14. KAPITEL

April kniete an Deck vor Lukes Kiste mit den Angelgeräten und ließ ihren Blick über den Inhalt schweifen. Auf der oberen Ablage lagen fein säuberlich geordnet Köder in allen Formen und Regenbogenfarben, jeder in dem für ihn vorgesehenen Fach. Es waren erstklassige Fischköder aller Art, angefangen von silbrigen Plastikfischen bis hin zu undefinierbaren Dingern, die vielleicht Ähnlichkeit mit einem Wurm aus dem All hatten. Es gab Spinner mit und ohne Haken und Wobbler und Blinker, Spulen mit Plastikschnur, kleine Behälter mit verschiedenen Bleigewichten, Angelhaken. Und auf dem Boden der Kisten waren neben Zangen, Taschen- und Filetiermessern noch mindestens ein Dutzend weitere Angelutensilien aufgereiht.

Das Interessanteste aber – zumindest in Aprils Augen – waren die herausnehmbaren Ablagen, auf denen diejenigen Köder lagen, die Sammlerstücke waren. Viele davon waren mindestens sechzig Jahre alt, was sie fast schon zu Antiquitäten machte. Die meisten waren unersetzbar.

Luke war ein begeisterter Angler. Offenbar hing er an diesen älteren Ködern. Sie hoffte, dass er sie liebte, sie hoffte, dass es Schätze waren, die er aus seiner Kindheit hinübergerettet hatte. Und das war durchaus möglich, weil sie sich erinnerte, derartige Köder auch in der Angelkiste ihres Großvaters gesehen zu haben, wenn sie als Kind mit ihm zum Angeln gegangen war. Das machte sie perfekt.

Sie suchte sich einen blauroten Köder mit einem neckischen Gummischwanz, der an ein Baströckchen erinnerte, aus, mit einer Aufschrift an der Seite, die besagte, dass es sich um einen Hawaiianischen Wobbler handelte. Sie wog ihn in der Hand, während um ihre Mundwinkel ein grimmiges Lächeln spielte. Dann stand sie auf, wobei sie aufpasste, dass sie sich nicht in den baumelnden Haken verhedderte, und warf den Köder so weit sie konnte. Er flog hoch in die Luft, beschrieb einen Bogen, wobei er in der Sonne aufleuchtete, bevor er mit einem Aufklatschen, das Musik war in ihren Ohren, im Wasser landete. April nickte entschlossen, dann kniete sie sich wieder vor die Angelkiste.

Sie würde es Luke Benedict, der sie erst entführt, dann Liebe mit ihr gemacht und sie anschließend mitten in der Wildnis sitzen gelassen hatte, schon zeigen. Denn das war genau das, was er getan hatte, auch wenn man es nur schwer glauben konnte.

Er war fort. Sie war allein auf dem Boot. Sie wusste nicht, wie lange er schon weg war. Ebenso wenig wusste sie, wohin er gegangen war, wann er wiederkommen oder ob er überhaupt wiederkommen würde. Er hatte keine Nachricht hinterlassen, sondern hatte sich einfach davongeschlichen, während sie schlief. Und er hatte die Zündkerzen des Bootes ausgebaut und mitgenommen, so dass sie es nicht starten konnte. Sie saß in einem schwimmenden Gefängnis.

April war so fuchsteufelswütend, dass sie nicht klar denken konnte. Sie kochte schon den ganzen Tag vor Zorn. Sie konnte sich nicht erinnern, wann zum letzten Mal ein wie auch immer geartetes Gefühl dermaßen von ihr Besitz ergriffen hatte. Abgesehen von der vergangenen Nacht natürlich. Aber daran zu denken machte sie nur noch wütender.

Sie suchte sich noch einen Köder aus, eine Nymphe diesmal, und schleuderte ihn in den See. Wie konnte er es wagen, zu lachen und ihr schönzutun und zu schwören, dass er sie nur zu ihrem eigenen Schutz entführt hätte, um dann einfach zu verschwinden und sie allein zu lassen? Wer oder was gab ihm das Recht dazu?

Der Nymphe folgte eine Heuschrecke und platschte neben zwei Lilienkissen ins Wasser. Luke Benedict war ein niederträchtiger, hundsgemeiner Lügner und der Abschaum der Menschheit.

Als sie nach einer so genannten glücklichen Dreizehn griff, kratzte sie sich an einem der Haken, so dass es blutete. Ihr brachte dieses blöde Ding offenbar kein Glück. Aber Luke würde es auch keins bringen, nicht mehr jedenfalls. Der Köder klatschte aufs Wasser auf und versank in den dunklen Tiefen. Es geschah ihm recht. Er hatte ihr ihre Bewegungsfreiheit genommen und ihre Fähigkeit, sich selbst zu wehren. Dafür hatte sie ihm ein paar seiner wertvollsten Besitztümer weggenommen.

Der Kratzer brannte, deshalb steckte sie den Finger in den Mund, während sie sich auf die Fersen zurücksinken ließ. Was für ein Idiot war sie doch gewesen, dass sie Luke fast geglaubt, dass sie ihm fast vertraut hatte. Und noch idiotischer war es gewesen, dass sie sich letzte Nacht auf Intimitäten eingelassen hatte. Sie verstand gar nicht, was in sie gefahren war; es war Jahrzehnte her, seit sie dermaßen impulsiv reagiert hatte. Sie hatte geglaubt, über derartige Schwachheiten längst weg zu sein. Die Entdeckung, dass sie es nicht war, brachte sie mehr in Rage als alles andere zusammen.

