NEUNTES KAPITEL

»Was ist, wenn ihn das zu sehr aufregt?«, flüsterte der Polizist neben mir.

»Er weint und das schafft Erleichterung«, sagte ich.

»Das ist auch wieder richtig«, nickte er. »Wir können ja im Zweifelsfall die Schwester rufen.«

»So ist es.« Ich starrte auf das zuckende Bündel, das einmal der große Franz Lamm gewesen war.

»Was war denn eigentlich los?«, fragte ich. »Wieso wolltest du dich aus der Welt blasen?« Ich trat neben sein Bett und sah auf ihn herunter.

Der Polizist stellte sich auf die andere Seite und wirkte besorgt.

Lamm stammelte: »Das wollte ich wirklich. Ich habe doch nichts begriffen, ich habe anderthalb Jahre nichts begriffen.« In diesen Sekunden wirkte er uralt.

»Was ist passiert, Franz?«, fragte nun auch der Polizist. »Du kannst es ruhig erzählen, du weißt doch, wer ich bin.« Etwas linkisch setzte er hinzu: »Irgendwann musst du mal reden, Franz.«

Eine Sekunde gab Lamm sich Ruhe und sah den Polizisten an. »Karl«, sagte er dann. Er griff nach mir und bekam die linke Seite des Bademantels zu fassen. »Baumeister, ich war ein Arschloch.«

»Nun mal langsam«, sagte ich wütend und griff seine Hand. »So schnell wirst du kein neues Arschloch. Du musst erst mal das alte abschaffen, und das dauert. Erzähl.«

»Der Still«, schluchzte er, »der Still. Er macht alles kaputt.«

Ich fürchtete, dass er sich in Wortfetzen verlieren würde, und das wollte ich nicht dulden. Ich musste ihn treiben. Das war gut für ihn und das war gut für mich.

»Es ging mit Breidenbach los, nicht wahr?«

Lamm nickte. »Ja, so fing das an, damals im Mai. Es war ein Hickhack, Breidenbach wusste nicht, was er wollte. Plötzlich signalisierte er, er würde die Eifel gern verlassen, für immer. Aber wir müssten ihm dabei helfen. Finanziell helfen. Wir fragten: Was kostet das? Und er antwortete: Achthunderttausend, keine Verhandlung. Still schlug vor: jeder vierhunderttausend, weil das billiger ist als eine Armee von Rechtsanwälten. Germaine meinte auch, das wäre ein Schnäppchen.«

»Wer ist denn Germaine?«, fragte der Polizist.

»Ach, Germaine«, seufzte Lamm. »Ich könnte ein Buch darüber schreiben.«

»Du sollst kein Buch schreiben, du sollst erklären, wer Germaine ist. Sonst kapieren wir die Geschichte nicht.«

»Germaine? Wer ist Germaine?« Er schloss die Augen. »Ein Traum.«

Für einen Kaufmann aus der Eifel war das eine seltene Beschreibung.

»Eine schöne Frau?«, fragte der Polizist eifrig.

»An dich herangespielt?«, ergänzte ich. Dann grinste ich den Polizisten an, er war wirklich gut.

Lamm hielt die Augen geschlossen. »Kann man so sagen«, nickte er mühsam. »Sie ist eine von Stills Frauen oder jedenfalls lebt sie ... also, sie ist ... er brachte sie zum Golfen mit. Klein, zierlich, ungefähr dreißig. Angeblich Französin, aber das ist egal. Still sagte, sie wäre eine Katze, ich könnte sie haben.«

Für ein paar Minuten war es ruhig. An der Wand hing ein Kunstdruck, irgendeine Uhr tickte.

»Du bist ja ein noch größeres Arschloch, als ich geglaubt habe! Sie stellte also dein Leben auf den Kopf«, sagte ich.

»Das kannst du ruhig zugeben«, bemerkte der Polizist gutmütig. Er setzte hinzu: »Wir sind ja unter uns.« Damit log er nicht einmal, denn er würde schweigen.

»Sie war ... Du musst dir das so vorstellen, dass du plötzlich wieder anfängst zu leben. Plötzlich machte alles wieder Spaß, plötzlich machte sogar der Betrieb wieder Spaß. Sie war wie ein Kind und sie sagte, sie gehöre mir. Sie machte freiwillig, wovon ich immer geträumt habe. Still schlug vor, ich solle ihr eine Wohnung mieten. Das tat ich. In Cochem, an der Mosel, ich trinke gern Wein.« Lamm schüttelte den Kopf über sich selbst, das Aufwachen war so schwer. »Eines Tages habe ich Schwanitz bei ihr getroffen. Der wurde pampig. Er sagte, sie sei sowieso eine Nutte und wieso ich mich so anstellen würde. Da war ich zum ersten Mal am Ende. Das ... das ist erst ein paar Wochen her.«

»Franz«, mahnte ich, »du musst schon entschuldigen, aber wir müssen wieder auf das Geld zurückkommen. Achthunderttausend hat Breidenbach gesagt. Wie hat er die bekommen und von wem? Ich kann nachfühlen, dass Germaine wehtut, aber das ist jetzt nicht so wichtig. Wie ist das mit dem Geld gelaufen?«

»Ja ...«, murmelte er nachdenklich. »Also, Breidenbach hat die achthunderttausend gekriegt. Bar, zwei kleine Taschen voll. Ich bin ein anderer Typ als Still, ich bin eher konservativ. Ich habe vierhunderttausend nicht einfach so irgendwo rumliegen. Still hat das. Ich sagte, ich brauche eine Weile, ehe ich vierhunderttausend zusammenhabe. Er sagte: Lass den Quatsch, ich zahle die achthundert Riesen und du gibst mir das Geld, wenn du es hast.« Lamm seufzte tief und sprach mit trockener, rauer Stimme weiter. Nun hatte er die Weinerlichkeit überwunden. »Ich war wie vernagelt. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was da abging. Breidenbach bekam also die achthundert Riesen. Aber Still sagte schon damals: Breidenbach wird mir das Geld sowieso zurückgeben müssen. Wir haben gelacht, aber ich habe nicht begriffen, wie das laufen sollte. Dann flog Breidenbach in den Urlaub, nach Kreta, und Abi Schwanitz hinterher. Er kam ohne Geld zurück und meinte, Breidenbach müsse das Geld hier irgendwo in der Eifel versteckt haben. Jedenfalls war es weg.«

Der Polizist fragte: »Was war mit dieser Germaine?«

»Wir haben uns wieder vertragen. Sie sagte, sie ... sie liebt mich und will bei mir bleiben. Das Leben erschien mir wie eine rosa Wolke. Dann musste ich die Glaubrechts bezahlen, ich wollte nicht riskieren, dass es tatsächlich zur Anklage kam. Aber Glaubrechts wollten zweihunderttausend, keine Mark drunter. Ich verkaufte ein Haus. Und weil es ... na ja, es musste schnell gehen, daher konnte ich es nur unter Wert verkaufen.«

»Still kaufte dein Haus, nicht wahr?«, dachte ich laut mit.

