beschwerde? Wegen eines überfahrenen Rotlichts?«

Der Himmel fiel ihm auf den Kopf! In was für einer Welt lebten wir!

»Da sind überall Fußgänger«, sagte ich.

Diesmal nahm er seine Sonnenbrille ab und sah mich aufmerksam an. Bei anderer Gelegenheit hätte ich mich halb totgelacht. Ich zuckte gelangweilt mit den Schultern.

»Klar, und wir zahlen Steuern für diesen Schwachsinn. Es war besser, ihr würdet weniger Zeit mit solchen Bagatellen verlieren. Was wir brauchen, ist Sicherheit.«

»Die Fußgänger auch.« Er begann mir auf die Nerven zu gehen. »Name, Vorname, Adresse und Telefon des Fahrers?«

»Wenn er auf dem Revier vorsprechen muss, sag ich ihm Bescheid.«

»Ich bin es, der hier vorlädt. Schriftlich.«

»Von welchem Revier sind Sie?«

»Hauptquartier.«

»Kann ich Ihren Ausweis noch mal sehen?«

Er nahm ihn und kritzelte meinen Namen auf ein Stück Papier. Mir war bewusst, dass ich übers Ziel hinausgeschossen war. Aber jetzt war es zu spät. Er gab mir die Karte zurück, als hätte er sich die Finger daran verbrannt.

»Montale, Italiener, stimmts?«

Ich nickte. Er schien schwer nachzudenken. Dann sah er mich an: »Wegen einer roten Ampel werden wir uns bestimmt einigen. Wir sind Ihnen ja immer gern behilflich.«

Noch fünf Minuten von diesem Geschwätz, und ich würde ihn mit seiner Goldkette erwürgen oder ihm den Jesus ins Maul stopfen. Er blätterte in einem Register, fand eine Seite und ließ seinen Finger über eine Liste gleiten.

»Pascal Sanchez. Notieren Sie, oder muss ich es aufschreiben?«

Pérol brachte mich auf den aktuellen Stand des Tages. 11.30 Uhr. Minderjähriger beim Diebstahl aus der Warenauslage bei Carrefour erwischt. Eine Bagatelle, aber wir mussten trotzdem die Eltern be -nachrichtigen und eine Akte anlegen. 13.13 Uhr. Eine Schlägerei zwischen drei Zigeunern und einem Mädchen aus dem Milieu, im Balto, einer Kneipe am Chemin du Merlan. Alle waren festgenom -men und mangels Kläger gleich wieder entlassen worden. 14.18 Uhr. Funkruf. Eine Mutter bringt ihren Sohn mit schweren Prel -lungen im Gesicht ins Bezirksrevier. Die Schläge und Verletzungen wurden ihm im Gymnasium Marcel Pagnol absichtlich zugefügt. Die angeblichen Täter und ihre Eltern wurden vorgeladen. Gegen -überstellung. Die Geschichte dauerte den ganzen Nachmittag. Weder Drogen noch Erpressung, offenbar. Trotzdem zu verfolgen. Predigt an die Eltern in der Hoffnung, dass sie etwas nützt. Routine.

Aber die gute Nachricht war, dass wir endlich Nacer Mourrabed stellen konnten, einen jungen Dealer, der im Bassens-Viertel operierte. Er hatte sich am Vorabend beim Verlassen des Miramar, einer Kneipe in L'Estaque, geprügelt. Der Typ hatte eine Klage eingereicht. Besser noch: Er hatte sie aufrechterhalten und auf dem Revier vorgesprochen, um seine Aussage zu machen. Viele bekamen kalte Füße, und wir sahen sie nie wieder. Sogar bei einem Diebstahl ohne Gewaltanwendung. Aus Angst. Und mangelndem Vertrauen zur Polizei.

Mourrabed kannte ich in-und auswendig. Zweiundzwanzig Jahre alt, sieben Mal festgenommen. Das erste Mal mit fünfzehn, ein gutes Durchschnittsalter. Aber er war schlau. Wir konnten ihm nie etwas nachweisen. Vielleicht diesmal.

Er dealte seit Monaten im großen Stil, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Fünfzehn-, sechzehnjährige Burschen arbeiteten für ihn. Sie machten die Drecksarbeit. Der eine schleppte den Stoff an, der andere kassierte die Kohle. Sie waren acht bis zehn von der Sorte. Er führte vom Wagen aus die Aufsicht und sahnte später ab. In einer Kneipe, in Bus oder Bahn, im Supermarkt. Der Ort wechselte ständig. Niemand versuchte, ihn zu hintergehen. Einer hatte ihn mal ausgetrickst. Es passierte kein zweites Mal. Der kleine Schlaumeier fand sich mit einem Schmiss auf der Wange wieder. Und natürlich hielt er künftig die Klappe, wenn es um Mourrabed ging. Er hätte Schlimmeres riskiert.

