VIERTES KAPITEL

»Junger Mann«, begann Rodenstock sanft und einfühlsam das Gespräch. »Uns ist klar, dass Sie uns nicht vollständig an Ihrem Wissen und Ihren Ahnungen haben teilhaben lassen. Aus Ihrer Sicht war das vollkommen richtig. Sie mussten sich und Ihre Familie schützen. Nun wissen wir aber leider auch, dass Ihr Herr Vater ermordet worden ist. Er wurde von jemandem mit einem Stein erschlagen. Ob die Felslawine vorher oder hinterher niederging, das steht noch nicht fest. Aber lassen wir die Lawine erst einmal außer Betracht. Stellen Sie sich bitte den Steinbruch vor. Waren Sie überhaupt schon einmal dort?«

Er nickte. Er wirkte ein wenig angeschlagen, aber glücklicherweise nicht verunsichert. »Ziemlich oft sogar. Mit meinem Vater natürlich. Aber auch mit meiner Schwester. Und manchmal war Holger dabei.«

»Nun gut«, fuhr Rodenstock freundlich fort, »dann lassen Sie uns das Terrain einmal vergegenwärtigen. Zwanzig Meter über Ihrem Vater befand sich ein Mensch. Das ist bewiesen. Dieser Unbekannte da oben war anscheinend nicht gekommen, um mit Ihrem Vater zu sprechen. Er war offensichtlich dort, um Ihren Vater zu belauschen. Denn er führte ein Richtmikrofon mit sich, er ließ ein Kabel zurück. Wir wissen, dass dieser Mensch mit einem Allradfahrzeug kam. Es ist wichtig, dass ich hinzufüge: Es muss sich nicht zwangsläufig um nur eine Person gehandelt haben, da oben können sich durchaus auch zwei oder mehr Leute aufgehalten haben. Können Sie mir bis dahin folgen?«

»Ja«, sagte Heiner etwas krächzend. Er kniff die Augen zusammen und fragte dann: »Waren Fingerabdrücke auf dem Kabel?«

»Nein«, antwortete Rodenstock. »Die Spuren deuten darauf hin, dass diese Person Handschuhe trug. Und das ist im Sommer ziemlich grotesk. Also hatte diese Person etwas zu verbergen.«

Er beugte sich mit einem Feuerzeug zu Emma hinüber und zündete ihren stinkenden holländischen Zigarillo an. In der Bewegung lag etwas sehr Vertrautes und die in dem Moment herrschende Stille hatte etwas Einlullendes.

Dann fragte Rodenstock unvermittelt und geradezu explosiv: »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was die Existenz eines solchen Menschen da oben über dem Zelt Ihres Vaters bedeutet?«

Der junge Mann nickte bedächtig. »Dass mein Vater... dass er Feinde hatte, denke ich. Deswegen bin ich ja hier.«

Rodenstock lächelte: »Es ist nicht verwunderlich, dass Ihre Logik nach den persönlichen harten Schlägen versagt. Die Tatsache, junger Mann, dass zwanzig Meter über Ihrem Vater jemand mit einem Richtmikrofon hockte, bedeutet für den Kriminalisten zunächst einmal nur, dass drei Personen im Spiel gewesen sein müssen. Denn Ihr Vater war ja vermutlich nicht für großartige Selbstgespräche berühmt. Das Richtmikrofon beweist, dass es jemanden gegeben haben muss, mit dem Ihr Vater redete. Nun haben wir also schon drei Personen am Tatort: den Mikrofon-Typen, einen unbekannten Besucher und Ihren Vater. Können Sie sich vorstellen, wer der unbekannte Besucher gewesen sein könnte?«

»Ja, klar«, antwortete unser Besucher, als handelte es sich um die leichteste aller Übungen. »Das kann ich ... Es gibt da einen Fensterhersteller, Fenestra. Das ist ein Familienunternehmen. Die haben Kies wie Heu, richtig viel Geld. Als mein Vater rausfand, dass die irgendwie Vinyl ins Grundwasser geschickt haben, fertigte er ein Gutachten an ...«

»Moment«, unterbrach ich. »Machen Sie mal aus Ihrem Vater keinen Helden. Er hat das Vinyl nachgewiesen, gut. Aber mit seinem Gutachten ist doch offensichtlich nichts passiert. Gar nichts!«

»Das stimmt nicht«, widersprach Heiner heftig. »So war das nicht. Mein Vater hat Vinyl nachgewiesen und das Gutachten, wie üblich, seinem Chef gegeben. Und der hat das Gutachten auf Halde gelegt, wie sie im Amt immer sagen. Deshalb ist nichts passiert. Der Chef meines Vaters hat gesagt: Wenn wir das veröffentlichen, kriegt jeder Fensterhersteller und jeder Eifeler, der mit Kunststoffen arbeitet, ein Problem ...«

»Ja und?«, fragte Vera empört. »Wieso denn, verdammt, nicht? Da sind doch Kinder gestorben!«

»Das ist jetzt nicht fair, Vera«, murmelte Emma. »Der junge Mann kann nichts für diese Sache. Und er ist nicht sein Vater. Wenn ich Sie richtig verstehe, hat der Chef Ihres Vaters das Gutachten zu den Akten genommen und nicht darüber geredet?«

»Es war viel schlimmer. Der Mann hätte die vorgesetzte Behörde in Trier informieren müssen. Das passierte aber auch nicht. Die wissen bis heute offiziell nichts von dem Fall. Der Chef sagte, dass er Öffentlichkeit in diesem Fall nicht verantworten könnte, denn dann wären auch alle beteiligten Bürgermeister dran.«

»Können Sie das erklären?«, bat ich.

Er nickte. »Die Gemeinden haben die Pflicht, die Versorgung mit Trinkwasser sicherzustellen. In vielen Gemeinden gibt es in der Satzung eine Passage zum Anschluss- und Benutzerzwang. Das heißt, wenn ich baue, muss ich mich anschließen lassen. An die Entsorgung des gebrauchten Wassers und an die Versorgung mit Trinkwasser. In Thalbach und allen Gemeinden ringsum ist das auch so. Die Konsequenz dieses Zwangs ist: Wenn das Trinkwasser vergiftet ist und die Vergiftung medizinisch nachweisbare Schäden auslöst, sind der Bürgermeister und die Verwaltung dran. Die haften nämlich. Somit kann zum Beispiel eine Familie, in der aufgrund mangelhafter Trinkwasserqualität Krankheiten auftreten, die Gemeinde verklagen. Wenn der Nachweis erbracht werden kann, wird der Wasserversorger verurteilt. Und der Versorger ist die Gemeinde, vertreten durch den Bürgermeister und den Verwaltungschef. Bei uns in der Eifel ist im nächsten Schritt auch die Verbandsgemeinde gefragt, als die nächste Körperschaft. Das heißt, es gibt viele Verantwortliche und keiner kann sagen: Mich geht das nichts an.«

Der junge Mann beeindruckte mich.

»Danke schön«, murmelte Emma. »Das kam klar rüber. Was sind das für Brunnen in diesen Gemeinden Thalbach und Umgebung?«

»In der Regel handelt es sich dort um Brunnen, die ans Grundwasser gehen. Sie sind etwa zehn bis fünfzehn Meter tief, je nach Grundwasserstand. Erst ab fünfzig Meter Tiefe wird ein Brunnen Tiefbrunnen genannt. Tiefbrunnen werden zunehmend abgeteuft. Ganz einfach deswegen, um die Risiken, die normale Grundwasserbrunnen bergen, zu umgehen. Niemand redet zwar gern darüber, aber so ist es.«

»Wenn Sie von Risiken bei Grundwasserbrunnen sprechen, komme ich zu der Vermutung, dass das Trinkwasser in der Eifel durchaus nicht so gut ist, wie es immer beschworen wird. Man sagt doch, wir haben in der Eifel fantastisches Wasser. Ihre Antwort, junger Mann«, forderte Rodenstock.

»Also, mich hat das immer schon interessiert. Nicht nur, weil mein Vater ein Kontrolleur war ...« Unvermittelt begann Heiner zu schluchzen, sein ganzer Körper bebte. Er quälte sich »Ach, Scheiße!« heraus und zog ein Paket Papiertaschentücher aus seinem karierten Hemd.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Vera weich.

Er murmelte: »Ich trinke sonst gar nicht, aber könnte ich einen Kognak haben oder so was?«

»Selbstverständlich.« Vera ging, um einen zu holen. Sie kam zurück, goss ein und er trank einen kleinen Schluck davon.

