2. KAPITEL
Lukes Wut begann erst langsam zu verrauchen, als Mulberry Point bereits mehrere Meilen hinter ihm lag. Eigentlich hätte ihn das, was April gesagt hatte, nicht weiter stören sollen, aber es störte ihn trotzdem. Sie schaffte es immer wieder mit traumwandlerischer Sicherheit, ihn auf die Palme zu bringen. Manche ihrer Spitzen waren wie Schlangenbisse; er spürte den Schmerz, und Minuten später entfaltete das Gift seine tödliche Wirkung.
Obwohl sie es nicht Absicht macht, dachte er. Sie merkte einfach nicht, wie dünnhäutig er war. Niemand merkte es, und das konnte ihm nur recht sein.
Er hatte in dem Jahr, seit April wieder zurückgekehrt war und das alte Haus der Tullys gekauft hatte, nicht viel von ihr gesehen. Ihr Auftauchen bei seiner Open-House-Party am Memorial Day war reiner Zufall gewesen. Sie war als moralische Unterstützung seines Cousins Kane gekommen, als der mit seiner rothaarigen Yankeelady Regina Zoff gehabt hatte. Inzwischen hatten Kane und Regina ihre Probleme beigelegt und beschlossen zu heiraten. Luke fragte sich, wie April sich dabei wohl fühlte, da sie und Kane auf der High School eine Weile unzertrennlich gewesen und immer noch locker befreundet waren. Er wusste, dass April zur Hochzeit kommen würde, weil Regina sie gebeten hatte, ihre Ehrenjungfrau zu sein. Das könnte interessant werden, da er Kanes Trauzeuge sein würde.
Himmel, er hatte fast einen zu viel bekommen, als er vorhin diesen Fiesling am Telefon gehört hatte. Ekelhaft. Bei der Vorstellung, dass sie das Opfer derart widerlicher Attacken war, knirschte er vor Wut mit den Zähnen. April war über sein Auftauchen nicht besonders glücklich gewesen, aber er war froh, dass er es gemacht hatte. Jetzt wusste er wenigstens, wie fertig sie wegen diesem Anruf gewesen war, auch wenn sie sich weigerte, es zuzugeben.
Vielleicht konnte er von dem Sender ja einen Mitschnitt der Sendung bekommen. Roan hatte eine ganz gute technische Ausstattung, und vielleicht konnte er die Hintergrundgeräusche so weit ausblenden, dass man die Stimme des Anrufers identifizieren konnte. Als Sheriff musste Roan ohnehin von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt werden, und wenn April es nicht machte, würde er es eben tun. Auch wenn April es ihm wahrscheinlich nicht danken würde, aber damit konnte er leben. Von ihr etwas zu erwarten, hatte er schon seit langem aufgegeben.
Jetzt kam er wieder an Chemin-a-Haut vorbei, da Aprils Haus ein paar Meilen weiter unten lag. Als sie vorhin das Interview mit ihr im Radio gebracht hatten, war er auf dem Weg in die Stadt gewesen und sofort zurückgefahren, um nach ihr zu schauen. Aber er würde jetzt nicht zu Hause anhalten, sondern gleich durchfahren.
Beim Anblick seiner schnurgeraden grünen Felder, die sich bis zu der Baumgrenze ganz hinten in der Ferne erstreckten, ging ihm wie immer das Herz auf – auch wenn er über einen mit Unkraut zugewucherten Entwässerungsgraben die Stirn runzelte. Er liebte das Leben auf der Farm, er liebte es, die Erde zu riechen und spüren. Die harte Arbeit in Wind und Wetter und die damit verbundene Unsicherheit störten ihn nicht; die ständige Herausforderung hielt ihn jung. Es gab keinen Ort auf der Welt, an dem er lieber leben würde als auf seiner modernen Plantage, mit dem See vor der Hintertür seines großen alten, im Kolonialstil erbauten Hauses, und den Sümpfen dahinter, die sich bis zum Ufer des Mississippi erstreckten. Und auch Turn-Coupe war ganz nach seinem Geschmack. Das verschlafene kleine Städtchen, das schon vor dem Bürgerkrieg existiert hatte, war groß genug, um alle seine Bedürfnisse zu befriedigen, und gleichzeitig doch nicht so groß, dass einen die Leute auf der Straße nicht grüßten, weil sie einen nicht kannten. Luke war entschlossen, sein ganzes Leben hier zu verbringen. Trotzdem war er immer noch überrascht, dass April offenbar dasselbe beschlossen hatte.
