ZEHNTES KAPITEL
Mitten im Sommer dieses deutsche Land in Richtung der okkupierten Südländer zu verlassen ist ein schwieriges Unterfangen, die Sonne war restlos ausverkauft, nichts ging mehr.
Wir versuchten es über Brüssel, Frankfurt, Düsseldorf, Köln/Bonn, wir versuchten es vergebens. Erst mithilfe des Reise-Bills in Daun gelang es Vera schließlich doch noch, einen etwas verzwickten, aber immerhin Erfolg versprechenden Weg nach Süden aufzutun. Wir starteten vom entzückenden Provinzflughafen Saarbrücken, auf dessen permanenter Baustelle sich die Massen, die nach Mallorca wollten, quetschten. Von dort ging es weiter Linie nach Mailand, wo wir zum Sprung nach Kreta ansetzten. Das war umständlich, teuer und ermüdend, und bereits ab Mallorca diente ich mit wechselnden Körperteilen Vera als beständiges Kopfkissen. Die wiederum diente aufdringlich schnarchend der Erheiterung der Massen.
Bei einbrechender Nacht trennten wir uns über Iraklion mit etwas zu viel Gas vom Himmel, küssten die Vordersitze, schössen an Baggern und ähnlichem Kleingetier vorbei – auch in Iraklion wurde gebaut. Die Passagiere klatschten begeistert Beifall und ich dachte, dass bei mir niemand klatscht, wenn ich mit meinem Wagen in eine Parklücke gleite.
Vera und ich bestiegen ein vorher bestelltes Kleinstfahrzeug der Marke ›Nur Mut!‹, das wir auf einem großen Parkplatz unter etwa sechshundert Fahrzeugen heraussuchen mussten, weil der Mann am Schalter verständlicherweise keine Zeit hatte, uns den Weg zu zeigen.
Meine kluge Gefährtin bemerkte lapidar: »Bis jetzt war die Reise scheiße!«
Ich konnte nicht widersprechen und nahm mit Freude wahr, dass sie sich den Fahrersitz einrichtete.
»Also los!«, sagte sie wütend und gab Gas. Das Fahrzeug erreichte eine beachtliche Geschwindigkeit, fuhr aber nicht eigentlich, sondern gurkte vielmehr und ließ uns jede leere Zigarettenschachtel in den Lendenwirbeln spüren.
Wir wussten, dass wir zunächst ostwärts bis Agios Nikolaos zu fahren hatten, um dann an einer Schmalstelle die Insel in Richtung Ierapetra zu durchqueren. Wie hatte doch Abi Schwanitz gesagt: ›Breidenbach gesehen habe ich in Aspros Potamos. Ich selbst war in Makrigialos.‹
Trotz erhöhter Energie fuhr Vera leider nur bis Malia, weil sie nämlich die Schnellstraße verpasst hatte und sich nun durch die Dörfer an der Nordküste fressen musste. Das heißt, eigentlich waren es keine Dörfer, eigentlich war es eine unendlich lang gestreckte Meile, auf der gegen Abend unzählige Betrunkene das Leben heiter und schön fanden und Gyros Pita futternd das nächstgelegene ›Dancing‹ ansteuerten. Und es war eine unendliche Meile in orgiastischen Farben gehaltener Plakatwände.
In Malia riss Vera dann unser Gefährt nach rechts in eine schmale Gasse, stieß um ein Haar zahllose Ständer mit Ansichtskarten um und brachte den Wagen zum Stehen.
»Ich kann nicht mehr, Baumeister«, stellte sie fest. »Ich will ein Bett.«
Und – welch ein Wunder – zweihundert Meter weiter hatte jemand ein Schild aufgestellt: Rooms! Darunter stand: Wir sprechen holländisch, belgisch, englisch, deutsch! Und: Eisbein! und Bratkartoffeln!
Der Wirt war ein kleiner Mann, vierzig Jahre alt, der unentwegt lächelte und kein Wort der Sprachen verstand, mit denen er draußen angab. Er begriff allerdings trotzdem, dass wir ein Bett suchten. Und er hatte eins, wollte das Geld aber sicherheitshalber im Voraus.
Das Zimmer war ein schmales Handtuch mit einem leidlich breiten Bett, einem winzigen Tisch und zwei Stühlen.
Ein Schrank hatte keinen Platz, aber wir brauchten ja auch keinen.
»Ich habe überhaupt keine Lust mehr auf den Fall Breidenbach«, nörgelte Vera und untersuchte das Bett auf Wanzen, Läuse, Flöhe und ihre sämtlichen griechischen Spielarten. »Immerhin ist es sauber«, murmelte sie versöhnt.
Etwa in dem Moment sagte eine Frau hinter mir schrill: »Ich weiß nicht, Karl-Heinrich, wieso wir Sabine mitgenommen haben! Kaum sind wir hier, raucht sie und will in die Disko.«
Ich drehte mich um, Vera drehte sich um. Da war niemand. Aber die Wand zum Nebengelass war aus Rigips, ohne jede Dämmung.
Karl-Heinrich antwortete bittend: »Lass das Kind doch!«
»Das ist mal wieder typisch!«, keifte die Frau zurück. »Du wirst ihr erst Eis spendieren und anschließend Geld für einen Joint!«
Karl-Heinrich antwortete gemütlich: »Wenn wir sie zu Hause gelassen hätten, würde sie jetzt mit einem Joint im Wohnzimmer hocken.«
»Niemals!«, sagte seine andere Hälfte wild.
»Wieso fliegen die Leute nach Kreta, um hier ihre Kinder zu erziehen?«, fragte meine Gefährtin.
»Was ist, wenn sie einem Mann in die Hände fällt?«, fragte die Frau.
»Was soll's?«, gab Karl-Heinrich elegisch zurück. »Irgendwann passiert das eben. Wieso nicht mit fünfzehn ein netter Grieche?«
»Ein Ausländer?«, kam es empört zurück.
»Ruhe!«, brüllte Vera zornig und donnerte mit einem nackten Fuß gegen die Wand.
Daraufhin war es ruhig und wir dösten ein. Der paradiesische Zustand dauerte allerdings nur kurz und wurde von einem plötzlich anschwellenden und beängstigenden Keuchen beendet. Eine Frau schrie hoch: »Ja! Ja! Ja! Jaahhh!«, dann war es still, bis es wenig später wieder von vorn losging.
»Ich sehne mich nach einem Straßengraben mit dickem Gras«, hauchte Vera.
Wir beschlossen, sofort auszuziehen, und bemühten uns dabei, leise zu sein, obwohl das gänzlich überflüssig war. Das Haus war voller Leben und Karl-Heinrich stritt immer noch mit seiner Frau. Inzwischen ging es um die erdbewegende Frage, ob Sabine überhaupt noch Jungfrau war. Er war der Meinung: Nein. Die Mutter schwor Stein und Bein, dass die Tochter nicht einmal wisse, wie ein nackter Mann aussehe. Ich hätte Sabine gerne mal kennen gelernt.
Der Tag würde schön und heiß werden, das war sicher. Wir zockelten an der Küste entlang und schwiegen uns gründlich aus. Hätte uns in diesem Moment jemand begeistert erzählt, dass Kreta die Insel des unendlichen Vergnügens wäre, wir hätten ihm wahrscheinlich beide eine gelangt.
Die Straße wand sich landeinwärts auf Neapoli zu, und als ich einen Feldweg bemerkte, hinter dem ein dunkelgrünes Gehölz aufragte, beschloss ich zu halten und griechische Erde zu küssen.
»Ich habe die Nase voll«, erklärte ich. »Lass uns eine Weile rasten.«
Wir nahmen auf einem Flecken verdorrtem Gras Platz und überließen uns ganz allmählich und genussvoll unserer Müdigkeit.
Ich wurde wach, weil die Sonne zu intensiv schien. Das Auto war weg, Vera auch. Mein Nasenrücken fühlte sich an wie frisch vom Grill.
Als Vera wieder herantuckerte, hatte sie in einem Korb einen Haufen Schätze: Weißbrot, Käse am Stück, eine Flasche Apfelsaft, eine Flasche Weißwein und ein Plastikschälchen voll Tsatsiki.
»Diese Insel ist toll«, schwärmte sie. »Sieh dich mal um!«
»Hast du einen feurigen Griechen gefunden?«
»Oh, mehrere. Wir sollten nicht allzu heftig nach dem Geld suchen, das lenkt zu sehr von den Schönheiten ab.«
»Das Geld hatte ich bereits wieder vergessen. Kriege ich jetzt ein Frühstück oder was das sein soll?«
Wir aßen etwas, packten den Rest ins Auto und machten uns wieder auf den Weg über die steinige Insel voller Olivenhaine, voller Farben und Hitze.
Ich dachte heiter: Die Götter müssen es gut mit uns meinen. Denn wir sind hier.
