Kapitel 11
Und dann, eines Morgens, wachte Andy auf. Völlig unerwartet.
Eine Krankenschwester kam in sein Zimmer, um nach ihm zu sehen, und da lag er mit offenen Augen und war hellwach. Er wollte wissen, wo er war und warum und was er da machte, und er fragte nach seiner Mam und nach seinem Dad. Wir saßen gerade beim Frühstück in der Küche, als das Telefon klingelte. Dad ging raus und nahm ab, und als er wieder zu uns kam, war er schneeweiß, und wir hatten alle keine Ahnung, was los war. Er ging zu Mam, die sicher auf das Schlimmste gefasst war, doch er nahm sie in den Arm und sagte, alles sei okay, Andy sei wieder wach, Andy liege nicht mehr im Koma, und er werde nicht sterben. Da fing Mam an zu weinen, aber nicht so wie sonst jetzt die ganze Zeit. Sie weinte, weil alles vorbei war und weil Andy wieder gesund werden würde.
Es war der erste Morgen nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Ich war dort hingebracht worden, als Pete mich im Park gefunden hatte, und musste sechs Nächte bleiben, weil der Arzt sagte, es bestehe die Gefahr einer Lungenentzündung. Außerdem sei ich dehydriert. Ich erinnere mich nicht an besonders viel aus diesen Tagen in der Klinik, außer dass ich in meinem Krankenhausbett aufwachte und wahnsinnigen Hunger hatte. Ich bekam aber immer nur kleine Portionen, weil es hieß, sonst würde mein Körper einen Schock kriegen. Und alle waren da und passten auf mich auf: Pete, Dad und sogar Mam. Die ganze Familie war wieder zusammen.
Zu Hause sollte ich den ganzen Tag im Bett bleiben, damit ich wieder zu Kräften kam. Das hatten die Ärzte gesagt. Deshalb war ich wieder oben in meinem Zimmer, als ein paar Stunden später jemand an meine Tür klopfte. Pete kam herein und machte hinter sich die Tür zu.
»Hast du schon gehört?«, fragte er mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.
»Ja«, antwortete ich. Es war schon nach dem Mittagessen, aber Pete war gerade erst aufgestanden. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, und er musste sich dringend rasieren.
»Und – wie geht’s dir so?«, erkundigte er sich dann.
»Eigentlich ganz gut. Ein bisschen müde. Ich schlafe dauernd wieder ein. Und ich habe immer noch Hunger, dabei esse ich die ganze Zeit.«
»Du bist bestimmt bald wieder normal«, sagte er. »Aber du hast uns allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt, weißt du das? Mam und Dad sind total durchgedreht.«
Ich nickte und schaute weg. Irgendwie schämte ich mich, vor allem, weil anscheinend niemand böse auf mich war, obwohl ich doch weggelaufen war. Stattdessen waren alle netter zu mir als je zuvor.
»Wann bist du gekommen?«, fragte ich Pete. »Ich dachte, du reist kreuz und quer durch Europa.«
»Hab ich ja auch gemacht«, antwortete er. »Ich war in Prag, als Dad angerufen und mir gesagt hat, dass du verschwunden bist.«
»Und dann bist du zurückgekommen?«
Er lehnte sich erstaunt zurück. »Klar bin ich zurückgekommen! Was denkst du denn? Ich habe mich sofort auf den Rückweg gemacht. Knapp sechs Stunden nach Dads Anruf war ich hier. Alle Leute haben dich gesucht. Du warst schon seit drei Tagen verschwunden, als ich gekommen bin, Danny.« Er machte ein ganz ernstes Gesicht. »Was hast du eigentlich die ganze Zeit getan?«
»Ich bin rumgelaufen«, sagte ich. »Am ersten Tag habe ich zwei Hamburger gegessen und bin durch die Läden gezogen. Und dann habe ich versucht, an verschiedenen Stellen zu schlafen, aber das war gar nicht so einfach, weil ich ja draußen im Freien übernachten musste. An dem Abend im Park hatte ich eine Ewigkeit nichts gegessen. Mir war ganz komisch, und ich habe gedacht, gleich muss ich sterben. Aber dann hast du mich gefunden.«
Pete grinste wieder, aber gleichzeitig sah er traurig aus. »Du hättest das echt nicht tun dürfen, Danny. Das weißt du doch, oder? Du hättest nicht weglaufen sollen.«
»Ich musste aber weglaufen!«, sagte ich. »Du hast keine Ahnung, was hier los war. Du warst ja nicht da. Mam hat mit keinem mehr geredet und ist die ganze Zeit wie ein Zombie rumgelaufen. Und Dad musste den ganzen Haushalt übernehmen, und er hat doch null Ahnung, wie das geht. Dann war er total wütend auf mich, weil ich mich mit Andys Schwester angefreundet habe …«
»Ja, das habe ich auch schon gehört.« Pete schüttelte den Kopf. »Das war nicht besonders schlau von dir.«
»Warum denn nicht? Was ist daran falsch?«
»Du bist die ganze Zeit hinter dem Mädchen hergerannt und hast alles gemacht, was sie will, nur damit es ihr gutgeht – dabei hättest du dich eigentlich um Mam kümmern sollen. Dazu sind wir da.«
»Aber sie hat doch gar nicht mit mir geredet!«, protestierte ich. »Echt, du hast keine Ahnung, Pete, du warst nicht hier.«
»Das weiß ich …«
»Und ich wette, du bleibst auch jetzt nicht hier«, brummte ich.