»Die Trinkwasser in der Eifel sind tatsächlich nicht so gut wie ihr Ruf«, fuhr er schließlich fort. »Der gute Ruf geht auf die Überfülle an hervorragenden Sprudelwassern zurück. Von Brohler an der Rheinfront über Apollinaris, Dreiser, Dauner, Birresborner, Geroisteiner. Doch diese Wasser stammen alle aus extremen Tiefbrunnen und sind zum Teil über eine Million Jahre alt. Das Trinkwasser aus Oberflächenwasser, also Wasser aus Seen, Talsperren, Flussläufen, ist dagegen mit hohen Risiken behaftet. Manchmal ist es so verdammt dreckig, dass es nur durch Zugabe von Chloriden als Trinkwasser deklariert werden kann. Mit derlei Wasser gibt es immer mal Probleme. Eine Geschichte als Beispiel: Die Behörden wollten von einem kleinen Wasserversorger die Messstreifen sehen, auf denen jeden Tag die Qualität des Wassers aufgezeichnet wird. Doch die waren auf einmal weg und die Polizisten, die die Messstreifen auftreiben und sicherstellen sollten, waren plötzlich alle krank. Schließlich fand man die Messstreifen bei einem Angestellten des Wasserwerks in der Garage. Der Vorfall bewies, dass die Leitung des Wasserwerkes einmütig verschweigen wollte, dass das Trinkwasser total versaut war und eigentlich nur im abgekochten Zustand gebraucht werden durfte. Und die Bevölkerung wusste von nichts ...«

»Eifel-Filz«, nickte Rodenstock. »Wie kommt es dazu, dass die Grundwasserbrunnen so hohe Risiken bergen?« Das Wissen des jungen Mannes hatte uns alle in den Bann gezogen — »Na ja«, überlegte er seine Worte. »Die Landwirtschaft hat seit Jahrzehnten Giftstoffe ausgebracht. Gülle, Pestizide, Fungizide. Und es bleibt eben nicht aus, dass das Zeug langsam, aber sicher auf zwanzig, ja auf dreißig und fünfzig Meter Tiefe absickert. Die Sinkgeschwindigkeiten des Wassers in der Erde sind genau bekannt und es steht mit absoluter Sicherheit fest, dass in den nächsten Jahren, also bis etwa 2010, unheimlich viele Brunnen ausfallen werden, weil deren Wasser verseucht sein wird. Dazu kommt das Problem mit dem Grundwasserspiegel. Wenn zu viel Wasser entnommen wird, zum Beispiel durch die Industrie, sinkt der Grundwasserspiegel. Wenn der sinkt, können noch andere Giftstoffe, an die man gar nicht so denkt, freigesetzt werden und ins Trinkwasser geraten.« Heiner schnaufte und breitete die Arme leicht aus, so engagiert war er. »Zum Beispiel Leichengifte im Bereich von Friedhöfen. Und dann gibt es noch die massiven Unsicherheiten in Bezug auf die Fließrichtungen.«

»Ich bitte um Unterrichtung«, sagte Emma schnell. »Was sind Fließrichtungen?«

»Das Wasser unter unseren Füßen befindet sich in verschiedenen Schichten. Die eine Schicht führt sehr viel Wasser, dann folgt eine nahezu wasserdichte Schichtung, dann kommen Kavernen voller Wasser, unterirdische große Pfützen. Und alle diese Wasser fließen, das heißt, sie stehen durch Zufluss und Abfluss niemals ganz still. Bei Stolberg im Aachener Raum sind Versuche mit Lebensmittelfarbe gemacht worden und man hat nachgewiesen, dass im Grunde nichts nachzuweisen ist. Mal floss das Wasser von rechts nach links, dann wieder umgekehrt. Das Wasser kam eine Woche lang von Norden nach Süden, drehte dann auf westliche Richtung, stoppte und floss in Gegenrichtung. Das sind Bewegungen viele hundert Meter unter der Erdoberfläche. Man kann Kameras runterschicken, das wird auch dauernd gemacht, aber die Fließrichtungen sind immer noch nicht vorhersagbar. Mein Vater erklärte die Konsequenzen dessen mal mit folgendem Beispiel: Wenn einer am Nürburgring auf die Idee kommt, nach Sprudel zu bohren, kann er Glück haben und in zweihundert Metern Tiefe eine Schicht erwischen, der Wasser in unbegrenzter Menge entnommen werden kann. Im nächsten Moment kann es jedoch passieren, dass Apollinaris schreit: Moment mal, das ist unser Wasser! Apollinaris ist mehr als dreißig Kilometer entfernt und Apollinaris kann durchaus Recht haben.«

»Eine Frage«, sagte ich. »Sind die Entnahmemengen eigentlich vorgeschrieben oder darf man in unbegrenzter Menge Wasser entnehmen?«

»Das ist natürlich vorgeschrieben. Das zuständige Amt kennt die voraussichtliche Wassermenge, die Sie angebohrt haben, sehr genau«, erläuterte Heiner sofort. »Um zu sichern, dass die Wassermenge unter der Erde konstant bleibt – es fließt ja ständig welches nach –, bekommen Sie ein Kontingent zugeteilt. Water Blue zum Beispiel darf als neue Quelle pro Tag sechzigtausend Liter fördern.«

»Wer kontrolliert denn das?«, fragte Vera erstaunt.

Er lächelte. »Das ist kaum zu kontrollieren. Das läuft immer wieder auf ein Agreement unter Gentlemen hinaus.«

»Und wer prüft die Wasser bei den großen Firmen?«, fragte Vera weiter.

Er verzog den Mund abfällig. »Gewöhnlich wird es von Chemikern geprüft, die für den Hersteller arbeiten.«

»Das bedeutet ja, sie prüfen sich selbst«, murmelte Emma. »Wie schön für sie. Sagen Sie, junger Mann, was ist mit den Brauereien, die immer erzählen, dass sie ihr Wasser aus einer Felsquelle oder aus einem tiefen Stein entnehmen – wie es im Werbefernsehen so schön heißt.«

»Das ist grandioser Kappes!«, grinste er. »Es gibt Brauereien mit eigenen Tiefbrunnen. Aber andere entnehmen ihr Wasser schlicht und ergreifend der ganz normalen Trinkwasserleitung. Und was die Felsquelle anlangt, kann ich nur sagen, dass das absolut keine Wertung über die Qualität des Wassers zulässt. In den oberen Erdschichten kann immer Fels sein, durch den das Wasser austritt. Deswegen ist das Wasser nicht sauberer als anderes. Das sind so komische, hehre Naturbegriffe, die werbewirksam eingesetzt werden. Und die Verbraucher fallen drauf rein. Meine Schwester Jule sagt immer: Ein reines Wasser muss durch reinen Fels und kommt direkt vom Friedhof! Das ist böse, aber es trifft die Sache.«

»Ist die Trinkwasserversorgung in der Eifel denn alles in allem gesichert?« Rodenstock fragte das lächelnd, um zu dokumentieren, dass wir alle höchst interessiert zuhörten.

»O ja. Absolut. Wenn ein paar hundert Grundwasserquellen gegen Tiefbrunnen ausgetauscht werden würden, wäre die Eifel als Wasserlieferant in ganz Europa erste Sahne und wir könnten das Wasser noch tausend Kilometer weiter weg verkaufen. Aber das kapiert ja keiner.«

»Das war alles hochinteressant.« Rodenstock schnitt eine zweite seiner dicken Zigarren an. »Aber wir sollten nun wieder zum Steinbruch zurückkehren. Sie sagten, dass Sie sich vorstellen können, wer Ihren Vater dort besucht hat. Wer?«

»Der Chef der Fenestra natürlich«, antwortete Heiner schnörkellos. »Der wollte nämlich meinem Vater etwas abkaufen.«

Es herrschte Stille, wir sahen ihn erwartungsvoll an.

»Er will das Gutachten, das mein Vater anfertigte.«

»Aber das hat doch der Chef Ihres Vaters«, rief ich.

Er schüttelte den Kopf. »Mein Vater muss was gerochen haben. Er hat sein eigenes Gutachten kopiert und bei uns zu Hause im Arbeitszimmer versteckt.«

»Woher haben Sie diese Kenntnis?« Rodenstock hatte sich vorgebeugt.

»Ich habe das Gutachten gefunden und gelesen«, war die einfache Antwort. »Mein Vater war ... er war eher ein schweigsamer Mann. Er sprach nicht viel über Berufliches ...«

»Moment«, widersprachen Vera und ich gleichzeitig. Ich ließ Vera den Vortritt: »Ihr Vater hat Ihnen doch sehr viel über Trinkwasser beigebracht. So schweigsam kann er nicht gewesen sein.«

Heiner überlegte. »Was Natur anlangt und Wasser ganz allgemein, hat er uns, also den Kindern, unheimlich viel beigebracht. Das stimmt. Aber berufliche Vorgänge ... da war er ganz Beamter, da gab es für ihn den Datenschutz aus meterdickem Stahlbeton. Nur diese Kiste mit den Leukämiefällen, die hat ihn berührt und seine Beamtenseele verunsichert. Trotzdem hat er uns gegenüber nie zugegeben, dass er das Vinyl nachgewiesen hat. Na ja, und jetzt, nachdem diese Sache ... mit ihm passiert ist, habe ich sein Arbeitszimmer abgesucht. Mama brauchte Versicherungsunterlagen und so 'nen Kram. Dabei habe ich das Gutachten gefunden.«

»Haben Sie die Akte bei sich?«, fragte Rodenstock.

»Ja. Im Handschuhfach. Ich hole sie.« Heiner stand auf und verschwand nach draußen.