Von Agios Nikolaos ging es kurvenreich durch die Hügel bis Ierapetra, dann nach Osten bis Makrigialos. Das von uns gesuchte Dorf musste landeinwärts liegen. Aspros Potamos bedeutet so viel wie ›Weißer Fluss‹. Aber wir fanden keinen weißen Fluss, nur ein tief eingeschnittenes, trockenes enges Flusstal, das sich endlos und steil in die hochragenden Berge hineinzog, besetzt und teilweise zugewuchert von wunderschönen alten Bäumen, Oliven, Pinien, Pflaumen, Pfirsichen und einem großblättrigen Baum, dessen Namen ich nicht wusste. Ein Märchen am Rande des Mittelmeeres. Es kam mir so vor, als hätten wir die Tür zur lauten und übervölkerten Welt hinter uns geschlossen.
Vera murmelte: »Hoffentlich dauert es lange, bis wir das Geld finden.«
Ich starrte auf den weißen Fluss, in dem kein Tropfen Wasser war. »Stell dir vor, Breidenbach hat es irgendwo eingegraben. Dann finden wir es ohnehin nicht. Wir brauchen Hilfe. Wo ist wohl dieses Dorf?«
Glücklicherweise erschienen zwei junge Frauen, die braun gebrannt und schwitzend den asphaltlosen, staubigen Weg entlangspazierten, auf dem wir standen. Sie trugen Rucksäcke, derbes Schuhwerk, bunte Röcke und Blusen. Freundlich grüßten sie.
»Sorry«, sagte ich, »Fm looking for a small village called Aspros Potamos ...«
»Sie können ruhig deutsch sprechen«, sagte die Kleinere freundlich. »Aspros Potamos ist ein Dorf, das es eigentlich gar nicht mehr gibt.«
»Das fängt ja gut an«, murmelte Vera.
»Nicht verzagen«, mahnte die Größere. »Sie stehen direkt davor, man kann es wegen der Bäume nicht sehen. Ich vermute, Sie wollen zu Aleca.«
»Genau!«, sagte ich erfreut, obwohl ich mich nicht erinnerte, diesen Namen jemals gehört zu haben »Der gehört quasi das ganze Dorf«, erklärte die Kleinere. »Das klebt da am Hang. Zwölf viereckige Häuschen, sehen aus wie ockerfarbene Spielzeugklötze. Wenn Sie Gepäck dabeihaben, wird es allerdings ziemlich schwierig, die ganzen Treppen dort drüben hochzusteigen. Fahren Sie besser außen rum. Zurück auf die Hauptstraße, dann kommen Schilder.«
»Ich nehme die Treppen«, entschied Vera und verschwand hinter einem Felsen. Wie ich sie kannte, wähnte sie sich an ihrem Traumplatz, und die Million, die wir jagten, interessierte sie nur noch eingeschränkt.
Ich versuchte also, den Pudding zu umkreisen, verfuhr mich etwa achtmal und landete dann doch mit einem Erleichterungsseufzer auf einem Parkplatz, der so aussah, als könne er Alecas Parkplatz sein. Drei Vehikel parkten zwischen einem Moped und einem Motorrad, zwei kleine, uralte Kombis und ein Wägelchen ähnlich dem, das ich fuhr. Ich machte mich auf die Suche nach Vera und fand sie auf einer Steinmauer sitzend und geistesabwesend ins Tal schauend, an dessen fernem Horizont das Meer unnahbar und silbrig gleißend schimmerte.
»Breidenbach hatte Recht. Wenn man Geld genug hat, sollte man hier leben.«
»Hast du diese Aleca auf getan?«
»Ja. Sie hat eine Tochter namens Myrto, die mir mitteilte, dass Aleca schläft. Bis etwa vier Uhr. Dann können wir sie sprechen.«
»Bekommen wir denn hier ein Bett?«
»Ja. Aber es gibt nur begrenzt elektrischen Strom aus einer Solaranlage. Eigentlich reicht der wohl gerade für die Eisschränke. Und das Wasser der Duschen ist kalt. Aber Gasherde haben sie und Kerzen. Wir können das vierte Haus haben, wenn wir wollen. Willst du?«
»Selbstverständlich.«
»Dann setz dich zu mir.«
So saßen wir da und starrten im Schatten eines Olivenbaumes in die Ferne, rauchten, tranken Mineralwasser und fanden das Leben ganz erträglich.
»Was ist, wenn wir hier nicht weiterkommen?«
»Dann fliegen wir mit dem nächstmöglichen Flieger wieder heimwärts.«
»Wie sollen wir es gleich angehen?«, fragte sie.
»Wir erzählen dieser Aleca den Fall, legen ihr die Fotos vor, die wir haben, und warten, ob sie uns was erzählen will und kann. Und wenn wir Schwein haben, können wir einmal an den Strand und ins Meer hüpfen.«
»Glaubst du, dass die Uhren hier langsamer gehen?«
»Nein, eigentlich nicht. Sie gehen vollkommen anders.«
Auf einmal stand Aleca neben uns und sagte sehr freundlich: »The lady and her gentleman. What can I do?«
Sie war eine schlanke, kleine Frau, vielleicht fünfzig oder fünfundfünfzig Jahre alt. Unter dunklem, von silbernen Fäden durchzogenen kurzem Haar lag ein alles beherrschendes Lächeln auf ihrem dunkelhäutigen Gesicht. Sie sah aus, als sei sie den ganzen Tag im Freien, und sie war eine schöne Frau. Sie trug enge Leggins mit einem Tigerfellmuster und eine dunkelblaue einfache Bluse. Und sie schien wie ein Mensch, dem niemand etwas vormachen kann, der schon alles im Leben gesehen hat, was ein Mensch sehen kann.
Wir sprachen englisch, sie beherrschte die Sprache perfekt und zog ungemein schnell Schlüsse aus dem, was wir ihr sagten. Die Frau war nicht nur schön, sie war auch klug.
Sie bat uns in ihr eigenes kleines Haus, das sich von den anderen nur unwesentlich unterschied. Wir saßen in einem schneeweiß gekalkten Raum, der spärlich, aber geschmackvoll möbliert war. Auf dem Tisch brannten drei Kerzen in irdenen Haltern.
Ich machte es mir einfach und zog das Kuvert mit den Fotos, die uns Rodenstock mithilfe der Mordkommission zusammengestellt hatte, aus der Tasche und breitete sie vor ihr aus. Ich erzählte, dass wir nicht gekommen seien, um Ferien in ihrem wunderschönen kleinen Dorf zu machen. Leider. Wir seien gekommen, weil jemand Tausende von Kilometern entfernt Franz-Josef Breidenbach mit einem Steinbrocken erschlagen habe. Und ein anderer, den sie auch kenne, Holger Schwed, sei von einem irren Autofahrer an einer Betonmauer zerquetscht worden.
Ihre Reaktion war erstaunlich. Ihr Mund zuckte und mir war nicht klar, ob sie weinen oder lachen wollte. Schließlich lächelte sie, nickte und murmelte: »Das ist schrecklich, aber nicht sehr erstaunlich. Sie waren ein wunderbares Liebespaar, wissen Sie. Wer hat es getan? Seine Ehefrau?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Vera. »Unter anderem deshalb sind wir hier. Wie liefen die Ferien der Deutschen ab? Was machten sie so?«
»Sie waren ein paar Wochen hier«, antwortete sie. »Sie kümmerten sich um das Haus, diskutierten miteinander, hielten Händchen, gingen spazieren, planten. Was man so tut, wenn man ein Haus bauen will.«
»Wo ist dieses Haus?«, fragte ich.
»Auf dem Berghang gegenüber, fünfhundert Meter von hier entfernt. Da haben Sie ja auch ein Foto des deutschen Jungen, der da mitbaute. Hier, der.« Sie hielt uns das Bild hin. Es war Karl-Heinz Messerich. »Der wollte in diesen Tagen wiederkommen und hier wohnen. Er sollte am Haus weiterarbeiten.«
»War der auch hier, als Breidenbach, sein Sohn und Holger Schwed hier waren?«
»Nein. Der Sohn und Schwed mochten ihn nicht. Er war hier, bis sie kamen, und sollte jetzt wiederkommen.«
Sie goss Vera und sich selbst von dem Rotwein nach. »Das ist höchst bedauerlich. Breidenbach war ein interessanter Mann, er wusste viel von der Natur. Er wollte für immer hier leben, wie er sagte.«
»Mir ist es ein Rätsel, wie der Sohn von Breidenbach das aushalten konnte: sein Vater mit einem Lover, der sein bester Freund gewesen ist«, überlegte Vera. »Verstehen Sie, was ich meine?«
»O ja«, lächelte Aleca. »Aber, sehen Sie, Breidenbach und sein Lover, wie Sie ihn nennen, waren ein Paar. Der Sohn lebte in einem anderen Haus, getrennt von den beiden. Nun ja, sie gingen manchmal zusammen essen, aber selten. Und sie sprachen wenig miteinander. Ich weiß, dass das Vater Breidenbach großen Kummer machte. Er unterhielt sich mal mit mir darüber.« Sie zuckte die Achseln. »Sehr viele meiner Gäste reden mit mir über ihre Probleme. Das hat hier beste Tradition. Breidenbach erzählte mir traurig, dass er eigentlich seinen Sohn mit hierher genommen habe, um mit ihm über seine, na ja, seine sexuellen Befreiungen zu sprechen. Aber der Sohn wollte nichts davon hören, der Sohn hielt sich abseits. Ein paarmal brachte er ein holländisches Mädchen hierher und verbrachte die Nacht mit ihm. Eines Morgens schimpfte der Vater, das gehe zu weit. Zufällig bekam ich das mit. Heiner antwortete: Halt die Schnauze! Gerade du solltest die Schnauze halten! Das ist doch sehr deutlich, oder?«
»Und wie verhielt sich Holger Schwed?«
»Holger? Oh, ein netter Junge. Nun, Holger wollte mit Vater Breidenbach hier leben. Da oben in dem neuen Haus. Holger sagte, Heiner müsse selbst entscheiden, ob er sein Freund bleiben könnte.«
»Ich habe noch eine Frage«, sagte ich, »und dann gehen wir erst einmal. Wahrscheinlich hat Breidenbach eine große Geldsumme bei sich gehabt. Haben Sie eine Idee, wo er das Geld versteckt haben könnte?«
»Oh!«, machte sie mit spitzen Mund, zündete sich erneut eine Zigarette an, trank von ihrem Wein. »Breidenbach hatte hier einen Spitznamen. Wir nannten ihn Brother Cash.« Sie lachte in tiefen kehligen Lauten. »Er bezahlte alles bar, jeden Handwerker, und ging dauernd Geld wechseln, unten an der Hauptstraße. Aber wo er Geld versteckt haben könnte, weiß ich nicht. Wollen Sie nicht zum Abendessen kommen? So gegen neun?« Sie kicherte und murmelte: »Geld verstecken! Geld verstecken!«
Wir nahmen ihre Einladung dankend an und gingen zu unserer Herberge. Dort packten wir die Reisetaschen aus und stiegen heroisch unter die kalte Dusche, die allerdings äußerst erfrischend war.
