Kapitel 10
In der ersten Nacht schlief ich überhaupt nicht.
Ich fuhr mit dem Fahrrad bis zur Schule. Dort gab es hinter der Turnhalle ein gutes Versteck. Ich hätte einen Schlafsack mitnehmen sollen – daran hatte ich nicht gedacht, also musste es auch ohne gehen. Aber immer, wenn ich die Augen zumachte, bekam ich Angst, es könnte etwas oder jemand um die Ecke kommen und mich umbringen, ein riesiger Hund oder vielleicht ein Obdachloser.
Nach ein paar Stunden überlegte ich mir, ob ich nicht doch lieber heimgehen sollte, entschied mich aber dagegen. So schnell durfte ich nicht aufgeben. Mit dem Ergebnis, dass ich die ganze Nacht wach lag und erst, als es schon wieder hell wurde, ein bisschen döste. Da war es allerdings schon kurz nach sieben, und ich machte mich wieder auf die Socken, weil man mich ja sonst womöglich gefunden hätte.
Ich hatte etwas Geld eingesteckt – die zehn Pfund, die Pete mir zu meinem Geburtstag aus Amsterdam geschickt hatte. Also stellte ich mein Rad ab und holte mir in einem Schnellrestaurant einen Burger mit Pommes. Es war ein komisches Gefühl, so früh am Morgen einen Burger mit Pommes zu bestellen, aber das Restaurant hatte ja schon geöffnet, deshalb dachte ich nicht, dass sie mich für verrückt halten würden. Aber als ich wieder rauskam, war etwas ganz Idiotisches passiert: Mein Fahrrad war weg. Jemand hatte es gestohlen. Ich hatte es draußen stehenlassen und nicht abgeschlossen, weil ich vergessen hatte, das Kettenschloss einzupacken.
Später am Nachmittag bekam ich wieder Hunger. Ich kaufte mir wieder einen Burger mit Pommes und diesmal auch noch einen Nachtisch, nämlich ein Eis, und weil es wirklich supergut schmeckte, ging ich noch mal rein und holte mir eine zweite Portion. Da blieben mir nur noch drei Pfund, doch die konnten ewig reichen, fand ich, wenn ich mir das Geld nur richtig einteilte. Aber war es nicht ein Risiko, wenn ich noch länger einfach so in der Stadt herumlief? Allmählich wurde ich nervös, vor allem, wenn mir irgendwo ein Polizist entgegenkam. Garantiert hatte Dad die Polizei angerufen und gemeldet, dass ich abgehauen war und man mich suchen musste. Dabei war es doch einzig und allein meine Entscheidung, ob ich zu Hause wohnen wollte oder nicht, aber meine Eltern sahen das vermutlich anders.
Gegen vier Uhr nachmittags ging ich ins große Einkaufszentrum, in das Kino im obersten Stockwerk. Um die Zeit gab es immer eine Aufführung speziell für Kinder, und der Eintritt kostete genau drei Pfund. So viel hatte ich ja noch, also kaufte ich mir eine Karte. Ich wollte mich irgendwo hinsetzen, wo es warm und ruhig war, weil ich keine Lust mehr hatte, dauernd in irgendwelchen Läden herumzuhängen und den Polizisten auszuweichen.
Abends ging ich nicht wieder zur Schule. Wenn man auf der Flucht ist, dann muss man jede Nacht woanders schlafen, damit einen keiner findet. Ich streifte nach dem Kino noch eine Weile durch die Gegend, bis die Stadt fast menschenleer war. Und dann begab ich mich zum Parkplatz hinter dem Einkaufszentrum. Dort setzte ich mich mit dem Rücken an die Mauer. Es war allerdings zu nah bei den großen Containern, in denen sämtliche Abfälle entsorgt wurden. Zuerst wollte ich woanders hingehen, weil es so stank, aber mit der Zeit bemerkte ich den ekligen Geruch gar nicht mehr, also blieb ich sitzen. Allerdings musste ich pausenlos an mein Bett zu Hause denken und wie gemütlich es war. Und Mam machte es jeden Tag, wenn ich in die Schule ging. Beim Gedanken daran wurde ich sehr traurig, aber ich drückte die Tränen weg, weil man nicht weint, wenn man von zu Hause abhaut und sich alleine durchschlägt.