Als sie das Tuckern eines Bootsmotors hörte, hob sie ruckartig den Kopf. Es klang vertraut. Sie konnte sich nicht sicher sein, dass es Luke war, aber es kam schnell näher. Sie beugte sich vor, um den Deckel der Angelkiste zuzumachen, dann schob sie diese wieder an ihren Platz neben Angelrute und Spule zurück. Sie wollte nicht lauthals verkünden, was sie getan hatte, weil er es erst dann entdecken sollte, wenn er es am wenigsten erwartete. Eine unerfreuliche Überraschung verdiente mit einer ebensolchen beantwortet zu werden.

Es war tatsächlich Luke. Als er hinter der Flussbiegung in Sicht kam, setzte ihm die im Westen untergehende Sonne so etwas wie einen goldenen Heiligenschein auf. Er saß entspannt da und lenkte das Boot mit einer Hand. Er wirkte, als wäre er in seiner natürlichen Umgebung, ganz eins mit dem tief liegenden Dinghi, dem dunklen, glitzernden Wasser, auf dem er fuhr, und dem Sumpfland, das ihn umgab. Er fuhr zu dem Ankerplatz im Seitenarm, als käme er nach Hause, und sie sah, dass sich auf seinem Gesicht ein Grinsen ausbreitete, als er sie an Deck entdeckte.

Allein sein Anblick machte sie schon wieder wütend. Sie ging zum hinteren Teil des Decks, wo das Dinghi vorher angebunden gewesen war, und stand mit in die Hüften gestemmten Händen da. Sie wartete nicht, bis er angehalten hatte, sondern schleuderte ihm ihre Anklagen, sobald sie glaubte, dass er sie hören konnte, entgegen.

„Du schnarchst in Wirklichkeit überhaupt nicht, stimmts?“

Sein Gesicht wurde wachsam. „Nicht dass ich wüsste.“

„Du hast mich reingelegt, du hast letzte Nacht nur so getan, als würdest du schlafen“, fuhr sie wütend fort. „Du hast damit gerechnet, dass ich zu fliehen versuche, und hast mich geradezu ermuntert, damit du mich mit einem Minimum an Aufwand davon abhalten kannst.“

Er machte den Motor aus und ging nach vorn ins Boot, um es anzubinden. „Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann.“

„Aber es ist das, was du gemacht hast.“ Es war eins der Dinge, die ihr während des langen Tages klar geworden waren. Die Erkenntnis, dass man sie so leicht hinters Licht führen konnte, hatte ihre Wut nicht gerade gedämpft.

„Wirklich?“

„Du hast nämlich garantiert den ganzen Rest der Nacht kein einziges Mal geschnarcht.“

Sein Lächeln war ironisch, als er fertig war und sich zu voller Größe aufrichtete. „Ich konnte es schließlich nicht riskieren, dass du dich hier in den Sümpfen verirrst, oder?“

„Ja, richtig“, antwortete sie mit beißendem Sarkasmus. „Oder das Risiko eingehen, dass ich dich anzeige.“

„Würdest du das tun? Jetzt immer noch?“

In seinen dunklen Augen lag ein aufreizendes Versprechen und noch mehr, das ihr plötzlich bewusst machte, wie still und einsam es hier war und dass ihr die heiße Sonne auf den Kopf knallte. Sie klammerte sich an ihre Wut wie an einen Talisman und sagte: „Auf jeden Fall sollte ich es!“

Auf seinem Gesicht spiegelte sich Ernüchterung. „Hast du etwa geglaubt, ich käme nicht zurück? Ist es deswegen?“

„Überhaupt nicht. Schließlich wusste ich ganz genau, dass du dein Boot nicht einfach hier lässt.“

„Es gab noch mehr Gründe zurückzukommen als nur das Boot“, sagte er mit einem sinnlichen Unterton in der Stimme.

Das hätte erfreulich sein können, wenn sie es geglaubt hätte, aber sie glaubte es nicht. Obwohl der Ausdruck in seinen Augen eine nachdrückliche Erinnerung daran war, warum sie seinen Verführungskünsten erlegen war.

Eine Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel erhaschte, rettete sie vor einer Antwort. Es war bei Lukes Füßen. Etwas Schwarzes und Pelziges schoss unter dem dreieckigen Vordersitz des Dinghis hervor und reckte sich, dann schaute es erwartungsvoll zu ihr auf.

„Midnight!“ schrie sie. „Oh, ich kann es nicht glauben.“ Sie schaute Luke wieder an. „Wo hast du ihn gefunden? Wie hast du ihn hierher gebracht?“

„Ich habe Mulberry Point einen kurzen Besuch abgestattet. Er schien froh zu sein, dass er Gesellschaft hatte, und schien gegen die Fahrt nichts einzuwenden zu haben.“ Luke bückte sich und hob den Kater mit einer Hand hoch, so dass Midnight wie ein Felllappen in der Luft hing, bis er an Bord geklettert war. „Ich könnte schwören, dass dieser blöde Kater ganz genau wusste, wohin die Reise ging. Er kam völlig freiwillig mit ins Boot.“

„Das heißt nur, dass du ein ganz kluger Kater bist und alles andere als blöd, stimmts, mein Kleiner?“ murmelte sie, während sie Midnight knuddelte, der zur Begrüßung begeistert seinen Kopf an ihrer Schulter rieb.