Ich begann zu begreifen, was diesem Mann widerfahren war.

»Ja, natürlich, Still kaufte es. Und dann geschah die Sache im Hunsrück. Da gab es einen Konkurrenten, der keine Erben hatte. Der bot mir seinen Laden an. Guter, solider Betrieb. Aber ich brauchte schon wieder Geld. Dreihunderttausend. Still gab mir das Geld, so wie man der Bedienung ein Trinkgeld gibt. Er sagte wieder: Gib es mir zurück, wenn du es hast.«

»Und jetzt schuldest du ihm bald eine Million Mark, richtig?« Ich hielt seine Hand ganz fest. »Wann hat er dich in die Zange genommen?«

»Gestern Abend. Er kam vorbei und wollte sein Geld. Ich habe es nicht, sagte ich. Du musst mir Zeit geben. Das geht nicht, sagte er, ich brauche es jetzt. Na ja, es ging eine Weile so hin und her. Und plötzlich sagt er: Franz, ich kauf mich mit dem Geld bei dir ein. Uberschreib mir die Anteile an deinem Betrieb.« Lamm verlor die Stimme und schluchzte wieder, er warf den Kopf hin und her, als würde er ernsthaft damit rechnen, im Boden zu versinken.

»Heilige Scheiße«, flüsterte der Polizist. »Der ist fertig.«

»Kann man sagen. Aber Lamm ist ein Riesenarschloch. Und am Ende zahlen auch Arschlöcher die Rechnung«, nickte ich. »Franz, wie ging es weiter?«

Er schnauzte sich wütend und laut in ein weißes Taschentuch. »Gar nicht«, antwortete er kühl. »Plötzlich war mir klar, was Still die ganze Zeit gewollt hatte. Meinen Betrieb. Einen soliden Betrieb mit soliden Gewinnen. Er wollte nie was anderes. Von Anfang an. Das ist seine Masche, so macht er Geld mit Geld.«

»Hast du ihn rausgeschmissen?«, fragte ich.

»Musste ich nicht. Er lachte mich aus, sagte knallhart: Ich schicke dir meine Anwälte! Das war es dann.«

»Hast du jemals eine Schuldanerkenntnis unterschrieben, einen Schuldschein, irgendwas?«

»Nein!«

»Dann kommst du doch da wieder raus!«, sagte ich.

»Wie denn?«, fragte er verblüfft.

»Mithilfe der Mordkommission«, erklärte ich. Ich war mir nicht sicher, aber ich sah, was die Hoffnung mit ihm machte. Seine Augen bekamen wieder Glanz.

»Ja!«, rief der Polizist erleichtert. »Klar, kein Schuldschein, kein Geld, keine Schuld. Verstehst du das denn nicht?«

»Nein«, sagte Lamm etwas düpiert.

»Wo ist deine Frau?«, fragte ich.

»Irgendwo im Hessischen. Bei einer Freundin. Mit der hatte ich Zoff, die hat was gerochen.«

»Die muss herkommen«, sagte ich. »Sofort.«

»Nicht doch«, wehrte er sich. »Ich bin froh, dass die nicht zu Hause ist.«

»Franz«, drängte der Polizist, »der Mann hat Recht. Ach Gott, mit dir ist im Moment ja nicht zu reden. Ruf sie einfach an.«

»Franz, du musst jetzt aufräumen, du sagst aus. Einverstanden?« Ich wollte ihm keine Zeit zum Nachdenken geben. »Weißt du, wer Breidenbach getötet hat?«

Er sah mich an, als tauche er aus einem Albtraum auf. »Breidenbach. Ich weiß nicht, ich denke, Schwanitz und seine Truppe. Oder diese Einsatzgruppe aus Frankfurt, von der Still immer redet. ›Legionäre‹ nennt er sie. Wer ... Still hat getobt.« Unvermittelt kicherte er. »Da kassierte Breidenbach für sein Schweigen achthunderttausend. Und weil die ganze Sache trotzdem aufgeflogen ist, wollte Still das Geld zurückhaben und war sich sogar sicher, dass er es kriegt. Doch dann war Breidenbach der Bessere. Er hat den Zaster verschwinden lassen. Still hat getobt. Ich dachte, der kriegt einen Schlaganfall.«

»Was weißt du über Holger Schweds Tod?«

»Na ja, oben am Sprudel haben sie über die Geschichte geredet. Sie haben sich amüsiert und gesagt, sie hätten ihn auf die Zwölf getroffen, genau auf die Zwölf.«

»Wer hat das gesagt?«

»Ich weiß nicht mehr. Schwanitz war es jedenfalls nicht. Ein anderer aus seiner Truppe.«

»Und was ist mit Karl-Heinz Messerich?«

»Was soll mit dem sein?«, fragte er zurück.

»Auch tot, ermordet. Im Steinbruch, wo auch Breidenbach umkam.«

»Der hat auch manchmal bei mir im Betrieb ausgeholfen. Aber die Arbeit hatte er nicht erfunden. Ermordet? Wieso denn das?«

»Möglicherweise hat er Breidenbach erpresst«, überlegte ich.

»Dann hat Breidenbach erst Messerich getötet und ist dann selbst ermordet worden? Das glaubt doch kein Mensch!«

»Sicher ist jedenfalls inzwischen, dass Messerich an dem Abend im Steinbruch war, genauso wie Abi Schwanitz. Dann war noch jemand dort, mit dem Breidenbach sexuellen Kontakt hatte. Franz, hast du jemals davon gehört, dass Breidenbach eine Geliebte hatte oder aber eine Frau kannte, mit der er möglicherweise intim war, wie man das so schön nennt?«

»Es hieß immer, er hätte was mit seiner Sekretärin. Aber ich weiß nicht einmal, von wem ich das habe. Ich habe immer noch nicht verstanden, was das mit meiner Frau soll. Warum soll die herkommen?«

»Weil du da draußen einen Vertreter brauchst, weil es für dich jetzt gegen Still gehen muss. Weil jemand mit den Anwälten reden muss. Und weil, verdammt noch mal, diese blöde Geschichte mit Germaine vom Tisch muss.« Ich spürte, dass ich wütend wurde.