Pete seufzte. »Na ja, der Sommer ist schon fast vorbei. In ein paar Wochen muss ich wieder zurück an die Uni.«
Ich merkte, dass ich ganz wütend wurde – das wäre nämlich alles nicht passiert, wenn Pete hier gewesen wäre. »Du hast doch gesagt, du gehst nicht weit weg auf die Uni«, sagte ich. »Das hast du letztes Jahr gesagt. Und dann hast du es dir anders überlegt und bist nach Schottland gegangen – obwohl du mir vorher versprochen hast, dass du hier in meiner Nähe bleibst.«
»Danny, ich habe was Neues gebraucht …«
»Aber du hast es mir versprochen!«
»Ich habe dir überhaupt nichts versprochen«, entgegnete er ruhig, obwohl er genau merkte, wie ich mich immer mehr in meine Wut hineinsteigerte. »Aber ich verspreche dir, dass du mich besuchen kannst – wenn du mir etwas versprichst.«
»Okay. Und was soll ich dir versprechen?«
»Dass du nie mehr so was Dummes machst. Und falls du wieder mal das Gefühl hast, dass du unbedingt von zu Hause weglaufen musst, dann rufst du lieber mich an und erzählst mir alles.«
Ich nickte. »Okay. Versprochen.«
»Gut.« Er stand auf und verwuschelte mir die Haare. »Dann verspreche ich dir auch, dass du mich besuchen kannst. Aber jetzt geh ich erst mal unter die Dusche. Das muss sein. Ich bin ja total versifft.«
»Danke, dass du mich gerettet hast«, murmelte ich. Er schaute mich an und grinste.
»Dafür sind große Brüder da.«
Bevor die Schule wieder anfing, fuhren wir ein paar Tage zu den Großeltern. Allerdings ohne Pete, weil er sagte, er könne immer noch nach Wien und Berlin fahren, wenn er sich gleich auf den Weg machte. Deshalb fragte Mam Luke Kennedy, ob er mitkommen wolle. Wie sich herausstellte, war Luke an dem Tag, als er mit Sarah davonradelte, zu ihren Eltern gegangen und hatte ihnen gesagt, ich sei gar nicht so schrecklich, wie sie dächten. Doch dieses Zusammentreffen war auch nicht so richtig gut verlaufen, glaube ich. Es dauerte trotzdem gar nicht lang, bis wir drei gute Freunde wurden. Was später zu neuen Problemen führte, aber das ist eine andere Geschichte.
»Du siehst schon wieder viel besser aus, junger Mann«, sagte Benjamin Benson zu mir, als ich zum Auto ging. »Du hast uns allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«
»Aber das ist jetzt alles vorbei«, sagte Mrs Kennedy. »Die Sommerferien waren für dich nicht leicht, stimmt’s, Danny?«
»Ja, stimmt«, sagte ich und packte meine Tasche ins Auto. »Danke, dass Sie Luke erlauben, mit uns mitzufahren.«
Sie lachte. »Dass wir es ihm erlauben? Du meine Güte, Danny – ich hätte keine ruhige Minute mehr gehabt, wenn ich nein gesagt hätte. Ehrlich gesagt – Luke hatte auch keine besonders schönen Ferien. Eigentlich hätte er den größten Teil bei seinem Vater verbringen sollen, aber …« Sie zuckte die Achseln und trat einen Schritt zurück. Mr Benson legte den Arm um sie. »Ah, da kommt er ja!«, rief sie, als Luke mit meiner Mutter aus unserem Haus kam. Er trug eine der Taschen für sie.
»Ist er nicht der perfekte Gentleman?«, fragte Mam und lächelte zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit. Sie war am Tag vorher beim Friseur gewesen und sah allmählich fast wieder aus wie sie selbst. Sie trug eine neue Jeans und ein weißes T-Shirt, und man hatte den Eindruck, als könnte sie es kaum erwarten, endlich ein paar Tage von hier wegzukommen. »Er hat gefragt, ob er mir helfen kann, die Sachen zu tragen. Du hast ihn erstklassig erzogen, Alice.«
Mrs Kennedy lachte wieder. »Zu Hause ist er leider überhaupt nicht so«, sagte sie.
»Doch«, brummte Luke und verfrachtete das Gepäck in den Kofferraum.
Die nächsten Tage verbrachten wir hauptsächlich damit, durch die Wiesen und Felder in der Nähe vom Haus meiner Großeltern zu streunen. Luke erzählte mir, er habe seinen Vater das letzte Mal kurz vor Weihnachten gesehen. Und wenn er ihn anrief, lief es immer gleich: Am Anfang klang sein Dad so, als würde er sich freuen, aber nach ein paar Minuten sagte er dann schon, er müsse leider los. Außerdem versprach er Luke immer wieder, er könne kommen und ihn besuchen – aber jedes Mal fand er kurz vorher einen Grund, warum er absagen musste. Deshalb hatte Luke beschlossen, ihn gar nicht mehr zu fragen, weil er immer so furchtbar enttäuscht war, wenn es wieder nicht klappte.