Ich dachte auch ständig ans Essen, weil ich wahnsinnigen Hunger hatte und mein Magen merkwürdige Geräusche von sich gab. Aber ich konnte nichts tun, weil ich ja kein Geld mehr besaß und weil die Geschäfte sowieso alle schon geschlossen hatten.
So richtig schlief ich auch in der zweiten Nacht nicht. Ich nickte nur immer wieder ein. Dabei fiel mir jedes Mal der Kopf nach vorn, und ich wachte wieder auf. Außerdem fror ich dann ganz schrecklich. Das war unangenehm, deshalb wollte ich doch lieber wach bleiben. Aber das schaffte ich nicht, und der ganze Zirkus ging wieder von vorne los. Die Nacht erschien mir endlos, noch viel länger als die erste. Ich nahm mir vor, nicht dauernd auf die Uhr zu sehen. Denn immer, wenn ich dachte, es seien mindestens zwei oder drei Stunden vergangen, seit ich das letzte Mal geschaut hatte, stellte sich heraus, dass gerade mal zehn oder höchstens fünfzehn Minuten rum waren.
Sobald es hell wurde, stand ich auf. Alle Knochen taten mir weh. Meine Arme und Beine waren total starr und steif, und mir wurde bewusst, dass ich seit zwei Tagen dieselben Sachen anhatte. Was sollte ich heute mit meiner Zeit anfangen? Am besten wär’s, ich würde nach London fahren und mir dort einen Job suchen, denn ich konnte ja nicht ewig hier herumlungern.
Und dann erlebte ich eine Riesenüberraschung. Als ich an einem Fernsehgeschäft vorbeikam, blieb ich kurz stehen, um die ganzen Apparate im Schaufenster zu begutachten. Auf allen lief dasselbe Programm. Offenbar waren es die Nachrichten. Ich konnte ja nichts hören, sondern nur die Bilder sehen. Plötzlich erschien auf allen Bildschirmen das Foto eines Jungen, und ich fand, dass er mir ziemlich ähnlich sah. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass es tatsächlich ich war, und auf einmal fühlte sich mein Magen ganz komisch an. Dann verschwand mein Foto wieder von den Bildschirmen, und stattdessen erschien ein Reporter, der vor unserem Haus stand und etwas berichtete. Ich sollte lieber weitergehen, dachte ich, bevor jemand merkte, dass hier vor dem Schaufenster ein Fernsehstar herumstand! Aber die Leute waren alle auf dem Weg zur Arbeit und beachteten mich gar nicht. Jedenfalls musterte mich kein Einziger neugierig, als ich die Straße hinunterging.
Da wusste ich, dass ich wirklich ganz auf mich allein gestellt war.
Ein paar Stunden später fing ich an, mir echt Sorgen zu machen, weil ich wirklich sehr hungrig war und weil meine Arme und Beine sich so wackelig anfühlten wie Wackelpuddding. Außerdem hatte ich zweieinhalb Tage kaum geschlafen, und mir war schon ganz schwindelig. Sollte ich doch lieber heimgehen? Aber wenn ich das tat, durfte ich garantiert nie wieder raus aus dem Haus, bis ich mindestens dreißig war. Also – heimgehen war keine gute Idee. Und ich hatte ja auch keine Ahnung, was Mam und Dad mit mir anstellen würden, wenn sie mich erwischten. Aber ich wäre wirklich am allerliebsten nach Hause gegangen, dann könnte ich etwas essen, mich in die Badewanne legen und mich dann vor den Fernseher setzen, zusammen mit den beiden.
