15. KAPITEL
„Ich hätte nicht gedacht, dass du fragst“, sagte Luke und verzog das Gesicht, als ihm klar wurde, wie viel Wahrheit er mit seinen Worten enthüllt hatte. Er war sich so sicher gewesen, dass April nicht fragen würde, dass er geschwommen war, bis ihm die Puste ausgegangen war und sich seine Arme wie mit Bleigewichten beschwert angefühlt hatten. Er hatte es kaum mehr geschafft, sich ins Boot zu hieven. Leider hatte es nicht dazu beigetragen, seinen Testosteronspiegel zu senken, aber vielleicht half es ihm ja jetzt, seine Lust noch ein wenig zu zügeln.
April eine Gelegenheit zu geben, ihre Meinung noch einmal zu ändern, kam nicht in Frage. Er stand eilig auf und ging auf sie zu. Als er bei ihr angelangt war, legte er ihr einen Arm in die Kniekehlen und den anderen hinter den Rücken und hob sie hoch. Er trug sie über die Schwelle der Kabine und schob das Fliegengitter mit dem Fuß hinter sich zu.
Am Bett zögerte er einen Moment, obwohl sich die Rundungen unter dem dürftigen Ersatz für ein Nachthemd so köstlich anfühlten, dass er es kaum schaffte, ein wollüstiges Aufstöhnen zu unterdrücken. Er stand breitbeinig da und schwankte, hin und her gerissen in einer Mischung aus Zweifeln und einer Begierde, die ihn fast um den Verstand brachte. Schließlich fragte er: „Willst du das wirklich?“
„Ja, wenn du es auch willst“, flüsterte sie.
„Dass ich es will, weißt du, aber ich muss sicher sein, dass ich nicht zu weit gehe.“
Sie fuhr ihm mit den Fingerspitzen über die Lippen, während sie mit einem Lächeln in der Stimme murmelte: „Du denkst zu viel. Aber wenn es dir hilft, verspreche ich dir zu sagen, wenn du aufhören sollst.“
Das war genug.
Er dachte nicht nur zu viel, sondern redete auch zu viel; er flüsterte ihr Komplimente und Dummheiten ins Ohr, die nichts besagten, außer, wie grenzenlos sein Verlangen nach ihr war. Und Bitten und Fragen nach Stellen, Stellungen und Grad. Aber er war stumm vor Verwunderung, als er mit der Ehrfurcht eines Jungen aus den flachen Sümpfen, der zum ersten Mal einen Berg ersteigt, die Spitzen ihrer Brüste vermaß, und mit der Vorsicht eines Forschungsreisenden, der ein gefährliches Gebiet erkundet, die Geheimnisse ihres Körpers entdeckte. Er hatte alle Zeit der Welt, und er nutzte sie, um tausend Empfindungen und Eindrücke zu sammeln.
April, die Schriftstellerin, für die Worte das Rüstzeug waren, schwieg. Er wusste aus der Vergangenheit, dass ihr die Worte stets dann ausgingen, wenn sie sie am nötigsten brauchte. Deshalb rüttelte er sanft an der mentalen Barriere, die sie zurückhielten, indem er sie neckte und Späße machte, bis sie in seinen Freudengesang der Erwartung einstimmte.
Sie war unendlich empfindsam. Ein ihre Haut streifender Atemzug konnte sie dazu bringen, dass sie in heftiger Lust erschauerte. Sie war zu gesittet oder zu rücksichtsvoll, um ihm im Überschwang der Leidenschaft mit ihren Fingernägeln den Rücken zu zerkratzen, aber sie klammerte sich verzweifelt an ihn und zeigte ihm unbeirrt, was sie brauchte. Und ihr das zu geben, war für ihn das höchste der Gefühle.
Sie war voller Liebreiz und Aufmerksamkeit, eine vornehme Lady mit fest zupackendem Griff und schwelgerischen Neigungen. Sie war Samt und Seide und süß duftendes Wunder. Sie war einfach herrlich. Sich in ihren weichen Tiefen zu verlieren, bis sein Herzschlag mit ihrem verschmolz, war eine Vollendung, für die er geboren war, der Trost, nach dem er seit einer Ewigkeit vergebens gesucht hatte. Sie beide durch silbrig gestreifte Dunkelheit zu wirbeln, war sein einziges Ziel, die Belohnung für alles Gute, was er in seinem Leben getan hatte, für jede Anstrengung, die er je unternommen hatte. Bei ihr war sein natürlicher Platz. Erst das Verschmelzen mit seiner anderen Hälfte machte ihn zu einem Ganzen.