»Willst du den Ort besichtigen?«, fragte ich.
»Nein. Ich will diesen einfachen Raum genießen, auf dem Bett liegen und davon träumen, den ganzen Sommer hier zu verbringen.«
»Das ist bescheiden«, sagte ich. »Darf ich dabei neben dir liegen?«
»Ja. Aber nur, wenn keine Übergriffe erfolgen.«
»Keine Übergriffe«, versprach ich.
Nach derartig dämlichen Versprechungen fragt man sich immer, weshalb man dafür Atem verschwendet hat.
Vera lag rauchend neben mir und starrte gegen die Decke, nur bekleidet mit ihrer Haut. »Was glaubst du, Baumeister?«
»Was meinst du?«
»Na ja, was denkst du über den Sohn?«
»Er muss gänzlich hilflos gewesen sein.«
»Viel schlimmer«, ergänzte sie. »Er muss gewusst haben, dass die Welt der Familie Breidenbach wie eine Bombe explodiert. Ich frage mich, wieso er sich zu dieser Reise überreden ließ. Dieser Trip muss für ihn nichts als eine über Wochen dauernde Erniedrigung gewesen sein.«
»Vielleicht glaubte er, noch etwas retten zu können. Vielleicht hoffte er, sein Vater und Schwed würden sich verkrachen und sich dann trennen. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er sogar mit dem wahnwitzigen Gedanken gespielt, seinen besten Freund Holger Schwed von einem Felsen zu stürzen oder im Meer zu ersäufen. Oder gar beide zu töten.«
Sie wälzte sich sehr schnell zu mir herum. »Glaubst du, dass du immer mit mir leben kannst? Auch wenn ich manchmal ein Biest bin?«
»Ich bin der Meinung, wir sollten es versuchen«, antwortete ich.
Das war das Aus sämtlicher dämlicher Versprechungen. Und es war die einzige Möglichkeit, uns vor dem zu schützen, was wir entfernt aufschimmern sahen, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Um sieben Uhr kleideten wir uns an, setzten uns in unsere gemietete Nuckelpinne und rauschten zu Tal nach Makrigialos, um das Meer aus der Nähe zu sehen.
Der Ort zog sich mehr als drei Kilometer in die Länge und bestand im Wesentlichen aus einer wilden Aneinanderreihung höchst verschiedener Häuser, von denen eine Menge im Rohbau stecken geblieben waren und möglicherweise erst von den Enkeln zu Ende gebaut werden würden – oder nie. Der Hafen, klein, unbedeutend und sehr malerisch, war genauso Badeplatz wie der kiesige Strand von Ost bis West.
Es gab ein gewaltiges Hotel mit den Ankündigungen sämtlicher Spaßmöglichkeiten, die Menschen heute geboten werden müssen. Es war voll mit Holländern, Schweden und Engländern, die allesamt einen etwas verbiesterten Eindruck machten, als sei Urlaub ein Problem, das man schnell hinter sich bringen muss – mit möglichst guten Noten.
In jedem vierten Bau befand sich ein Tante-Emma-Laden, der den ganzen griechischen Charme verströmte und auf engstem Raum alle Herrlichkeiten anhäufte, die wir für unseren Alltag unbedingt brauchen. Vom Quietscheentchen bis hin zum Rasierschaum, vom deutschen Camembert bis zum griechischen Fladenbrot, nichts fehlte. Man konnte sogar Plastikblumen aus Korea kaufen und Schnaps aus Taiwan. Wir entdeckten einladende Kneipen, Restaurants und bistroähnliche Einrichtungen, die auf ihren Werbetafeln mit dem Begriff der Tnternationalen Küche‹ spielten. Das alles erweckte bei mir den Eindruck, dass die Inselbewohner vom Tourismus vollkommen wehrlos im Schlaf überrascht worden waren und nun zusehen mussten, wie sie in dem Chaos überleben konnten, das sich, Jahr für Jahr aus dem Norden einfliegend, über sie stülpte wie eine solide, luftdichte Plastiktüte.
Wir tranken etwas bei einem Wirt, den alle Michaiis nannten und der Vera das erste Glas Rotwein spendierte und dabei in reinstem Pidginenglisch betonte, der kretische Wein sei der absolut beste der Welt und glücklicherweise gäbe es davon so wenig, dass sie ihn bequem auf der Insel vernichten könnten. Er schoss, unermüdlich Liebesbeteuerungen murmelnd, zwischen seinen Gästen umher und war ein freundlicher, ständig scherzender, kugeliger Mann, dessen Augen große Klugheit verrieten, die er aber offenkundig für seine Landsleute reservierte.
»Was überlegst du?«, fragte mich Vera.
»Dass Deutsche mal versucht haben, dieses Land zu erobern, dass sie es verheerten und verwüsteten. Und vor allem viele Griechen töteten.«
»Die augenblickliche Form der Eroberung bringt beiden Seiten etwas«, lächelte sie.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Aber hör nicht auf mich, ich bin mies und melancholisch drauf.«
»Wenn du hier Geld verstecken wolltest, wo würdest du das tun?«
»Die Sommer sind heiß, daher muss ich es so unterbringen, dass es nicht verbrennen kann. Also nicht in einem Gebäude, aber auch nicht auf den Freiflächen irgendwo an den Berghängen. Breidenbach war ein Naturfreak, kannte die Eigenheiten dieser Insel sehr genau. Im Winter und Frühjahr schießen hier unendliche Wassermassen ins Meer, sodass es überall feucht ist und die Wege zu wilden Bächen werden. Wo ist es nicht feucht, wo kann das Geld keinen Schimmel ansetzen? Es muss sicher sein vor Nagern, vor Mäusen zum Beispiel, oder vor Vögeln, die aus dem Papier dankbar ihr Nest formen würden. Breidenbachs Zukunft hing von diesem Geld ab. Es musste ständig verfügbar sein. Dann droht die Einführung des Euro, er musste also die Möglichkeit haben, es vorher tauschen zu können. Ich glaube nicht, dass er es der Bank von Griechenland anvertraute. Vielleicht hat er es in Portionen geteilt und diese Portionen irgendwo getrennt untergebracht, sodass er jederzeit und unauffällig an das Geld herankonnte. Die Möglichkeiten sind endlos. Lass uns jetzt Breidenbachs Paradies besichtigen, dann kommen wir noch rechtzeitig zum Essen.«
Wir versuchten, auf den Hang zu gelangen, der jenseits des Tales von Alecas kleinem Dorf lag. Nach drei Anläufen erwischte ich endlich den richtigen Feldweg.
Das Haus war, wie alle einfachen Häuser für die ursprünglich in der Landwirtschaft tätigen Familien, in Würfelform gebaut und hatte drei Räume. Eine Küche, ein Raum für die Nacht, ein zweiter für den Tag. Breidenbach hatte vorgehabt, den Grundriss als Viereck zu belassen, aber um das mindestens Vierfache zu vergrößern. Das erkannte man an den in Stahlbeton aufgeführten Grundmauern, die noch nicht höher als dreißig Zentimeter waren.
Eine kleine Betonmischmaschine rostete vor sich hin, ein Haufen Sand, ein Haufen Steine, ein Haufen feiner Kies und über allem eine ganze Sammlung zerbrochener Träume.
Wortlos fuhren wir wieder. Die Sonne stand inzwischen gelbrot als riesiger Ball am Himmel.