Als er wiederkam, erklärte er: »Ich wollte das den Kriminalbeamten, die heute bei uns waren, um uns mitzuteilen, dass Papa ermordet wurde, nicht geben. Meine Mutter und Jule waren dabei. Und die sind beide mit den Nerven vollkommen fertig. Ich wollte meine Mutter nicht noch weiter beunruhigen. Ich gebe die Akte Ihnen, Sie können das ja weiterleiten.«

»Gut, machen wir«, nickte Rodenstock. »Sie sagten, dass der Chef von Fenestra im Steinbruch war, um diese Studie hier zu kaufen. Woher wollen Sie das wissen, dass der Mann hinter der Akte her war?«

»Indirekt von meinem Vater. Als ich ihn mal nach der Leukämiegeschichte fragte und ob er da nicht was unternehmen könnte, machte er so eine komische Bemerkung, die ich überhaupt nicht verstand. Er sagte nämlich, irgendwie verächtlich: Was glaubst du, Junge, wie teuer ich bin? Und ein paar Wochen später hat er in einem anderen Zusammenhang gemeint: Du kannst als Beamter noch so gründlich arbeiten, wenn die Politik gegen dich ist, nimmt sie nichts, nicht einmal wissenschaftliche Wasseruntersuchungen, zur Kenntnis. Tja, und dann hat meine Schwester mitbekommen, wie der Chef von Fenestra auf einem Schützenfest zufällig mit meinem Vater zusammentraf. Der Typ war schon ziemlich betrunken und sagte: Du weißt doch, Breidenbach, dass ich dich zu einem reichen Mann machen kann, wenn du willst. Zudem hatte unsere Clique damals, als wir noch glaubten, diese Sauerei publik machen zu können, herausgefunden, dass der Chef meines Vaters auf Ibiza in einem kleinen, alten Bauernhof Urlaub machte, der dem Chef von Fenestra gehört. Hinter San Antonio im Landesinnern. Holger Schwed und ich sind sogar heimlich mit einem Last-Minute-Flug hingeflogen. Und es gelang uns tatsächlich, den Chef meines Vaters dort zu fotografieren. Ich wollte in diesen Tagen mit meinem Vater darüber reden.«

»Heiliger Strohsack!«, hauchte Rodenstock. »Ist Ihnen klar, was Sie da recherchiert haben? Wie heißt denn eigentlich dieser Fensterhersteller?«

»Lamm, Franz Lamm. Ist fünfundfünfzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Die sind aber schon lange aus dem Haus. Lamm ist ein Machtmensch, er ist absolut unberechenbar. Zu seinem Glück fehlte ihm genau das Gutachten meines Vaters, an der Stelle hatte er die Sache nicht unter Kontrolle. Deshalb glaube ich, dass Lamm im Steinbruch bei meinem Vater war.«

»Woher soll Lamm überhaupt gewusst haben, dass Ihr Vater über eine Kopie eines vertraulichen Dokumentes verfügte?«, fragte Rodenstock.

»Ich vermute, der Chef meines Vaters ahnte, dass mein Vater eine Kopie zurückbehalten hat. Wahrscheinlich stand doch von Anfang an fest, dass das Gutachten niemals weitergegeben würde. Was meinem Vater klar gewesen sein muss, was wiederum sein Chef gewusst haben muss. Das ist doch logisch, oder?«

»Sehr logisch sogar«, lobte Emma. »Nur glauben wir nicht, dass Lamm im Steinbruch war.«

»Ach nein?«, fragte er irritiert.

»Ja«, bestätigte Rodenstock. »Wissen Sie, Kriminalisten werden Ihnen nie alles sagen, was sie wissen. Das ist ein beruflicher Grundsatz. So hat man Ihnen, dem Sohn des Opfers, etwas verheimlicht, was ich Ihnen nicht weiter verheimlichen möchte. Ihr Vater hatte Besuch nicht von Lamm, sondern von einer Frau. Vor seinem Tod, das hat die Obduktion erbracht, hatte er einen Samenerguss. Und da Ihre Mutter nicht im Steinbruch war, muss es noch eine zweite Frau im Leben Ihres Vaters gegeben haben. Mit anderen Worten: eine Geliebte. Wer kann diese Frau sein?«

Er war geschockt, starrte erst uns der Reihe nach an, dann auf die Wand hinter unseren Köpfen und murmelte tonlos: »Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«

Unübersehbar übermannte ihn eine helle, heiße Wut. Er ballte die Fäuste so sehr, dass sie weiß wurden. Sein ganzer Körper verkrampfte sich, war gespannt wie ein Bogen. Er richtete sich ein wenig auf und seine Augen stierten in die Ferne.

»Doch!«, nickte ich hastig. »Wir verstehen, dass Sie geschockt sind. Aber wahrscheinlich kennen Sie die Frau.«

Auf seiner Stirn standen helle Tröpfchen, seine rechte Hand grub sich angestrengt in die Sessellehne. Er schien nicht zu atmen, wollte wohl was sagen, vielleicht auch schreien, atmete plötzlich rasselnd aus. Endlich stöhnte er: »Diese Scheißbeziehungskisten! Sind denn alle verrückt? ... Tut mir Leid, das schmeißt mich irgendwie.«

Emma mischte sich ein, beugte sich weit vor und sah ihn an. »Sie leiden, junger Mann. Und ich würde vorschlagen, hier abzubrechen. Sie sollten hier bleiben, Sie sind sehr erschöpft, haben in den vergangenen Tagen viel zu viel schlucken müssen. Es ist zu riskant, Sie jetzt allein nach Hause fahren zu lassen. Wir bauen Ihnen ein Bett unterm Dach juchhe und Sie ruhen sich erst einmal aus. Bitte entschuldigen Sie die quälenden Fragen, die wir stellen mussten.«

Er dachte einen Moment mit schlohweißem Gesicht nach, nickte dann mühsam und sagte: »Ich muss meiner Mutter Bescheid sagen. Sie kann sowieso kaum schlafen.« Er zog ein Handy aus der Tasche.

»Gehen Sie in die Küche, da sind Sie ungestört«, schlug Emma mitfühlend vor.

Als er draußen war, wandte sie sich uns zu: »Ich weiß nicht, was davon zu halten ist, aber dieser Lamm ist ohne Zweifel gefährlich. Und er könnte trotz allem im Steinbruch gewesen sein, oder?«

Rodenstock nickte. »Lieber Himmel, ich muss der Mordkommission Bescheid geben. Die brauchen dieses Gutachten und sie müssen sich Lamm vornehmen. Und Heiner Breidenbach muss morgen früh noch einmal ran.«

»Ich denke, das ist ihm klar«, sagte Emma lächelnd. »Was ist, Leute, gehen wir auch schlafen?«

Das machten wir. Heiner Breidenbach bekam ein Bett auf der Couch auf dem Dachboden, und Cisco freute sich tierisch, einen Gefährten für die Nacht zu bekommen. Die Katzen schlenderten ins Wohnzimmer und sahen sich nach einer Schlafmöglichkeit um. Sie würden noch zwei Stunden dösen und dann auf die Jagd gehen – keine Gnade für Mickey Mouse.

Rodenstock hockte in der Küche und telefonierte mit dem Nachtdienst der Mordkommission, Emma seufzte: »Wen habe ich da bloß geheiratet? Ich muss verrückt gewesen sein.« Dabei sah sie sehr glücklich aus.

»Schlaf gut«, wünschte Vera, als wir im Bett lagen. »Darf ich den Antrag stellen, dicht an dich heranzurobben?«

»Das würde mir gut tun.«

Gegen neun Uhr wachte ich auf und fühlte mich so, als hätte ich nur fünf Minuten geschlafen. Vera war bereits verschwunden. Ich schlurfte wie ein alter Mann ins Bad, nahm Gelächter in der Küche wahr und starrte missmutig auf das Gesicht vor mir im Spiegel. Was ich sah, war nicht dazu angetan, mein Vertrauen in die Menschheit zu festigen. Es machte keinen Sinn, mich zu rasieren, weil ich wusste, ich würde mich schneiden. Und weil es sowieso nach wie vor Mode war, unrasiert durch den Tag zu laufen, schloss ich mich dieser Mode an. Die Küche vermied ich zunächst, die Menschen darin klangen so verdächtig fröhlich. Ich ging in das Wohnzimmer.

Heiner Breidenbach saß dort auf dem Sofa und starrte durch die Glastür auf die Terrasse. Er schien vollkommen in sich versunken und drehte nicht einmal den Kopf.

»Schon gefrühstückt? Haben Sie gut geschlafen?«

»Cisco hat mich irgendwie beruhigt. Trotzdem konnte ich nicht schlafen, habe nur gedöst. In den letzten Tagen ist es vorgekommen, dass ich tagsüber einschlafe. Wenn die Nacht kommt, ist es aus. Dann renne ich rum und grüble.«

»Was beschäftigt Sie denn am meisten?«

»Wie das weitergehen wird, mit meiner Mutter, mit meiner Schwester, mit mir. Meine Mutter hat gesagt, sie würde am liebsten die Eifel verlassen. Irgendwie sei ja nun alles aus.«

»Haben Sie eine Idee, wer die Geliebte sein könnte?«

»Ich habe darüber nachgedacht. Aber ich habe keine Ahnung. Als Sie das heute Nacht sagten, war ich geschockt. Ist das eigentlich normal, dass man so wenig über seinen Vater weiß?«

»Ja, ich glaube schon. Gibt es denn Frauen im Umfeld Ihres Vater, die gern Mountainbike fahren und gern in der Natur herumstreunen?«

»Na ja, da fallen mir sechs oder sieben ein. Aber als Geliebte kann ich mir die unmöglich vorstellen.«

Ich lachte. »Das ist normal. Ein Zwanzigjähriger kann seinen Vater selten als herumstreunenden Hund begreifen. Wollen wir ein Stück Brot essen?«

Falls je ein Frühstück den Namen Arbeitsessen verdiente, dann dieses.