Sie hatte auf den Unfall angespielt. Das war erstaunlich. Auch wenn sie es nicht ausgesprochen hatte, war doch klar gewesen, was sie meinte. Der Blechhaufen. Das Feuer, die Schreie, alles war plötzlich wieder da gewesen, er hatte es genau vor sich gesehen, so dass er sich für eine Sekunde eingebildet hatte, es in ihren Augen gespiegelt zu sehen. Er wünschte, er wüsste, was das nach all diesen Jahren bedeutete.
Der Drang, sie zu fragen, war so stark gewesen, dass er ihm jetzt noch gegenwärtig war. Was ihn davon abgehalten hatte, war dasselbe gewesen, was ihn auch damals veranlasst hatte, zu schweigen: Stolz, reiner, sturer, männlicher Stolz. Und jetzt war dieser Stolz seine letzte Rettung, weil er alles war, was ihm geblieben war.
Mit Sicherheit hatte April ihm nicht mehr vergeben, als er sich selbst vergeben hatte, so viel stand fest.
Kurze Zeit später stellte Luke seinen Jeep auf dem Parkplatz vor dem Gericht ab. Das Sheriffbüro lag im Parterre des alten Vorkriegshauses mit seinen grauen Granitmauern und den weißen Säulen. Es hatte ein paar Versuche gegeben, das Gebäude zu modernisieren, indem man an den Granittreppen ein Geländer und eine Rampe für Rollstuhlfahrer angebracht hatte, aber viel geholfen hatte es nicht. Das Gebäude war ein Relikt aus der Vergangenheit, das eine Atmosphäre von solider Kraft und Verantwortung ausstrahlte und nicht viel Trostspendendes an sich hatte. Es war, wie Luke oft dachte, in vieler Hinsicht wie der Sheriff von Turn-Coupe selbst.
Luke fand seinen Cousin in dessen Büro. Roans Haare wirkten, als hätte er sie mit einer Heckenschere gekämmt, und ein gequältes Stirnrunzeln zog seine Augenbrauen zusammen. Als er Luke sah, schob er den Papierberg, durch den er sich durchgewühlt hatte, penibel zusammen und legte ihn auf einen der fein säuberlichen Stapel an der Seite. Sein hageres Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
„Morgen, Cousin. Kaffee?“
„Schwarz, stark, süß wie ein Engel und heiß wie die Hölle.“
„Was sonst?“ Roan erhob sich geschmeidig und schlenderte zur Kaffeemaschine hinüber, die in einer Ecke des großen Raums praktisch ständig in Betrieb war. Während er nach Tassen und Zuckerpäckchen griff, machte er über die Schulter ein paar Bemerkungen über das Flusspiratenfestival, das Ende des Monats anstand. Bei der ersten Tasse Kaffee tauschten sie Sichtweisen, Pläne und ein paar lustige Geschichten über die Vorbereitung zu dem großen, alljährlich stattfindenden Ereignis aus. Sie unterhielten sich über die Baumwollpreise, ein Thema, das Luke naturgemäß sehr interessierte, seit er beschlossen hatte, sich auf Baumwolle und Sojabohnen zu spezialisieren. Dann kamen sie auf eine andere gemeinsame Leidenschaft zu sprechen: das Angeln. Roan warf Luke gelegentlich einen forschenden Blick zu, aber er bedrängte Luke kein einziges Mal mit Fragen.
Als sie beide schließlich bei ihrer zweiten Tasse Kaffee angelangt waren, lehnte sich der Sheriff in seinen Stuhl zurück und legte einen gestiefelten Fuß über sein Knie. „Dann bist du also nur gekommen, um mir einen Freundschaftsbesuch abzustatten, oder hast du einen bestimmten Grund?“ fragte er.
„Beides“, gab Luke mit einem zerknirschten Grinsen zurück.
Roan musterte ihn aus wachsamen grauen Augen. „Dann schieß schon los.“
Luke erzählte ihm von Aprils Anrufer und seiner Stippvisite bei ihr. Und nur so aus Spaß berichtete er dann auch noch von seinem Verdacht, dass sie von der besagten Person schon früher gehört haben könnte. Als er fertig war, trank er einen Schluck Kaffee und wartete.
„April sagt, dass sie noch mehr solche Anrufe bekommen hat?“
„Nicht direkt. Es war eher das, was sie nicht gesagt hat, falls du verstehst, was ich meine.“
„Hat sie gesagt, was sie davon hält? Ob sie vielleicht, außer dass da einer Dampf ablassen wollte, noch einen anderen Grund dahinter vermutet?“
„Sie ist mir gegenüber schon unter günstigsten Umständen reichlich zugeknöpft. Vielleicht bekommst du ja mehr aus ihr raus, wenn du mal rüberfährst.“
Roan nickte verständnisvoll und starrte auf die schwarze Brühe in seiner Tasse.
