Kapitel 5
»Natürlich war sie nicht betrunken«, sagte Dad, als ich ihm am nächsten Tag alles erzählte. »Meine Güte, Danny – hast du deine Mutter schon mal betrunken erlebt? Weißt du überhaupt, was das heißt?«
»Petes Freunde sind immer betrunken, wenn sie hier übernachten«, antwortete ich.
»Hmmm«, brummte Dad und nahm die Brille ab, um die Anweisungen auf der Spaghetti-Packung zu studieren. »Das stimmt. Aber du kennst doch deine Mutter. Es war ein Unfall. Die Polizei weiß das. Die Eltern des kleinen Jungen wissen es auch. Sogar Mam weiß es.«
»Warum ist sie dann so komisch?«
»Weißt du – es war zwar nicht ihre Schuld, aber sie fühlt sich trotzdem irgendwie verantwortlich. Das verstehst du doch, oder? Sie ist nach Hause gefahren, vom Einkaufen, Parker Grove entlang. Eine Zeugin hat den ganzen Hergang beobachtet. Sie hat ausgesagt, dass deine Mutter gar nicht schnell gefahren ist, aber Andy, der kleine Junge, kam wie ein Blitz aus einem Haus geschossen. Er ist auf die Straße gerannt, ohne nach links oder rechts zu schauen. Mam hatte keine Chance, noch rechtzeitig zu bremsen. Wir wissen nicht einmal, was der kleine Junge dort gemacht hat. Er wohnt gar nicht in dem Haus, sondern ein paar Häuser weiter, auf der anderen Straßenseite.«
»Vielleicht hat er sich verlaufen«, sagte ich.
»Kann sein – das wird man schon noch herausfinden, da bin ich mir sicher.«
»Meinst du, er stirbt?«, fragte ich leise. Dad schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, es wäre gut, wenn du noch ein bisschen rausgehst«, sagte er dann. »Das Essen ist frühestens in einer Stunde fertig.«
Ich seufzte und ging hinaus in den Garten. Mein Fahrrad stand noch da, wo ich es gestern abgestellt hatte, an dem Zaun zwischen unserem und Luke Kennedys Haus. Ich schwang mich auf den Sattel, und in dem Moment sah ich sie zum ersten Mal. Sie stand neben einem Baum und beäugte mich von der anderen Straßenseite aus. Rötliche Haare, die ihr bis zu den Schultern gingen, Bluejeans mit einem weißen Muster auf den Knien, das aussah wie Gänseblümchen. Sie war etwa so alt wie ich, aber ich kannte sie nicht, das heißt, sie ging nicht in meine Schule.
Ich fuhr los und an ihr vorbei, ohne zu bremsen. Aber ich schaute sie genau an. Warum beobachtete sie mich? Das muss ich unbedingt herausfinden!, dachte ich, als ich um die Ecke bog.
Unterwegs hatte ich einen Platten, und weil ich kein Flickzeug dabeihatte, musste ich das Rad den ganzen Weg nach Hause schieben. Normalerweise nahm ich immer die Abkürzung durch die Wohnanlage, aber diesmal entschied ich mich für eine andere Strecke: Parker Grove entlang, die Straße, auf der Mam gefahren war, als ihr der kleine Junge vors Auto lief.
Die Straße war ganz ähnlich wie unsere, mit vielen Bäumen. Ich wusste nicht, in welchem Haus Andy wohnte, aber während ich mein Fahrrad den Gehweg entlangschob, bog ein Auto in eine Einfahrt. Eine Frau rannte über die Straße zu dem Paar, das gerade ausstieg.
»Michael! Samantha!«, rief sie. »Wie geht es Andy? Gibt’s was Neues?«
»Er … na ja, sein Zustand hat sich nicht verschlechtert«, antwortete die Frau, die sie mit Samantha angesprochen hatte. Sie redete sehr leise. »Die Ärzte sagen, das ist ein gutes Zeichen. Es heißt doch immer, die ersten achtundvierzig Stunden sind entscheidend, stimmt’s?«
»Ja, genau. Wenn er stabil ist, dann ist das viel wert«, sagte die Frau. »Bestimmt wacht er bald wieder auf.«
»Das Schlimmste ist für mich, dass er auf nichts reagiert.« Samantha schüttelte traurig den Kopf. »Wir reden die ganze Zeit mit ihm. Wir spielen ihm die Lieder vor, die er gern hört. Und heute Morgen haben wir ihm ein Video gezeigt, einen Zeichentrickfilm, den er sich zu Hause dauernd angeschaut hat. Immer wieder. Aber – nichts. Es ist, als wäre er …«
Sie sprach nicht weiter, weil ihr die Tränen kamen. Ich blieb stehen, um meinen Reifen zu untersuchen, und entdeckte auch tatsächlich eine kleine Glasscherbe im Profil, als ich das Vorderrad ein paarmal vor- und zurückdrehte – eigentlich suchte ich ja gar nicht richtig nach der Ursache des Platten, aber ich fand sie trotzdem. Vorsichtig drückte ich mit zwei Fingern dagegen, und es gelang mir, die Scherbe zu entfernen. Der Reifen zischte, weil jetzt die Luft vollends entweichen konnte. Es wäre echt besser gewesen, ich hätte gewartet, bis ich zu Hause war.