Rodenstock eröffnete munter: »Ihre Schwester hatte uns freundlicherweise schon einiges von dieser Leukämiegeschichte erzählt. Wie tief steckten Sie und Holger Schwed in dieser Recherche?«

»Es war so, dass sich zunächst ja nur die Teenies darum gekümmert haben, also meine Schwester Jule und ihre Clique. Irgendwann kamen die nicht weiter und haben uns angespitzt. Erst wollten wir nicht, dann schien uns der Fall plötzlich irre spannend. Bis sie Holger in die Mangel genommen haben. Bloß weil er im Westerwald mit der verschwundenen Familie zu sprechen versuchte.«

»Was hatten Sie für ein Verhältnis zu Ihrem Vater?«, fragte Emma.

Nach kurzem Nachdenken erklärte er: »Eigentlich ein gutes. Oder ein normales. In den letzten zwei, drei Jahren nicht mehr sehr intensiv. Schließlich wird man erwachsen.«

»Aber Sie waren doch noch zusammen mit ihm und Holger im Urlaub auf Kreta«, fragte sie weiter. »Was haben Sie da gemacht? Wie sah dort Ihr Alltag aus?«

»Was man als Urlauber halt so macht. Mein Vater und Holger waren Langstreckenläufer, ich bin mehr für Sprints. Die beiden zogen oft früh am Morgen los in die Berge. Sie machten anfangs zehn, dann zwanzig Kilometer am Tag. Ich ging an den Strand oder ich blieb auf der Terrasse und las. Ich lese gern.«

Rodenstock beugte sich vor. »Wie war die Ehe Ihrer Eltern?«

Heiner senkte den Kopf, verharrte in schweigendem Nachdenken.

Emma ergänzte sanft: »Wir meinen Folgendes: Liebten sie sich? Schliefen sie miteinander? Hielten sie sich zuweilen an den Händen? Neckten sie sich?«

Nun zeigte er sich erstaunt. »Ich weiß nicht. Ich habe mich, glaube ich, nie drum gekümmert. Eltern, na ja ... Sie sorgen für mich, sie verdienen das Geld.«

»Aber, verdammt noch mal, wie gingen sie miteinander um?«, polterte Rodenstock. »Mochten sie sich? Oder waren sie einander gleichgültig?«

»Wenn Sie mich so fragen, dann war die Ehe gut. Ja, sie mochten sich. Das kam manchmal durch.« Er erschrak über seine eigenen Worte. »Sie waren ja schon so lange verheiratet. Fast fünfundzwanzig Jahre.«

Da schien es kein Weiterkommen zu geben. Ich schaltete mich ein. »Was wissen Sie über Abi Schwanitz? Was hat so einer hier in der Gegend zu suchen?«

»Er gehört zu den Bodyguards von Rainer Still. Still hat sie angeblich angeheuert, weil die Versicherungen darauf bestanden haben. Die Typen sind ganz schräge Vögel, die ganze Truppe. Mag ja sein, dass Still als Multimillionär in Frankfurt so was braucht, aber in der Eifel? Schwanitz ist einer, der gern prügelt. Und er gibt damit an.«

»Zu der Truppe gehört ein Uwe Steirich«, sagte Vera. »Den haben wir gestern im Steinbruch getroffen. Wissen Sie etwas über den? Er ist vierundzwanzig Jahre alt, blond mit einem Zopf. Er sieht so aus, als verbringe er den größten Teil des Tages in einem Grill.«

»Ja, ja, den Typen kenne ich. Wir nennen ihn Schneemann, weil er manchmal kokst. Ganz offen in der Kneipe. Wenn er high ist, umarmt er jeden und knutscht ihn ab. Wenn er nichts drauf hat, verprügelt er Leute. Weil sie ihm nicht gefallen oder so.«

»Wie viele dieser verdienstvollen Menschen hat Still denn um sich geschart?«, fragte ich.

»Vier«, wusste Heiner. »Und Abi Schwanitz ist ihr Boss.«

Einen Moment hing ein jeder seinen Gedanken nach.

»Wir haben einen komplizierten Fall mit einem komplizierten Tatort. Es sieht so aus, als hätten mehrere Leute ein Motiv gehabt, Ihren Vater zu töten.« Rodenstock verschränkte seine Hände ineinander. »Lamm, der Fensterhersteller, und der Sprudelfabrikant Rainer Still. Dann gibt es die Spur auf eine Geliebte. Dazu unsere Überzeugung, dass Ihr Vater im Steinbruch jemanden treffen wollte. Vielleicht Lamm, vielleicht Still ...«

»Still bestimmt nicht«, wandte Heiner ein. »Der tritt selbst nicht in Erscheinung, lässt andere für sich arbeiten. Eher sein Geschäftsführer Doktor Manfred Seidler. Der könnte meinen Vater getroffen haben, der schon.«

»Gut, halten wir das als Verdacht fest.« Rodenstock trank von seinem Kaffee und wollte weiterreden.

Doch Emma nahm ihm das Wort: »Nun muss aber langsam gut sein. Lass den Jungen doch mal zur Ruhe kommen.«

Rodenstock brummte: »Hast ja Recht.« Er wandte sich an mich: »Wollen wir denn gleich zu den Eltern von Schwed?«

»Unbedingt«, nickte ich.

»Vera, Liebes«, säuselte Emma. »Fährst du noch einmal mit mir zum Haus?«

»Selbstverständlich«, sagte Vera brav. »Schließlich muss ich wissen, wo ich schlafe, wenn hier der Frieden gestört ist.«

Wir lachten alle pflichtschuldig und machten uns wenig später auf den Weg. Heiner kletterte mit grauem Gesicht in seinen Wagen und startete Richtung Ulmen.

Als Rodenstock neben mir hockte und wir losrollten, murmelte er: »Irgendetwas an der ganzen Sache stört mich. Aber ich weiß nicht, was es ist.«

»Auf jeden Fall kennen wir nun gewichtige Motive«, wandte ich ein.

»Hm«, knurrte er nicht wirklich überzeugt. »Ich würde für mein Leben gern mit diesem Schwanitz reden. Ich mag solche Killertypen. Sie sind so strikt und berechenbar.«

Wir hatten herausgefunden, dass die Eltern von Holger Schwed in der Mittelstraße wohnten, einer ruhigen Wohnstraße. Das Haus war rührend klein, hatte sicher nicht mehr als sechzig Quadratmeter Wohnfläche und wirkte verkommen, die ehemals weiße Fassade war schmutzig grau, sämtliche Rollläden waren runtergelassen und zwei im ersten Stock nur noch Stückwerk. Der Vorgarten schien nicht gepflegt, die Ziersträucher waren unbeschnitten, ein mit Verbundsteinen gepflasterter Weg war von Gestrüpp überwuchert und nicht mehr zu erkennen. Und in den Beeten und auf dem Rasen fand sich alles wieder, was die Passanten auf der Straße in den letzten sechs Monaten weggeworfen hatten: Plastikbecher, Bonbonpapiere, Stanniol von Schokoladenriegeln, Postwurfsendungen, Zigarettenschachteln.

»Oh, oh«, sagte Rodenstock.

Die Klingel hing an ihren Drähten aus der Halterung heraus. Wir benutzten sie trotzdem.

Der Mann, der uns öffnete, war groß, mächtig und schwabbelig, hatte ein weiches, unrasiertes Gesicht und war ungefähr fünfundvierzig Jahre alt. Er trug ein Unterhemd, das einmal weiß gewesen war, und er erinnerte mich sofort an den Polen aus Tennessee Williams' Endstation Sehnsucht.

»Ja, bitte?«, fragte er abweisend und starrte uns misstrauisch an.

»Wir hätten gern einige Auskünfte«, sagte Rodenstock.

»Das geht nicht. Presse, was? Ich habe mit RTL einen Vertrag. Wir dürfen keine Auskünfte geben, meine Frau und ich. Exklusivrecht, Sie wissen, was das heißt, wenn Sie von der Presse sind.«

»Wir sind nicht von der Presse, wir sind Freunde von Heiner Breidenbach. Sie können ihn anrufen«, entgegnete Rodenstock bescheiden.

Ich kannte solche Typen, als Journalist begegnet man ihnen immer wieder, und wusste, wie sie funktionierten. Ich griff mein Portemonnaie, nahm einen Hunderter heraus und sagte zurückhaltend: »Wir kommen natürlich für Ihre Kosten auf.« Dann nahm ich die knubbelige Hand und drückte den Geldschein hinein.