Luke beobachtete sie einen Moment, dann schüttelte er erstaunt den Kopf. „Willst du gar nicht wissen, was ich dir sonst noch mitgebracht habe?“

Sie streifte erst ihn und dann die Kisten im Boot mit einem kurzen Blick. „Wie ich sehe, hast du Vorkehrungen für einen längeren Aufenthalt getroffen.“

„Ich habe dir deinen Computer mitgebracht oder besser gesagt deinen Laptop.“

„Damit kann ich immerhin einen halben Tag arbeiten, dann ist die Batterie leer“, gab sie trocken zurück.

„Länger mit dem Generator an Bord“, informierte er sie. „Aber ich habe dir auch Papier und Stifte und alles, was mir nach Notizen aussah, mitgebracht.“

Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit. Mit kühler Stimme fragte sie: „Du hast in meinem Schreibtisch herumgewühlt?“

„Ich habe nur das mitgenommen, was obendrauf lag. Aber ich hatte keine Zeit viel zu lesen, falls dich das beruhigt.“

Wenn er alles mitgebracht hatte, was in einem wilden Durcheinander auf ihrem Schreibtisch verstreut herumgelegen hatte, dann müsste sie eigentlich das Meiste haben, was sie brauchte, um arbeiten zu können. Und wenn es wirklich stimmte, dass er es nicht geschafft hatte, sich das, was er eingepackt hatte, anzuschauen, war sie fast wieder versöhnt mit ihm. Was aber natürlich nichts damit zu tun hatte, wie sich seine Jeans an seine schlanken Hüften und den knackigen Po schmiegten, als er das Dinghi auslud und Karton um Karton auf das Pontonboot hievte. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie erleichtert war, ihn zu sehen und froh zu wissen, dass er sie nicht einfach nur aus purer Gedankenlosigkeit allein gelassen hatte.

„In diesem Fall muss ich zugeben, dass du ein sehr aufmerksamer Kidnapper bist.“

Er blieb mit einer Einkaufstüte in der Hand stehen und warf ihr einen tief enttäuschten Blick zu. „Ist das alles?“

„Alles?“

„Kein Versprechen auf spätere leidenschaftliche Dankesbezeigungen? Kein Kuss zur Begrüßung? Kein Willkommensgruß und auch keine Einladung … an Bord zu kommen?“

„Überhaupt keine Einladung, wohin auch immer“, sagte sie steif, während sie sich darauf konzentrierte, Midnight hinter den Ohren zu kraulen. „Wenn du auf letzte Nacht anspielst, das war ein Fehler.“

„Wenn es einer war“, gab er zurück, während er die Einkaufstüten abstellte und nach weiteren griff, „dann deiner.“

Sie riss den Kopf herum. „Was soll das heißen?“

„Wir haben gewettet. Du hast verloren.“

„Du hast nicht fair gespielt. Ich glaube nicht, dass das gilt.“ Sie deutete in vager Geste auf das Boot.

„Klar hast du verloren, du hast nur Angst. Das geht in Ordnung, April, Liebe, aber du wirst dir früher oder später darüber klar werden müssen, was du willst. In der Zwischenzeit können wir ein anderes Spiel spielen. Du kennst es bereits, aber wenn du willst, kann ich es dir noch mal kurz erklären.“

Das war nicht nötig. Sie konnte es aus der Haltung seiner Schultern herauslesen, aus der Wölbung seiner Lippen und dem intensiven Ausdruck in seinen Augen, bei dem ihr ganz heiß wurde. Noch deutlicher aber hallte es in ihrem Kopf wider, es waren die provozierenden Worte, die er an dem Tag, an dem die Hochzeit gewesen war, gesagt hatte: Widersteh mir, wenn du kannst.

Sie bückte sich, um Midnight abzusetzen, dann langte sie nach einem Karton, aus dem etwas hervorlugte, das verdächtig nach dem Saum ihres Seidennachthemds aussah. „Ich habe vor gar nichts Angst“, sagte sie, „und schon gar nicht vor dir und deinen Drohungen.“

„Gut“, gab er mit ruhiger Genugtuung zurück. „Das ist sehr gut.“

April tat so als hätte sie es nicht gehört, als sie mit ihrer Last davonging. Er würde schon noch drauf kommen, wie gut es war, wenn er entdeckte, dass seine wertvollen Köder auf dem Grund des Sees lagen.

Sie verstauten sofort alles, einerseits, weil sie froh waren, etwas zu tun zu haben, und andererseits, weil sie den wenigen vorhandenen Platz dringend brauchten. Anschließend setzten sie sich an den Tisch, um eine Kleinigkeit zu essen, wobei ihnen zum ersten Mal auffiel, dass sie beide das Mittagessen hatten ausfallen lassen. Nach dem Essen stand Luke auf, ging zu seiner Angelkiste und begann darin herumzukramen.

April hatte sich in die Kabine zurückgezogen, wo sie in der Abenddämmerung auf die Explosion wartete. Sie erfolgte nicht. Offenbar hatte er die fehlenden Köder noch nicht bemerkt. Als sie sah, wie er einen glänzenden neuen Spinner befestigte und dann mit der Angel und der Spule zur vorderen Reling ging, wünschte sie sich fast, die ganze Kiste über Bord geworfen zu haben.

