Kapitel 4
Später schauten wir fern, als das Telefon klingelte. Mrs Kennedy ging aus dem Zimmer und redete ein paar Minuten im Flur. Dann steckte sie den Kopf durch die Tür.
»Danny«, sagte sie. »Es ist dein Vater. Er möchte mit dir sprechen.«
»Hallo!«, rief ich aufgeregt ins Telefon.
»Hallo, Danny«, antwortete Dad. »Entschuldige, dass wir nicht da waren, als du nach Hause gekommen bist.«
»Ist schon okay«, brummelte ich, obwohl es echt nicht okay gewesen war.
»Hast du was zu Abend gegessen?«
»Ja.«
»Gut. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
»Was für einen?«
»Es macht dir doch nichts aus, heute Abend bei Mrs Kennedy zu bleiben, oder?«
Mir wurde ganz komisch. Ich wollte nach Hause! Ich wollte, dass wir alle zu Hause waren.
»Wieso sagst du das?«, fragte ich. »Wo bist du überhaupt?«
Dad schwieg einen Moment. »Habe ich dir das noch gar nicht gesagt?«
»Nein.«
»Wir sind im Krankenhaus, Danny«, murmelte er leise. »Deiner Mutter geht es nicht so gut, das habe ich dir ja schon erzählt.«
Ich machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber ehe ich ein Wort herausbrachte, hatte Mrs Kennedy mir schon das Telefon aus der Hand genommen. Sie stand plötzlich neben mir, ohne dass ich sie gehört hatte.
»Russell?« Sie klang jetzt ganz energisch. »Ich bin’s wieder, Alice. Hör zu – ihr braucht euch keine Gedanken zu machen. Wir sitzen alle gemütlich vor dem Fernseher, und Danny geht es gut. Du und Rachel, ihr müsst euch jetzt erst mal um euch selbst kümmern.« Danach schwieg sie, und ich hörte, dass die Stimme am anderen Ende etwas sagte, verstand aber kein Wort. »Ich kann jederzeit einen Tag freinehmen«, sagte Mrs Kennedy. Dann kam wieder eine Pause. »Ja, klar, wenn euch das hilft.« Noch eine Pause. »Okay, gut, dann sehen wir euch morgen früh.« Sie schaute in meine Richtung und schien dann rasch eine Entscheidung zu treffen, denn sie drehte sich von mir weg und murmelte: »Ich soll euch von Danny gute Nacht sagen.« Dabei hatte ich nichts Derartiges auch nur angedeutet. »Bis morgen. Gute Nacht, Russell.«
Sie legte das Telefon weg und schaute mich an.
»Hör zu, Danny«, sagte sie. »Du musst das Ganze als eine Art Abenteuer betrachten.«
»Aber – wo soll ich schlafen?«, fragte ich.
»In Lukes Zimmer«, antwortete sie. »Er hat ein Etagenbett.«
Das klang schon besser. Ich nickte. »In welchem Bett schläft er? Oben oder unten?«
»Wo möchtest du lieber schlafen?«, fragte mich Mrs Kennedy.
Ich überlegte kurz. »Oben.«
»Dann schläft Luke unten«, verkündete sie und zwinkerte mir zu. »Komm, wir gehen ins Wohnzimmer. Gleich kommt meine Lieblingssendung.«
Später holte Mrs Kennedy Bettwäsche, ein Kopfkissen und eine Decke aus einem Schrank und richtete das obere Etagenbett für mich her. Dann gab sie mir einen von Lukes Schlafanzügen. Wir standen alle drei etwas ratlos da, Luke, seine Mutter und ich, aber Mrs Kennedy kapierte schnell, was los war.
»Ich komme in ein paar Minuten wieder und sehe nach, ob alles in Ordnung ist«, sagte sie. »Im Bad liegt eine frische Zahnbürste für dich, Danny. Du siehst gleich, welche ich meine, weil sie noch verpackt ist.«
Ich ging ins Bad und putzte mir ausführlich die Zähne. Als ich wieder herauskam, sah ich, dass die Tür links von mir halb offen stand. Neugierig spähte ich hinein. Es war Mrs Kennedys Schlafzimmer. Zwar brannte kein Licht, aber die Vorhänge waren noch offen, und das Mondlicht schien durchs Fenster. Dadurch sah alles ganz unwirklich aus. Dunkle Schatten und ein matter Silberglanz. Ich wusste, dass ich nicht hineingehen sollte, aber irgendwie konnte ich nicht anders. Mrs Kennedys Bett war riesengroß, viel größer als das meiner Eltern. Rechts stand eine Frisierkommode mit unglaublich vielen Fläschchen und Dosen. Wie konnte sie das ganze Zeug unterscheiden? Ich ging zum Fenster und schaute hinaus. Ich sah mein eigenes Zimmer auf der anderen Seite des Zauns. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Das heißt, ich schaute jetzt auf die Stelle, von der aus ich Mrs Kennedy beobachtet hatte. Ich wusste nämlich noch genau, wo ich gestanden hatte, als ich sie abends im BH sah. Ich konnte die Poster an meiner Wand erkennen und das dreckige T-Shirt, das ich über die Stuhllehne gehängt hatte.