Aleca hatte einen Choriatiko gemacht, den weltberühmten griechischen Hirtensalat, sehr bunt, mit weißen Käsewürfeln. Dazu ein Pastizio, einen Nudelauflauf mit Gehacktem, viel Knoblauch und feinen Kräutern. Auf dem Tisch brannten die drei Kerzen, in einer kleinen, schmalen Vase standen violette Blumen, deren Namen ich nicht kannte. Zwischen dem Ort unten am Meer und diesem kleinen Haus im Berg lag eine ganze Welt.
»Ich habe mir die Sache überlegt«, sagte sie gedankenvoll. »Man erwartet von Freunden und Wirtsleuten, dass sie schweigen. Aber Breidenbach, Karl-Heinz Messerich und Holger Schwed sind tot. Ein wirklich schlimmes Fiasko. Ich habe mich dabei erwischt, dass ich es nicht glauben will. Vermutlich sind Sie daran interessiert zu erfahren, wie die Stimmung hier war.« Sie schaute uns nicht an, sie erwartete keine Zustimmung. »Aber, bitte, nehmen Sie doch.«
Sie selbst nahm nichts, hatte nicht einmal einen Teller vor sich stehen, rauchte nur unentwegt Zigaretten der Marke Silk.
»Ich habe dieses Dorf vor vielen, vielen Jahren gekauft und wieder aufgebaut. Auch heute noch ist es ein kraftvoller Ort, ein seltener Ort. Hier sind die zu Hause, die sich nicht jeder Regel beugen, die noch nachdenken. Sie nennen sie im Deutschen Aussteiger oder Unangepasste. Ich bin selbst so. Wir Griechen haben unliebsame Erfahrungen mit Touristen gemacht. Einige Inseln bei uns genossen und genießen den Ruf, reine Herbergen für Homosexuelle oder Lesben zu sein. Natürlich ist das Quatsch, denn die Zahl der so genannten Normalen überwiegt. Jedenfalls habe ich Erfahrung mit Männern wie Breidenbach und Schwed. Breidenbach selbst kam seit sechs Jahren jedes Jahr. Manchmal sogar zwei- oder gar dreimal. Er war hier zu Hause. Schon sehr früh, so vor vier Jahren, sagte er zu mir: Aleca, hier könnte ich mein Leben leben und beschließen. Das höre ich von vielen, aber bei ihm war es angestrebte Realität. Er mietete immer dasselbe Haus, und in diesem Jahr hat er das Haus gleich für das ganze Jahr gemietet, weil er nicht wusste, wann er zurückkehren würde. Er war absolut kein Typ, der Frauen oder Männer anbaggerte, wie Sie das so nennen. Als er mit Schwed hier auftauchte, dachte ich gleich: Das gibt Ärger! Ich meine nicht Ärger für mich, sondern Ärger für seine Familie. Unzweideutig liebten sich die beiden. Im Prinzip halte ich das immer für erfreulich, ganz gleich, wer von der Liebe erwischt wird. Aber Breidenbach war sehr konservativ, ein deutscher Beamter. Und von seiner Familie, seiner Frau und den Kindern, hatte er mir oft erzählt. Meistens übrigens positiv. Jetzt war da ein Geliebter und es war der Sohn dabei. Ich wusste instinktiv, dass es in einer Tragödie enden musste ...«
»Warum Tragödie?«, unterbrach Vera.
Sie lächelte. »Nun ja, es gibt Schwule, die immer schon schwul waren. Das ist normal und ihr Leben verläuft im Grunde auch schrecklich normal. Dann aber gibt es Typen wie Breidenbach, die ihre Homosexualität sehr spät entdecken und die damit natürlich ihre Familie zerstören. Zur Tragödie kommt es aber vor allem dadurch, dass diese gealterten Homosexuellen sich oft junge Geliebte suchen. Und diese jungen Geliebten gehen eines Tages, sie gehen einfach fort. Und ich denke, Holger Schwed war so ein Typ. Er wäre eines Tages weggegangen und hätte Breidenbach in großer Einsamkeit zurückgelassen. Das war das, was ich sah.«
»Wie verbrachten sie nun ihre Tage?«, fragte ich.
Sie überlegte. »Wenig abwechslungsreich«, antwortete sie dann. »Der Sohn lebte sein eigenes Leben. Er hatte ein eigenes Haus, war nie mit seinem Vater zusammen, der mit Schwed in einem anderen Haus wohnte. Da waren gewaltige Spannungen. Der Sohn fuhr morgens hinunter zum Strand und kam selten vor dem späten Abend zurück. Der Vater und Schwed frühstückten auf der Terrasse und machten sich dann zu Fuß auf den Weg den Fluss hinauf, der jetzt um diese Jahreszeit trockengefallen ist. Die beiden marschierten meistens hinauf nach Pefki. Wenn Sie den Fluss hinaufschauen, sehen Sie dort oben, viele Kilometer entfernt, eine schneeweiße Kirche auf einer Bergspitze. Das ist die Kirche von Pefki. Jeden Tag gingen Breidenbach und Schwed das Flusstal hinauf und wanderten dann nach links oder rechts in die Berge. Abends kamen sie wieder, hockten auf ihrer Terrasse, tranken Wein. Und fünfzig Meter weiter hockte der Sohn und tat das Gleiche.«
»Das ist ja furchtbar«, murmelte Vera.
Aleca schien das deutsche Wort zu kennen und nickte lebhaft. »Furchtbar«, wiederholte sie.
»Hat es irgendein Ereignis gegeben, das Sie besonders im Gedächtnis behalten haben?«, fragte ich weiter.
»Nein«, sagte sie. »Nein, so etwas gab es nicht. Außer natürlich mit diesem Mann hier.« Sie griff in unser reichhaltiges Fotoarchiv und zog ein Bild von Abi Schwanitz heraus. »Der Mann kam hier an, wohnte aber nicht hier. Er hatte ein Zimmer unten in Makrigialos. Er kam hier herauf, trödelte herum und versuchte ganz offen mit jedem von den dreien in Kontakt zu kommen. Ich habe von den Gesprächen nichts verstanden, mein Deutsch ist schrecklich schlecht. Aber sie schienen sich gut zu kennen. Und ich habe nur mitgekriegt, dass dieser Mann auf dem Foto hier Geld von Breidenbach wollte. Breidenbach benahm sich abweisend. Dann habe ich eines späten Abends den Mann erwischt, wie er versuchte, in das Haus von Breidenbach und Schwed zu kommen. Er fummelte an dem Schloss herum. Ich habe ihn rausgeschmissen.« Sie lachte in der Erinnerung.
»Und Breidenbach wollte jetzt im Herbst kommen und sein Haus fertig bauen?«, fragte Vera.
»Richtig. Er hat mich vor etwa sechs Wochen angerufen und gesagt: Aleca, noch in diesem Jahr werde ich dein Nachbar. Mein Weihnachtsbaum wird ab sofort immer in Griechenland stehen.«
»Hat er einen Aluminiumkoffer unter seinen Gepäckstücken gehabt?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht. In dem Haus, das er hier gemietet hat, steht nichts, es ist leer. Ich habe sauber gemacht, daher weiß ich das.«
»Also jeden Tag Aufbruch in Richtung Pefki, richtig?«
»Genau. Aber das ist eigentlich nichts Besonderes. Leute, die gern wandern, benutzen immer den Weg nach Pefki, um in die Berge zu kommen.«
Wir wurden gestört. Erst erschien ein Schweizer Ehepaar, das stolz vier Fische zeigte, die es irgendwo im Meer geangelt hatte. Dann ein belgisches Paar, das eine Stunde lang davon erzählte, wie es ihnen in Bangkok und im Hindukusch ergangen war, in Thailand und auf Borneo. Die Frau raspelte unentwegt: »Und die Menschen, sage ich euch, sind so was von liiiiehhb!« Später stellte sich heraus, dass das Paar sich trennen wollte und auf einer Weltreise die Frage zu beantworten suchte, ob sie es vielleicht doch noch mal miteinander versuchen sollten.
Als wir durch die hereinbrechende Nacht zu unserem Haus gingen, fragte Vera: »Müssen wir eigentlich wirklich nach diesem blöden Geld suchen?«
»Ja«, bestimmte ich. »Wenn wir es nicht tun, kommen andere her. Also, warum sollen wir es nicht probieren? Wir geben uns einfach einen Tag Zeit. Dann fahren wir wieder.«
»Ich würde gern wiederkommen.«
»Ich auch.«
Wir duschten, weil es immer noch so warm war. Wir legten uns nackt auf das Bett, wir klammerten uns aneinander, aber wir liebten uns nicht. Die Stimmung war gekippt, Trostlosigkeit machte sich breit.
Wir wachten früh auf und aßen die Reste der Mahlzeit, die noch vom Vortag übrig geblieben war.
Als wir draußen in der Sonne standen, starrten wir erst einmal die Schlucht hinauf, in der möglicherweise das versteckt war, was wir suchten.
Den ersten Kilometer liefen wir auf einem ordentlichen Schotterweg, aber irgendwann wand er sich am jenseitigen Hang hinauf. Wir verließen ihn und gingen durch das Flussbett, das von gewaltigen, abgeschliffenen Felsen umgeben war.