Sie erwog ernstlich zu arbeiten; jetzt hatte sie keine Ausrede mehr, und das Wissen um ihren Abgabetermin nagte unaufhörlich an ihr. Aber sie konnte sich nicht überwinden. Vielleicht war sie ja müder, als sie dachte, denn sie hatte wirklich große Lust, ein Nickerchen zu machen. Aber die Nachwirkungen der Nacht konnten es auch nicht sein, weil sie bis in den späten Vormittag hinein geschlafen hatte.

Sie nahm ihr Glas mit Eistee und setzte sich draußen auf die Bank vor dem Steuer, wobei sie sich mit dem Rücken gegen das Pult lehnte und die Beine auf der gegenüberliegenden Bank ausstreckte. Von diesem Aussichtspunkt aus hatte sie einen guten Blick auf Luke, der vorn am Bug stand und nach einem Barsch Ausschau hielt. Midnight leistete ihr für ein paar Minuten Gesellschaft, während Luke einen Dreipfünder reinholte. Sobald der Kater darauf aufmerksam wurde, sprang er auf den zugedeckten Grill, um das Geschehen von dort aus interessiert weiterzuverfolgen.

April bedauerte es fast, dass Luke ihr ihre Arbeit mitgebracht hatte. Obwohl sie sich im Laufe des Tages darüber geärgert hatte, war es andererseits doch auch beruhigend gewesen zu wissen, dass sie nicht arbeiten konnte. Jetzt ließ ihr der Gedanke keine Ruhe mehr.

Aber vielleicht konnte sie sich ja doch den Abend freinehmen, wenn sie sich dafür schwor, gleich morgen früh anzufangen. Dann würde sie jetzt wenigstens nicht mehr daran denken müssen und den Abend genießen können. Es wurde langsam kühler, allerdings war die Kühle nur relativ, fünfundzwanzig Grad zu den glühend heißen fünfunddreißig Grad und mehr mittags.

Der Abend war schwül und feucht. Der leichte Wind hatte sich gelegt. Die Oberfläche des Sees war bis auf die Stellen, wo mit leisen klatschenden Geräuschen nach Mücken schnappende Fische hochsprangen oder Sumpfgase sich blubbernd Bahn brachen, glatt wie ein Spiegel. Das Pontonboot bewegte sich kaum. Durch die schwüle Luft trieb ein flüchtiger Duft, vielleicht von den Wasserlilien oder irgendwelchen Früchten, die in den nahen Wäldern reiften. In den Bäumen am Ufer schrillten Zikaden. Frösche und Grillen fielen in den Chor ein. Ab und zu ertönte aus dem Südwesten ein weit entferntes Donnergrollen.

Die Geräusche, die Luke verursachte, wenn er die Angelrute ins Wasser warf und wieder einholte, fügten sich wie eine fast natürliche Ergänzung in den Chor der übrigen Geräusche. Er war total konzentriert, sein Gesicht im Abendlicht glatt vor Zufriedenheit. Er schien ihre Anwesenheit gar nicht registriert zu haben, so dass sie ihn in aller Ruhe beobachten konnte, ohne befürchten zu müssen, dass er sie dabei ertappte. Er angelte genauso, wie er die meisten Dinge tat, kompetent und mit sparsamen Bewegungen. So dass es ganz leicht aussah.

Unwillkürlich begann sie Einzelheiten des Bilds zu registrieren, das sie vor sich sah. Ohne bewusste Anstrengung begann sie ihn in Gedanken zu beschreiben, die Sätze, die sich in ihrem Kopf formten, tauchten so natürlich vor ihrem geistigen Auge auf wie die Fische an der Wasseroberfläche.

Das schwindende Licht des sich neigenden Tages warf Schatten über seine Wangenknochen. Es tauchte das Weiß seines T-Shirts in schimmerndes Purpur, vermischt mit Gold, und ließ den feinen Schweißfilm, der auf seiner Haut glänzte, golden aufschimmern, so dass er fast einer Bronzestatue glich. Unendliche Geduld überlagerte den hochkonzentrierten Ausdruck auf seinem Gesicht. Die ruhige Selbstsicherheit, die ein wesentlicher Bestandteil seines

April stand auf, um in die Kabine zu gehen, und kehrte einen Moment später mit einem gelben Notizblock und ihrem Lieblingsfüller zurück. Vielleicht konnte sie ja doch noch ein bisschen arbeiten.

„Was zum Teufel!“

Der laute Ausruf riss April aus einer eingehenden Beschreibung der Gefühle ihres Helden, als dieser den Verrat der Heldin entdeckte. Als sie aufschaute, sah sie Luke mit zusammengezogenen Augenbrauen vor der Angelkiste knien. Er starrte auf die leeren Fächer in einer der mittleren Ablagen.

Die Stunde der Wahrheit.

„Vermisst du irgendwas?“ fragte sie unschuldig.

„Ja. Meine Köder.“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Dann schaute er noch einmal hin, als ob er ihren Gesichtsausdruck erst im Nachhinein registriert hätte. „Du weißt wahrscheinlich nichts darüber, oder?“

„Ehrlich gesagt schon.“

„Was? Du hast meine Köder weggenommen?“

„Ich weiß nicht, ob man es so ausdrücken kann.“ Sie rutschte leicht auf ihrem Sitz herum.