Daraus, dass ich mich in den Nachrichten gesehen hatte, schloss ich, dass man mich suchte. Da war es besser, wenn ich mich vermummte. In einem Kleidergeschäft klaute ich mir eine Wollmütze. Ich hatte noch nie im Leben etwas gestohlen. Es war viel leichter, als ich gedacht hatte. Ich ging einfach in den größten Laden, den ich finden konnte, nahm eine Mütze vom Regal, riss das Preisschild ab, setzte sie auf und ging wieder raus. Ein bisschen Angst hatte ich schon, als ich durch die Tür ging. Aber es kam niemand hinter mir her. Vorsichtshalber fing ich aber doch an zu rennen, nur kam ich nicht weit, weil ich so müde und so hungrig war. Mir wurde immer schwindeliger, also blieb ich stehen. Zufällig erblickte ich mich in einem Spiegel. Ich sah schon ziemlich merkwürdig aus mit der Wollmütze auf dem Kopf. Es war nämlich ganz schön warm, aber weil man mich mit der Mütze meiner Meinung nach nicht erkannte, behielt ich sie lieber auf.
Ich schaute auf die Uhr. Kurz nach eins. In der Innenstadt waren jetzt viele Leute unterwegs, die sich ein Sandwich kauften oder irgendwo zu Mittag essen wollten. Wenn ich jemanden sah, der etwas aß, lief mir das Wasser im Mund zusammen, und der Magen tat mir weh. Er knurrte nicht mehr, sondern schmerzte nur noch.
Ich wollte endlich nach London fahren. Aber wie? Ich hatte ja kein Geld mehr für den Zug oder für den Bus, und bestimmt standen auf den Bahnhöfen überall Polizisten herum und warteten nur auf mich. Wenn ich mein Fahrrad noch hätte, könnte ich losradeln, auch wenn ich vielleicht ein paar Wochen unterwegs wäre. Das hätte mir nichts ausgemacht. Es wäre ein Teil des großen Abenteuers gewesen. Sollte ich zu Fuß gehen? Das klang verrückt, aber andererseits hatte ich gelesen, dass David Copperfield zu Fuß von London nach Dover gewandert war, ganz allein. Und wenn David Copperfield das konnte, dann konnte ich es auch.
Diesmal schlief ich zwischen den Bäumen am Rand des Rugby-Spielfelds der Schule. Auf die Idee hätte ich schon früher kommen sollen, denn dort war der Boden viel weicher als bei der Turnhalle und auf dem Parkplatz. Deshalb tat mir dann auch der Rücken nicht so weh. Ich benutzte meine Tasche als Kopfkissen und meine Jacke als Decke und schlief immerhin ein paar Stunden. Als ich aufwachte, ging es mir allerdings noch schlechter als vorher. Ein paar Minuten lang wusste ich nicht, wer ich war und warum ich draußen im Freien schlief, und als es mir einfiel, fragte ich mich, ob es je besser werden würde. Ich war zwar erst vor drei Tagen abgehauen, aber mir kam es vor wie drei Jahre. Oder wie drei Leben. Und hatten Dad und Mam sich womöglich schon daran gewöhnt, dass ich nicht mehr da war?
Als ich aufstand, passierte gleich etwas Blödes: Ich kippte um. Ich rappelte mich wieder auf, musste mich aber mit den Händen abstützen, wie wenn ich auf einem Drahtseil balancieren würde. Es dauerte ganz schön lang, bis ich einigermaßen sicher auf den Beinen war. Dann tat mir der Magen so weh, dass ich mich vor Schmerzen zusammenkrümmte. Ich schaute mich um, ob ich irgendwo etwas zu essen entdecken konnte, aber dabei spürte ich, dass ich gar nicht mehr essen wollte, obwohl ich seit dem zweiten Hamburger am ersten Tag keinen Bissen zu mir genommen hatte. Ich spürte den Hunger gar nicht mehr, ich hatte nur noch Schmerzen.
Der Tag verging, ohne dass ich es richtig merkte. Alles blieb weit weg und verschwommen. Ich lief durch die Straßen und wollte etwas essen. Zwischendurch wäre ich gern nach Hause gegangen, aber ich wusste ja, dass das nicht ging.