»Benjamin – Benjamin ist gar nicht so übel, oder?«, sagte er an einem Nachmittag zu mir, als wir auf dem Bauernhof nach Kaninchen fahndeten.
»Ich finde ihn nett«, sagte ich. »Er ist so lustig.«
»Aber irgendwie ist er doch bescheuert.«
»Ja, irgendwie schon«, gab ich zu, »aber lustig ist er trotzdem.«
Luke nickte. »Bevor wir losgefahren sind, hat er mir zwanzig Pfund gegeben und gesagt, ich soll Mam nichts verraten und mir lauter Süßigkeiten kaufen und überhaupt lauter Sachen, die nicht gut für mich sind. Und außerdem hat er noch gesagt, wenn ich wieder in die Schule gehe und die neue Spielzeit anfängt, dann geht er mit mir ins Stadion, wenn ich Lust habe.«
»Und was hast du gesagt?«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe gesagt, dass ich nichts dagegen habe.«
Da wusste ich, dass er gehen würde.
Am letzten Ferienabend klopfte Mam bei mir, als ich schon im Bett lag.
»Störe ich?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf und rückte ein bisschen zur Seite, damit sie sich auf die Bettkante setzen konnte. Sie schaute mich eine ganze Weile an, als würde sie versuchen, irgendetwas zu verstehen. Dann schüttelte sie lächelnd den Kopf.
»Alles fertig für morgen?«, fragte sie.
»Ich glaube schon.«
»Gut. Es tut mir leid, dass du keine richtig schönen Sommerferien hattest.«
»Nicht so wichtig.«
»Doch, es ist wichtig, Danny«, sagte sie. »Es war alles ganz schrecklich. Ich weiß, dass niemand je verstehen wird, was ich durchgemacht habe und wie es sich anfühlt, wenn man für so etwas verantwortlich ist. Schon der Gedanke, diesen Jungen verletzt zu haben … Wenn er nicht wieder gesund geworden wäre – ich weiß nicht, wie ich das verkraftet hätte. Ehrlich gesagt – ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich je wieder ans Steuer setze.«
»Aber es war doch gar nicht deine Schuld!«, sagte ich.
»Ich weiß, ich weiß.« Sie lächelte. »Aber das spielt dabei keine Rolle. Ich glaube, ich habe einfach nicht mehr genug Selbstvertrauen. Überleg doch nur, wie viele Leute davon betroffen waren. Und wie es sich auf dich ausgewirkt hat.«
»Aber Mam – du hast mir doch nichts getan!«, rief ich, weil es mir gar nicht gefiel, dass meine Mutter sich bei mir für etwas entschuldigte. Sonst sagte ich doch immer zu ihr, dass mir etwas leidtat.
»Doch«, sagte sie. »Ich habe dich im Stich gelassen. Ich war in den Wochen nach dem Unfall nicht richtig deine Mutter, und wir wissen alle, welche Folgen das für dich hatte. Dir hätte so viel zustoßen können, als du ganz allein herumgelaufen bist. Bitte, tu mir das nie wieder an, hörst du?« Sie klang richtig aufgeregt.
»Ich tu’s nie wieder. Versprochen.«
»Gut. Jetzt ist ja alles vorbei. Morgen gehst du in die Schule. Andy Maclean ist wieder zu Hause bei seiner Familie. Alles ist so, wie es sein soll. Ab morgen ist die Welt wieder normal, stimmt’s?«
Ich nickte und lächelte. Genau das hatte ich hören wollen. Sie gab mir einen Gutenachtkuss, dann ging sie zur Tür. »Bleib nicht so lang wach«, sagte sie noch. »Morgen ist nämlich wieder Schule.«
»Ja, klar.«
Sie ging hinaus. Ich blieb noch eine Weile aufrecht im Bett sitzen und fühlte richtig, dass die ganzen Probleme der letzten Wochen endlich von mir abgefallen waren und dass mein altes Leben, das Leben, von dem ich gedacht hatte, es sei für immer vorbei, wieder zu mir zurückkommen würde, wenn ich morgen früh aufwachte. Ich nahm David Copperfield vom Nachttisch. Ich hatte ewig nichts mehr gelesen, aber jetzt ging’s weiter. Im Sommer hatte ich so viel Zeit verplempert – sonst hätte ich das Buch ja längst fertig und ein neues angefangen.
Mein Buchzeichen steckte immer noch zwischen den entsprechenden Seiten in der Mitte, und ich begann zu lesen. Es war das Kapitel, in dem David zu Agnes geht, nachdem er sich am Abend vorher im Theater betrunken hat, und sie sagt, es ist nicht so schlimm, und sie verzeiht ihm, und er sagt zu ihr, sie ist sein guter Engel.