„Wie würdest du es denn ausdrücken?“

„Ich habe sie befreit, weil ich mich selbst nicht befreien konnte. Wenn du viel Glück hast, findest du sie vielleicht, wenn du das nächste Mal schwimmen gehst.“

Seine Oberschenkelmuskeln spannten sich an, als er langsam aufstand. „Willst du damit sagen, dass du meine Köder über Bord geworfen hast?“

Sie hob herausfordernd eine Augenbraue, obwohl es nur gespielte Tapferkeit war.

„Sie gehörten meinem Dad.“

„Daran hättest du denken sollen, bevor du mich hier rausgeschleppt hast.“

„Ich kann es nicht glauben, dass du das getan hast.“ Er schüttelte fassungslos den Kopf, während er seine Hände in die Hüften stemmte.

„Du kannst es ruhig glauben“, gab sie zurück und hob das Kinn. „Was hast du gedacht? Dass du machen kannst, was du willst, und ich es einfach hinnehmen würde? So funktioniert das nicht!“

„Ich wollte doch nur …“

„Das hast du schon gesagt. Aber du kannst nicht einfach Entscheidungen für mich treffen und von mir erwarten, dass ich einverstanden bin, nur weil du denkst, dass es das Beste für mich ist.“

Er beobachtete sie einen langen Moment. „Ich hätte nie gedacht, dass du so fies sein kannst.“

„Wirklich nicht? Wenn du dich ohne einen Ton zu sagen in aller Herrgottsfrühe hier rausschleichst? Was blieb mir denn anderes übrig?“

„Hast du es deshalb getan? Weil ich dich nicht geweckt habe, um dir zu sagen, dass ich wegfahre?“

„Weil du mir keine Wahl gelassen hast. Weil du genauso selbstherrlich bist wie all die anderen idiotischen Machos, die mich davon abhalten wollen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Weil …“

Sie unterbrach sich, weil ihr die Stimme wegblieb. Sie wandte sich ab und schaute aufs Wasser.

„April“, begann er und machte einen schnellen Schritt auf sie zu.

„Nein“, sagte sie, während sie ihn wieder anschaute. „Du hast mir etwas weggenommen, was mir sehr wichtig ist, nämlich meinen freien Willen. Und ich habe dir zum Ausgleich dafür auch etwas weggenommen, was nicht ganz so schwer zu ersetzen ist … ein paar alte Köder. Wir sind zwar immer noch nicht quitt, aber wir kommen der Sache langsam näher.“

Er schüttelte den Kopf. „Das sehe ich überhaupt nicht.“

„Sondern?“

„Du hast mir Erinnerungsstücke an die Angelausflüge mit meinem Dad weggenommen. Ganz zu schweigen von den Hoffnungen auf die Zukunft, die ich früher hatte. Solche Dinge kann man nicht ersetzen.“

Ihre Stimme klang nicht mehr ganz so entschieden, als sie sagte: „Ich hatte auch Hoffnungen. Und Träume.“

„Ach, wirklich?“ Auf seinem Gesicht spiegelte sich für einen Moment Unsicherheit, bevor er schließlich den Kopf senkte. „Vielleicht sind wir ja doch quitt.“

Er langte nach seiner Angel und der Spule, dann ging er an den Bug zurück. April kehrte einen Moment später zu ihrer Arbeit zurück. Als es dunkel wurde, hatte sie drei Seiten voll geschrieben und Luke hatte noch zwei Barsche gefangen. Während er den Fisch säuberte und filettierte, bereitete sie eine Panade zu und schälte und schnitt Kartoffeln. Er briet den Fisch und die Kartoffeln in Erdnussöl an, während sie Kohl und Karotten für Kohlsalat schnitt, anschließend machte sie eine Salatsoße. Sie arbeiteten im Team, ohne große Diskussion über die verschiedenen Aufgaben oder wer sie übernehmen sollte, vielleicht weil die Arbeitsteilung traditionell war und sie beide genau wussten, was sie zu tun hatten.

April hätte Luke die ganze Arbeit allein überlassen können. Immerhin war sie nicht freiwillig hier, und Fisch zum Abendessen war schließlich seine Idee gewesen. Aber das ließ ihr Sinn für Gerechtigkeit nicht zu. Schließlich mussten sie beide essen, und ihre Mithilfe beschleunigte den Fortgang der Dinge. Außerdem hatte sie ihren Standpunkt deutlich gemacht, und es gab keinen Grund, noch länger darauf herumzureiten.

Das Gewitter war nicht näher gekommen, aber am Horizont sah man ein Wetterleuchten, das die Wolken von innen heraus hell erstrahlen ließ. Sie beobachteten das faszinierende Naturschauspiel, während sie aßen, obwohl sie das Licht anließen, damit sie die Gräten sehen konnten. Später, nachdem die Küche sauber war, machten sie das Licht aus und setzten sich mit ihrem Eistee draußen auf das dunkle Vorderdeck, um dem Wetterleuchten noch ein bisschen zuzuschauen.