„Und was willst du sie fragen? Hast du schon eine Idee?“ Die Frage kam schroff heraus, aber Luke versuchte nicht, sie abzumildern.
„Ein paar.“ Roan lehnte sich zurück und begann die Fragen, die er April zu stellen gedachte, herunterzurasseln: „Was ist mit ihrem Ex? Wo ist er, und was hat er heute Morgen getrieben? Hat sie sich irgendwelche Feinde gemacht? Hatte sie in den letzten Wochen Kontakt mit fremden Männern wie Handwerkern, Lieferanten und Vertretern? Gibt es neue Männer in ihrem Leben, und wie hat sie sie kennen gelernt? Hat sie in letzter Zeit irgendwelche merkwürdigen Anrufe bekommen, die man mit dem heutigen Vorfall in Zusammenhang bringen könnte? Hatte sie irgendwelche ungewöhnlichen Besucher, oder hat sie in der Umgebung ihres Hauses irgendetwas bemerkt, was ihr seltsam erschien? Solche Sachen eben.“
Luke signalisierte sein Einverständnis. Er war sich nicht sicher, ob Roans Vorhaben zu etwas führen würde, aber es war zumindest ein Anfang.
„Was mir zu denken gibt, ist dieses Buch, an dem sie angeblich arbeitet“, sagte Roan nachdenklich. „Dieses Stimmungsbild einer Stadt.“
„Was denn für ein Buch? Was denn für ein Stimmungsbild?“
„Über die Benedicts. Sie benutzt angeblich unseren Familienhintergrund für einen Roman oder gleich mehrere Romane in Fortsetzung. Scheint so, als ob sie letzte Woche mit Kanes Tante Vivian gesprochen hätte … was ungefähr so ist, als wenn sie die Neuigkeit gleich über Rundfunk verbreitet hätte. Erzähl mir jetzt bloß nicht, du hast noch nichts davon gehört.“
„Ich sitze nicht so an der Quelle wie du.“ Luke schnitt eine Grimasse. „Aber warum in aller Welt sollte sie denn über uns irgendwas schreiben wollen?“
„Nicht über uns, sondern über die Generation unserer Urgroßväter. Sie waren ein ziemlich bunter Haufen.“
„Nicht bunter als die meisten anderen in der Gegend auch, schätze ich mal. Warum nimmt sie nicht ihre eigenen Vorfahren?“
„Das ist ihr vermutlich zu nah dran, nehme ich an.“ Roan schaute Luke über den Rand seiner Kaffeetasse an. „Davon abgesehen, könnte dabei vielleicht die Geschichte mit ihren Eltern wieder hochkommen, und das ist mit Sicherheit das Letzte, was sie will.“
Luke schaute auf seinen Daumen, während er über den Henkel seines Kaffeebechers strich. Mit sorgfältig kontrollierter Stimme sagte er: „Hast du dir eigentlich irgendwann mal die Akte angeschaut? Ich weiß, dass es lange her ist und dass es keinen Grund gibt, sich damit zu befassen, aber ich habe mich immer gefragt, ob wirklich alles so passiert ist, wie man es sich damals erzählt hat. Hat April wirklich mit anschauen müssen, wie ihr Dad ihre Mutter erschossen hat?“
„Und dann die Waffe auf sich selbst gerichtet hat. Jedenfalls ist das die Quintessenz dessen, was ich gelesen habe, als ich irgendwann mal einen flüchtigen Blick in die Akten geworfen habe. Aber du kannst dir den Bericht gern genauer anschauen, wenn du willst.“
Luke bedankte sich mit einem Nicken für das Angebot. Es war die Art ruhiger Übereinstimmung, wie sie oft zwischen Verwandten und Freunden in Kleinstädten herrscht, aber sie bedeutete viel. „Sie war damals wie alt? Fünf oder sechs?“
„Fünf. Sie hat nicht vor Gericht ausgesagt, sie hat fast ein halbes Jahr lang überhaupt kein Wort gesprochen – ein psychisches Trauma, dem Arztbericht zufolge. Steht alles in der Akte.“
Luke wurde von Mitleid, gepaart mit Zorn, überschwemmt, dass damals niemand für sie da gewesen war und dass es nichts gab, was er jetzt noch dagegen hätte tun können. „Ich glaube, es verfolgt sie immer noch“, sagte er mit gepresster Stimme.
„Das würde mich nicht überraschen. Der Arzt hat damals diagnostiziert, dass sie sich in eine Traumwelt zurückgezogen hat, wo alles sicher und rosig ist. Kann sein, dass sie immer noch dort lebt.“
Luke schnaubte. „Ich wollte damit nicht sagen, dass sie nicht normal ist oder so. Oberflächlich betrachtet geht es ihr gut … es kommt mir nur so vor, als ob diese Geschichte immer noch ihr Denken und Handeln beeinflusst. Sie sieht die Dinge irgendwie anders.“
„Du denkst jetzt an diese Sache mit dem Unfall, bei dem dieses Mädchen umkam“, vermutete Roan.