»Germaine ist doch weg. Längst wieder in Frankfurt. O Gott, was habe ich mir da angetan? Ich bin hingefahren. Vor ein paar Tagen war ich da.« Er hatte keine Tränen mehr.

»Und?«, fragte der Polizist unnachgiebig.

»Das war ein Haus, draußen auf den Taunus zu. Ein Puff. Und Germaine war der Star. Du konntest sie kaufen. Tausend pro Stunde, dreitausend pro Nacht.«

»Hast du mit ihr gesprochen?«, wollte ich wissen.

Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, konnte ich nicht, wollte ich nicht. Im Empfangsraum lagen Mappen mit Fotos der Frauen drin. Bei Germaine stand etwas von einer echten Französin, die es dir echt und französisch macht. Nur so ein Scheiß.«

Ich wandte mich an den Polizisten: »Würdest du die Mordkommission benachrichtigen? Wende dich direkt an Kischkewitz. Er muss Leute herschicken. Das hier muss zu Protokoll.«

»Mache ich.« Er verließ das Zimmer.

»Glaubst du wirklich, ich komme da raus?«, fragte Lamm.

»Ja. Nicht ohne Narben, aber du kommst raus. Du musst nur deine Aussage machen. Nichts verschweigen. Es wird dir dann auch besser gehen. Du wirst deinen Betrieb sicher nicht verlieren.«

»Der Betrieb«, sagte er nachdenklich. »Ich bin stolz darauf. Mein Vater hat damit angefangen, Fenster und Türen zu machen. Aus Holz. Ich habe den Betrieb übernommen. Der darf einfach nicht kaputtgehen.«

»Erzählst du mir, wie das Vinyl ins Trinkwasser gelangen konnte?«

Er nickte, schloss die Augen. »Das passierte an einem Wochenende. Im Betrieb war nur ein Lehrling. Der sollte eine Halle aufräumen. Dabei kippte ihm ein Großbehälter um, weil er mit dem Hublader nicht sauber fahren konnte. Das Schlimmste war, der Kerl hat nichts gesagt. Aus Angst, ich würde ihn anscheißen oder rausschmeißen.« Er grinste schräg, sagte nichts mehr.

»Ich muss jetzt gehen.«

»Wieso bist du eigentlich hier?«

»Schwanitz hat mich vertrimmt. Dein Exfreund Still ist eine richtig miese Existenz. Mach es gut, Lamm, und denk dran, dass du noch gebraucht wirst.«

Ich ging in mein Zimmer zurück und legte mich auf das Bett. Ich starrte gegen die Decke und dachte, dass wir schon eine Menge erfahren hatten, Kreuz- und Querverbindungen kannten. Aber dann wurde mir klar, dass wir dem Mörder immer noch keinen Schritt näher gekommen waren.

Irgendwann schlief ich ein, wurde aber schnell wieder mit einem jähen Schrecken wach, weil ich geträumt hatte, ich würde in einem Range Rover auf den Steilabfall im Kerpener Steinbruch zurasen, die Bremsen versagten und ich schoss in den Abgrund, haltlos in den Tod.

Ich zog mir einen Sessel ans Fenster und starrte hinaus in das Tal Richtung Weidenbach und Manderscheid.

Ein fröhliches »Guten Morgen, der Herr!« weckte mich. Eine junge Frau stellte mein Frühstück neben das Bett: zwei Esslöffel Griesbrei.

Ich rasierte mich. Das Gesicht tat fast gar nicht mehr weh, dafür erzählte ein jeder meiner Knochen etwas von der Nacht im Sessel. Anschließend stopfte ich mir eine Pfeife und ging hinaus, um eine Stelle zu suchen, wo ich rauchen konnte. Unten im Empfang war das scheinbar erlaubt, denn dort saß eine Horde unrasierter, unausgeschlafener Männer, die an ihren Zigaretten saugten, als sei das ein Allheilmittel.

Unvermittelt schoss Kischkewitz wie eine Kugel in die Halle, sprach hastig zu der Dame am Empfang und zog samt zwei Kollegen weiter. Dann bemerkte er mich, grinste und steuerte auf mich zu.

»Baumeister, Held meiner Träume, wie geht es dir? Du siehst aus wie der arme Lazarus, richtig schön.«

»Willst du zu Lamm?«

»Klar. Wie geht es ihm?«

»Gut, denke ich. Er ist wütend. Wie steht es mit einem Mörder?«

Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Kannst du dir doch denken: beschissen. Aber wenigstens sind jetzt auch die Kollegen der Zollfahndung, der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsvergehen in Koblenz und der Steuerfahndung Trier beschäftigt. Grüße deine Familie. Und vielen Dank, der Staat wird dir einen Orden verleihen.«

»Ich brauche Informationen von dir, wenn ich schreibe.«

»Dann werde ich da sein.« Er nickte und entschwand mit wehendem Mantel.

Um neun Uhr hatte ich eine Unterredung mit meinem Oberarzt, dem ich klar machte, dass ich unmöglich länger in diesem gastlichen Haus logieren konnte.

»Es ist aber riskant«, warnte er mich. »Ich würde Sie gern noch ein paar Tage hier behalten.«

»Das geht nicht«, widersprach ich.

»Nun gut, aber ich gebe Ihnen Tabletten mit, die Sie unbedingt regelmäßig einnehmen müssen.«

»Einverstanden«, nickte ich und bedankte mich für die Hilfe.

Gegen zehn Uhr stand ich in Unterhosen in meinem Zimmer, als es zaghaft klopfte. »Hereinspaziert.«

Es war Albert Schwanitz. Vor dem Bauch trug er einen großen Blumenstrauß: blaue Iris und lachsfarbene Gerbera. Er lächelte, soweit die Grimasse ein Lächeln genannt werden konnte. Mit Freude registrierte ich, dass irgendein Heilkundiger seine rechte Hand in einen bombastischen Verband gewickelt hatte.