Anschließend hielt er sie in seinen Armen, starrte blind in die Dunkelheit und verfluchte in stummem Zorn das Schicksal, das ihn in einer einzigen leichtsinnigen Nacht um Jahre beraubt hatte, in denen er April hätte lieben können. Und er hatte Angst, schreckliche Angst, dass er sich mit nicht mehr als einer Kostprobe ihres süßen Versprechens würde abfinden müssen, wo er doch schon einmal alles hätte haben können.
Die Sonne, die ihm ins Gesicht schien, weckte Luke. Während er sich gähnend auf die andere Seite wälzte, stieg ihm der angenehme Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee und gebratenem Speck, vermischt mit dem unterschwelligen Geruch zerwühlter Laken, in die Nase. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, dann reckte er sich genüsslich, bis seine Gelenke knackten.
Sein Ellbogen berührte etwas Warmes, Pelziges. Es war nicht das, was er gehofft hatte, und bestimmt nicht das, was er vorgezogen hätte, weil April bereits auf war.
Verfluchter Kater.
Luke öffnete ein Auge und schielte neben sich. Er war praktisch Nase an Nase mit dem Vieh. Aber es reichte nicht aus, um ihm die Laune zu verderben. In einem Anfall von Gutmütigkeit hob er den Kater hoch und ließ ihn in der Luft baumeln. Midnight gab ein träges fragendes Miauen von sich.
„Dir auch guten Morgen, Freund. Wo warst du, als dein Frauchen uns verlassen hat, hm? Du hättest mich wenigstens wecken können, bevor sie sich dünngemacht hat.“
„Miau“, gab Midnight zurück.
„Na ja, ich weiß, dass du eine unruhige Nacht hattest, es tut mir Leid, aber du wirst schon über die Aufregung hinwegsehen müssen, zumal ich mir sicher bin, dass sie bei dir dasselbe macht.“
Die Katze miaute wieder.
„In letzter Zeit nicht? Und was war mit deinem Dreitagesausflug kürzlich? Du weißt doch genau, dass sie bei dir nur ihr Bestes gibt. Und das ist gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, was für ein begrenztes Verständnis sie von männl…“
„Männlicher Selbstgefälligkeit?“ ergänzte April von der Tür aus.
Er wandte den Kopf und lächelte sie an. „Bedürfnissen wollte ich sagen.“
„Mein Verständnis auf diesem Gebiet nimmt sprunghaft zu. Das Frühstück ist bereit.“
„Ich auch.“ Der Hunger in seiner Stimme hatte nichts mit Schinken oder Kaffee zu tun.
Sie hob eine Augenbraue. „Wirklich?“
„Wirklich.“
„Es ist dein Preisfrühstück.“
„Mein was?“
„Für unsere Wette?“
Für die idiotische Herausforderung hatte sie gemeint. Sie hatten gewettet, dass sie Frühstück machen müsse, wenn sie seinen Verführungskünsten erlag. Er schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“
Während sie auf ihn zuging, machte sie den Gürtel ihres kurzen Morgenmantels auf, so dass das Kleidungsstück sich öffnete und ihre Nacktheit enthüllte. Sie nahm ihm den Kater ab und setzte ihn auf den Boden, dann ließ sie sich vorsichtig mit gespreizten Beinen auf seinen Schenkeln nieder. „Manchen Leuten kann man es nie recht machen“, beschwerte sie sich.
„Aber wir gehören nicht dazu“, sagte er in heiserer Bewunderung, während er die Hände nach ihr ausstreckte.
„Miau“, stimmte Midnight zu.
Schon am späten Vormittag dieses Tages herrschte eine infernalische Hitze. Luke setzte die Zündkerzen wieder ein, die er am Vortag herausgenommen hatte, säuberte den Motor und stellte ihn neu ein, dann füllte er Benzin nach. Und da er schon mal dabei war, überprüfte er gleich auch noch die Anschlüsse. Wenn er etwas zu tun hatte, verging die Zeit schneller, außerdem war es gut, bereit zu sein, für den Fall, dass sie schnell wegmussten.