„Ja.“
„Das war nicht dasselbe.“
Luke schaute auf. „Wirklich nicht? Mary Ellen Randall starb in einer schönen Sommernacht vor dreizehn Jahren, und ich war schuld.“
„Du hast sie nicht getötet.“
„Sie war in meinem Auto, wo sie nicht hätte sein sollen. Es kam von der Straße ab. Sie starb schreiend in den Flammen, während ich dabeistand und nichts tat.“
Roan stellte seine Tasse ab und beugte sich in seinem Stuhl vor, wobei seine Hände lose verschränkt vor ihm auf seinem Schreibtisch lagen. „Es gab nichts, was du hättest tun können. Hör auf damit.“
„Ja.“ Widerspruch war zwecklos. Das wusste Luke nur allzu gut. Manches konnte man eben nicht verstehen, wenn man nicht dabei gewesen war. Und auch nicht nachfühlen. Nach einem Moment sagte er: „Um wieder auf das zurückzukommen, was du vorhin gesagt hast. Ich bin mir sicher, dass es Benedicts gibt, die nicht wollen, dass ihre Familiengeschichte allzu sehr aufgerührt wird.“
„Zum Beispiel?“ Auf dem Gesicht des anderen Mannes spiegelte sich Erleichterung darüber, dass sie zu einem etwas weniger heiklen Thema übergingen.
„Granny May, zum einen. Auch wenn ich es zum Brüllen finde, dass sich ihr Großvater das Geld für seinen ersten Wagen dadurch verdient hat, dass er an die Hälfte aller Politiker der Stadt schwarzgebrannten Schnaps verhökert hat, läuft sie immer noch knallrot an, wenn die Sprache darauf kommt. Und die Indianerin in unserem Stammbaum würde sie auch ganz gern vergessen, ganz zu schweigen von der Großtante, die ihren Mann und ihre drei kleinen Kinder sitzen ließ, um – wie sagt Granny May immer? – als Flittchen in den Goldgräbercamps von Colorado zu leben.“
Roan grinste und sagte: „Du solltest eigentlich einen durch die Gegend ziehenden Baptistenprediger als Vorfahren haben, einen aufrechten, nach Pech und Schwefel stinkenden eisernen Retter verlorener Seelen, der rein zufälligerweise drei Frauen in ebenso vielen Bundesstaaten hat. Deine Großmutter würde nicht wissen, ob sie vor Scham in den Boden versinken oder mächtig stolz sein sollte.“
Einen Prediger in der Familie zu haben war im gottesfürchtigen Süden gewöhnlich eine tolle Sache. Aber ein von Skandalen umwitterter war in dem normalen Schema ein bisschen schwierig unterzubringen. Luke schüttelte den Kopf, als er sagte: „Das war doch dein Großvater, stimmts? Ich habs vergessen.“
„Richtig – und er war ein Heiliger im Vergleich zu ein paar anderen Geächteten. Aber ich frage mich, ob nicht vielleicht irgendwer von der Bande am See versuchen könnte, April dazwischenzufunken.“
Luke schüttelte den Kopf. „Nein, sie sind ein wilder Haufen, manche davon zumindest. Aber das heißt doch nur, dass es ihnen im Gegensatz zu zahmeren Leuten völlig schnurz ist, was in irgendeinem Roman über sie drinsteht. Himmel, die meisten der Jungs würden wahrscheinlich nur mit der Schulter zucken.“
„Es muss ja kein Mann sein.“
„Ach, nein? Das ist mir neu, dass Frauen ihre Mitmenschen auch mit obszönen Anrufen beglücken.“
„Es kommt vor.“
„Mit männlicher Stimme?“
„Schon mal was von Telefonen gehört, bei denen man die Stimmlage verändern kann? Eine Menge allein stehende Frauen haben sie, damit es klingt, als sei ein Mann im Haus.“
Luke schaute ihn mit spöttisch hochgezogener Augenbraue an. „Willst du damit unterstellen, meine liebe alte Granny würde auch nur einen einzigen der Vorschläge kennen, die April da telefonisch unterbreitet wurden?“
„Der Punkt geht an dich“, antwortete Roan mit einem pflichtschuldigen Auflachen. „Ich lasse mir die Sache durch den Kopf gehen, aber viel mehr kann ich ohne Aprils Mithilfe im Augenblick nicht tun. Selbst wenn wir den Spinner finden, können wir ihm nicht mehr als eine Verwarnung geben.“
„Du könntest ihm mit Ausweisung drohen.“ Luke meinte es genauso ernst, wie es klang.