»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, stellte ich trocken fest. »Ich bin dabei zu gehen, du kannst dir die Blumen sparen.«

Er sagte nichts, blieb in der Tür stehen.

Ich stieg in meine Jeans. »Du kannst dir etwas Gnade verdienen. Sag mir, was in jener Nacht im Steinbruch wirklich geschah. Dass einer deiner Kumpane den armen Holger Schwed umgenietet hat, weiß ich verbindlich. Auf die Zwölf habt ihr ihn getroffen. Was seid ihr für Arschlöcher!«

Ich wünschte: Hoffentlich stürmt er gegen mich vor, hoffentlich richtet er hier ein Chaos an. Hoffentlich verwüstet er das Zimmer so, dass das ganze Krankenhaus zusammenläuft.

Aber er sagte immer noch nichts, bewegte sich nicht, stand einfach da mit der Gärtnerei in den Händen.

»Bist du stumm geworden? Setz dich wenigstens und schließ die Tür. Und noch etwas zu deiner Information: Der Chef der Mordkommission sucht dich. Er ist hier im Krankenhaus.«

»Das weiß ich«, sagte er endlich rau. »Ich geh gleich zu ihm.«

»Willst du den Zeugen der Anklage spielen?«

»Kommt drauf an.«

»Auf was?«

»Na ja, ob ich einen Deal machen kann.« Das erzählte er so, als handle es sich bei der Oberstaatsanwaltschaft um einen Kramladen, was viele Kenner allerdings tatsächlich behaupten.

Er setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl. »Ich wollte fragen, wie es dir geht.«

»Besser. Gib die Blumen her. Du schwitzt an den Händen, davon gehen sie kaputt.« Ich ließ Wasser in das Waschbecken laufen. Bei Blumen bin ich immer pingelig. »Du warst es, du hast Breidenbach erschlagen, nicht wahr?«

»Nein«, widersprach er ruhig und mit starrem Gesicht. »Habe ich nicht. Ich war gar nicht unten bei ihm.«

»Nur oben auf der Felsnase?«

»Ja!«, nickte er.

»Pass auf, Abi. ich habe keine Zeit für irgendwelche Mätzchen, ich will nach Hause. Wir wissen, dass Breidenbach von ungefähr siebzehn Uhr bis zwei Uhr morgens im Steinbruch war. Dann starb er. Das sind neun Stunden. Viel Zeit also. Wann bist du dort gewesen und wann bist du wieder gegangen?«

»Ich war so gegen acht Uhr abends da. Ich wusste, dass Messerich kommen würde, und wir wollten wissen, was sie miteinander sprachen.«

»Woher hast du gewusst, dass Messerich kommen würde?«

Er sah mich an, als sei mein Verstand nicht ganz in Ordnung. »Na, ich habe ihn doch dahin geschickt.«

»Warum ist er nicht nach Kreta geflogen, wie geplant?«

»Weil ich ihm davon abgeraten habe. Er sollte für mich zu Breidenbach gehen. Ich hatte für ihn für Samstag einen Flug nach Kreta gebucht. Von Frankfurt aus.«

»Also gut, er sollte zu Breidenbach in den Steinbruch. Wann kam er dort an?«

»Auch um acht Uhr. Das war so abgesprochen.«

»Und? War schon jemand anderes da, außer Breidenbach?«

»Ja, Holger Schwed.«

»Moment. Hast du an dem Abend auch Maria Breidenbach gesehen?«

Er war irritiert. »Nein. Wieso? War die auch da?«

»Wenn ich es wissen würde, würde ich nicht fragen. Holger Schwed muss den Steinbruch lebend verlassen haben. Wann war das ?«

»Um zehn Uhr.«

»Und bis dahin hockten die zu dritt in dem Zelt?«

»Korrekt.«

»Warum genau warst du eigentlich da? Was sollte Messerich für dich tun?«

»Er sollte versuchen herauszubekommen, was Breidenbach mit dem Geld gemacht hatte. Still, mein Chef, wollte es wiederhaben. Wir suchten das Geld.«

»Deswegen warst du vorher schon auf Kreta?«

»Richtig. Aber da ist es nicht.«

»Erst zahlt ihr ihm das Geld, dann wollt ihr es wiederhaben. Ist das nicht irgendwie verrückt?«

»Na ja, eigentlich schon. Aber Breidenbach hatte für etwas kassiert, das nun trotzdem rauskam. Wir sind davon ausgegangen, dass Breidenbach mit dem Geld sofort von der Bildfläche verschwinden würde. Aber das Arschloch wusste mal wieder nicht, was er eigentlich wollte. Und stückweise und gerüchteweise sickerte dann alles durch. Und deshalb wollte Still das Geld wiederhaben.«

Ich nickte. »Weiter. Über was haben sie gesprochen?«

»Über die Zukunft. Also Breidenbachs Zukunft. Er wollte mit Holger Schwed zusammen auf Kreta leben. Messerich sollte ihm ein Haus bauen, oder zumindest dabei helfen. Aber Schwed war dagegen. Er beschimpfte Messerich. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Schwed und Messerich um Breidenbach kämpften. Jedenfalls hat Schwed gegen zehn Uhr das Zelt verlassen, sich auf sein Fahrrad gesetzt und ist abgehauen.«

»Wer hat jetzt die Bandaufnahme?«

»Mein Chef.«

»Und über das Geld ist nicht geredet worden?«

»Kein Wort.«

»Und dann hast du die Lawine ausgelöst? Um wie viel Uhr war das ?«

»So um elf Uhr. Das sagte ich doch schon.«

»Richtig, das sagtest du. Und um elf Uhr war Messerich noch bei Breidenbach im Zelt?«

»Korrekt.«

»Und warum bist du abgehauen?«

Er grinste schief. »Na, wegen des Krachs. Was glaubst du, was das Gestein für einen Lärm machte, als das runterdonnerte. Das muss man noch in Kerpen gehört haben. Mir war das zu riskant, ich habe die Fliege gemacht.«

»Du bist nicht runtergegangen zum Zelt, um nachzugucken, ob denen was passiert ist?«

»Nein.«

»Wer hat Holger Schwed auf dem Gewissen?«

»Einer aus meiner Truppe. Aber das war keine Absicht. Er ist von der Kupplung abgerutscht. Sagt er jedenfalls. Das ist der gewesen, den deine Frau verprügelt hat. Steirich. Ich schwöre dir, er hatte keinen Auftrag.«