Anschließend machte er das Vorderdeck ein bisschen sauber, kehrte Schmutz und Blätter weg, entfernte die ewigen Spinnweben von der Reling und reinigte den Grill, auf dem er gestern Abend den Fisch gebraten hatte. Als er mit allem fertig war, fühlte er sich schmutzig und verschwitzt, deshalb sprang er mit seiner abgeschnittenen Jeans, die alles war, was er am Leib trug, kurzerhand kopfüber in den See, um sich abzukühlen. Nachdem er wieder an Bord war, machte er sich nicht die Mühe, sich umzuziehen, sondern ließ die Jeans am Körper trocknen.
Er entdeckte zu seiner Freude, dass April sich ebenfalls bis auf Shorts und ein Tanktop ohne BH entblättert hatte. Sie ließ ihn allein auf dem Boot herumwuseln und versuchte, sich auf ihre Schreiberei zu konzentrieren. Zuerst arbeitete sie am Laptop, aber dann schien sie es satt zu haben, ständig mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm schauen zu müssen, und ging schon bald zu Spiralblock und Füller über. Während der nächsten Stunden bewegte sie sich nur ein einziges Mal, um dem Schatten vom hinteren Deck auf das vordere zu folgen. Luke ließ sie in Ruhe.
Am Spätvormittag suchte er die Sonnenmilch heraus und brachte sie ihr. Er hätte es gern gehabt, wenn sie ihn gebeten hätte, sie einzucremen, aber er ertrug es mannhaft, dass ein derartiges Ansinnen ausblieb. Er sollte sein Glück besser nicht herausfordern.
Als am Nachmittag ein Gewitterschauer niederging und sie in die Kabine trieb, wurde er für seine Geduld belohnt. Sie liebten sich, während der warme Regen aufs Kabinendach trommelte und der feuchte Wind durch die Fliegengitter fegte und ihre überhitzten Körper kühlte. Völlig erschöpft schliefen sie ein und erwachten erst, als die Sonne wieder herauskam und die Innentemperatur so hochtrieb, dass ein Bad im See eine herrliche Erfrischung war.
Am späten Abend angelte Luke wieder einen Barsch, und Midnight schaute mit aufgeregt zuckendem Schwanz zu. Beim Säubern des Fischs warf er dem Kater hin und wieder einen Brocken zu, wenn April gerade nicht hinschaute. Falls sie es bemerkte, sagte sie nichts. Und vielleicht hatte sie im Grunde ja doch gar nicht so viel dagegen.
Ergebnis seiner Gutmütigkeit war, dass ihm der Kater von Stund an auf Schritt und Tritt folgte. Aber natürlich spielten das gelegentliche Kraulen hinterm Ohr und die sinnlosen Worte, die er dem Katzenvieh im Lauf des Tags zukommen ließ, auch eine Rolle. Es ließ sich nicht umgehen. Das arme Tier konnte an Bord den ganzen Tag nichts anderes tun, als zu fressen und zu dösen, und von seiner rechtmäßigen Besitzerin, die in ihre Arbeit vertieft war, bekam es nur wenig Aufmerksamkeit. Nicht dass er plötzlich für Midnight eine heimliche Schwäche entwickelt hätte oder etwas Derartiges, beileibe nicht. Er verstand nur, wie der Kater sich fühlte.
Als die Dunkelheit hereinbrach und sein Hunger so groß wurde, dass er ihn nicht länger ignorieren konnte, fragte er den Kater: „Was glauben Sie, was Miss April heute gern zum Abendessen hätte?“
Midnight hockte sich hin und überlegte, dann gab er ein zögerndes Miauen von sich.
„Fisch? Ein hervorragender Vorschlag, Mister Midnight. Wir haben heute Abend zufällig einen schönen Barsch da. Was meinen Sie, wie ihn die Lady lieber hätte, gebraten oder im Backofen gegart?“
Midnight wandte den Kopf und gähnte.
