Kapitel 2

»Rachel«, stammelte Dad und blickte verwirrt von einem zum anderen.

»Mr Delaney«, sagte der Polizist. »Dürfen wir reinkommen?«

Dad nickte und trat beiseite, damit sie in den Flur treten konnten.

»Was ist passiert?«, fragte Dad und schloss die Haustür. Ich hatte mich hingekniet und drückte das Gesicht an die Stäbe. Weil ich nicht bemerkt werden wollte, war ich mucksmäuschenstill und atmete kaum. »Hattest du einen Unfall, Rachel? Ist was mit deinem Auto?«

Die Polizisten schauten erst einander an, dann meine Mam, die irgendwie gar nicht aussah wie Mam.

»Könnte bitte jemand so freundlich sein und mir sagen, was los ist?«, rief Dad nach einer Pause.

»Können Sie bestätigen, dass diese Dame Ihre Ehefrau ist, Mr Delaney?«, fragte der zweite Polizist, der nun ebenfalls seinen Helm absetzte. Sein Kopf war kahlgeschoren, und er schien nicht viel älter zu sein als Pete, wodurch ich mich gleich viel besser fühlte. Die Polizistin sah aus wie die Frau aus der Fernsehserie Property Ladder.

»Ja, selbstverständlich ist sie meine Frau!«, erwiderte mein Vater ungeduldig. »Rachel, sag endlich – was ist los? Kann mich bitte jemand darüber informieren, was …«

»Wenn Sie sich bitte einen Moment beruhigen würden, Sir«, wies ihn der Polizist zurecht. »Wir werden Ihnen alles erklären.«

»Ich soll mich beruhigen? Meine Frau ist stundenlang verschwunden, und dann wird sie in einem Polizeiwagen nach Hause gebracht – und Sie sagen, ich soll mich beruhigen? Wo war sie denn die ganze Zeit?« Und dann fragte er noch mal: »Was ist hier los?«

»Vielleicht können wir uns irgendwo hinsetzen«, sagte die Polizistin. »Ihre Frau steht unter Schock, und eine warme Tasse Tee würde ihr bestimmt guttun.«

»Okay«, sagte Dad. »Wir gehen in die Küche, und ich setze Teewasser auf. Aber ich möchte trotzdem wissen, was los ist. Haben Sie das verstanden?«

»Natürlich, Sir«, sagte die Polizistin, und dann verschwanden alle aus meinem Blickfeld. Das heißt, der junge Polizist blieb noch im Flur, legte seinen Helm auf den Boden und betrachtete sich im Spiegel. Er drehte den Kopf erst nach links, dann nach rechts, dann zog er seine Jacke nach unten, damit sie keine Falten warf. Als er sich umdrehte, wanderte sein Blick nach oben, und er entdeckte mich. Ich wollte schon weglaufen, doch er lächelte mir nur irgendwie traurig zu und schüttelte ratlos den Kopf, ehe er den anderen in die Küche folgte.

Und auf einmal fing ich an, mir Sorgen um Pete zu machen. Mein Bruder hatte seit ein paar Tagen nicht mehr angerufen. Eigentlich seit er gesagt hatte, er wolle reisen und habe keine Lust, drei Monate lang in Dads Geschäft herumzuhocken, während seine Freunde durch ganz Europa kutschierten und ihren Spaß hatten. Heute beim Frühstück hatte Mam gesagt, wenn er sich nach Coronation Street, ihrer Lieblingsserie, nicht gemeldet hätte, werde sie ihn anrufen.

»Ich verstehe nicht, warum du dir die Mühe machen willst«, hatte Dad gesagt. »Dieser verwöhnte kleine Egoist.«

Vielleicht war Pete etwas zugestoßen, und die Polizei war zu meiner Mutter gekommen, um es ihr zu sagen, und dann war Mam mit aufs Revier gegangen, und da wartete Pete schon auf sie, und er steckte in Schwierigkeiten. Oder noch übler – Pete war etwas Schlimmes zugestoßen, und ich hatte neulich abends noch nicht mal die Chance gehabt, am Telefon mit ihm zu reden, weil alle sich so blöd stritten, dass ich gar nicht drankam.

Ich tappte ganz leise die Treppe hinunter, konnte aber immer noch nicht verstehen, was geredet wurde. Der Polizeihelm lag noch auf dem Boden, neben dem Telefontischchen. Ich hob ihn auf und schaute ihn mir ganz genau an.