»So? Na ja, wenn das so ist.« Er ließ den Schein in seiner rechten Hosentasche verschwinden. »Ja, dann kommense man rein. Wieso ist Heiner denn nicht bei Ihnen?«

»Der ist total fertig, der musste sich mal hinlegen«, sagte ich.

Schwed nickte. »Wir sind auch am Ende. Wir grübeln und grübeln.« Auf Filzlatschen marschierte er vor uns her in ein kleines abgedunkeltes Wohnzimmer, in dem eine einzige Funzel unangenehm gelbes Licht streute. Auf einer Bank vor einem großen Fenster kümmerten Mengen von Grünpflanzen vor sich hin. Davor saß eine Frau in einem wippenden Lehnstuhl und drehte müde den Kopf.

»Das ist meine Frau«, stellte der Mann vor.

Er setzte sich auf ein Sofa, wir nahmen jeder einen Sessel. Es roch nach Bier, Fusel und kaltem Zigarettenrauch. Es roch so, als habe die letzte Portion Frischluft diesen Raum erreicht, als das Haus im Rohbau stand.

Die Frau rauchte mit langsamen Bewegungen und sog den Rauch tief ein. Ihr Gesicht wirkte alt, sie hätte sechzig sein können, aber wahrscheinlich war sie zwanzig Jahre jünger. Sie sagte monoton: »Ja, ja«, und schwieg dann.

»Also, was wollt ihr wissen?« Der Mann drückte den Kronkorken von einer Flasche Bier und trank daraus. »Auch eine Pulle?«

»Wir trinken nicht«, lehnte Rodenstock ab. Ich sah förmlich, wie er in Gedanken Anlauf nahm, um diesem Vater eines toten Jungen in den Arsch zu treten und den Schuh stecken zu lassen.

»Hatte Holger eine Freundin?«, fragte ich.

»Nee!«, antwortete die Frau schnell und schroff. Sie griff nach einem Wasserglas mit einer hellen Flüssigkeit und trank davon. Kleine Schlucke, ich vermutete, es war Schnaps. »Holger konnte Frauen jede Menge haben. Aber er wollte ja nicht. Er kriegte ja Bafög und studierte und sagte: Frauen sind im Moment nicht mein Thema. Aber er sah ja gut aus und er hätte alle haben können. Manchmal haben sie uns hier die Bude eingerannt. Also nicht, dass er ein Kostverächter war. Hin und wieder vernaschte er eine, mein Kleiner.

Junge Bullen müssen sich die Hörner abstoßen, sagt man ja auch. Aber das waren Eintagsfliegen, waren das. Und ich wollte ja auch nicht irgendeine, ich wollte ja eine mit was an den Füßen.«

»Ja«, murmelte ich – was hätte ich darauf erwidern sollen. »Gab es denn außer Heiner einen Freund, mit dem er alles beredet hat?«

In einem resoluten Ton, als stelle sie eine mathematische Formel fest, antwortete Holgers Mutter: »Mit uns. Mit uns hat er alles beredet. Mit sonst gar keinem. Und mit Heiner war das doch nie dicke. Die Breidenbachs halten sich sowieso für was Besseres. Wir haben ja nun alles für ihn getan. Jedes Wochenende habe ich ihm die ganze Wäsche gemacht und die ganzen Oberhemden, picobello. Nun sag du doch auch mal was, Franz.«

»Ja, das stimmt«, der Mann gab sich einen Ruck. »Er hat alles mit uns beredet. Wir wussten alles von ihm. Wir hatten ein Bombenverhältnis.«

Rodenstock räusperte sich. »Das ist gut, dass er Ihnen alles erzählte. Ist er bedroht worden?«

»Dass ich nicht lache!«, keifte die Frau, bewegte sich aber nicht. »So ein starker großer Bengel? Wer sollte den bedrohen?«

»Abi hat ihm doch mal die Knochen gebrochen, oder nicht?«, warf ich ein.

»Ja, schon«, nickte die Frau. »Aber das war ein Versehen. Ich meine, der Abi war ja hier bei uns und hat sich entschuldigt. Und hat auch Geld hier gelassen, damit wir nicht so einen großen Ausfall hatten.«

»Einen Ausfall?«, fragte Rodenstock, Spott unterdrückend.

»Na ja, für unsere ... für unsere Auslagen wegen der Brüche und so. Schließlich hatten wir viel am Hals. Mussten neue Schlafanzüge her fürs Krankenhaus. Und dann: Jeden Tag bin ich ins Krankenhaus. Ich bin ja mit den Beinen schlecht dran. Ich konnte mir ein Taxi nehmen.«

»Wie viel Geld war es denn?«, erkundigte sich Rodenstock liebenswürdig.

»Ein Tausender«, sagte sie. »Nur ein Tausender.«

Der Mann am Tisch atmete scharf ein: »Mir hast du was von fünfhundert erzählt.«

»Ist doch egal«, keifte die Frau.

»Also, Sie können sich nicht vorstellen, wer Holger an der Wand zerquetscht hat?« Rodenstock malte die Worte. Das wirkte wie eine scharfe Bestrafung.

»Was sagen Sie denn da! Das hat ja noch keiner behauptet.« Der Ton der Frau wurde schriller. »Das war ganz klar ein Unfall. Haben die Polizeibeamten jedenfalls gesagt. Mit Absicht? Meinen Holger? Niemals!«

Nach einigen Sekunden Pause murmelte Rodenstock: »Wir danken Ihnen sehr. Lassen Sie nur, wir finden schon selbst hinaus.«

Wir gingen nicht, wir rannten fast aus dem dunklen Loch.

Als wir im Wagen saßen, stellte Rodenstock fest: »Völlig klar: Für Holger Schwed war die Familie Breidenbach der Himmel. Weil er zu Hause die Hölle hatte. Was treiben wir jetzt?«

»Wir fahren nach Thalbach. Ich bin ganz wild auf Lamm.«

Sicherheitshalber riefen wir bei der Firma Fenestra an und fragten, ob der Chef überhaupt Zeit für uns hätte. Die Sekretärin erkundigte sich nicht einmal, was wir wollten, sie antwortete lapidar: »Der ist da. Wenn Sie also vorbeikommen wollen ...«

Ich kurvte langsam durch Thalbach, suchte eine bestimmte Stelle in dem uralten Vulkankrater. Als ich sie gefunden hatte, stieg ich aus, um zu fotografieren.

»Da oben ist die Fenestra. Wenn du genau hinschaust, siehst du darunter den Einschnitt und ein kleines, altes, flaches Häuschen mit Holunderbüschen. Auf halber Höhe. Das ist die alte Trinkwasserversorgung von Thalbach. Man kann gut sehen, wie das funktionieren muss. Wenn die Arbeiter bei der Fenestra oben irgendetwas ausschütten, Vinyl etwa, dann sickert das Zeug direkt in die schmale Zone, aus der die Gemeinde ihr Trinkwasser zieht.«

Der kleine Fabrikkomplex des Fensterherstellers thronte wie einstmals das Schloss eines Adligen über dem alten Vulkankessel, in dem die Gemeinde sich ausgebreitet hatte. Das Verwaltungsgebäude war ein rechteckiger, ocker getönter Klotz, durchaus nicht protzig, eher zurückhaltend. Davor befand sich ein großzügig angelegter Platz mit viel Grün, richtig sympathisch. Und damit auch wirklich alles stimmte, waren die Rasenflächen mit einfachen, weiß gestrichenen Basaltbrocken aus irgendeinem Steinbruch gesäumt.

Elektrokarren transportierten Fensterrahmen, Trucks wurden beladen, Männer gingen in Arbeitstrupps auf dem Platz herum, um den die Fertigungshallen gebaut waren. Es herrschte ein bienenemsiger Betrieb.

Wie in den letzten Jahren Mode geworden, gab es eine Reihe hoher Fahnenmasten, an denen die Fahnen der Bundesrepublik, Frankreichs, Englands und Spaniens wehten, wahrscheinlich die Länder, in die Lamm exportierte.

»Zweihundert Arbeitsplätze«, sinnierte Rodenstock. »Das ist natürlich schon eine Menge für die Eifel.« Er reckte sich, als sei er gerade erst wach geworden.

Ich fotografierte die Pkw, die vor dem Gebäude parkten, und hatte das Gefühl, von hundert Augenpaaren beobachtet zu werden.

»Auf in den Kampf!«, knurrte Rodenstock und drückte die Schwingtür auf.

Wir stießen auf eine Art Tresen, hinter dem eine junge Frau vor einem Computer hockte und uns freundlich ansah.

»Rodenstock und Baumeister für den Chef. Wir sind angemeldet.« Rodenstock gab sich geschäftsmäßig.

Sie telefonierte und teilte uns mit: »Sie werden abgeholt.«

Die Frau, die nun kam, war eine ausgesprochen frauliche und hübsche Erscheinung vom Typ ›Komm mir bloß nicht zu nahe, ich weiß, wie das Leben läuft‹. Sie trug einen eleganten Kurzhaarschnitt mit hellblonden Strähnen im braunen Haar, ein T-Shirt mit der Frontaufschrift Ich bin wichtig und lächelte uns an – schneeweiße Zähne. »Von welcher Firma, die Herren?« Das Lächeln sagte nichts.