»Das Ergebnis war also: Ihr habt vollkommen umsonst achthunderttausend Mäuse gezahlt. An Breidenbach, der jetzt tot ist und das Geld irgendwo versteckt hat. Stimmt das?«

»Nicht ganz. Es war eine Million.«

»Wie denn das?«

»Breidenbach hat zweihunderttausend nachverlangt. Für Holger Schwed, damit der auch den Mund hält. Und er hat sie gekriegt.«

»Hat Maria Breidenbach von der Sache gewusst?«

»Ich glaube, zuerst nicht. Aber sie war kürzlich bei Still. Und der hat ihr gesagt, wenn sie das Geld findet und zurückgibt, darf sie zwanzig Prozent davon behalten. Wenn sie es findet und nicht zurückgibt, würde sie ihres Lebens nicht mehr froh.«

»Vielleicht hat sie es gefunden und keiner bekommt es mit.«

»Da kann man dann nichts machen«, nickte Abi düster.

»Wo ist Still im Moment?«

»Der ist weg. Nachdem das mit Lamm gestern schief gegangen ist, ist er abgehauen. Er haut immer ab, wenn es heiß wird.«

»Weißt du, wohin?«

»Er hat eine Menge Freunde. Überall auf der Welt. Ich schätze, er ist zu den Philippinen. Bei den Aufständischen. Er hat sich da eingekauft, hat ihnen ein paar Waffen spendiert.«

»Warum bist du eigentlich hier? Weshalb erzählst du mir das alles?«

»Weil Schluss ist«, antwortete Abi. »Die Sache ist vorbei. Ich weiß, wann Schluss ist. Jetzt ist Schluss. Still hat sich nicht nur hier unbeliebt gemacht. Er hat auch noch einen bulgarischen Paten am Arsch. Den hat er gelinkt mit einer Lieferung Kokain. Es wird nicht lange dauern, dann ist Still eine Leiche, freikaufen kann er sich bei dem Bulgaren nicht. Bulgaren sind stur, denen geht es um die Ehre.«

»Schade eigentlich, ich hätte ihn gern kennen gelernt, meine Sammlung an hochkarätigen Idioten ist noch nicht komplett«, überlegte ich.

»Zeit zu gehen«, meinte Abi und stand auf.

Wir gaben uns nicht die Hand.

Ich rief zu Hause an und bat, mir ein Auto zu schicken.

Vera war fünfzehn Minuten später da und knutschte mich dermaßen heftig ab, dass ich Schmerzen im Gesicht hatte, als ich mich in mein Auto setzte.

»Rodenstock und Emma sind mit dem Architekten bei ihrem Haus in Heyroth. Und dann wollen sie noch irgendwohin fahren, Möbel bestellen. Nach Maß, natürlich. Man gönnt sich ja sonst nix. «

»Ist das nicht ein wenig früh?«

»Emma ist nicht zu stoppen. Was machen wir?«

»Wir fahren ins Landcafe nach Kerpen, essen Schmalzbrote und starren in die Gegend. Das ist das Intelligenteste, was du im Augenblick von mir verlangen kannst.«

»Gut«, sagte sie zufrieden. »Die Nächte ohne dich waren sehr lang.«

»Ich fühle ganz ähnlich, aber ich habe mich nicht getraut, das zu sagen.«

Wir fuhren also direkt nach Kerpen und erwischten einen Platz in der Sonne. Es gab Schmalzbrote, eine hervorragende Minestrone, Wein und Kaffee.

Nach einer Weile begann Vera vorsichtig: »Mein Vorgesetzter hat mich angerufen. Er will, dass ich wieder anfange zu arbeiten. Er sagt, er braucht mich und will sich dafür einsetzen, dass ich beruflich weiterkomme.«

»Das freut mich für dich.«

»Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich das will.«

»Du musst das ja nicht heute entscheiden«, sagte ich hilflos.

»Das ist richtig«, sie wirkte erleichtert.

»Lass uns heimfahren.«

»Sollen wir noch bei Emma und Rodenstock in Heyroth vorbeischauen?«

»Das machen wir.« Ich fühlte mich überfahren von der Vorstellung, dass Vera bald wieder in der Hauptsache abwesend sein könnte. Wusste nichts mehr zu sagen und hatte den Eindruck, eine Barriere baute sich zwischen uns auf. Hätte Vera in diesen Augenblicken mit mir schlafen wollen, hätte ich todsicher scheinbar fröhlich und unbeschwert trompetet: »Sicher, warum nicht« – so wie man einer Verkäuferin an der Fleischtheke zustimmt, wenn sie fragt, ob es hundert Gramm mehr sein dürfen.

Vera musterte mich lange und stellte dann gnadenlos fest: »Das sind so Augenblicke, in denen wir nichts miteinander anfangen können, nicht wahr?«

»Das scheint so«, nickte ich. »Lass uns zu Emma fahren, damit ich Neues über das rot karierte Bauernleinen erfahren kann.«

Die Dame des Hauses, der ich Bezahlung signalisiert hatte, erlöste uns.

Wir fuhren schweigend zu dem Häuschen am Waldrand und erlebten gerade noch, wie sich der Architekt in einen unverschämt schönen, feuerwehrroten Mercedes schwang, die alte Pagodenform, die niemals aus der Mode kommt.

Von dem alten Bauernhaus standen nur noch die Umfassungsmauern, aus Feldsteinen gefügt. Innen war es leer geräumt wie ein Körper, dem man nur die Haut gelassen hat. Emma stand mit einem Zeichenblock auf der rechten Giebelseite, an der Längsseite zum Wald rutschte Rodenstock auf den Knien herum und maß etwas aus. Beide waren vollkommen versunken in ihre jeweilige Arbeit.