»Worauf müssen wir eigentlich achten?«
»Such nach einer Höhlung. Und zwar in einer Höhe, die oberhalb jedes voraussichtlichen Wasserstandes liegt, also mindestens zwei bis drei Meter hoch. Und noch etwas:
Wenn Breidenbach das Geld hier irgendwo versteckt hat, dann wahrscheinlich an einem Ort, an dem eine natürliche Lüftung möglich ist. Natürliche Lüftung heißt, dass die Scheine zwar nass werden können, aber auch wieder trocknen, wenn der Wind hindurchfährt.«
Wir vermuteten das Versteck an mindestens zwanzig Stellen, Höhlungen, Spalten, Felsbändern. Wir fanden nichts. Nach zwei Kilometern wollten wir aufgeben, weil es immer hoffnungsloser erschien, in einer Steinwüste einen bestimmten kleinen Stein zu finden, dessen Aussehen wir nicht mal kannten. Ich fragte mich, ob Breidenbach bestimmte Landmarken als Orientierungshilfe zur Bedingung seines Versteckes gemacht hatte: große Felsen mit charakteristisch stehen Pinien, vielleicht einen Schatten, der zu einer bestimmten Zeit seinen Schatz bedeckte oder auf ihn hinwies. Dann dachte ich, dass Breidenbach so etwas nicht gebraucht hatte. Da er jahrelang hier herumgewandert und – gekraxelt war, konnte das Geld überall sein. Und überall hieß: irgendwo im Umkreis von fünfzig oder hundert Quadratkilometern oder noch mehr. Kreta ist groß.
»Wir müssen nicht nach Löchern suchen«, murmelte Vera plötzlich. »Wir müssen Stellen finden, an denen er mit Holger Schwed Liebe machte.«
Ich verstand zwar die Logik nicht, aber vielleicht war das eine Möglichkeit. »Hast du so eine Stelle gesehen?«
»Ja. Aber da sind wir längst vorbei. Ungefähr fünfhundert Meter hinter uns.«
Wir gingen also zurück. Vera zeigte mir den Platz, den sie meinte. Da befand sich, umgeben von großen Felsbrocken, auf einem Fleck mit viel Schatten, Gras, das noch nicht ganz verdorrt war. Und es gab noch etwas anderes: eine vertikale Rinne, die sich das Wasser durch diese Erde gebahnt hatte.
»Wenn er es hier versteckt hat, dann zeigte ihm die Rinne, bis zu welcher Höhe das Wasser steigt. Was musste Breidenbach weiter beachten?«
Vera grinste. »Er musste darauf achten, dass kein anderer, der diesen lauschigen Platz aufsuchte, auf die Idee kommen konnte, dass hier ein Schatz verborgen ist.«
»Schülerin, erste Klasse, die Note eins. Was bedeutet das?«
»Das Versteck muss höher liegen, als ein großer Mann reichen kann. Es muss sogar in einer solchen Höhe sein, dass niemand, der hier aus Übermut herumklettert, es zufällig entdecken kann«, sagte sie. »Und deshalb ist es auf dem Felsen dort. Der ist glatt, niemand kann rauf. Und von oben kommt auch niemand heran.«
»Sehr schön. Dann sieh zu, dass du da raufkommst.«
»Na denn.« Vera sah sich um und kletterte auf den Nachbarfelsen, konnte aber von dort nicht springen. Sie versuchte es von einem anderen Felsen, aber auch der Sprung war nicht zu schaffen. Sie erklomm einen großen Basaltbrocken, der oberhalb des Felsens lag, zu dem sie hinwollte. Dann sprang sie und landete sicher, sie ging in die Hocke und hielt sich an der Schrägen fest.
»Hier ist eine Spalte. Aber sie ist mit anderen Steinen verschlossen.«
»Sind die Steine beweglich? Leicht genug, sie anzuheben?«
»Ich denke«, sagte sie und begann, Steine herauszuwuchten und sie neben mir niederfallen zu lassen. Die Steine waren relativ schwer, zehn bis fünfzehn Kilo etwa. Aber sie rollten gut, weil das Wasser sie in Millionen Jahren rund geschliffen hatte.
»Hier ist nichts«, rief sie.
»Wie kommst du jetzt wieder runter?«
Sie war einen Augenblick lang unsicher, stand etwa drei Meter über mir.
»Pass auf«, sagte sie mit einem kurzen Lachen. Dann machte sie einen Satz, griff meine Arme und ich federte sie ab, so gut das ging.
»Ich habe die Nase voll«, sagte ich.
»Wir werden so schnell keinen Flug kriegen«, meinte sie.
»Wir kriegen einen. Es gibt immer Leute, die ihren Urlaub verlängern.«
Wir schlenderten langsam zurück zu Alecas Dorf.
»Ich sehe mir Breidenbachs Häuschen an«, meinte Vera. »Ich will sehen, wie er und Schwed gewohnt haben.«
»Das ist gut«, nickte ich.
Aleca fuhrwerkte im Erdreich unter einem Olivenbaum herum. »Ich pflanze Blumen«, erklärte sie. »Mittagsblumen.«
Ich bat sie um den Schlüssel zu Breidenbachs Haus und sie erwiderte, er hinge an einem großen Brett vor ihrem Haus, die Nummer sechs.
Der Wohnwürfel war unserem ganz ähnlich, nur war er größer und geräumiger, hatte zwei Schlafräume und eine größere Küchenecke. Die mächtig dicken Wände aus Feldstein waren schneeweiß gekalkt, das Mobiliar dunkel und solide.
»Das wäre doch etwas für uns«, sagte Vera hell.
Ich ging umher, öffnete die Schränke und die Schubladen: Breidenbach hatte nichts hinterlassen.
Die weiße Decke war durchzogen von schweren, hölzernen Balken, die vom Alter dunkel geworden waren. Nur ein Balken, über der Küchenecke, war neueren Datums und hatte noch nicht die dunkle Tönung angenommen.
»Da hat Herr Breidenbach selbst dran gearbeitet«, sagte Aleca von der Tür her. »Es regnete rein. Diese Flachdächer sind problematisch. Aber Breidenbach konnte das, er besserte es ganz fachmännisch aus.«
»Kann man auf diesem Dach umhergehen und sich in die Sonne legen?«, fragte ich.
»Das geht«, sagte sie. »Aber kein Mensch tut es.«
»Ich steige mal da rauf«, verkündete ich. Ich ging aus dem Haus und entdeckte, dass ich bequem und leicht über die Terrassenmauer auf das Dach gelangen konnte. Obendrauf hatte sich Gras festgesetzt. Die Balken und die Zwischenfugen waren mit einer soliden Teerpappe überzogen, auf der Kies aufgebracht worden war, dann Erde.
Ich kletterte wieder hinunter. Die Frauen saßen am Esstisch und vertrieben die muffige heiße Luft mit dem Qualm ihrer Zigaretten.
Ich nahm die Silvano aus der Weste, stopfte sie und zündete sie an.
»Als Breidenbach den Balken neu setzte, hat er da Hilfe gehabt?«, fragte ich.
»Ja, natürlich«, antwortete Aleca. »Holger. Die beiden waren schnell. Breidenbach war ein guter Handwerker. Auch als ich Schwierigkeiten mit den Sonnenkollektoren hatte, hat er sie repariert. In einem anderen Haus war der Abfluss verstopft. Er reinigte ihn. Solche Arbeiten machten ihm Spaß.«
Dann bemerkte ich einen Nagelkopf in dem neuen Balken. Und zwei lange, feine Linien. »Er hat den Balken auch gestrichen, nicht wahr?«, fragte ich.
»Oh, das muss man hier als Erstes. Es gibt Schädlinge, die hier gut gedeihen und das Holz fressen.«
»Ja«, murmelte ich, nahm einen Stuhl und kletterte dann auf das solide Holzregal, auf dem alle möglichen Küchenutensilien standen. »Wenn es irgendwo ist, ist es hier.«
Ich nahm den Nagelkopf zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte, ihn zu schieben. Er bewegte sich nicht. Dann zog ich daran – und eine Klappe schwang widerstandslos nach unten auf. Im Balken war ein Hohlraum. Ich griff hinein.
»Oh, lä lä«, rief Aleca erheitert. »Die Geheimnisse des Franz-Josef Breidenbach.«
Acht längliche Pakete, jedes so groß wie zwei nebeneinander liegende Briketts, waren mit einem dunkelgrauen textilen Stoff umwickelt.
Während ich Vera die Pakete anreichte, sagte ich: »Das Zeug kenne ich. Eine Firma im Bergischen stellt das her. Dieser Stoff hält, glaube ich, fünfzehnhundert Grad aus und ist absolut wasserdicht.«
»Und was macht ihr jetzt damit?«, fragte Aleca, noch immer spöttisch.
»Wir kaufen uns ein Schleckeis«, sagte Vera.
Beide Frauen lachten laut und aufgeregt.
»Ich mache ein Paket auf. Das ist mit irgendwas verklebt«, erklärte Vera dann.
»Oh, warte«, sagte Aleca und holte ein Küchenmesser.
»Das Loch ist nun leer. Kein Schriftstück, kein Abschiedsbrief, kein Testament. Absolut nichts.« Ich stieg von Regal und Stuhl.
»Geld: Tausender, Fünfhunderter, Hunderter.«
»Jetzt seid ihr reich«, sagte Aleca.