„Wohl wahr“, stimmte Luke nachdenklich zu. „Es ist wirklich zu heiß für den Backofen, ganz abgesehen von der vielen Arbeit. Aber mit dem Herd ist es dasselbe.“
April schaute von ihrer Arbeit auf und sagte lächelnd: „Wie wärs mit Grillen?“
„Hast du das gehört, Midnight, alter Junge?“ rief Luke aus. „Sie hat gesprochen. Sie hat uns die Ehre erwiesen, vier ganze Worte an uns zu richten. Und es ist ein brillanter Vorschlag, möchte ich hinzufügen. Ich wusste doch, dass wir einen guten Grund haben, sie um uns zu dulden.“
„Miau.“
„Nun ja, ich verstehe, was Sie meinen. Und ich bin auch bereit zuzugeben, dass sie hochkonzentriert arbeitet. Aber wir haben so wenig Zeit im Bett verbracht, dass …“
„Du darum bittest“, unterbrach ihn April.
„Besser als zu betteln, findest du nicht?“ Luke versuchte Mitleid erregend dreinzuschauen, aber er fürchtete, dass es nicht sehr glaubwürdig war.
Sie klappte ihren Notizblock zu und legte sorgfältig ihren Füller obenauf. „Ich mache den Salat“, verkündete sie, „dann dauert es nicht so lange, bis wir vom Hauptgericht zu … zur Nachspeise übergehen können.“
So wie an diesem Tag ging es die nächsten beiden Tage weiter. Es war eine erholsame Zeit. Luke genoss es größtenteils, nur für den Augenblick zu leben. Und manchmal erlaubte er sich sogar zu vergessen, warum sie hier waren, und dass irgendwann irgendwer sie in ihrem Idyll aufstöbern könnte, jemand der die Absicht hatte, April etwas anzutun. Doch selbst in diesen Momenten horchte er sofort instinktiv auf, wenn er ein ungewöhnliches Geräusch hörte, und suchte mit Blicken das Ufer nach einer Bewegung ab, so unwahrscheinlich es auch sein mochte. Es gab nicht viele Leute, die diese kleinen Nebenarme kannten, und noch weniger konnten sie zufällig finden.
Als er am Nachmittag des dritten Tages die Kabine aufräumte, stolperte er zufällig über einen von Aprils Romanen. Ihm fiel ein, dass er schon früher daran gedacht hatte, irgendwann mal eine ihrer Geschichten zu lesen, deshalb griff er jetzt nach dem Buch und drehte es in den Händen. Der Umschlag, auf dem sich eine Frau und ein Mann in eindeutiger, aber ungewöhnlicher Pose umarmten, war leuchtend metallicblaugrün und die kupferfarbene Aufschrift erhaben. Ein bisschen grell vielleicht, aber auffällig. Die kurze Inhaltsangabe auf der Rückseite klang interessant, die Geschichte handelte von einem Ex-CIA-Agenten und einer auf ihre Unabhängigkeit bedachte Frau.
Luke ging mit dem Buch auf das schattige hintere Deck hinaus und machte es sich auf der Bank bequem. Er blätterte vor und zurück, schmökerte hier und da ein bisschen und stieß schließlich einen leisen anerkennenden Pfiff aus. Dann fing er von Anfang an zu lesen.
Etwa eine Stunde später kam April vom Kabinendach herunter, wo sie gearbeitet hatte und das auch als Sonnendeck diente. Sie war auf dem Weg in die Kabine, blieb jedoch stehen, als sie ihn mit dem Buch auf der Brust und Midnight hinter sich auf der Bank liegen sah, und schaute ihn an.
Nach einer Weile sagte sie: „Dir muss ja wirklich schrecklich langweilig sein.“
„Überhaupt nicht“, gab er mit dem Anflug eines Grinsens zurück, dann steckte er seine Nase wieder in das Buch.
„Ich dachte immer, du liest nicht viel.“
Das wurmte ihn aus irgendeinem unerfindlichen Grund ganz kurz. „Na, jetzt weißt du, dass es nicht stimmt.“
„Bestimmt gibt es hier noch irgendetwas, was mehr dein Fall ist“, sagte sie mit einem angespannten Unterton in der Stimme.