»HÜ«, rief Vera gut gelaunt. »Warum baut ihr eigentlich nicht einen hölzernen Wintergarten auf die rechte Giebelseite? Ihr hättet viel mehr Raum und es würde luftiger wirken.«

Emma sah auf. »Hallo, ihr zwei. Baumeister! Dich zu sehen tut gut. Ich habe schon gehört, dass du sogar im Krankenhaus nach bösen Menschen suchst. An einen Wintergarten, meine Liebe, habe ich auch schon gedacht. Aber diese Seite weist nach Nordwesten, zu wenig Licht. Und dann hat mein Geliebter gesagt, dass es die Architektur zerschlägt. So schrecklich das ist, er hat Recht. Wir wollen ja nicht die postmoderne Türmchen- und Erkerarchitektur bereichern.«

Rodenstock umarmte mich. »Gut, dass du wieder da bist. Mir ist heute zum ersten Mal bewusst geworden, dass das Haus keinen Keller hat. Es ist auf blankem Fels gebaut worden. Und ich frage mich, ob wir jetzt einen Keller ausschachten oder die Versorgungseinheiten in einem kleinen Anbau unterbringen sollen.«

»Wenn du zusätzliche Dämmschichten und eine Fußbodenheizung einbaust, brauchst du keinen Keller«, sagte ich. »Wenn du mit einem zentralen Kachelofen heizen willst, solltest du die Hälfte des Hauses unterkellern. Das wird reichen.«

»Wir frieren leicht, wir sind sehr alte Leute«, meinte Emma.

»Dann müsst ihr unterkellern«, entschied ich.

»Wir wollten gleich noch in unsere alte Wohnung an der Mosel, Klamotten holen. Zu dem Möbelfritzen kommen wir heute nicht mehr. Ihr habt also euer Reich für euch ganz allein.«

»Das ist schön«, sagte Vera.

Emma hob den Kopf und lächelte.

»Wie wollen wir weiter verfahren?«, wurde Rodenstock geschäftsmäßig.

»Ich würde gern noch mal mit Maria Breidenbach sprechen. Möglicherweise hat sie eine Million in bar gefunden.«

»Wie schätzt du nach den jüngsten Erkenntnissen die Situation am Tatort ein?« Rodenstock betrachtete den Fußboden oder das, was vom Fußboden übrig geblieben war.

»Vermutlich gab es gegen elf Uhr in der Nacht einen Break an diesem Tatort. Abi ging, Holger Schwed war schon weg. Ob Maria Breidenbach sich schon in der Nähe aufhielt, wissen wir nicht. Wir wissen, dass etwas passierte, und anschließend war Messerich tot. Und seine Leiche wurde zur Suhle geschaffen. Aber: Wie gelang es dem Täter oder den Tätern, den toten Messerich in die Wildschweinsuhle zu verfrachten? Dort gibt es keine ausgebauten Feldwege, man muss quer durch einen Hochwaldstreifen und eine Schonung. Nach meiner Schätzung beträgt die Strecke mehr als einen halben Kilometer. Nachts bei strömendem Regen ist das verdammt weit. Und Messerich war schwer, weil tot. Es sei denn, er ist erst in der Suhle getötet worden und nicht im Steinbruch.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht!«, sagte Emma hell.

»Das bedeutet«, dozierte ich weiter, »dass Messerich in Begleitung eines zweiten Menschen zur Wildschweinsuhle marschiert ist. Warum sollte er das aber getan haben?«

»Weil der andere Messerich gegenüber vielleicht angedeutet hat, dass irgendwo dort die Million versteckt ist.« Emma geriet in Fahrt. »Messerich wusste von dem Geld. Also?«

»Gut, akzeptieren wir das so«, murmelte Rodenstock. »Breidenbach schafft es, Messerich in Richtung Wildschweinsuhle zu lotsen. Dort tötet er Messerich und kehrt dann zurück in den Steinbruch. Und dann gibt es eine neue Situation, denn eine andere Person muss kommen, die Breidenbach erschlägt.«

»Seine Frau«, sagte Emma ohne Fragezeichen.

»Wieso?«, fragte Vera kühl, als redeten wir über Rechenaufgaben.

»Das habe ich schon einmal angedeutet. Die Frau verliert alles. Die Kinder werden bald beide endgültig das Haus verlassen. Die Frau sieht sich also vielen Jahren relativer Einsamkeit gegenüber. Sie weiß, dass der Ehemann sich heimlich pensionieren lässt. Und sie weiß, er wird seine Pension nicht mit ihr verleben, sondern anderswo, mit anderen Menschen. Sie ist total ausgegrenzt, hat zwar einen Arbeitsplatz bei der Bank, der aber auch keine Herausforderung mehr bietet. Was hat sie also noch vom Leben? Sie hat einen langen, einsamen Weg ins Altenheim vor sich, nichts sonst.

Möglicherweise weiß sie, dass ihr Mann bestechlich ist. Möglicherweise hat sie das Geld tatsächlich gefunden. Aber: Was soll sie damit anfangen, wo alle ihre Träume zerbrochen sind? Und nun möchte ich eine Warnung aussprechen. Wir laufen nämlich Gefahr, Fehler zu machen.«

»Da bin ich aber gespannt«, murmelte Vera.

»Darfst du sein«, nickte Emma. »Abi Schwanitz will einen Schlussstrich unter die schreckliche Affäre ziehen. Weil die Ära Still für ihn vorbei ist. Nun muss man doch fragen: Hat der Mann einen Grund zu lügen. Hat er nicht!, scheint es auf den ersten Blick. Bei genauerem Hingucken sehe ich allerdings eine Menge Leute, die ihre Handlungen rechtfertigen müssen, weil sie Gerichtsverfahren zu erwarten haben. Abi Schwanitz behauptet, ein Kollege habe Holger Schwed totgefahren. Ein Kollege, nicht aber Abi Schwanitz selbst! Das klingt wie ein Eingeständnis, aber entspricht es der Wahrheit? Oder hat Schwanitz das nur ausgesagt, um sich selbst möglichst sauber darzustellen?« Sie sah ihren Rodenstock an. »Habe ich Recht?«