»Moment mal«, sagte ich. »Eigentlich gehört es dir. Es ist dein Haus.«
Beide Frauen waren plötzlich still. »Na sicher!«, hauchte Vera dann.
»Ich will das Zeug nicht«, sagte Aleca heftig. Sie stand auf und murmelte: »Ich gehe weiter meine Mittagsblumen pflanzen. Das ist eine verrückte Geschichte.«
Eine Stunde später hatten wir das Geld gezählt und saßen etwas verwirrt vor diesem Reichtum.
»Wir müssen heimfliegen«, sagte ich. »Bemühe du dich um einen Flug, ich melde mich zu Hause.«
Vera ging und ich rief Rodenstock an.
»Heh!«, sagte er erleichtert. »Wie steht es im Süden?«
»Wir haben das Geld gefunden. Es sind siebenhundertsechzigtausend Mark. Wir kommen mit der nächsten Möglichkeit heim.«
»Sag mir Bescheid, wo und wann ihr landet, ich hole euch ab. Und? Was denkst du jetzt?«
»Ich denke, Breidenbachs Sohn hat ihn getötet. Er hatte ein sehr starkes Motiv.«
Rodenstock am anderen Ende schwieg eine Weile. »Was ist mit der Tochter? War sie daran beteiligt, weiß sie es? Wir müssen noch viele Fragen klären, bevor wir uns sicher sein können.«
»Das ist mir klar. Und wie geht es bei euch in Brück?«
»Beschissen«, antwortete er trocken. »Aber das erzähle ich euch, wenn ihr hier seid.«
»Ach, Rodenstock, raus damit«, forderte ich.
»Na gut. Es gibt ein Buch Vulkaneifelheimat von einem Mann namens Franz-Josef Ferber und es enthält alte Fotos aus dem Landkreis Daun von 1900 bis 1950 ...«
»Ein sehr schönes Buch«, unterbrach ich ihn.
»Ja, mag sein«, nuschelte er. »Also, gestern Mittag zieht sich mein Weib in den Garten zurück und blättert darin. Plötzlich steht sie restlos erschüttert vor mir und sagt: Ich will das Haus nicht mehr, Rodenstock! Was ist passiert?,
frage ich. Es stellt sich heraus, dass auf Seite 120 dieses Buches ein Foto aus Heyroth zu sehen ist. Es zeigt die Familie des Volksschullehrers Barbie. Und es zeigt einen kleinen Jungen namens Klaus Barbie. Der gleiche, der im Zweiten Weltkrieg als Schlächter von Lyon berühmt wurde. Jetzt sagt die Jüdin an meiner Seite: Ich will das Haus nicht, ich will nicht nach Heyroth. Emma ist völlig am Ende.«
»Ach, du Scheiße«, murmelte ich. »Na ja, ich rufe an, wenn wir wissen, wo wir landen. Sollen wir das Geld mitbringen?«
»Ja klar«, antwortete er.
Vera kehrte mit der Nachricht zurück, dass wir schon am Abend Platz in einer Maschine nach Frankfurt bekommen könnten. Ich erzählte ihr von Emmas Kummer und sie war ebenso betroffen wie ich.
Nachdem wir uns von Aleca verabschiedet hatten, brachen wir auf. Wir gaben den Wagen ab, hockten im endlosen Strom der Touristen in Iraklion und waren erschöpft. Vera schlief im Flugzeug wieder die ganze Zeit, den Kopf an meiner Schulter.
Die Menschen um mich herum tranken viel, lärmten, fanden alles Mögliche sehr witzig und ein fetter kleiner Junge verhandelte mit einer Stewardess eine halbe Stunde lang über eine Uhr. Er sagte: »Mein Vater bezahlt. Und ich finde die Uhr klasse. Aber gibt es die auch mit einem anderen Armband?« Die Stewardess sagte »Nein«, aber der Junge wollte sie unbedingt dazu bewegen, das Band einer anderen Uhr zu verwenden. Die junge Frau war genervt und die Umsitzenden lachten, weil der Junge nicht aufgab. Und während er redete, fraß er schmatzend irgendein Süßzeug aus der Tüte und sein Vater strahlte vor Stolz.
Rodenstock erwartete uns am Ausgang, schubste uns vorwärts in eine Tiefgarage. »Emma hat eine Portion Spaghetti mit Öl und Knoblauch vorbereitet. In diesem Koffer ist das Geld?«
»Ja«, sagte Vera. »Lieber Himmel, bin ich müde.«
»Hat Kischkewitz die Kinder schon vernommen?«, fragte ich.
»O nein«, erwiderte er. »Er will nichts falsch machen. Das wird eine schwierige Kiste, eine ganz schwierige Kiste. Niemand außer uns und der Mordkommission weiß bis jetzt von dem Verdacht.«
»Nun hat sich diese ganze chaotische Geschichte zu einer Familientragödie verengt«, seufzte Vera, als wir längst auf der Autobahn waren.
»Das kann man so sehen«, nickte Rodenstock und wechselte die Fahrbahn, um einen Lkw zu überholen. »Und immer noch ist gar nicht sicher, wer Breidenbach tatsächlich getötet hat. Wir können immer noch nicht ausschließen, dass Maria Breidenbach die Tat beging.«
»Aber wie soll die den toten Messerich in die Wildschweinsuhle befördert haben können?«, fragte Vera scharf.
»Vielleicht gar nicht. Vielleicht tat sie es auch gemeinsam mit ihrem Mann, bevor der getötet wurde.«
»Glaubst du denn inzwischen, dass Abi gegen elf Uhr vom Tatort verschwand? Können wir ihn als Mörder wirklich ausklammern?«, fragte ich.
»Ich neige zu einem Ja«, sagte er. »Die Auftraggeber von Schwanitz hatten Breidenbach viel Geld bezahlt. Es konnte nicht in ihrem Interesse liegen, ihn zu töten. Ganz einfach, weil das zum einen zu viel Aufsehen erregt hätte, zum anderen war Breidenbach der Schlüssel zu dem Geld. Solange sie es nicht zurückhatten, machte sein Tod keinen Sinn.«
»Was wäre denn, wenn wir Maria Breidenbach zu einem Gespräch bitten würden?«, fragte Vera.
»Das ist zu früh«, widersprach Rodenstock hastig. »Wir müssen jetzt genau überlegen, was wir tun. Ein einziger falscher Zug und wir enden in einer Sackgasse.«
»Verdammt noch mal!«, explodierte Vera. »Was soll diese Vorsicht? Es geht um Mord. Wenn wir den Verdacht haben, dass die Kinder oder ein Kind, dass die Ehefrau oder die Ehefrau zusammen mit einem Kind oder beiden Kindern es getan hat, muss man sie zum finalen Verhör bitten!«
Eine Weile herrschte Schweigen. Rodenstock wechselte wieder die Spur.
»Denk doch mal nach, junge Frau«, begann er im Stakkato. »Ein Mann bricht aus seinem biederen Leben als Familienvater aus, erlebt sein Coming-out, hat eine Liebesgeschichte mit dem besten Freund des Sohnes. Die Familie geht daran kaputt, weil sie sich nicht ausspricht, jeder ist mit seinem Kummer allein. Nun wird der Vater getötet. Von der Ehefrau und, oder von einem Kind, von beiden Kindern. Dahinter steckt ein unglaubliches Gefühlschaos, was da durchlebt wird, das kann zu einem geradezu erschlagenden Trauma führen, zu einer solch starken seelischen Erschütterung, dass die Überlebenden nur eine Möglichkeit haben, damit fertig zu werden: Sie müssen das Geschehen so schnell wie möglich verdrängen. Und zwar so total, dass ihr Hirn diese Erinnerung perfekt ausblendet. Die Nacht im Steinbruch darf nicht mehr existieren. Kannst du mir folgen?«
»Ja«, antwortete Vera.
»Sich zu erinnern ist für diese Menschen mit geradezu unfassbaren Schmerzen verbunden. Infolgedessen werden sie alles tun, um sich nicht erinnern zu müssen. Du kannst Menschen, die so etwas durchlebt haben, nicht einfach mit deinem Verdacht konfrontieren, du kannst überhaupt nicht abschätzen, was dann passiert, was das mit ihnen macht.«
Das Schweigen dauerte diesmal sehr lange. Rodenstock fuhr einhundertachtzig Stundenkilometer, wirkte wieder ruhiger und konzentriert.