Wir hatten uns die kleinen Ganoven schon öfter vorgenommen. Aber vergeblich, sie gingen lieber in den Knast, als den Namen Mourrabed auszuspucken. Als wir einen mit Stoff erwischten, machten wir ein Foto, legten eine Akte an und ließen ihn laufen.

Sie hatten nie genug dabei, um eine Verhaftung zu rechtfertigen. Wir hatten es versucht, aber der Richter hatte uns abblitzen lassen.

Pérol schlug vor, Mourrabed frühmorgens aus dem Bett zu holen. Ich war einverstanden.

Bevor er ausnahmsweise einmal früh ging, fragte Pérol: »Wars schlimm, auf dem Friedhof?«

Ich zuckte die Achseln, ohne zu antworten.

»Würd mich freuen, wenn du mal zum Essen vorbeikämst.« Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten oder sich zu verabschieden. Pérol war so herrlich unkompliziert. Ich übernahm die Nachtschicht mit Cerutti.

Das Telefon klingelte. Es war Pascal Sanchez. Ich hatte eine Nach-richt bei seiner Frau hinterlassen.

»He! Bin nie bei Rot über die Ampel gefahren. Schon gar nicht da, wo Sie sagen. Wo ich doch nie hinfahr in die Ecken. Ist nur Gesindel da.«

Ich widersprach nicht. Ich wollte Sanchez milde stimmen. »Ich weiß, ich weiß. Aber es gibt einen Zeugen, M'sieur Sanchez. Er hat sich Ihre Nummer gemerkt. Sein Wort steht gegen Ihres.«

»Wie viel Uhr war das, sagen Sie?«, fragte er nach einer Pause.

»22.38 Uhr.«

»Kann nicht sein«, antwortete er, ohne zu zögern. »Um die Zeit hab ich Pause gemacht. Hab an der Barde l'Hôtel de Ville ein Glas getrunken. Eh, hab sogar Kippen gekauft. Dafür hab ich Zeugen. Eh, ich lüg Sie nicht an. Ich hab mindestens vierzig.«

»So viele brauche ich nicht. Kommen Sie morgen gegen elf im Bü-ro vorbei. Ich nehme Ihre Aussage auf. Und Name, Adresse und Tele -fonnummer von zwei Zeugen. Wir dürften uns leicht einigwerden.«

Ich hatte noch eine Stunde totzuschlagen, bis Cerutti kam. Ich beschloss, ein Gläschen bei Ange im Treize-Coins zu trinken.

»Der Kleine sucht dich«, sagte er. »Du weißt schon, den du Samstag mitgebracht hast.«

Nach einem schnellen Halben machte ich mich auf die Suche nach Djamel. Seit meiner Anstellung in Marseille hatte ich mich nie so oft in diesem Viertel aufgehalten. Ich war erst neulich wieder herge-kommen, als ich Ugo treffen wollte. All die Jahre hatte ich mich in den Randgebieten bewegt. Die Place de Lenche, die Rue Baussenque und die Rue Sainte-Françoise, die Rue François-Moisson, der Boulevard des Dames, die Grand-Rue, die Rue Caisserie. Mein einziger Schlenker war die Passage des Treize-Coins und Anges Kneipe.

Was mich jetzt überraschte, war, dass die Sanierung irgendwie unfertig schien. Ich fragte mich, ob die zahlreichen Bildergalerien, Boutiquen und anderen Läden Leute anzogen. Und wen? Keine Marseil le r da war ich sicher. Meine Eltern waren nach ihrer Vertreibung durch die Deutschen nie wieder in das Viertel zurückgekehrt. Die eisernen Rollläden waren heruntergezogen. Die Straßen verlassen. Die Restaurants fast leer. Außer bei Etienne in der Rue de Lorette. Aber Etienne Cassaro war schon seit dreiundzwanzig Jahren da. Und er hatte die beste Pizza in ganz Marseille. »Preise und Öffnungszeiten je nach Laune«, hatte ich in einer Geo-Reportage über Marseille gelesen. Dank Étiennes Laune hatten wir uns oft genug umsonst satt gegessen, Manu, Ugo und ich. Auch wenn er hinter uns herschimpfte: faules Pack, Taugenichtse, Ge -socks!

Ich ging die Rue du Panier wieder hinunter. Meine Erinnerungen klangen lauter als die Schritte der Passanten. Das Viertel war noch nicht Montmartre. Der schlechte Ruf blieb. Der schlechte Geruch auch. Und Djamel war unauffindbar.