Sie redeten nur gelegentlich. In der Luft lag immer noch der Geruch nach heißem Öl, frittierter Panade, Zwiebeln und Röstkartoffeln. Die Nacht legte sich über das Boot, und gleichzeitig machte sich in der schwülen Atmosphäre ein Gefühl von Erwartung breit. April dachte, dass es von dem Ozon kam, das bei dem Gewitter in der Ferne freigesetzt worden war, aber vielleicht lag es auch daran, dass sich die Geschöpfe der Nacht so still verhielten, weil sie abwarteten, ob es regnen würde. Ab und zu quakte ein Frosch, aber das war auch schon alles.

April schaute ein oder zwei Mal auf den Mann neben sich und auch auf die lange Bank, auf der sie saßen. Die gepolsterte Oberfläche hatte ihm letzte Nacht zumindest am Anfang als Bett gedient. Wo würde er heute Nacht schlafen? Würde er es in Kauf nehmen, draußen im Schlaf von einem Gewitter überrascht zu werden, oder spekulierte er darauf, ihr Bett mit ihr zu teilen? Seine Bemerkung vorhin machte das Letztere wahrscheinlich, aber sicher konnte sie sich nicht sein.

Sollte sie abwarten, bis er einen Schritt in diese Richtung machte, oder sollte sie Milde walten lassen und ihn einladen? Wollte sie da weitermachen, wo sie aufgehört hatten, oder sollte sie ihn zwingen, den ersten Schritt zu tun, um zu sehen, wie sie sich dabei fühlte?

Entscheide dich, hatte er gesagt, aber so einfach war das nicht. Es erschien ihr, als ob sie seinen Überredungskünsten zu leicht erlegen wäre. Sie hatte es zugelassen, sich von seiner Nähe und ihren eigenen unberechenbaren Gefühlen beeinflussen zu lassen, statt eine rationale Entscheidung zu treffen. Doch nachdem es nun einmal passiert war, kam es ihr unsinnig vor, ihre Distanz weiterhin aufrechtzuerhalten. Und doch war sie sich nicht sicher, ob sie weitermachen wollte.

Ein besonders heller Blitz schreckte Midnight auf, der gerade seine Abendtoilette machte. Der Kater starrte einen Moment wie gebannt in den Nachthimmel, dann erhob er sich beleidigt, als ob man ihn misshandelt hätte, und sprang zwischen sie auf die Bank.

Als April von dem Tier ein vertrauter Geruch in die Nase wehte, schaute sie Luke mit gerunzelter Stirn an. „Hast du ihm rohen Fisch gegeben?“

„Er hatte Hunger“, erwiderte er träge. „Außerdem habe ich aufgepasst, dass keine Gräten drin sind.“

„Es ist schlecht für ihn!“

„Ein Märchen, das die Katzenfutterindustrie in die Welt gesetzt hat, um zu verhindern, dass Katzen ihre natürliche Nahrung fressen … oder es stimmt nur, wenn der Fisch lange genug herumgelegen hat, um Fliegen anzuziehen.“ Er streckte die Hand aus und kraulte den Kater unterm Kinn. „Stimmt doch, oder nicht, Midnight, alter Junge?“

Aprils Kater beäugte Luke einen Moment, dann sprang er auf seinen Schoß. Er machte es sich auf einem Oberschenkel bequem und begann Lukes Knie mit seinen Krallen zu bearbeiten.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, sagte April, dann fügte sie hinzu: „Ich dachte, du magst keine Katzen.“

„Ich mag sie auch nicht, vor allem nicht, wenn sie mich mit einem Kratzbaum verwechseln!“ Er streckte die Hand aus und fing eine Katzenpfote ein. „Verdammt, Kater, hör sofort damit auf.“

„Er will dir nur etwas Gutes tun“, sagte April und verkniff sich ein Lächeln.

„Bist du sicher, dass es keine Eifersucht ist, weil ich mit seinem Frauchen hier bin? Oder vielleicht finstere Rache dafür, dass ich ihn mitgebracht habe?“ Als Midnight seine natürlichen Waffen einzog, ließ Luke die Pfote wieder los.

April war sich ihrer Antwort nicht sicher, aber sie hatte nicht die Absicht, es zuzugeben. „Vielleicht ist seine Zuneigung ja auch nur Berechnung. Vielleicht solltest du das nächste Mal das Füttern mir überlassen.“

„Das Vergnügen sollst du haben“, sagte Luke und zuckte zusammen, als Midnight seine Krallen wieder in sein Knie schlug. „Wenn er so weitermacht, werde ich erste Hilfe brauchen. Aber erst nachdem ich ein kurzes Bad genommen habe.“

Sie schaute auf das dunkle Wasser und den bewölkten Himmel. „Du willst dich heute wieder im See waschen? Ich dachte, du hast frisches Wasser mitgebracht.“

„Nur fünfzehn oder zwanzig Gallonen. Wenn wir ständig duschen, kommen wir damit nicht weit. Ich überlasse dir dieses Privileg ebenso gern wie die Raubtierfütterung. Für mich tuts der See genauso gut.“

„Für mich auch, wenn wir Wasser sparen müssen.“

Er widersprach nicht, was sie als Zustimmung wertete. Keiner bewegte sich, und sie wandten sich wieder dem Feuerwerk am Himmel zu, das die Unterseiten der dunklen Wolken, die sich am Nachthimmel zusammenballten, erleuchtete. April trank einen Schluck von ihrem Tee, und das Klirren der Eiswürfel gegen das beschlagene Glas klang laut in der knisternden Stille.