»Tja, das ist so eine Sache. Sagen Sie bitte Ihrem Chef, wir kommen wegen der Leukämiefälle. Und wegen des Todes von Herrn Breidenbach.« Rodenstock grinste die Frau an wie ein wütender Wolf kurz vor dem Zubeißen.

Sie war augenblicklich beeindruckt, wurde um gut dreißig Prozent blasser und ihr Atem ging wesentlich schneller. Eiszeit bei der Dame und große Empörung. »Da muss ich aber noch mal nachfragen, ob er überhaupt Zeit für Sie hat. Ich weiß ja nicht ...« Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Sind Sie etwa von der Polizei?«

»Es wäre wirklich gut, wenn er Zeit für uns hätte«, betonte Rodenstock. »Wir fragen uns mit Wissen und Billigung der Mordkommission durch die Eifel. Allerdings werden meine Kollegen ohnehin noch hier einfallen. In ein paar Stunden.« Das Unangenehme an Rodenstock war, dass er in solchen Situationen immer noch einen draufsetzte: »Sie müssen sich nicht aufregen, junge Frau. Es reicht, wenn Sie Ihrem Chef sagen, dass wir alle Informationen, die wir bekommen, sofort an die Mordkommission weitergeben. Damit es schneller geht, verstehen Sie?«

Eigentlich war sie wahrscheinlich nett, aber jetzt war sie heillos überfordert. Sie sprach mehr zu sich selbst: »Wieso denn Herr Breidenbach?«

»Ach so«, raspelte ich freundlichst, »das können Sie ja noch nicht wissen. Franz-Josef Breidenbach ist nicht von einer Felslawine erschlagen worden, wie die Tageszeitung berichtet hat. Stattdessen hat ihm jemand mit einem Stein den Schädel zertrümmert. Es war Mord, junge Frau.«

Sie hatte jetzt ein Problem, denn eigentlich wollte sie uns loswerden, schnell loswerden. Denn sie konnte nicht einmal das Telefon auf ihrem Tisch benutzen, Feind hörte mit. Sie erledigte es versuchsweise mit dem ganzen Witz der Eiflerin: »Wissen Sie, da möchte man sich eigentlich erst mal setzen und einen Kognak trinken. Wie soll der Chef denn mit all den Neuigkeiten fertig werden, bei der Geschwindigkeit, die Sie draufhaben?«

»Das ist ganz einfach«, erklärte Rodenstock genüsslich. »Wir setzen uns jetzt dahinten auf die Sitzgruppe. Sie bringen mir, bitte, tatsächlich einen Kognak, mein Kollege hier möchte ein Wasser. Und dann können Sie die Sache mit Ihrem Chef bereden. Zehn Minuten warten wir. Dann verschwinden wir wieder. Wir haben nämlich nicht viel Zeit.«

Sie strahlte. »Das ist ein Wort. Kognak und Wasser kommen gleich.«

Sie rannte regelrecht die breite Marmortreppe hinauf. Sie bot einen hübschen Anblick, sie wackelte mit dem Steiß, wie andere auf einer Showtreppe.

Rodenstock starrte ihr nach und murmelte versunken: »Weißt du, jugendliche Menschen von hinten sehen sehr nett aus.«

Wir studierten das Werbematerial von Fenestra, das auf dem Couchtisch herumlag. Es enthielt die üblichen Fotos mit Texten, die so konservativ waren, dass jeder Leser spätestens auf Seite drei einschlafen musste.

Ein junges Mädchen mit einem Sonnenlächeln brachte unsere Getränke. Wir hatten noch keinen Schluck in Angriff nehmen können, als die junge Frau wieder auf der Treppe sichtbar wurde und sagte: »Sie können heraufkommen. Alles klar!« Das klang wie sieghafter Trompetenstoß.

Das Arbeitszimmer von Franz Lamm zeigte eine Mischung aus Chaos und Ordnungsversuch. Die Sitzgruppe in vornehmem Grau war praktisch nicht zu benutzen, weil Lamm dort alle in Arbeit befindlichen Akten gelagert hatte. Der Schreibtisch war riesig, was ihn offensichtlich dazu verführte, alle möglichen Dinge dort abzulegen. Zigarren, lose und in verschiedenen Behältern, mindestens sechs halb volle Aschenbecher, Grünpflanzen, deren Töpfe ebenfalls als Aschenbecher hatten herhalten müssen, Stöße von Papieren und Magazinen. Dann eine Bonsai-Buche, die Lamm als Bleistifthalter verwendete, eine Tischuhr, eingelassen in einen Block Acryl, der so dreckig war, dass man die Zeiger nicht erkennen konnte. Ausgehend von diesem Schreibtisch, war mir der Mann sympathisch.

Franz Lamm stellte eine nahezu perfekte Kugel dar. Er war vielleicht einen Meter fünfundsechzig hoch. Sein Gesicht war rund und voll wie ein kleiner zufriedener Mond, die Augen waren groß, was ihm einen erstaunten Ausdruck verlieh. Die Haare waren kurz und grau und reichten nur für den halben Schädel. Er mochte fünfundfünfzig bis sechzig Jahre alt sein. Das Erstaunlichste an ihm war sein Anzug.

Der war von einem ekelhaften Braun und die Hosenbeine waren gut zehn Zentimeter zu kurz. Der Mann hatte eindeutig an Hose gespart. Und weil er beim Gehen die Beine auswärts schwenkte, sah das etwas skurril aus. Kombiniert hatte er das braune Wunder mit einem himmelblauen Oberhemd und einer roten Krawatte. Lamm verbildlichte den Versuch, einem krumm gearbeiteten Bauern aus altem Eifel-Geschlecht ein vornehmes Gewand zu verpassen.

»Was zu trinken?«, fragte er und schüttelte uns ausgiebig die Hände. »Kaffee? Tee? Ein Glas Milch? Ich trinke manchmal eins. Oder Sekt? Was zu rauchen? Havanna, Canary Island, Puerto Rico?«

»Wenn Sie von Zigarren reden, dann bitte ein Glas Sekt und eine Havanna«, freute sich Rodenstock.

Ich konnte mir nicht verkneifen zu bemerken: »Du bist ein Lüstling!«

Es dauerte drei Minuten, bis die Havannas brannten, wir etwas zu trinken hatten und meine Pfeife gestopft war.

Lamm atmete genüsslich eine Qualmwolke aus und sagte: »Sie haben ja ein volles Programm. Und Breidenbach ist tatsächlich ermordet worden?« Er ließ uns keine Zeit zu antworten: »Sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich?« Dabei sah er uns kühl abschätzend an.

Rodenstock nuckelte an seiner Zigarre. »Mein Name ist Rodenstock, ich bin Kriminalrat außer Diensten. Das hier ist mein Freund Siggi Baumeister, ein Journalist. Wir ermitteln in der Sache Breidenbach. Einerseits weil wir privat interessiert sind, andererseits hat uns die Mordkommission in Wittlich um Hilfe gebeten. Um auf Ihre erste Frage zurückzukommen: Ja, Breidenbach wurde erschlagen. Leider. Sind Sie eigentlich mal ernstlich mit ihm zusammengestoßen?«

Lamms Gesicht war lesbar wie ein gutes Buch. Er hatte die Wahl, uns freundlich rauszuschmeißen oder aber durch uns einiges zu erfahren. Und da er neugierig war, entschied er sich für den zweiten Weg. »Ja«, antwortete er einfach. »Breidenbach hatte sich in den Kopf gesetzt, dass von meinem Betrieb aus Vinyl ins Erdreich und dann in die alte Dorfquelle geraten ist.«

»Da lag er richtig«, erklärte ich. »Das Vinyl war nachzuweisen und Breidenbach hat es nachgewiesen. Um Sie nicht im Unklaren zu lassen: Wir verfügen über das Gutachten.«

»Das ist schön«, sagte Lamm. »Dann kann ich es sicher endlich lesen, oder?«

»Es gibt Leute, die behaupten, Sie hätten das Gutachten von Breidenbach kaufen wollen.« Rodenstock trank mit geschlossenen Augen aus dem Sektglas.

»Die haben Recht, das wollte ich auch. Ich habe ihn gefragt, was das Ding an Aufwand gekostet hat. Ich würde ihm die Auslagen erstatten, habe ich gesagt. Obwohl sein Vorgehen einfach unmöglich war.«

»Warum?«, fragte ich.