„Kann sein, kommt ganz drauf an.“
„Auf was?“
„Wer er ist, ob er schon mal straffällig geworden ist, was für eine Bedrohung er darstellt. In der Zwischenzeit …“
„In der Zwischenzeit?“ wiederholte Luke, als sein Cousin schwieg.
„Irgendwer sollte April im Auge behalten. Ich will nicht, dass so was womöglich noch Schule macht. Es ist ekelhaft, ein abnormes Verhalten.“
„Ich habe es ihr bereits angeboten. Sie hat mein Angebot kategorisch zurückgewiesen.“
„Na, dann sag ihr eben einfach nichts davon.“
„Prima Idee. Und wer bürgt für mich, wenn sie mich wegen ständigen Herumlungerns auf ihrem Grund und Boden und allerlei anderen Belästigungen anzeigt?“
„Ich … solange du dir nichts zuschulden kommen lässt.“
„Roan, Mann“, sagte Luke, „du kränkst mich. Würde ich mir jemals etwas zuschulden kommen lassen?“
„Wenn man dich nur genug provoziert – jederzeit.“
„Dann können wir nur hoffen, dass April sich nicht zu einer Provokation hinreißen lässt, richtig?“ Lukes Mundwinkel gingen nach oben, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und seine langen Beine ausstreckte. „Und wie mache ich mich so als Freiwilliger?“
„Ich scherze nicht“, warnte Roan.
„Ich auch nicht“, gab Luke ruhig zurück und schaute seinen Cousin über den Schreibtisch hinweg an.
„Schön, dann sind wir uns ja einig. Und nachdem das nun erledigt ist, was ist mit New Orleans?“
Luke konnte nicht ganz folgen. „Mit New Orleans?“ fragte er verständnislos.
Roan streckte die Hand aus und griff nach einem DIN-A4-Blatt, das er Luke über den Schreibtisch hinschob.
Luke nahm es in Empfang, dann schaute er noch einen Moment in Roans ernste graue Augen, bevor er den Blick senkte. Bei dem Schreiben handelte es sich um einen Rundbrief, und er stammte von April. Luke schaute auf ein Foto von ihr und verlor sich für einen Augenblick in den geheimnisvollen Tiefen ihrer Augen, den faszinierenden Schatten unter ihren Wangenknochen, den sinnlichen und doch empfindsamen Kurven ihres Mundes und ihrer entzückenden Stupsnase. Er schluckte schwer, bevor er wieder aufschaute.
„Was ist das?“
„Aprils Rundbrief. Sie verschickt jedes Quartal einen. Erzähl mir nicht, dass du es nicht weißt.“
„Warum bekommst du einen und ich nicht?“
„Nicht ich, sondern meine Sekretärin. Glenda ist ein großer Fan.“ Roan hob eine Schulter und ließ sie wieder fallen. „Ich habe ihn kurz überflogen, als ich gerade mal Zeit hatte. Das ist die Sommerausgabe, sie kam letzte Woche. Darin steht, dass April an diesem Wochenende unten in New Orleans ist, wo sie auf irgendeiner Konferenz einen Vortrag hält.“
Luke runzelte die Stirn. „Ist das gut oder schlecht?“
„Schwer zu sagen. Wenn ihr Problem lokal ist, ist es gut. Wenn nicht …“
„Dann wissen zahllose Leute davon, wenn nicht durch ihren Rundbrief, dann durch das Material, das über die Konferenz verschickt wurde. Wenn sie wirklich in Gefahr ist, wird sie ein leichtes Ziel sein.“
„Genau.“ Roan machte eine Pause, dann sagte er bedächtig: „Martin Tinsley, ihr Ex, lebt noch in New Orleans.“
Luke fluchte in sich hinein. Dann fragte er: „Was für Sicherheitsvorkehrungen trifft man gewöhnlich bei solchen Konferenzen?“
„Keine besonderen, kann ich mir vorstellen. Sie ist eine Autorin, kein Rockstar. Die Leute, zu denen sie spricht, sind Schriftsteller und Möchtegernschriftsteller, die meisten von ihnen Frauen. Unter normalen Umständen wäre das Risiko gleich null.“
„Aber sind die Umstände normal oder nicht?“ fragte Luke. Er sprach fast zu sich selbst, während er auf die einzelnen Tagesordnungspunkte der Konferenz schaute. Beginn war Samstagmorgen. Was bedeutete, dass April möglicherweise noch heute Abend fuhr.