Sie erwog verschiedene Gesprächsthemen, konnte sich jedoch für keins entscheiden, das ihr ungezwungen erschien – wenn es das unter den gegebenen Umständen überhaupt gab. Das Schweigen wurde immer drückender. Sie war schon drauf und dran, über irgendetwas total Profanes wie Bücher oder Filme oder in den Sümpfen lebende Tiere zu sprechen, als Luke das Wort ergriff.

„Ich schlafe hier draußen, nur falls du dich das fragst.“

„Warum?“ rutschte es ihr heraus.

Er wandte den Kopf, der auf der Rückenlehne lag, während er mit lang vor sich ausgestreckten Beinen auf der Bank lümmelte. „Was meinst du mit warum?“

„Aus Rücksichtnahme? Oder habe ich irgendwas gemacht? Oder ist es ein Trick? Irgendeine Art Test?“

„Lieber Himmel, April“, sagte er in einer Mischung zwischen Lachen und Aufstöhnen. „Du denkst wirklich zu viel.“

„Und du denkst vielleicht nicht genug.“ Sie schaute verärgert weg.

„Es ist keine Vernunftentscheidung. Man muss sich von seinen Gefühlen leiten lassen.“

„Das habe ich früher auch versucht und schau, was es mir gebracht hat.“

„Was denn?“ In seiner Stimme schwang Neugier mit.

Sie verschränkte die Arme über der Brust und sagte: „Eine verlorene erste Liebe und eine Ehe, die eine Katastrophe war, und eine sich ihrem Ende zuneigende Karriere als Liebesromanautorin.“

„Das kann ich nicht beurteilen“, gab er bedächtig zurück. „Aber es könnte genau im Gegenteil davon kommen, dass du immer zu viel gedacht hast, statt deinen Gefühlen zu folgen.“

„Das ist eine hübsche klare Antwort, nicht wahr?“ sagte sie und drehte ihm wieder den Rücken zu. „Und was fühlst du, wenn du bei diesem Wetter draußen schlafen willst, wo du doch in Gefühlsdingen angeblich so ein Experte bist?“

Er zuckte die Schultern. „Ich kann es nicht mit Worten ausdrücken. Oder will es nicht versuchen.“

Sie fahndete in seiner Stimme nach Hinweisen, aber sie fand keine. „Das ist keine Antwort.“

„Also gut“, sagte er nach einem Moment angespannten Schweigens. „Vermutlich kommt es mir vor, als ob ich die Situation ausnutzen würde, okay? Ich habe dich zu etwas gedrängt, wozu du noch nicht bereit warst. Ich habe das Gefühl, es ist besser, wenn ich mich ein bisschen zurückhalte, bis du dich an den Gedanken gewöhnt hast.“

„Das ist sehr …“

„Dumm?“ ergänzte er, als sie sich unterbrach.

„Großzügig“, stellte sie richtig. „Und verständnisvoll.“

„Täusch dich nicht. Ich habe nicht aufgegeben.“

In seinem trockenen Ton schwang ein willkommener Anflug von Humor mit. „Das habe ich auch nicht geglaubt.“

„Fein“, sagte er ruhig, während er Midnight von seinem Schoß hob und auf die Bank setzte. „Hauptsache, wir wissen, wie wir dran sind.“

Darauf hatte April keine Antwort. Aber das machte nichts, da Luke ohnehin keine erwartete. Er stand auf und ging zu der Reling, wo er aus seinen Schuhen schlüpfte und sein Hemd und seine Jeans auszog. Dann kletterte er über die Reling und sprang kopfüber ins Wasser. Es dauerte lange, bis er wieder auftauchte, tatsächlich so lange, dass April aufstand und mit Blicken die dunkel schimmernde Wasseroberfläche zu durchdringen suchte. Als schließlich sein Kopf nass und glänzend wie der Kopf eines Seeotters wieder hochkam, seufzte sie erleichtert auf.

Luke warf sich zum Boot herum, so dass das Wasser nach allen Seiten hoch aufspritzte, und schob sich mit einer Hand die triefenden Haare aus den Augen, während er Wasser trat. Dann rief er ihr zu: „Wirf mir die Seife rein, okay? Oder bring sie mir.“

April glaubte in seinen Stimme einen leichten Anflug von Herausforderung mitschwingen zu hören. Aber sie war nicht so töricht, darauf zu reagieren, diesmal nicht. Nachdem sie die Seife geholt hatte, stand sie damit da und war stark versucht, ihm das Seifenstück an den Kopf zu werfen. Aber das Risiko, dass es verloren ging, war zu groß, und sie war sich nicht sicher, ob es außer dem kleinen Stückchen im Bad, das sie benutzte, noch ein anderes an Bord gab. Deshalb zielte sie jetzt sorgfältig, warf ihm die Seife zu und beobachtete, wie er sie aus der Luft fing. Dann drehte sie sich um und ging in die Kabine.

Eine Weile später, nachdem sie sich, auf der Bootsleiter stehend, schnell im See gewaschen hatte und dann ins Bett gegangen war, spürte sie, wie das Boot schaukelte, als Luke wieder an Bord kam. Sie war nicht überrascht, dass es so lange gedauert hatte. Als sie ihn vorhin zum letzten Mal gesehen hatte, war er mit kräftigen Stößen auf den schmalen Zugang zu- und dann auf den offenen See hinausgeschwommen, als ob er vorhätte, sich von dort aus das Wetterleuchten anzuschauen. Das hatte nichts Gutes für seine Laune ahnen lassen, aber auf diese Weise konnte er wenigstens seine überschüssige Energie loswerden. Die Frage war jetzt nur, ob es auch genug gewesen war.