»Du hast Recht«, nickte er. »Mach nur weiter.«

Sie fuhr fort: »Ein weiterer Punkt verunsichert mich, und damit komme ich zur Begründung meines Verdachtes: Nach Aussage der fast hundert Jahre alten Klara hat Maria Breidenbach in der Nacht, in der Breidenbach getötet wurde, unweit des Klara-Hauses geparkt, dort eine Stunde lang gestanden, dann gewendet und ist wieder verschwunden. Wohlgemerkt und zum tausendsten Mal erwähnt: Es regnete in Strömen. Es war also sehr dunkel. Jetzt stellt euch die alte Frau vor, die vielleicht das Licht in ihrem Haus nicht anknipste, um ungestörter beobachten zu können. Stellt sie euch vor. Sie hat garantiert nicht auf die Uhr geschaut, um festzuhalten, wie lange Maria Breidenbach in ihrem Auto sitzt. Wie oft, liebe Leute, ist es schon passiert, dass ein Mensch eine Szene beobachtet, von der er glaubt, sie zu kennen. Und die doch vollkommen anders ist, als er glaubt. Vielleicht hat da wirklich eine Weile ein Golf-Cabrio gestandern, aber vielleicht war das gar nicht das Cabrio der Breidenbachs.« Sie schnippte mit den Fingern. »Wobei ich auch glaube, dass es das Breidenbach'sche Auto war. Aber ich behaupte: Die alte Klara beobachtete Maria Breidenbach in ihrem Auto und wusste nicht, dass Maria Breidenbach dieses Auto längst verlassen hatte. Maria Breidenbach kam an, stieg aus und ging zu Fuß hoch zum Steinbruch. Sie war nur sekundenlang zu sehen, denn nach weniger als fünfzig Metern konnte sie Buschwerk erreichen. Die alte Klara beobachtete also ein leeres Auto. Und selbstverständlich wurde das im Laufe der Zeit langweilig. Vielleicht war Klara gerade pinkeln und verpasste so, dass Maria Breidenbach zurückkam, in ihr Auto stieg und abfuhr.«

»Ich fühle mich leicht verprügelt«, seufzte ich.

»Oh«, sagte die reizende Emma, »es kommt noch schlimmer. Du hast Rodenstock berichtet, dass Abi Schwanitz – nach eigener Angabe – den Steinbruch um elf Uhr verlassen hat. Wer sagt dir eigentlich, dass das stimmt? Vielleicht hat ja Schwanitz Breidenbach geholfen, Messerich zu töten und zur Wildschweinsuhle zu bringen? Schwanitz nämlich schließt eine Lücke: Er ist stark, er ist jemand, der Messerich mühelos transportieren konnte. Richtig? Na ja, macht nicht solche trüben Gesichter.« Sie lachte.

Über Rodenstocks Gesicht zog ein breites Grinsen. »Darf ich vorstellen: Meine Frau!« Er war mächtig stolz. Während er in all den Jahren unser Advokat des Teufels gewesen war, übernahm diese Rolle immer häufiger seine Emma. Und Emma warnte mal wieder bestürzend deutlich: Glaubt den Menschen auch dann nicht, wenn ihr sie sympathisch findet und ihre Aussagen logisch nachvollziehbar sind. Glaubt ihnen erst, wenn sie Beweise bringen.

»Wir fahren«, sagte ich erschöpft.

Wir winkten den beiden zum Abschied zu.

Oben auf der Höhe zwischen Heyroth und Brück fragte Vera: »Sagst du mir jetzt, was da vorhin in dir war?«

»Kann ich«, nickte ich. »Ich hatte plötzlich Angst, dass du gehen wirst. Einfach so. Eben liegst du noch in meinem Bett, dann bist du von einer Sekunde zur anderen fort.«

»Ach, Baumeister, Liebling«, murmelte sie und legte den Kopf an meine Schulter.

Wir verbrachten einen, wie die klassischen Musiker sagen, anschwellenden Abend. Mein Hund Cisco hatte ebenso wenig Zugang zu uns wie meine Kater. Die Bande blieb draußen, es war eine laue Nacht.

Am nächsten Morgen um sieben Uhr fand ich die Küche bereits besetzt. Emma und Rodenstock waren zurückgekehrt, hatten sich reingeschlichen und wirkten einsilbig.

Rodenstock saß am Tisch und blätterte teilnahmslos in der Tageszeitung. Eines war sicher: Er las nicht.

Emma stand an der Spüle und drehte einen Schwamm endlos in einem dreckigen Topf herum. Auch das war sicher: Sie säuberte nicht.

»Hätten die Hoheiten die Güte, mich zu bemerken?«, fragte ich. »Würden die Durchlauchtigsten mir möglicherweise einen guten Tag wünschen? He, was ist los?«

»Nichts«, muffelte Rodenstock.

»Ha!« Emma drehte sich zu ihm und starrte ihn böse an. »Natürlich ist da was los. Plötzlich sagt mir Rodenstock, in dieser entsetzlichen Wohnung an der Mosel, ich soll das Haus allein bauen. Für ihn sei es zu spät. In einem Alter, in dem andere auf einer Pflegestation vegetieren, soll man sich kein neues Haus kaufen.«

»Ist doch so«, knurrte Rodenstock.

»So eine – wie heißt der Ausdruck bei euch? – so eine Knalltüte!«, schrie Emma.

»Haltet die Luft an. Erst prügelt ihr euch darum, wer das Häuschen bezahlen darf, und jetzt soll es gleich eine Pflegestation werden!«

»Richtig, ganz richtig!«, keifte Emma. »So was!«

»Du hältst den Mund, Prinzessin Unschuld. Wenn Rodenstock sich nach Pflegestation fühlt, dann fühlt er sich beschissen. Hast du ihn mal nach seinem Befinden gefragt?« Es war gut, dass kein Geschirr auf dem Tisch stand. »Ihr seid vollkommen irre!« Ich brüllte, um mir einen guten Abgang zu verschaffen. Und ich knallte die Tür ordentlich hinter mir zu.

Das war dumm, denn jetzt kam ich nicht mehr an einen frischen Morgenkaffee. Ich ging ins Schlafzimmer und beschritt die Honigtour. »Stern meines Lebens, Stern meines Morgens! Ich streichle dich, ich lobpreise dich, ich möchte, dass du mir einen Kaffee holst.«

»Was machst du für ein Theater?«, fragte Vera. »Ich hol mir selbst auch einen.«

»Rodenstock und Emma haben einen rostigen Nagel in ihrer Beziehungskiste und der quietscht zurzeit ziemlich laut.«

»Das macht nichts, Kaffee geht vor«, stellte sie fest und entschwand.

Nach etwa zehn Minuten kehrte sie tatsächlich mit zwei Bechern Kaffee zurück, die sie auf ihrem Nachttisch deponierte, was eigentlich immer ein gutes Zeichen war. Aber sie ließ mich nicht an den Kaffee ran, sondern setzte sich sehr aufrecht auf das Bett und hielt mir einen Vortrag.