„Wer weiß?“ erwiderte Roan grimmig. „Man kann nur auf seinen Bauch hören. Und was sagt dir das?“
„Dass ich jetzt besser eine Reisetasche packen und den Jeep voll tanken sollte.“ Luke stand auf, stellte seine Kaffeetasse auf Roans Schreibtisch ab und ging zur Tür.
„Cousin?“
Er drehte sich um, obwohl ihm etwas in Roans Stimme gesagt hatte, dass er besser daran täte weiterzugehen.
Roan stand auf, nahm eine Akte aus dem schon recht mitgenommen wirkenden Schrank hinter sich und hielt sie Luke hin. Als Luke nach dem Schnellhefter, auf dem „Halstead“ stand, greifen wollte, hielt Roan ihn fest und erkundigte sich schließlich mit fragend zusammengezogenen Augenbrauen: „Warum?“
„Warum was?“ Luke musste fragen, obwohl er es zu wissen glaubte.
„Warum dieses plötzliche Interesse an April?“
„Was ist denn plötzlich daran? Ich war schon immer an April interessiert – ich kenne sie mein ganzes Leben. Wir kennen sie beide.“
„Du weißt, worauf ich hinauswill, also stell dich nicht dümmer, als du bist. Hast du vor, nach New Orleans zu fahren, weil du dir Sorgen machst, dass ihr etwas passieren könnte, oder weil es ein Weg sein könnte, sie doch noch zu bekommen?“
„So was zu sagen ist wirklich ein starkes Stück!“ explodierte Luke.
„So was zu machen wäre ein starkes Stück, falls es wirklich stimmt. Aber du und April liegt euch seit Jahren in den Haaren, und ihr habt kaum zwei ruhige Worte miteinander gesprochen, seit sie wieder da ist. Wie komme ich bloß plötzlich darauf, dass es hier um mehr und noch etwas ganz anderes geht als um ihre Sicherheit?“
Luke kniff die Augen zusammen. „Du glaubst nicht, dass es mir mit meiner Sorge um ihre Sicherheit ernst ist?“
„Oh, doch, das glaube ich. Aber ist es deshalb, weil dir irgendwas in dir sagt, dass diese Welt ohne sie für dich keine zwei Cents wert ist? Oder ist es nur, weil sie die einzige Frau in Turn-Coupe ist, die kein Problem hat, Luke-de-la-Nuit zu widerstehen?“
Luke lachte kurz und hart auf und schüttelte den Kopf, während er zu der vergilbten Decke über Roans Schreibtisch hinaufschaute. „Du solltest von allen Leuten wirklich am besten wissen, was für ein Mist das ist – Hauptsache, man hat was zum Klatschen. Wenn ich nur mit halb so viel Frauen geschlafen hätte, wie man mir nachsagt, hätte ich wahrscheinlich solche O-Beine, dass ich nicht mehr laufen könnte.“
„Zweifellos. Allerdings weiß ich auch, dass dort, wo viel Rauch ist, auch Feuer ist. Du hast eine ganze Menge mehr bekommen, als dir zusteht.“
Luke schaute den Cousin wieder an und sagte grimmig. „Und umgekehrt gilt das Gleiche. Es war nicht unbedingt einseitig.“
Roan nickte zustimmend. „Aber das beantwortet noch nicht meine Frage.“
Plötzlich kam Luke ein unangenehmer Gedanke. Misstrauen keimte in ihm auf. „He, warum bist du eigentlich so an meinen Motiven interessiert? Es ist doch nicht etwa, weil du selbst ein Auge auf April geworfen hast?“
„Sie ist etwas Besonderes und nicht nur, weil sie eine Schriftstellerin ist. Aber sie sieht Dinge, die anderen entgehen, und fühlt, was andere nicht fühlen. Ich möchte einfach nicht, dass sie verletzt wird.“
Roan ging normalerweise mit seinen Sympathiebezeigungen recht sparsam um, wie Luke wusste. Deshalb fragte er sich jetzt, was hinter seiner Huldigung an April wohl stecken mochte. Und er fragte sich auch, wie lange sein Cousin schon solche Dinge an ihr registrierte. „Glaubst du, ich könnte sie verletzen?“ fragte er schroff.
„Ich weiß es nicht, deshalb frage ich.“ Roan schaute ihn kompromisslos an.
Luke sog die Luft tief in seine Lunge und atmete mit einem langen Seufzer wieder aus, während er auf den abgetretenen Boden unter seinen Füßen starrte. Endlich schaute er auf. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Im Augenblick muss ich einfach auf sie aufpassen, weil ich nicht mehr mit mir leben könnte, falls ihr etwas passiert, okay?“
Roan schaute ihn lange an, bevor er langsam nickte. Luke antwortete ebenfalls mit einem Nicken, dann drehte er sich um und verließ das Büro. Er ging mit finsterem Blick an den marmorverkleideten Wänden entlang durch das Gerichtsgebäude. Am Ausgang stieß er die Glasschwingtür mit einer Hand auf und trat in die Hitze und den gleißenden Sonnenschein auf dem Vorplatz hinaus. Dort blieb er stehen. Er war gern im Freien, er brauchte viel Raum um sich, weil er dann einfach besser denken konnte.