Sie spannte sich an, aber er kam nicht in die Kabine. Ganz langsam entspannte sie sich wieder. Doch sie schaffte es nicht einzuschlafen. Sie beobachtete durch das Fenster über ihrem Kopf, wie der Himmel in Abständen immer wieder hell wurde, und lauschte dem entfernten Donner. Es klang wie der unregelmäßige Herzschlag der Erde.

Sofort überlegte sie, ob es diese brillante Formulierung wert war, zu Papier gebracht zu werden. Wohl kaum.

Kam das Gewitter näher, wurden die Blitze heller? Mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrend, beobachtete sie, wie es sich entwickelte. Falls es wirklich näher rückte, war es nicht ganz ungefährlich, an Deck zu schlafen. Es war egoistisch von ihr, Luke, den Elementen ausgeliefert, da draußen schlafen zu lassen. Sie sollte ihn wirklich reinrufen. Aber was würde er denken? Zweifellos das Offensichtliche. Wollte sie das?

Entscheide dich …

Es war heiß, kein Lüftchen wehte. Die Atmosphäre wirkte verstört vom Aufbäumen der Elemente. April war so unruhig. Es gelang ihr nicht, auf der festen Schaumgummipolsterung des provisorischen Betts, das so anders als ihr Bett in Mulberry Point war, eine bequeme Stellung zu finden. Midnight, der schwer und warm auf ihren Füßen lag, trug auch nicht zur Verbesserung der Angelegenheit bei. Ihr kurzes Seidennachthemd schnürte sie ein, es war eng um die Hüften und Brüste. Es war, als ob ihre Haut nicht atmen könnte. Sie war schon drauf und dran, sich nackt auszuziehen, damit sie wenigstens den leichten Luftzug, der da war, spüren konnte.

Es lag am Wetter; das war alles. Ihr ständiges Herumwälzen hatte nichts mit dem Mann da draußen zu tun. Gar nichts.

Luke anzulügen war das eine, es war eine absolut verständliche Selbstschutzmaßnahme. Aber sich selbst anzulügen war etwas ganz anderes. Sie wusste genau, dass sie nicht halb so unruhig wäre, wenn sie allein an Bord wäre. Das konnte sie genauso gut zugeben. Punkt.

Entscheide dich …

April strampelte sich so vehement die Decke ab, dass Midnight empört miaute und zu Boden sprang. Sie schob sich eine Hand in den Nacken und breitete ihr Haar wie einen Fächer über dem Kissen aus. Sie presste die Lippen fest aufeinander, schloss die Augen und versuchte sich ganz und gar aufs Einschlafen zu konzentrieren. Entschlossen bemühte sie sich, alle vor ihrem geistigen Auge aufsteigenden Bilder der vergangenen Nacht beiseite zu schieben: Zwei eng verschlungene, schweißnasse Körper, die taumelnd vor Leidenschaft in einer Symphonie aus Berührungen und Geschmacksnoten schwelgten.

Schlafen, sie musste endlich einschlafen. Sie atmete ein, zwei, drei Mal ganz tief ein, dann versuchte sie ihren Körper zu ermutigen, sich von den Zehen aufwärts Stück für Stück zu entspannen, indem sie sich auf jeden einzelnen Muskel konzentrierte. Als sie bei den Knien angelangt war, schweiften ihre Gedanken ab, und sie ertappte sich dabei, dass sie wieder aus dem Fenster auf den in unregelmäßigen Abständen aufleuchtenden Himmel schaute.

Unvermittelt setzte sie sich auf, schwang ihre Füße aus dem Bett und stand auf. Sie ging zur Tür und schob das Fliegengitter zurück.

Luke fuhr bei dem Geräusch so schnell hoch, dass es offensichtlich war, dass er noch nicht geschlafen hatte. Der Umriss seines Körpers zeichnete sich deutlich auf dem weißen Laken ab. Die Boxershorts, die er trug, waren mit Sicherheit nur ein Zugeständnis an ihr unterstelltes Schamgefühl. Er gehörte zu den Männern, die normalerweise nackt schliefen.

Das Boot schaukelte sanft auf dem Wasser. Das Tau knarrte, dann war es still. Eine ganze Weile sprach keiner ein Wort. April hatte sich nichts zurechtgelegt, und jetzt wollte ihr partout nichts Passendes einfallen. In ihrem Kopf herrschte gähnende Leere.

Wieder leuchtete der Himmel auf. Das weißblaue Licht überzog Lukes breite Schultern und die hervortretenden Muskelstränge in seinen Armen und Beinen mit einer silbernen Schicht. Es zauberte Glanzlichter in sein Haar, aber seine Augen beließ es im Schatten.

„Was ist?“

Seine heisere und doch volle Stimme trieb zu ihr herüber und ging ihr unter die Haut, wodurch sich das sehnsüchtige Ziehen in ihrem Unterleib noch verstärkte. Kühn antwortete sie: „Ich habe mich entschieden. Komm rein.“