Und wo sollte ich diesmal übernachten? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Weil ich noch nicht im Park gewesen war, beschloss ich, dort zu schlafen. Der Park war nicht besonders weit weg. Das fand ich gut, weil ich nicht richtig laufen konnte. Meine Beine waren viel zu zitterig.
Als ich zum Park kam, war es schon fast Mitternacht. Niemand da. Ich kam an der Bank vorbei, auf der Sarah und ich gesessen hatten, und wurde ganz traurig. Damals hatte ich nicht geahnt, wie gut es mir eigentlich ging und wie froh ich sein konnte, ein Zuhause zu haben, wo ich jederzeit hinkonnte und wo im Kühlschrank genug zu essen war. Und eine Mutter und einen Vater zu haben, selbst wenn Mam mit keinem Menschen mehr redete und Dad mich geschlagen hatte. Das war immer noch besser, als so zu leben, wie ich nun lebte. Ich wollte nach Hause, aber es war zu spät. Bestimmt ließen sie mich gar nicht mehr rein, nach allem, was ich getan hatte.
Ich fand eine gute Stelle bei ein paar Büschen und legte meine Tasche hin, damit ich sie wieder wie in der Nacht vorher als Kopfkissen nehmen konnte. Als ich mich auf den Boden legen wollte, kippte ich um und krachte mit dem Arm gegen einen Baumstamm. Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht – meine Beine funktionierten nicht mehr. Mein Arm blutete, tat aber gar nicht weh. Je länger ich darauf starrte, desto schwindeliger wurde mir. Vor meinen Augen verschwamm alles, die Bäume, die Büsche, der ganze Park – bis ich nicht mehr wusste, wo ich war. Ich hatte das Gefühl, als würde der Park immer kleiner und kleiner und kleiner, gleich würde er mich erdrücken, und dann war alles aus. Dann war ich tot, oder ich lag vielleicht im Koma, wie der Junge, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern konnte. Damit nicht mehr alles so unscharf war, riss ich die Augen ganz weit auf, aber davon bekam ich nur noch schlimmere Bauchschmerzen.
Ich stieß einen lauten Schrei aus und krümmte mich fest zusammen, um den Schmerz zu unterdrücken. Wenn ich aufstehen könnte, würde ich mich bestimmt besser fühlen, aber jedes Mal, wenn ich versuchte, auf die Füße zu kommen, machten meine Beine schlapp, und ich fiel wieder hin. Bei meinem letzten Versuch landete ich ganz blöd auf dem Rücken. Da blieb ich einfach liegen und starrte hinauf in den Himmel. Ich wollte gar nicht mehr aufstehen, sondern nur so daliegen und mich nicht rühren, bis mich jemand fand. Auch wenn ich vielleicht sterben würde.
Ich beschloss, die Augen zu schließen, und alles wurde schon dunkel – doch genau in dem Moment, als ich die Augen zumachte, geschah etwas ganz Seltsames. Es war, als stünde jemand über mir und würde meinen Namen sagen, aber ich hatte keine Ahnung, wer es war, und dachte, es sei nur Einbildung.
Dann beugte sich die Gestalt zu mir herunter, und ich merkte, dass jemand seine Arme unter mich schob. Ich wurde vom Boden hochgehoben, und nichts tat mir mehr weh, weil ich gar nichts mehr spürte. So fühlt es sich also an, wenn man stirbt, dachte ich, das ist der Moment des Todes. Aber so ganz sicher war ich mir nicht. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um die Augen ein letztes Mal zu öffnen, weil ich sehen wollte, wer es war. Ich musste doch wissen, wer mich gefunden hatte und mich jetzt aus dem Park trug. Ich wollte sehen, wer mir das Leben rettete! Als ich die Augen endlich aufkriegte, da wusste ich gleich, wer es war. Ich versuchte, mit ihm zu reden, aber meine Stimme gehorchte mir nicht. Ich brachte nur ein einziges Wort heraus. Es klang wie ein jämmerliches Krächzen und gar nicht wie ich. Nachdem ich es gesagt hatte, klappte ich die Augen wieder zu, und alles wurde schwarz.
»Pete«, sagte ich.