Und plötzlich wusste er, was ihn so irritierte. Weder er noch sein Cousin hatten die Frage nach ihrem Interesse an April wirklich beantwortet. Er fragte sich, ob Roan das wusste.
Als er kurz darauf Chemin-a-Haut erreichte, werkelte Granny May in der Küche herum. Sie lebte nicht bei ihm, sondern wohnte in einem kleinen Haus die Straße ein Stück weiter runter, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Sie war nach dem Tod von Lukes Großvater wieder dorthin zurückgezogen, um, wie sie gesagt hatte, den Platz für Lukes zukünftige Frau freizumachen. Aber sie kam immer noch regelmäßig zwei Mal die Woche, und normalerweise kochte sie ihm dann einen großen Topf rote Bohnen mit Reis oder etwas Ähnliches.
Sie mochte es nicht, wenn man sie in der Küche störte, deshalb ließ er sie in Ruhe und ging nach oben in sein Schlafzimmer, holte einen Matchsack aus dem Schrank und begann ein paar Sachen hineinzustopfen. Er war fast fertig mit Packen, als er auf dem Flur schlurfende Schritte hörte. Als seine Großmutter auf der Schwelle auftauchte, schaute er auf und lächelte sie an, packte aber weiter.
„Fährst du weg?“ fragte sie.
Er erzählte ihr mit ein paar kurzen Worten, was er vorhatte. Dann ging er zu seiner Sockenschublade, nahm zwei Paar Socken heraus und warf sie in die Tasche.
„Klingt ja nicht gerade vernünftig in meinen Ohren“, maulte sie. „Immerhin hätte dich dieses Mädchen mal fast umgebracht.“
Er drehte sich zu der Schublade um und starrte auf ein Paar Acrylsocken, die das Letzte waren, was er mitzunehmen gedachte. „So schlimm war es auch wieder nicht.“
„Hmpf. Versuch bloß nicht, mir was vorzumachen.“ Die alte Frau krümmte die Schultern.
„Du ärgerst dich ja nur, weil sie über deine Familie schreibt.“ Er empfand es als Erleichterung, von ihrem scharfen Blick wegzukommen, als er nach nebenan ins Bad ging, um sein Rasierzeug einzupacken.
„Und selbst wenn? Sie hat kein Recht dazu.“
„Aber wir können sie auch nicht davon abhalten“, antwortete er, als er zurückkehrte.
„Wir könnten sie verklagen.“
Er warf die Sachen, die er zusammengesucht hatte, in den Matchsack und machte ihn zu, dann drehte er sich zu ihr um. „Ich dachte, du hast was gegen die Leute, die wegen jeder Kleinigkeit vor Gericht ziehen.“
„Das ist was anderes.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir sollten sie wegen Beleidigung oder so verklagen.“
„Wegen übler Nachrede vielleicht, weil sie es nicht mündlich, sondern schriftlich tut. Aber was ist eigentlich los, warum regst du dich so auf?“
Sie starrte ihn einen Moment an, ihre schönen alten Augen waren unergründlich. Dann schaute sie weg. „Das geht nur mich etwas an. Aber ich kann dir versichern, dass es dir genauso wenig passen kann wie mir, wenn sie in unserer Familiengeschichte herumschnüffelt. Du bist schließlich auch ein Benedict. Ich habe ja nur in die Familie eingeheiratet, obwohl es so lange her ist, dass ich mich viel mehr wie eine Benedict fühle als eine Seton.“
„Granny …“
„Hör zu, man wäscht seine schmutzige Wäsche nicht in aller Öffentlichkeit, lass dir das gesagt sein.“
„Was denn für schmutzige Wäsche?“
Sie presste ihre Lippen aufeinander und starrte ihn an.
„Wenn du mir nicht auf der Stelle einen guten Grund nennst, bin ich in Sekundenschnelle hier draußen und auf dem Weg nach New Orleans.“
Sie maßen sich mit Blicken. Granny May zog eine Schulter hoch. Er stand reglos da und beobachtete sie. Sie wandte das Gesicht ab.