»Hier unterhalb meines Betriebes hat er Proben gezogen und versucht, sein Tun geheim zu halten. Nachdem das Gutachten fertig gestellt war, hat er es weitergeleitet. Ich weiß nicht, an wen, was drinsteht, aber ...«

»Stopp, Meister der Türen und Fenster«, unterbrach ihn Rodenstock. »Sie müssen uns nicht unter allen Umständen die Wahrheit sagen, aber Sie sind auch nicht verpflichtet, uns zu verarschen. Wir wissen, dass Breidenbach seinem Vorgesetzten dieses Gutachten gab. Wir wissen auch, dass der es nicht weiterleitete. Wahrscheinlich, weil er einer Ihrer Freunde ist. Das alles riecht etwas moorig.«

Lamm schwieg. »Ich habe es jedenfalls nie gesehen«, antwortete er dann. »Und da ist noch etwas anderes zu erklären. Das Gelände unterhalb meines Betriebes, das ist zwar nicht eingezäunt, aber das gehört mir auch. Breidenbach hat also ohne mein Einverständnis Proben auf meinem Gelände gezogen. Wenn man gut miteinander umgeht, dann informiert man mich: Franz, ich ziehe Proben! Man macht es nicht heimlich.« Er schnaufte. »Das war schlicht gequirlte Kacke!«

Rodenstock nickte bedächtig. »Ich kann Ihren Ärger verstehen. Was ist? Hat Breidenbachs Chef in Ihrer Finca auf Ibiza Urlaub gemacht?«

»Hat er. Moment mal.« Unberührt stand Lamm auf und kramte auf seinem Schreibtisch herum. »Hier ist die Quittung. Er war vier Wochen dort und hat dafür bezahlt. Zweitausend Märker, in bar. Irgendetwas dagegen?«

Rodenstock nahm die Quittung und sah sie sich an. »Nein, nichts dagegen.«

»Der Mann ist ein Schulkamerad von mir.« Der kugelige Mann grinste. »Das ist doch nichts Unnormales, Leute. Einer hilft dem anderen. Wieso Korruption, wieso so ein beschissener Vorwurf?«

Rodenstock ging zögernd auf Lamms Frage ein. »Passen Sie auf, es hat keinen Zweck, um den heißen Brei herumzureden. Wir fragen Sie, ob dieser Breidenbach-Chef in Ihrer Finca Urlaub gemacht hat, und Sie zeigen mir eine Quittung, dass der Mann Ihnen dafür zweitausend Mark bezahlt hat. Das, lieber Herr Lamm, ist Quatsch. Das wissen Sie. Ich bin nicht die Inquisition. Aber haben Sie auch irgendwo den Nachweis, dass Sie den Eingang der zweitausend Mark verbucht haben? Nehmen Sie diese gottverdammte Quittung und zerreißen Sie sie. Das ist ein Muster ohne Wert.« Er strahlte den Unternehmer an.

Franz Lamm nahm das Stück Papier und zerriss es wortlos.

Rodenstock sagte leise: »Bravo!« Dann fuhr er in normalem Ton fort: »Sehen Sie, ich weiß, dass alle Provinzen von Korruption durchsetzt sind. Und dass viele, sogar die meisten dieser Fälle einfach darauf beruhen, dass jeder jeden kennt und mit jedem in einem Verhältnis steht, das entweder privat ist oder Geschäfte und Privates umfasst. Ich will nicht päpstlicher sein als der Papst, aber eine Menge Dinge, die hier auf dem Land für ganz normal gehalten werden, sind kriminell. Ich hoffe, Sie sind da meiner Meinung. Nehmen wir diesen Albert Schwanitz. Er ist Angestellter des neuen Sprudelwerkes in Bad Bertrich. Sie, Herr Lamm, golfen zusammen mit dessen Besitzer. Und plötzlich verprügelt dieser Schwanitz Leute, mit denen Sie Streit haben ...«

Lamm ging scharf dazwischen. »Moment, nicht so hastig! Kein Mensch, weder Rainer, also Rainer Still von Water Blue, noch ich haben Abi je gesagt, er soll irgendwen verprügeln. Keine Anweisung in dieser Richtung. Abi, das stimmt, kann ein Problem sein. Der Junge steht ständig unter Strom und immer, wenn er hört, dass jemand gegen seinen Chef ist, kann es scheppern. Ich weiß nicht, was Abi da angerichtet hat. Und noch etwas. Dem Hörensagen nach soll er ja auf Breidenbach losgegangen sein. Aber was die beiden da für einen Streit hatten, wissen Rainer und ich nicht.«

»Warum entlässt Rainer Still so einen Mann nicht?«, fragte ich.

»Weil der Mann gute Arbeit leistet«, erklärte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ihr kommt hier rein und schmeißt mir alle möglichen Gerüchte an den Kopf, die ich längst kenne und die nicht stimmen. Das ist nicht gut, so kommen wir nicht weiter.« Lamm räusperte sich, wurde wieder ruhiger.

Ich stand noch ganz unter dem Eindruck, dass sein Mund zuweilen wie die Mündung eines Maschinengewehrs aussah und die Worte wie Kugeln spuckte.

Im Plauderton, als verrate er keine Neuigkeit, fuhr er fort: »Still hat Gründe für seine Bodyguards. Er ist vor zwei Jahren in Frankfurt nur knapp einer Entführung entgangen. So etwas prägt, Leute, so etwas prägt.«

Wie immer brachte Rodenstock es auf den Punkt. Er lächelte voll Melancholie: »Sie reiten den Tiger und es macht Ihnen auch noch Spaß. Sie sind doch ein vernünftiger Mann. Sie wissen, Sie haben in ein paar Stunden die Mordkommission am Arsch. Und das ist nicht die aus dem Fernsehen.« Dann nahm er einen Zug von der Havanna und trank einen Schluck: »Wie viel haben Sie der jungen Familie geboten, die zwei tote Kinder zu verkraften hatte und die jetzt in Hachenburg im Westerwald lebt?«

»Keine müde Mark«, antwortete er sofort. »Wirklich keine müde Mark. Ich weiß gar nicht, wie das Gerücht zustande kommen konnte. Wahrscheinlich durch diese verrückten Teenager, die glaubten, sie müssten mich, den furchtbaren Kapitalisten, aus der Eifel jagen.«

»Das kaufe ich nicht«, antwortete Rodenstock energisch. »So viel Unschuld auf einem Haufen gibt es nicht. Und selbstverständlich haben Sie sich auch nie mit Breidenbach im Kerpener Steinbruch getroffen.«

»O doch«, Lamm grinste unverhohlen. »Da war ich. Wir haben den Steinbruch schon Breidenbachs Büro genannt. Ich war sogar zweimal dort, ich wollte ja das Gutachten von ihm haben.«

»Und wie viel haben Sie ihm geboten?«

»Genügend. Aber er war ein Mann, der ... na ja, er wollte nicht.«

»Wieso ist das Gutachten nicht öffentlich geworden?«, fragte ich.

»Das ist doch klar. Diese übereifrigen Teenager haben nur Vinyl gehört und sofort getönt: Der Lamm ist an einer Schweinerei schuld! Vinyl steht in Verdacht, Krebs zu erzeugen. Aber bewiesen ist doch gar nichts! Breidenbach wird das Gutachten seinem Chef gegeben haben. Und der hat es studiert und entschieden: Das beweist nichts, das geht nicht raus. Er wird seine Gründe dafür gehabt haben. Und das meine ich im Ernst – so lasse ich mir nicht meinen Betrieb kaputtmachen!«

»Das ist verdammt praktisch für Sie«, bemerkte ich, »dass Breidenbach in die Ewigkeit fuhr. Er war wirklich ein Unsicherheitsfaktor für Sie!«

Er fuchtelte mit beiden Händen. »Ich fahre doch nicht in diesen gottverdammten Steinbruch und schlage einem Mann mit einem Stein den Schädel ein. So etwas tue ich nicht. Hüten Sie Ihre Zunge, junger Mann.«

»Warum eigentlich nicht?«, fragte Rodenstock gemütlich. »Ach richtig, nein. Dafür haben Sie ja Leute. Ich prophezeie Ihnen eine Menge Schwierigkeiten. Die Mordkommission arbeitet wirklich gut.« Er hatte die Zigarre erst zur Hälfte geraucht und zerquetschte sie nun demonstrativ in einem Aschenbecher. Dann stand er auf: »Ich denke, wir gehen. Falls Ihnen noch etwas einfällt, was uns weiterhelfen würde, geben Sie uns bitte Bescheid. Hier ist meine Visitenkarte.«

»Sicher, ich helfe, wo ich kann«, nickte Lamm trocken. Er stand ebenfalls auf. »Vinyl kommt mir sowieso schon seit langer Zeit nicht mehr in die Halle.«

»Na, na«, sagte ich heiter. »Wir haben einen ganz frischen Kanister. Der aus Ihrer Halle stammt.« Ich erhob mich ebenfalls.

Er starrte uns mit großen Augen an und wusste Sekunden lang nicht weiter. Doch er ritt immer noch den Tiger, er sagte nicht: »Das ist Diebstahl, ich zeige Sie an!«, sondern: »Ach, Gottchen!«

Wir standen vor seinem Schreibtisch in fast gemütlicher Runde, signalisierten, dass wir ihm nicht glaubten. Und die kleine feiste Kugel strahlte uns an.

Wie immer man ihn fand, das verdiente Anerkennung, das bewies seine gefährliche Stärke.

»Kannten Sie Holger Schwed eigentlich?«, fragte ich.

Er nickte. »Furchtbare Geschichte. Sein Vater hat hier gearbeitet. Und der Junge hat bei uns gejobbt. Mehrere Male. Vor allem im Hochsommer, wenn ich Konjunktur habe. Er arbeitete ordentlich, aber er riss keine Bäume aus. Na ja, der Vater hatte das Alkoholproblem, was soll man da machen? Der Junge war beschissen dran. Man munkelt, die Mutter trinkt auch. Üble Zustände. War ja gut, dass Breidenbach so eine Art Ersatzvater für ihn war. Der Junge mit seiner Träumerei von einer Kneipe auf Kreta.«

»Lassen Sie hören«, forderte Rodenstock und setzte sich wieder.