Jetzt wandte er ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. „Und was, glaubst du, könnte das wohl sein?“ fragte er mit hochgezogener Augenbraue. „Ein Pornoheftchen oder bloß der Playboy?“
„Ich habe nicht gemeint …“
„Doch, das hast du.“
Sie wurde rot und schaute auf ihre nackten Füße. „Nein, wirklich nicht. Ich hatte eigentlich eher an so etwas wie den Louisianna Conservationist oder einen Actionthriller gedacht.“
Sie war unangenehm nah daran, ihn festzunageln. Sie war wirklich eine kluge Lady, das wurde ihm immer klarer, je mehr er von ihr las. Nach und nach verstand er, dass ihre Figuren fast für alles, was sie sagten und taten, noch einen zweiten unausgesprochenen Grund hatten. Deshalb fragte er sich, ob sie jetzt vielleicht noch auf etwas anderes hinauswollte als auf seine Lesegewohnheiten.
„Was ist los?“ fragte er. „Alle lesen deine Bücher. Warum findest du etwas dabei, dass ich es auch tue?“
„Ich weiß nicht, es ist einfach so“, sagte sie und hob das Kinn. „Vielleicht wegen dem Grund, aus dem du es tust.“
„Und was sollte das für ein Grund sein?“ Er wich ihrem Blick nicht aus.
„Sag du ihn mir“, erwiderte sie. „Ich kann mir nur einfach nicht vorstellen, dass du als Kind Märchen geliebt hast oder dass du glaubst, Romantik könnte ein Heilmittel gegen die Übel der Welt sein. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du dich von einer Geschichte gefangen nehmen lässt, in der am Ende immer die Frau gewinnt, und die beweist, dass Liebe eine lebensspendende Kraft und das Gegenmittel gegen den männlichen Trieb zu töten ist.“
„Die ersten Romantiker waren Männer“, wandte Luke ein.
„Sie haben die Romantik nicht erfunden, sie haben nur darüber geschrieben, weil es den meisten Frauen an der Bildung oder an Zeit fehlte, die Worte zu Papier zu bringen.“
„Kann sein, aber nichts und niemand ist romantischer als ein Sechzehnjähriger, der zum ersten Mal verliebt ist.“
„Bloß schade, dass sie da irgendwann rauswachsen. Vielleicht sollten Männer wieder lernen, romantisch zu sein, statt zusammenzukommen, um zu trommeln oder den Urschrei zu lernen.“
„Sie wachsen nicht heraus“, widersprach er ruhig. „Die Romantik wird ihnen nur irgendwann ausgetrieben. Sie müssen es nicht neu lernen, sie brauchen sich bloß zu erinnern.“
„Willst du damit sagen …“ Sie unterbrach sich, ihre Brust hob und senkte sich plötzlich so schnell, als ob sie gerannt wäre.
Luke antwortete nichts. Wenn sie seine Bemerkung persönlich nehmen wollte, sollte es ihm recht sein.
Sie warf ihm einen missbilligenden Blick zu und wandte sich ab. Dann zögerte sie einen Moment, bevor sie sich noch einmal umdrehte und über die Schulter rief: „Komm mit, Midnight, alter Junge.“
Midnight schaute sie an und schlug mit dem Schwanz, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Es schien zu passen. Immerhin, so dachte Luke, ist er auch ein Mann.
April wirbelte auf dem Absatz herum und ging steifbeinig in die Kabine. Luke schaute ihr nach, dann sagte er seufzend zu Midnight: „Schätze, den Mittagsschlaf kann ich heute wohl vergessen, Kumpel.“
Kurz nach dem Abendessen hatte Luke das Buch ausgelesen. Lange saß er einfach nur da und starrte nachdenklich vor sich hin. Dann stand er auf und suchte sich einen weiteren Roman von April Halstead.
Es war unglaublich, wie er sich von den Welten, die April Satz für Satz erschuf, gefangen nehmen ließ. Sie schaffte es, ihn in ihre Geschichten hineinzuziehen, ihre Plots faszinierten ihn, und er hatte das Gefühl, als erkunde er ihre Persönlichkeit bis in die entlegensten Winkel. Ihre männlichen Helden glorifizierte sie seiner Meinung nach ein bisschen zu sehr, aber er schenkte ihnen nicht allzu viel Aufmerksamkeit, sondern ließ sich einfach nur vom Fortgang der Ereignisse mitreißen. Vielleicht traf ihn deshalb die Erkenntnis wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Er war der Held.
Er war in Aprils Büchern. Sie hatte ihrem männlichen Helden nicht nur seine körperliche Gestalt verliehen, sondern auch seine Persönlichkeit. Sie hatte alles, was er war, zu Papier gebracht.
Kein Wunder, dass sein Lesestoff sie nervös machte.