»Du meinst«, sagte Vera nachdenklich, »dass die Mordkommission vor der Tür steht und möglicherweise gar nicht reingelassen wird.«
»Neulich habe ich etwas von so einer totalen Verdrängung gelesen«, erinnerte ich mich. »Ich nenne es jetzt mal das Kosovo-Syndrom. Es ging um eine ekelhafte Szene: In einem großen Munitionsdepot steht auf einem großen, marktähnlichen Platz eine Fünfzehnjährige. Das Mädchen wird vierundzwanzig Stunden lang von rund zweihundert Soldaten missbraucht. Ein traumatisches Erlebnis, wie es schlimmer kaum sein kann. Das Gehirn des Mädchens schaltet sich während des Vorganges gewissermaßen selbst aus. Das Mädchen verdrängt diese vierundzwanzig Stunden so perfekt, dass nicht einmal seine Albträume einen Rückschluss auf dieses Verbrechen zulassen. Es gibt nur Erinnerungsfetzen. Und die tauchen erst auf, wenn das Mädchen etwas ganz Bestimmtes riecht. Männlichen Samen zum Beispiel. Das Mädchen erleidet Panik, Angstzustände, kommt mit seiner Umwelt nicht mehr zurecht, kann zärtliche Gefühle nicht empfinden, aber auch nicht annehmen, scheint sozial vollkommen deformiert. Das heißt, das Mädchen steht vor einer Zukunft, die im Wesentlichen von krankhaften Zuständen seiner Seele belastet sein wird.«
»Genau so etwas befürchte ich in unserem Fall.« Rodenstock nickte heftig. »Menschen, denen so etwas widerfahren ist, stehen ständig vor der Gefahr des totalen Zusammenbruchs. Aber es kann auch zu massiven Drogen- und Alkoholproblemen führen, weil der Patient in jedem Fall zunächst einmal erlebt, dass Drogen und Alkohol mindestens zeitweise helfen können, diese verrückten, unbegreiflichen und für ihn selbst ja auch nicht erklärbaren Zustände zu unterdrücken. So ein Verdacht, wie wir ihn hegen, ist der Albtraum jeder Mordkommission, weil es das Ende jeder Aufklärungsarbeit bedeutet, das allerletzte, endgültige Aus: Man kommt nicht an die Menschen ran, kann sie nicht angehen.« Er machte eine Pause und murmelte dann: »Ich würde euch bitten, mit Emma vorsichtig umzugehen. Sie läuft völlig neben der Spur.«
Als wir auf meinen Hof rollten, standen Emma und Cisco in der Tür, die Katzen schössen heran, um sich an unseren Beinen zu reiben.
»Na, mein Mädchen«, umarmte Emma Vera.
»Das ist irgendwie Scheiße«, sagte Vera heftig. »Ich kann gar nicht glauben, dass wir es im Grunde mit einer so trivialen Tragödie zu tun haben.«
»Ja, ja«, nickte die kluge Emma. »Die Trivialität von Verbrechen ist oft enttäuschend. Baumeister, mein Lieber. Bist du auch melancholisch?« Sie umarmte auch mich.
»Jede Menge«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Aber ich habe gehört, es gibt Spaghetti der besonderen Sorte?«
»Ja. Und nun kommt rein.«
Es wurde ein kurzes Essen, aber ein gutes.
Emma berichtete scheinbar aufgeräumt von einer gewissen Tante Amalie, die sich bei ihr gemeldet hatte mit der Frage, ob Emma zurzeit einen reichen Ehemann habe, der möglicherweise ein Interesse daran haben könnte, ein altes amerikanisches Bauernhaus im Shenandoah Valley nahe Washington D. C. zu übernehmen, zu restaurieren und es so für den Clan zu erhalten.
»Tante Amalie«, erklärte Emma, »ist aus einer Seitenlinie, in der mein Cousin Albert den Oberboss spielt.«
»Wie viele Tanten hast du eigentlich?«, fragte Rodenstock.
»Etwa zwanzig. Natürlich sind das nicht alles echte Tanten, ich muss sie nur so nennen. Und von Zeit zu Zeit spülen sie mir Häuser oder alten Schmuck oder etwas in der Art in meine Haushaltskasse. Einer der Gründe, ihr Lieben, weshalb alte jüdische Clans nicht untergehen, ist ihr oberster Grundsatz: Selbst wenn du Emma von Herzen hasst, lass das Geld in der Familie!« Sie lachte, aber das Lachen kam nicht von Herzen.
»Und was machst du jetzt mit dem alten Bauernhaus?«, fragte ich.
»Na ja, jetzt muss ich jemanden im Clan finden, der es kauft. Ich denke da an die alte Tante Albertine, die mir neulich am Telefon sagte, sie würde gern Florida verlassen, weil es dort zu heiß ist, zu viele Mücken gibt, zu viele Touristen und zu viele Klimaanlagen, die dauernd kaputt sind.« Emma wurde ernst. »Wisst ihr, das sind ausnahmslos alte Leutchen, deren Eltern und Großeltern ursprünglich in Europa lebten und hier sehr glücklich waren, bis ein Mensch namens Hitler daherkam und die Juden ausrottete, weil er Angst vor ihnen hatte. Verdammt, entschuldigt bitte, das wollte ich nicht.« Sie senkte den Kopf.
»Du darfst das«, murmelte Rodenstock. »Und du hast Recht. Wir können uns das Haus in Amerika ja mal ansehen.«
Sie bedachte das und nickte. »Warum nicht? Wir laden Vera und Baumeister ein und fliegen zu viert dorthin.« Fast flüsternd fügte sie hinzu: »Rodenstock, ich will das Haus in Heyroth doch. Im Talmud steht irgendwo, dass du überall auf die Spuren deiner Feinde triffst. Das Haus, in dem Klaus Barbie in Heyroth seine Kindheit verbrachte, gibt es nicht mehr. Ich habe mich erkundigt.«
Rodenstock räusperte sich. »Das ist gut«, sagte er rau.
»Jetzt habe ich endlich eine Zukunft«, sagte Vera lächelnd. »In Heyroth steht mein zweiter Weihnachtsbaum.«
Wir lachten befreit und Cisco sprang vor lauter Begeisterung auf den Küchentisch und fegte dabei eine Schüssel mit Knoblauchöl auf die Fliesen. Alles wurde noch lustiger, weil Cisco aufgeregt und gut gelaunt durch das Knoblauchöl lief und es über den ganzen Boden verteilte. Nach dem Motto ›Immer auf die Kleinen!‹ wurde ich ausersehen, die Schweinerei zu beseitigen. Ich brauchte eine gute halbe Stunde.
Vera lag im Dunkeln neben mir und sagte: »Irgendwie beneide ich Emma um diese riesige Familie. Ich habe so etwas nicht. Hast du so etwas?«
»Nein. Aber du darfst nicht vergessen, dass diese riesige Familie mehr als drei Viertel ihrer Mitglieder verloren hat. Sie haben furchtbar dafür bezahlen müssen, Juden zu sein. Emma hat einmal gesagt, dass sie bestimmte Jahre nicht erwähnen darf, das ist ein Tabu, ein Schatten, der niemals zu bestehen aufhört. Eine Medaille hat immer zwei Seiten. Geht es dir etwas besser?«
»Mir geht es immer besser, wenn ich lachen kann.« »Sehr schön «, sagte ich. »Kannst du bitte zu mir rutschen, damit ich zu Hause bin?«
Als Rodenstock vorsichtig meine Schulter berührte, war draußen heller Tag, aber es war erst fünf Uhr in der Früh. Er bedeutete mir aufzustehen und wartete im Wohnzimmer.
»Folgendes: Maria Breidenbach hat mich angerufen. Heiner ist seit gestern Mittag spurlos verschwunden. Wahrscheinlich mit seinem Fahrrad unterwegs. Sie hat mich unterrichtet, weil sie meint, die Mordkommission würde sie für verrückt halten, wenn sie ihren erwachsenen Sohn als vermisst meldet. Ich habe selbstverständlich gefragt, ob etwas Außergewöhnliches vorgefallen ist. Sie sagt, nein. Die kleine Julia hat angeblich auch keine Ahnung, wo ihr Bruder sein könnte. Was hältst du davon?«
»Erstens solltest du sofort Kischkewitz informieren. Und zweitens sollten wir sicherheitshalber das tun, was du längst beschlossen hast: in den Kerpener Steinbruch fahren.«
»Gut«, nickte er. »Aber wir wecken die Frauen nicht. Emma braucht ihren Schlaf.«
Wir fuhren ein paar Minuten später, schwiegen uns an und waren voll von der beängstigenden Erwartung, Heiner Breidenbach zu finden.
Diesmal nahm ich einen anderen Weg als sonst und kann noch heute nicht sagen, warum ich das tat. Ich fuhr an der Südseite der alten Strumpffabrik einen ausgefahrenen Feldweg zwischen Wald und Wiesen hoch und hielt vor dem schmalen, schluchtartigen Eingang zur untersten Sohle des Steinbruchs an.
»Was glaubst du, wo ist er, wenn er hier ist?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Wir sollten leise sein. Vielleicht haut er ab, wenn er uns hört.«
Vor uns flogen zwei Eichelhäher um eine lang geschossene Weide herum und balgten sich. Rote Wegschnecken hatten ihre silberne Spur gezogen, das Summen der Erdwespen wirkte laut und aufdringlich, ein Kohlweißling taumelte um die lilafarbene Blüte einer Ackerwitwenblume, kurzstielige rosafarbige Malven standen im Kalkrasen, dazu Glockenblumen von zartem Blau. Ich fragte mich, ob dieser Platz jemals wieder so unschuldig wie vor Breidenbachs Tod sein konnte. Wahrscheinlich nicht, denn jeder Tod wirft einen langen Schatten.
Wir gingen langsam den geschwungenen Weg hinauf zur zweiten Sohle, doch Heiner Breidenbach fanden wir nicht und nirgendwo stand sein Fahrrad.