»Und wie wird Sarah mit der Situation fertig?«, fragte die Frau. Andys Mutter schniefte, als hätte sie einen schlimmen Schnupfen. Wenn ich so ein Geräusch machte, sagte meine Mutter immer, ob ich denn kein Taschentuch habe.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete die Mutter. »Sie redet nicht mit uns darüber. Bis jetzt hat sie kein Wort über den Unfall gesagt. Ich habe noch nie erlebt, dass sie sich so zurückzieht.«
Dann verstummte sie, und als ich aufblickte, sah ich, dass die beiden Frauen mich neugierig musterten.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Andys Mam.
»Ja, kein Problem«, sagte ich.
»Was ist mit deinem Fahrrad?«
Ich räusperte mich und versuchte einen möglichst lässigen Eindruck zu machen. »Ich habe einen Platten«, erklärte ich und richtete mich auf. »Eine Glasscherbe – ich habe sie gerade gefunden.« Die Frauen wandten sich immer noch nicht ab. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als mein Rad nach Hause zu schieben«, sagte ich noch, packte den Lenker und marschierte los.
Die beiden schwiegen, aber ich wusste genau, dass sie mir nachschauten. Bis zur Straßenecke brauchte ich etwa zwei Minuten, und ich spürte die ganze Zeit ihre Blicke im Rücken. Normalerweise wäre ich so schnell wie möglich davongerast, aber unter den gegebenen Umständen ging das leider nicht.
Endlich bog ich um die Ecke und war außer Sichtweite, aber ich brauchte immer noch fast zwanzig Minuten nach Hause. Und da war sie wieder. Das Mädchen mit den roten Haaren. Am anderen Ende der Straße saß sie, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, und ich wusste sofort, dass sie auf mich wartete. Aber warum? Das konnte ich mir nicht erklären. Ich hatte dieses Mädchen in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Aber aus irgendeinem Grund war mir sonnenklar, dass sie mit mir reden wollte.
Ich verlangsamte mein Tempo, als ich mich ihr näherte. Sie blickte hoch und musterte mich aufmerksam, dann stand sie auf. Mit den Händen klopfte sie ihre Jeans ab. Ich drehte mich weg, weil ich wissen wollte, ob sie mich immer noch beobachtete, wenn ich wieder hinschaute. Tatsächlich. Unter normalen Umständen rede ich nicht gern mit Mädchen, weil sie mich immer anglotzen, als käme ich vom Mond. Aber jetzt hatte ich keine andere Wahl, als stehen zu bleiben und mit diesem Mädchen zu reden. Das musste einfach sein.
»Hi«, sagte ich, als ich schon fast vor ihr stand, mein Fahrrad zwischen uns.
»Bist du Danny?«, fragte sie.
»Ja. Warum?«
»Hab ich mir’s doch gedacht«, sagte sie. »Ich habe dich vorhin schon gesehen.«
»Ich dich auch. Du hast vor unserem Haus gewartet und mich beobachtet«, sagte ich.
Sie machte ein Gesicht, als wollte sie mir widersprechen, aber dann zuckte sie die Achseln. »Ja, stimmt.«
Und auf einmal machte es klick, und ich wusste, wer sie war.
»Du bist Sarah, stimmt’s?«, fragte ich sie. »Andys Schwester.«
Sie nickte. So war das also: Ich hatte heute Nachmittag ihre Familie ausspioniert, und Sarah hatte fast die ganze Zeit unser Haus belagert. Und erst jetzt redeten wir miteinander, nachdem der Tag schon so gut wie vorbei war. Wir waren wie zwei Geheimagenten, die von dem ganzen Theater die Schnauze voll hatten und beschlossen, aus der Deckung zu kommen.