Um sicherzugehen, dass er sich nicht irrte, suchte Luke alle drei Romane, die sich an Bord befanden, zusammen und blätterte sie durch. Er sah sich in allen Einzelheiten beschrieben, sein Äußeres, wie er sprach und sich bewegte, er fand seine Angewohnheiten wieder, seine guten Seiten – und seine schlechten.
Er hatte ihr tatsächlich als Vorlage für ihren Helden gedient.
Und das nicht nur ein Mal. Die Bücher waren bereits ältere Titel, die sie lange bevor sie nach Turn-Coupe zurückgekehrt war, geschrieben hatte, und er war in allen dreien der Held. Noch verblüffender war, dass April ihn so gut getroffen hatte, dass ihm die Nackenhaare zu Berge standen. Sie hatte ihn unter ein Mikroskop gelegt und seziert, sie hatte sein Herz und seine Gedanken vor aller Welt freigelegt.
Und doch bin ich es nicht wirklich, erkannte Luke gleich darauf. So gut aussehend oder intelligent war er nicht. Er hatte sich noch nie in seinem Leben so wortgewandt ausgedrückt.
Außerdem war er, zumindest seines Wissens nach, im Bett nie so fantastisch gewesen.
Nachdem er das alles zusammengetragen hatte, begann er sich unwillkürlich fragen, ob April nicht enttäuscht gewesen war. Natürlich konnte es sein, dass ihr für die Liebesszenen ihre Beziehung mit Tinsley als Vorlage gedient hatte … was für ein angenehmer Gedanke. Aber wenn das so war, konnte Luke sich nicht erklären, warum die beiden sich getrennt hatten.
Ja, und jetzt fiel ihm der Tag in New Orleans ein, an dem April und ihre Kolleginnen ihn so gnadenlos aufgezogen hatten. Gott, sie musste sich innerlich halb totgelacht haben.
Und die Fotos, die sie an das Korkbrett hinter ihrem Computer gepinnt hatte? Sie waren nicht zufällig dort oder weil er ein anziehendes Gesicht und eine gute Figur hatte. Es handelte sich bei der Sammlung nicht um etwas, das sie erst kürzlich zusammengestellt hatte, das hätte ihm eigentlich gleich auffallen müssen. Nein, sie musste die Fotos seit Jahren als Gedankenstütze benutzt haben, als Inspiration oder was auch immer. Das bedeutete, dass sie ihn vielleicht immer noch benutzte, womöglich saß sie jetzt gerade da und schrieb irgendeine Szene, in der er mit ihrer Heldin im Bett Gott weiß was trieb, wer konnte das schon wissen? Oder in der er exakt das Gleiche tat, was er letzte Nacht getan hatte.
Bestimmt war das der Grund für die abschätzenden Blicke, die sie ihm in den letzten Tagen immer wieder zugeworfen hatte.
Aber wenn er der Held war, wer war dann die Heldin? Diente sie sich selbst als Vorlage? War sie womöglich seit Jahren in Gedanken mit ihm ins Bett gegangen, ohne dass er auch nur einen Schimmer davon gehabt hatte?
Ja, und wussten womöglich alle in Turn-Coupe – Betsy, Regina, Granny May und die anderen Frauen, die ihre Bücher lasen – dass er die Vorlage für ihren Helden war? Hatten sie es schon vor Jahren, als sie ihr erstes Buch gelesen hatten, bemerkt, ohne ihm je etwas davon zu sagen?
Luke stellte die Bücher in den Schrank zurück und ging nach draußen auf das dunkle Vorderdeck. Dort stand er auf die Reling gestützt da und überlegte. Er musste sich darüber klar werden, was das alles bedeutete – und ob es über die Tatsache hinaus, dass er ein bestimmter Typus war und jemand, den April ziemlich gut kannte, überhaupt etwas bedeutete.
Am einfachsten wäre es, sie zu fragen, aber er war sich nicht sicher, ob er das wollte. Zum einen könnte es sein, dass die Wahrheit schwer zu ertragen war. Zum anderen wollte er sie vielleicht gar nicht hören. Dann ging ihm plötzlich noch ein anderer Gedanke im Kopf herum, einer, den er nicht ganz greifen konnte.
Gleich darauf hatte er es.