Wenn Mam zu Hause wäre, hätte sie es längst gewaschen.
»Bist du fertig im Bad?«, fragte Luke, als ich wieder in sein Zimmer kam. Ich nickte. Er hatte inzwischen seinen Schlafanzug angezogen und marschierte an mir vorbei ins Badezimmer. Nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte, zog ich mich auch blitzschnell aus und schlüpfte in den Pyjama, den Mrs Kennedy für mich bereitgelegt hatte. Als Luke zurückkam, war ich gerade dabei, meine Hose und mein Hemd ordentlich zusammengefaltet über den Stuhl zu legen. Dann kletterte ich die Leiter zum oberen Bett hinauf und kroch unter die Decke.
»Benjamin ist ein Blödmann, stimmt’s?«, begann Luke unvermittelt.
»Mr Benson?«, fragte ich, und als er nickte, fuhr ich fort: »Ich finde ihn gar nicht so übel. Er sieht aus wie ein Eisbär.«
»Eigentlich dürfte er gar nicht hier sein«, schimpfte Luke. »Er hat kein Recht, für uns zu kochen. Das hier ist Dads Haus. Wenn ich im Sommer zu ihm fahre, sage ich ihm alles.«
Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Sie war mit lauter winzigen Sternen bedeckt, die jetzt im Dunkeln leuchteten. So ähnlich war es bestimmt, wenn man hoch oben auf einem Berg im Freien übernachtete. Ich strecke den Arme aus, um einen Stern zu berühren, schaffte es aber nicht ganz.
»Was ist eigentlich bei euch los?«, fragte Luke nach einer Weile.
»Nichts«, antwortete ich.
»Doch, klar ist was los. Erzähl schon.«
»Nein, es ist nichts«, entgegnete ich ärgerlich. Ich wollte nicht, dass er mich ausfragte.
Er schnaubte ungeduldig. »Da hab ich aber ganz was anderes gehört.«
»Und – was hast du gehört?«
»Ich habe gehört, dass deine Mutter betrunken war und jemanden überfahren hat, und der ist dann gestorben.«
Ich setzte mich auf. »Stimmt doch gar nicht!«, protestierte ich.
»Das hat meine Mutter aber gesagt.«
»Ehrlich?« Ich war schockiert.
»Na ja, nicht ganz«, gab Luke zu. »Sie hat nicht gesagt, dass er tot ist. Aber dass er höchstwahrscheinlich stirbt. Er liegt im Koma, und es sieht nicht gut aus. Ich habe gehört, wie sie das gesagt hat, bevor du hierhergekommen bist.«
Ich legte mich wieder hin und schaute zu den Sternen. Mir war innerlich kotzelend. Da klopfte es leise, und die Tür ging auf, erst nur ein kleines Stück und dann ganz. Ein Lichtstrahl erhellte das Zimmer, und Mrs Kennedy kam herein.
»Ist bei euch beiden alles in Ordnung?«, fragte sie. »Hast du alles, was du brauchst, Danny?«
»Schläft Danny morgen Nacht auch hier?«, wollte Luke wissen.
»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Mrs Kennedy. »Das sehen wir dann.«
»Kann es sein, dass ich morgen wieder hier schlafen muss?«, fragte ich. Wie lang ging das noch so weiter?
»Mach dir am besten keine Gedanken«, beruhigte sie mich. »Jetzt schlaft ihr erst mal, und morgen wissen wir mehr. Und dass ihr mir ja nicht die ganze Nacht durchquatscht, verstanden? Es ist schon sehr spät.«
Sie beugte sich über das untere Bett, und ich hörte, wie sie Luke einen Gutenachtkuss gab.
»Schlaf gut, Danny«, sagte sie dann und lächelte mir zu. »Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du irgendetwas brauchst.«
»Es ist die zweite Tür rechts«, erklärte Luke.
»Ich glaube, Danny weiß das schon.« Im Mondlicht konnte ich sehen, dass sie lächelte, als sie ging, und obwohl es dunkel war im Zimmer, war ich ganz verlegen und merkte, dass mein Gesicht feuerrot anlief.
Luke und ich sagten beide kein Wort, und nach einer Weile hörte ich, dass er sich auf die Seite drehte und dass seine Atemzüge langsamer wurden. Wahrscheinlich ist er eingeschlafen, dachte ich.
»Sie war nicht betrunken«, flüsterte ich leise.