»Ein Bilderbuchmorgen«, murmelte Rodenstock. »Wo könnte Heiner sonst sein?«
»Keine Ahnung. Wir sind bisher nicht tief in ihn hineingekrochen. Bis jetzt wissen wir nur, dass er gelitten hat wie ein Tier.«
Er nickte. »Diese Kinder schienen die Leidtragenden einer großen Affäre zu sein, jetzt sind sie plötzlich mögliche Täter.« Er schnaufte unwillig.
Wir blieben vor der Schautafel stehen, die die Eifel-Touristik hier aufgestellt hatte, um den Wanderer zu belehren, dass hier die Uferriffe des Urmeeres verlaufen waren, in der schräg liegenden Schichtung unterhalb der Steilwand wunderbar zu sehen, dreihundert Millionen Jahre her.
»Was kam danach?«, fragte Rodenstock und deutete auf die Tafel.
»Die Wüste«, sagte ich. »Als das Meer sich zurückzog, das Wasser verschwand, herrschten hier extrem trockene und heiße Bedingungen. Die ganze Eifel war eine lebensferne, wilde rote Wüste. Später gerieten diese roten Sandmassen unter den Druck der wilden Bewegungen der Erdkruste und der Druck formte aus den Sanden den Sandstein. Den Menschen gab es noch nicht, der Mensch tauchte erst viel später auf und viele Jahrtausende lang traute er sich nicht in diese Landschaft hinein. Hier herrschten Vulkane, hier war feuriges Land, es herrschte ständig Lebensgefahr.«
»Wir Menschen sind schon sehr bedeutungslos«, sinnierte er.
»Eigentlich nicht«, widersprach ich. »Wir schaffen es immerhin, den Planeten klimatisch aus dem Gleichgewicht zu bringen und wahrscheinlich am Ende zu zerstören. Wir sind schon richtig gut darin und wir werden immer besser.«
Wir machten uns wieder auf den Weg und spazierten langsam auf den Ausgang der ersten Sohle zu. Als wir auf den breiten Feldstreifen zwischen den Waldungen hinaustraten, sahen wir ihn.
Heiner ging als dunkle Silhouette über unseren Horizont, ungefähr vierhundert Meter von uns entfernt. Sein Mountainbike schob er neben sich her, bewegte sich beschwingt und leicht und schlug im rechten Winkel die Richtung auf uns zu ein.
»Er war bei der Wildschweinsuhle«, sagte ich leise. »Lass uns verschwinden, er sieht so aus, als sehe er sich alles noch mal an.«
»Ich bin so froh, dass er lebt«, seufzte Rodenstock. »Ich hatte ein trübes Gefühl.«
Wir gingen ein wenig zurück und blieben versteckt zwischen jungen Hainbuchen stehen.
»Sollen wir ihn ansprechen?«
»Aber ja«, sagte ich. »Möglich, dass er nicht mit uns reden will, aber er ist ja ein höflicher Mensch.«
Heiner Breidenbach hatte nach meiner Einschätzung bis zu dem Punkt, an dem wir standen, noch etwa zweihundert Meter zurückzulegen. Aber wir sahen ihn nicht mehr und es waren inzwischen mehr als zehn Minuten vergangen.
»Wahrscheinlich ist er doch nach Westen abgebogen. Dort sind bessere Straßen. Ich rufe die Mutter an, damit sie schon mal beruhigt ist.« Ich wählte die Breidenbach'sche Nummer und Maria Breidenbach hob sofort ab. »Baumeister«, sagte ich. »Heiner ist beim Steinbruch. Es ist alles okay.«
»Wie gut«, stöhnte sie erleichtert. »Danke schön.«
»Na gut«, murmelte Rodenstock. »Dann lass uns heimfahren und frühstücken. Ich habe Lust auf Würstchen und Rührei mit Schinken und derartig luxuriöses Gedöns.«
Wir schlenderten durch den Steinbruch zurück und ich stopfte mir die klobige Vario von Danske Club. Als ich sie anzündete, sah ich ihn oben auf der Steilwand stehen. Die Pfeife fiel mir aus der Hand.
»Hallo, Heiner!«, rief ich laut. »Ihre Mutter hat sich Sorgen gemacht. Wollen Sie sie anrufen? Ich habe ein Handy hier. Das wäre gut.«
Er stand vollkommen bewegungslos und gab nicht zu erkennen, ob er mich gehört hatte, ob er uns sah.
»Heh, Heiner!« Rodenstock war meinem Blick gefolgt. »Gut, dass wir Sie treffen. Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«
»Sollen wir heraufkommen?«, fragte ich. »Kein Problem.«
Er neigte den Kopf. Jetzt sah er uns.
»Ach, Sie!«, sagte er. Dann hob er den Kopf und starrte wieder geradeaus. Er wirkte wie eine Puppe, immer noch fast bewegungslos.
»Ja, wir«, nickte Rodenstock.
»Die Welt ist so laut«, sagte Heiner seltsam fern.
»Wir können reden«, drängte Rodenstock.
»Nicht mehr reden«, kam es tonlos. »Nicht mehr reden.«
»Oder Sie fahren nach Hause und wir treffen uns dort«, schlug Rodenstock unsinnigerweise vor. Er versuchte verzweifelt, etwas aufzuhalten, was wohl nicht aufzuhalten war.
Plötzlich verschwand Heiner von der Kante der Steilwand.
»Scheiße!«, fluchte Rodenstock heftig.
Da erschien er wieder, trug sein Mountainbike vor sich her. Ohne Vorwarnung warf er es zu uns herunter, es schepperte schwer, als es aufschlug und noch ein paarmal auf und ab tanzte.
Dann sprang er.
Neben mir schrie Rodenstock: »Nein!«
Heiner sprang nicht einfach, er hechtete sich regelrecht in die Tiefe. Er drehte sich kaum, kam kopfüber unten an, verschwand mit einem scheußlichen Klatsch hinter einem Felsbrocken. Dann war es totenstill.
»Warum habe ich ihn nicht angeschossen?«, fragte Rodenstock verzweifelt.
»Weil du gar keine Waffe bei dir hast. Du hast nie eine bei dir. Flipp jetzt nicht aus. Lass uns nach ihm sehen.«
»Ich nicht«, sagte er schwer atmend. »Ich kann nicht.«
Ich balancierte über die großen Brocken. Heiner war tot, seine Augen weit offen, sein Schädel deformiert. Er wirkte rührend wie ein hilfloses Kind. Und genau das war er zuletzt wohl auch gewesen.
Ich ging zu Rodenstock zurück. »Er ist tot. Ruf die Mordkommission.«
»Warum?«, fragte er.
»Wir hätten ihn nicht stoppen können«, erklärte ich. »Das weißt du. Komm zurück in die Welt, Rodenstock. Ich brauche dich, Emma braucht dich, Vera braucht dich. Werd nicht elegisch.«
Er atmete pfeifend ein und aus. »Wir haben Fehler gemacht.«
»Natürlich haben wir Fehler gemacht.« Ich versuchte zittrig, die Pfeife anzuzünden, ließ es dann sein.
Rodenstock schwankte und setzte sich auf einen Felsblock. »Ich kann Kischkewitz nicht anrufen. Mach du das.«
»Das solltest aber du machen«, beharrte ich. »Du bist im Job!«
Er nickte und nahm sein Handy. Er sagte schwammig: »Kischkewitz bitte.« Dann hörte er kurz zu. »Er ist in einer Konferenz?«, schrie er. »Verdammte Scheiße, dann holen Sie ihn da raus! Sitzen Sie auf Ihrem Hirn?«
Es dauerte eine Weile, bis er matt berichtete: »Rodenstock hier. Der junge Breidenbach hat sich im Steinbruch von dem Felsen gestürzt. Eben, vor ein oder zwei Minuten. Er war nicht aufzuhalten, wir konnten nichts tun. Und jetzt hole zu ihrem Schutz sofort die Mutter und Julia. Sonst läuft alles vollkommen aus dem Ruder. Und schick Leute her. Wir bleiben so lange hier.« Er hörte wieder zu, bis er fortfuhr: »Du weißt doch, wie das ist. Er hat sich vor meinen Augen getötet. Das ist furchtbar, sage ich dir, einfach furchtbar. Ich bin zu alt für so eine Scheiße.«
Wir entfernten uns dreihundert bis vierhundert Meter von der Unglücksstelle und hockten uns auf einen Wiesenweg. Rodenstock qualmte eine seiner dicken Zigarren, ich nuckelte an meiner Pfeife. Wir sprachen kein Wort. Eine Stunde später schössen die Kripoleute in einem irrwitzigen Tempo die Asphaltbahn zwischen den Feldern hoch, als gelte es, Leben zu retten.
»Na denn«, murmelte Rodenstock hohl.
Eine weitere Stunde später kam der Leichenwagen, um Heiner Breidenbach abzuholen. Die Protokolle waren diktiert, wir fühlten uns erschöpft und leer, rollten nach Hause und setzten uns in den Garten, um umherzustarren und den Frauen sehr zögerlich zu berichten, was geschehen war.
Als Vera bei dem Versuch, mich zu trösten, sagte: »Das hätte er sowieso getan«, brüllte ich sie an: »Das hilft nicht, verdammt noch mal, das hilft nicht!«