Was war, wenn April sich insgeheim nach dem Helden sehnte, den sie selbst erschaffen hatte? Was war, wenn er erst dieser Idealmann werden musste, um sie zu bekommen? Musste er sich diesem Helden womöglich erst sowohl körperlich als auch geistig so weit wie möglich anverwandeln?
Das war sehr viel verlangt.
„Was denkst du, Midnight?“ fragte er den Kater, der ihm nach draußen gefolgt war. „Muss ich wie verrückt daran arbeiten?“
Midnight kam herüber, strich ihm um die Beine, setzte sich dann auf Lukes Fuß und fing an zu schnurren. Luke betrachtete es als Ermutigung.
Er ging nicht in die Kabine, sondern trotzte den Moskitos und schlief an Deck. Am nächsten Morgen herrschte zwischen ihm und April immer noch dicke Luft, deshalb blieb er mit dem dritten Roman, den er sich als Leitfaden herausgefischt hatte, auf dem Vorderdeck. Sie zog sich mit ihrem Schreibblock wieder aufs Kabinendach zurück. Als sich der Stand der Sonne veränderte, bekamen sie beide fast einen Sonnenstich, aber sie waren zu stur, um sich gleichzeitig in demselben kleinen Abschnitt, wo es schattig war, aufzuhalten.
Es war schon spät am Nachmittag, als Luke das leise Brummen hörte. Es klang wie eine weit entfernte Kettensäge oder der Motor eines ferngesteuerten Modellflugzeugs. Er lauschte angestrengt, während sein Adrenalinspiegel schlagartig anstieg.
Das Geräusch wurde lauter und kam schnell näher. Es war kein Modellflugzeug, sondern ein echtes. Mittlerweile konnte er sogar schon Bauart sowie Flugzeug- und Motorentyp ausmachen. Es wäre auch eine Schande gewesen, wenn er es nicht gekonnt hätte, wo er doch mit einem ähnlichen Modell in den meisten Sommern fünf Mal pro Woche an windstillen Abenden wie diesem nach Sonnenuntergang die Felder besprühte. Diese Cessna hier kam schnell näher und flog so tief, dass sie fast die Wipfel der Bäume, die ihr Versteck einschlossen, streifte.
Luke rollte sich von der Bank, auf der er lag, herunter und stand geschmeidig auf. Er winkte April auf dem Kabinendach zu und schrie: „Komm runter. Schnell!“
Sie stand auf und starrte mit einem Gesichtsausdruck zu ihm herunter, der ausdrückte, dass sie meilenweit weggewesen war und den starken Verdacht hegte, dass er in der Zwischenzeit anscheinend verrückt geworden war. „Was ist?“
„Ein Flugzeug. Sie könnten nach dir suchen. Komm da runter.“
Erst als sie in den Himmel schaute, schien sie zu begreifen. Dann wirbelte sie herum und rannte zur Leiter auf dem hinteren Teil des Dachs.
Und das war gut so. Luke hörte über sich das dumpfe Poltern ihrer Schritte, während er in die Kabine und nach hinten rannte. Als er auf das hintere Deck hinaustrat, hörte er, dass sich das leise Brummen in ein lautes Röhren verwandelt hatte. April stand auf der obersten Sprosse der Leiter, aber sie hatte keine Zeit mehr, nach unten zu klettern, deshalb schrie er ihr zu: „Spring!“
Ihr Gesicht war blass, die Augen riesig. Den Notizblock hatte sie sich vorn ins Tanktop geschoben. Diesmal zögerte sie nicht, sondern sprang.
Luke fing sie an der Taille auf und hielt sie, obwohl er von ihrem Gewicht ins Taumeln kam, fest umklammert. Nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, zerrte er sie in die Kabine.
Die Cessna machte einen Heidenlärm. Ihr Schatten schwebte über dem Boot, als sie sich näherte. Dann flog sie über das Boot hinweg, wobei sie so einen Luftzug verursachte, dass die Bäume am Ufer wie in einem Hurrikan schwankten.
„Midnight!“ schrie April über den Lärm hinweg. „Wo ist er?“
Aber der Kater, der nicht dumm war, war schon mit aufgestelltem Schwanz und angelegten Ohren durch die Vordertür hereingekommen. Er war bei ihnen in der Kabine, wo es sicher war.
Oder wo es sicher gewesen war. Bis jetzt.