Es war so ein altmodischer Helm, schwarz, solide und hoch, mit dem Abzeichen der Polizei von Norfolk vorne drauf. Er war ziemlich schwer, und als ich ihn aufsetzte, kam ich mir vor wie ein König mit Krone. Weil er viel zu groß für mich war, rutschte er mir über die Augen. Wie konnte jemand so ein Riesending den ganzen Tag auf dem Kopf herumschleppen?

Dann ging die Küchentür auf. Blitzschnell drehte ich mich um. Es war mein Vater. Sein Gesicht schien noch röter als vorher. Er führte die Polizistin und den Polizisten wieder in den Flur. Alle drei blieben verdutzt stehen und starrten mich an. Ich schämte mich fürchterlich, wie ich dastand, in meinem Schlafanzug und mit dem Helm auf dem Kopf.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Dad mit einem Blick zu den Polizisten und nahm mir den Helm ab. »Danny, ab ins Bett. Augenblicklich.«

Ich raste die Treppe hinauf. Oben machte ich meine Zimmertür aber nur auf und wieder zu und ging nicht hinein, sondern blieb draußen und schlich wieder zu meinem Beobachtungsposten am Geländer.

Dad öffnete die Haustür, und die beiden Polizisten traten hinaus ins Freie.

»Wenn es neue Entwicklungen gibt …«, begann mein Vater, doch die Polizistin unterbrach ihn und verkündete mit furchtbar ernster Stimme: »Dann werden wir selbstverständlich sofort mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Vor allem müssen wir morgen noch einmal mit Ihrer Frau sprechen. Das ist Ihnen klar, oder?«

»Ja, natürlich«, sagte Dad. »Es ist alles so schrecklich.«

»Das ist reine Routine, Mr Delaney«, sagte die Polizistin. »Wir melden uns bei Ihnen.«

Ich hörte, wie sie sich entfernten. Dad schloss die Haustür, blieb dann aber eine ganze Weile reglos stehen, starrte auf die Wand und fuhr sich mit einem tiefen Seufzer über die Augen. Schließlich ging er wieder in die Küche, machte die Tür hinter sich zu, und alles wurde ganz, ganz still.


Nachdem Mam ins Bett gegangen war, kam Dad in mein Zimmer, um mit mir zu reden. Ich hatte mich schon hingelegt, aber als er hereinkam, setzte ich mich auf.

»Du bist noch wach«, sagte er leise.

»Ja, ich kann nicht einschlafen. Was ist passiert, Dad? Geht es Pete gut?«

»Pete?«, fragte Dad. »Ja, ihm geht es gut. Dabei fällt mir ein – ich muss ihn unbedingt anrufen. Aber das mache ich morgen. So lange kann es noch warten.«

»Was ist passiert?«, fragte ich noch einmal.

»Es war ein Unfall«, sagte mein Vater mit sanfter Stimme. »Kein Grund zur Aufregung. Ein kleiner Junge ist deiner Mutter vors Auto gelaufen. Er ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Niemand kann etwas dafür, niemand ist schuld.«

Ich starrte ihn nur fassungslos an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann blinzelte ich ein paarmal ganz schnell hintereinander und wartete darauf, dass Dad weiterredete.

»Dem Jungen geht es gut«, fuhr er fort. »Das heißt, nicht richtig gut. Er ist im Krankenhaus. Das ist am besten für ihn, weil man sich dort um ihn kümmert. Bestimmt kommt alles bald wieder in Ordnung. Ich bin mir da ganz sicher.«

»Wie kannst du dir sicher sein?«, fragte ich.

»Weil es so sein muss«, entgegnete er mit Nachdruck. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, hörst du? Alles wird wieder gut. Und nun solltest du schlafen. Wenn du morgen früh aufstehst, sei bitte leise, damit du deine Mutter nicht störst. Das Ganze hat sie sehr mitgenommen.«

Ich nickte. Dad ging wieder, aber ich legte mich erst hin, als ich hörte, wie sich die Schlafzimmertür hinter ihm schloss. Dann machte ich die Augen zu und dachte an den kleinen Jungen. Hoffentlich wurde er wieder gesund. Aber irgendetwas sagte mir, dass er nicht wieder gesund werden würde. Und dass bei uns zu Hause nichts je wieder so sein würde wie vorher.