Franz Lamm folgte seinem Beispiel. »Wie? Wissen Sie davon nicht? Holger war wohl mehrmals mit den Breidenbachs auf Kreta, und seitdem schwafelte er davon, dass er eine Kneipe direkt am Strand aufmachen wollte. Deutsches Bier und deutsches Schnitzel, Sauerkraut und Eisbein und so. Und in den Pausen ins Mittelmeer hüpfen.« Ihm wurde bewusst, über wen er redete. Seine Augen wurden kugelrund. »Heißt das etwa, denken Sie etwa, dass der Junge ... auch ... Das ist doch unvorstellbar!«

»Nein, gar nicht«, sagte ich. »Stellen Sie sich einen schmalen, viereckigen Platz vor. Größe wie eine Garage. Davor steht ein Auto. Der Junge kommt aus der Kneipe, kettet sein Mountainbike an der Stirnseite des Platzes los. Der Wagen setzt zurück, volle fünf bis sechs Meter, und zerquetscht ihn. Dann verschwindet das Auto. Finden Sie das nicht merkwürdig?«

»Unvorstellbar«, sagte Lamm leise. »Ganz unvorstellbar. Der Junge war doch nicht wichtig, die Familie war nicht wichtig. Also, wenn Holger absichtlich getötet wurde, und davon scheinen Sie auszugehen, dann muss er doch für irgendwen wichtig gewesen sein, oder?«

»Durchaus«, nickte Rodenstock. »Getötet werden nur wichtige Leute.«

»Wie bitte?« Er war irritiert.

»Schon gut. Das war eine unwichtige Bemerkung. Wir denken nun natürlich darüber nach, warum erst Breidenbach und anschließend der Junge getötet wurde. Wir wissen, dass die beiden Freunde waren, aber das allein ist kein Motiv.« Rodenstock räusperte sich. »Motive können im Hintergrund der Geschichten versteckt liegen. Zum Beispiel im Hintergrund der Leukämiefälle oder der zu tiefen Bohrungen des Herrn Still ...«

»Das ist überhaupt nichts!«, rief Lamm beinahe empört. »Still hat gebohrt. Na, und? Dabei ist der Bohrer zu tief gefahren. Das ist nichts!«

»Es ist nett, dass Sie Ihren Freund verteidigen«, warf ich ein. »Aber eine zu tiefe Bohrung kann für konkurrierende Unternehmen eine echte Katastrophe sein. Still ist auf ein ungeheuer reiches Wasservorkommen gestoßen und kann doppelt so viel fördern, wie von der zuständigen Behörde erlaubt. Er kann mit Dumpingpreisen auf den Markt gehen. Es sieht so aus, als sei die Bohrfirma ausschließlich zu dem Zweck gegründet worden, nur diese Bohrung zu machen. Der Bohrmeister ist nun verschwunden. Bitte, Herr Lamm, halten Sie uns nicht für dumm.«

Den Hauch einer Sekunde lang glitt ein Grinsen über sein Gesicht, aber er ging nicht auf meine Bemerkung ein.

Rodenstock fuhr fort: »Eine Geschichte im Hintergrund könnte folgende sein: Das junge Ehepaar mit den beiden an Leukämie gestorbenen Kindern geht aus der Gegend hier fort. Nehmen wir an, der Vater kommt auf die Idee, sich zu rächen, diese Kinder zu rächen, die nie die Chance bekommen haben, ihr Leben zu leben. Er hält Breidenbach für ein Schwein, weil der das Gutachten nicht bekannt machte und somit den Mantel des Schweigens über die Affäre hielt. Das ist ein durchaus vorstellbares Motiv für einen Mord. In diese Motivierung passt jedoch Holger Schwed nicht hinein, es sei denn, er hat von Breidenbach etwas erfahren oder ist zu etwas verleitet worden, was ihm den Rang eines Mittäters einräumt. Dann aber müssten wir überlegen, warum ausgerechnet Franz Lamm noch lebt ... Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich Jäger?«

»Bin ich«, antwortete er verwirrt.

»Dann besitzen Sie doch bestimmt eine Handfeuerwaffe.« Ich ahnte, was Rodenstock wollte.

»So was habe ich«, nickte Lamm.

»Ich will Ihnen keine Angst machen, aber Sie sollten die Waffe besser bei sich tragen. Man kann nie wissen, nicht wahr. Es kann wirklich sein, dass da draußen ein Irrer herumläuft.«

»Du lieber Gott«, murmelte der Herr der Türen und Fenster. Er war sichtlich beeindruckt.

Rodenstock lächelte vor sich hin, ohne jemanden anzublicken. »Tja, Sie sehen, auf welche Gedanken man kommt, wenn man sich mit möglichen Motiven beschäftigt. Nun ist es wohl wirklich Zeit für uns zu gehen.«

Er stand zum zweiten Mal auf, aber ich wusste genau, dass er noch etwas in petto hatte. Er beugte sich ein wenig vor und schien zu überlegen. »Wussten Sie eigentlich, dass Franz-Josef Breidenbach eine Geliebte hatte?«

Die Frage traf Lamm. Er starrte vor sich hin auf die Schreibtischplatte. Dann schüttelte er den Kopf: »Keine Ahnung. Wirklich nicht. Um private Sachen kümmere ich mich nicht.«

»Hätte ja sein können«, murmelte Rodenstock freundlich.

Diesmal gingen wir tatsächlich und die junge Frau mit den blonden Strähnchen im Haar in seinem Vorzimmer war unfähig, uns anzusehen, als wir ihr im Vorbeigehen freundlich zulächelten. Mit Sicherheit hatte sie jeden Satz unserer Unterhaltung mitgehört, möglicherweise sogar auf einem Tonträger mitgeschnitten. Sollte sie. Rodenstock senkte überall die Furcht Gottes in die Herzen. Mit Sicherheit war das eine gute Möglichkeit, die Dinge zu beschleunigen.

»Was ist, sollen wir nach Hause fahren?«, fragte ich, als wir wieder auf der Straße entlangrollten. »Oder willst du direkt zu dem Sprudel?«

»Nicht heute«, wehrte er ab. »Ich muss erst einmal verdauen, was wir gehört haben. Wie schätzt du das ein?«

»Dieser tote Breidenbach bleibt so neblig. War er nun gegen Lamm und somit für Aufklärung der Leukämiefälle? Oder nicht? Hat er Holger Schwed was erzählt, das den Jungen gefährdete, oder nicht? Wann willst du zum Sprudel?«

»Vielleicht morgen. Das scheint mir nicht so dringlich, die laufen uns nicht weg. Erst einmal will ich neben Emma liegen und mich zu Hause fühlen.«

»Ganz neue friedvolle Töne«, murmelte ich.

»Nein, nicht neu. Ich rede nur nicht oft darüber. Was hältst du von Franz Lamm?«

»Er ist ein Typ, der provinziell ist und gleichzeitig weltmännisch sein will. Ganz ohne Zweifel hat er Macht und nutzt sie aus. Und in einem Punkt hat er deutlich gelogen. Nämlich darin, dass er behauptet, er habe die Familie im Westerwald nicht gekauft. Das halte ich für ausgeschlossen. Warum ist er so dumm, das zu behaupten?«

»Weil er es sich erlauben kann.«

»Weil er es sich erlauben kann!? Heißt das, dass er tatsächlich nichts gezahlt hat, dass er nicht daran gedreht hat?«

»Nach meiner Erfahrung heißt das nur, dass er sicher ist, dass ihm nichts bewiesen werden kann.«

»O Gott, sei doch nicht so störrisch, Rodenstock. Erklär es mir. Hat er gezahlt, oder nicht?«

»Er hat gezahlt.«

»Und das ist nicht beweisbar?«

»Doch, doch, mein Lieber.« Er grinste hinaus in die Landschaft, ließ mich zappeln.

»Na gut. Erzähl es, bitte!«

Er lachte. »Wer hat Breidenbach verprügelt? Und Holger Schwed?«

»Abi Schwanitz. Ach du lieber Himmel! Du meinst also, Lamm nahm Einfluss, aber Rainer Still zahlte?«

»So funktioniert die Welt der Guten, Feinen, Reichen«, nickte er. »So könnte es gelaufen sein. In meiner aktiven Zeit ist mir so etwas öfter begegnet. So bleiben die Wege des Geldes undurchschaubar.« Knurrend setzte er hinzu: »Das Ekelhafte daran ist: Wenn die Zahlungen mit Schwarzgeldern erfolgten, stehen wir vor einer Mauer. Aus Stahlbeton. Wenn die Geldempfänger ebenfalls schweigen, sind wir in der Sache im Arsch, mein Lieber.«

Nach einem weiteren Kilometer murmelte Rodenstock träge: »Mich interessiert brennend, was diesen eigentlich sympathischen, mittelständischen Fensterkönig aus der Eifel mit dem millionenschweren Frankfurter Erben Still verbindet. Nur eine reine Männerfreundschaft?«