„Schön. Ich schätze, du willst, dass ich jetzt fahre.“
„Oh, na gut!“ rief sie gereizt aus, während sie ihn wieder anschaute. „Es ist schon lange her, es war damals, als die vier Benedictbrüder hier ankamen. Sie hatten eine Frau dabei, weißt du, so eine, nach der sie alle verrückt waren. Manche erzählten sich, dass sie ihnen den Weg gezeigt hat, aber andere flüsterten hinter vorgehaltener Hand, dass sie überhaupt nur ihretwegen hergekommen wären, weil man sie ihnen sonst weggenommen hätte.“
„Dann war das also diese Indianerin. Und was ist so schlimm daran?“
„Nichts. Wenn das die ganze Geschichte ist.“
Als Luke sie anschaute, sah er den Zweifel in ihrem Gesicht. Plötzlich dämmerte es ihm. „Du glaubst es nicht. Du glaubst, dass sie sie entführt …“
„Ich weiß es nicht“, fiel sie ihm ins Wort, „aber ich will nicht, dass irgendwer in der Geschichte rumstochert und womöglich rausfindet, wie es wirklich war.“
„Das ist verrückt. Es gibt überhaupt keinen Grund, so etwas zu anzunehmen, vor allem, weil sich noch nie jemand die Mühe gemacht hat, die Geschichte zu überprüfen.“
„Das wird auch nie passieren, jedenfalls nicht so lange ich lebe.“
„Ich könnte jemand dafür bezahlen, dass er Nachforschungen anstellt. Wir könnten ein für allemal die Wahrheit erfahren. Wäre das nicht besser, als ständig in der Angst zu leben, dass irgendwer über irgendetwas stolpert, wenn man es am wenigsten erwartet?“
„Nein, nein, nein“, sagte sie, wobei ihre Stimme bei jeder Wiederholung des Wortes höher kletterte. „Habe ich dich nicht großgezogen, Junge? Habe ich nicht immer gewusst, was das Beste für dich ist? Habe ich dir nicht gezeigt, wie man sich in den Sümpfen zurechtfindet, welche Pflanzen man pflücken kannst, wie man fischt und Fallen stellt und wie man mit dem Boot Stellen erreicht, wo sonst niemand hinkommt? Du wirst jetzt auf mich hören. Halt dich von diesem Mädchen fern.“
„Sie ist kein Mädchen mehr, Granny May. Sie ist eine Frau.“
„Umso mehr Grund. Sie weiß, hinter was sie her ist oder wird es bald rausfinden. Sie wird dich ausquetschen, bis du ihr alles erzählt hast, was du je über deine Familie gehört hast, sie wird dein Innerstes nach außen kehren und dich zum Trocknen raushängen. Und wenn sie mit dir fertig ist, wird sie alles wissen, was es über dich und mich und die ganze Bande zu wissen gibt. Und dann macht es im ganzen Land die Runde.“
Dagegen ließ sich schwerlich etwas sagen, da er guten Grund hatte anzunehmen, dass sie Recht hatte. „Und ich bin kein Junge mehr. Unsere süße April könnte es mit mir nicht ganz so leicht haben.“
Granny May neigte den Kopf, als würde sie etwas nachlauschen, was er gar nicht gesagt hatte. „Was hast du vor?“
„Könnte sein, dass sie gar keine Zeit hat, Geschichten zu schreiben, weil sie so viel nachdenken muss“, neckte er sie sanft.
„Du glaubst, du könntest sie von dem, was sie vorhat, abhalten?“
„Ich kann es wenigstens versuchen.“
Sie starrte ihn an, als ob sie einzuschätzen versuchte, ob sie ihm übermenschliche Fähigkeiten zutrauen sollte. „Na schön, vielleicht, vielleicht. Aber du musst vorsichtig sein.“
„Ganz bestimmt.“
„Du willst doch nicht wieder in die Falle gehen.“
„Ganz bestimmt nicht. Das ist das Letzte, was ich will.“
„Aber du führst doch noch etwas anderes im Schilde, stimmts? Du willst noch irgendwas von ihr, was nichts damit zu tun hat. Ich frage mich jetzt …“
Er griff nach seinem Matchsack und ging zur Tür. Sie musste einen Schritt zurücktreten, damit er das Zimmer verlassen konnte. Im Flur sagte er: „April und ich haben noch etwas zu erledigen.“
„Aha“, sagte sie mit einem langsamen Nicken. „Aber pass diesmal ein bisschen besser auf, dass nicht wieder du erledigt wirst.“
„Versprochen“, sagte er mit mehr Zuversicht, als er fühlte. Als er an ihr vorbeiging, umarmte er sie kurz, dann schritt er den Flur hinunter.
„Klopf auf Holz“, rief sie ihm hinterher und klopfte, um die Gefahr zu bannen, gegen die Wand.
Er antwortete nicht. Aber als er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunterrannte, klopfte er mit den Knöcheln zwei Mal gegen das dicke Holzgeländer.