»Baumeister, es stimmt doch, dass wir im Wesentlichen nur ein Leben haben, nicht wahr? Was jenseits ist, wissen wir nicht, da zu wenige Leutchen von dort zurückkommen und es keine verlässlichen Aussagen über diese Landschaft gibt. Wenn wir also nur ein Leben haben, dann sollten wir die Krache – oder die Krachs? – möglichst kurz gestalten, nicht wahr? Ich habe Rodenstock gesagt, dass ich ihn für einen großen Dummkopf halte, was keine Auszeichnung ist, weil es sehr viele davon gibt. Und Emma habe ich gesagt, dass sie auch ein Dummkopf ist, wenn auch ein etwas kleinerer, weil sie nicht begreift, dass er manchmal depressive Ausrutscher hat, und weil Schimpfen keine Lösung ist. Könntest du mich jetzt bitte in den Arm nehmen, mit mir schlafen, mich wieder in den Arm nehmen, mit mir schlafen und so weiter und so fort? Und könntest du das jetzt tun und nicht erst in zwei Minuten, oder so?«

»Aber ja!«, sagte ich erfreut. »Du solltest dir aber in Zukunft deine Puste für etwas anderes aufheben als für derartige Volksreden.«

Das Gebimmel des Telefons begann zwei Stunden später und offensichtlich hatte jemand auf der automatischen Wahlwiederholung Klavier gespielt, denn es hörte nicht auf.

Ich fluchte und rannte in das Wohnzimmer.

»Baumeister hier.«

»Sind Sie der Journalist Baumeister?« Es war eine schmeichelnde, sonore, Respekt heischende Stimme, männlich.

»Der bin ich.«

»Mein Name ist Seidler. Ich bin der Geschäftsführer von Water Blue bei Bad Bertrich. Besser gesagt ich war der Geschäftsführer. Da einige Unsicherheiten in der Informationslage der Öffentlichkeit aufgetreten sind, gebe ich heute Abend um 18 Uhr eine Pressekonferenz. Hier im Hause. Ich möchte Sie herzlich dazu einladen.« Entweder war er gut bei Schnauze oder er hatte seinen Spruch auswendig gelernt.

Vor allem aber war er die nächste Ratte, die das sinkende Schiff verließ. Das war ein in der Wirtschaft und Politik gängiges Verhalten, das beim Fußvolk niemanden mehr erstaunte, aber ich mochte es trotzdem nicht.

»Ich habe um 18 Uhr keine Zeit«, sagte ich. »Ich weiß sowieso nicht, ob Sie mir noch etwas Neues sagen können. Bestenfalls könnte ich um 13 Uhr eine Stunde opfern.«

»Dann kommen Sie um 13 Uhr, dann ziehe ich Sie einfach vor.«

»Na gut«, schloss ich ab. »Um 13 Uhr dann.«

Ich brüllte in den Flur: »Der Seidler stellt sich um 13 Uhr zur Besichtigung bereit. Will jemand mitfahren?«

»Ich«, schrie Emma von irgendwoher.

»Ich ziehe ein kurzes Röckchen an«, meldete sich Vera aus dem Bad.

»Ich werde Boxershorts tragen und ein weißes Leibchen mit sehr weitem Ausschnitt.« Rodenstock stand grinsend auf der Treppe.

»Willkommen im Leben«, sagte ich. »So mag ich dich.« Dann riskierte ich einen Zusatz: »Du solltest zu einem Arzt gehen und mit ihm über deine Depressionen reden. Vielleicht reichen ja auch ein paar Johanniskrautpillen.«

»Meinst du?« Er starrte irgendwohin. »Ich gehe mir ja selbst auf den Keks.«

Wir fuhren gegen halb eins und gackerten wie die Hühner, erzählten uns dämliche Witze, die uns so einfielen, und nahmen das Leben absolut nicht ernst.

Bis wir hinter Mehren die Autobahn querten und Rodenstock ernst wurde: »Wir besichtigen also nun Dr. Manfred Seidler. Und wann, bitte, besichtigen wir endlich einen Mörder?«

»Ein bisschen Geduld«, beschwichtigte Emma zuversichtlich.

Das Verwaltungsgebäude der Water Blue war zwar klein, aber äußerst edel. Ein viereckiger Block, abgedeckt mit blau spiegelndem Glas, eine richtig sündhaft teure Angelegenheit.

Der Parkplatz war gähnend leer, bis auf einen schwarzen Mercedes Kompressor. Ich hatte kurz den Eindruck, als habe die umgebende Natur den Atem angehalten und nehme nun einen langen Anlauf, um den Platz zurückzuerobern.

Zwei große Glastüren schwangen automatisch nach links und rechts.

Seidler kam uns entgegen, ein schmaler, kleiner, zäher Mann mit länglichem, sonnenstudiobraunem Gesicht und dunklem, attraktiv mit grauem Schimmer versehenen Haar. Gekleidet in Grau, mit eleganter weinroter Krawatte und grauer Weste. Seine Augen waren bemerkenswert. Was immer er sagte, was immer er an Gefühlen ausdrücken wollte, diese Augen waren Echsenaugen und spielten nicht mit, blieben starr, fast hypnotisch, unbeteiligt und hart wie dunkle Kiesel.

»Seien Sie herzlich willkommen«, sagte er mit einer leichten, nur angedeuteten Verbeugung. »Hier herrscht leider Stille, wir sind stillgelegt. Kommen Sie herein.«

Er reichte uns die Hand, schaute dabei jedem prüfend ins Gesicht.

Auch die kleine Halle war eindrucksvoll mit einer riesigen Sitzgarnitur in schwarzem Leder ausgestattet. Mannshohe Grünpflanzen standen in Gruppen, auf der rechten Seite eine geschwungene, aus Holz gefertigte Empfangstheke, gähnend leer. Vier Lichtspots leuchteten Vitrinen aus Acryl, in denen unzählige Flasche standen, die Produkte des Hauses, grell aus.

»Wir gehen in den ersten Stock«, sagte Seidler. »Ich darf vorgehen.«

Er beherrschte den Trick, die Treppe seitlich gedreht hinaufzusteigen, sodass er die Stufen und uns gleichzeitig im Auge behalten konnte.

Ich hatte plötzlich eine deutliche Erinnerung an meine Kindheit, weil ich früher davon geträumt hatte, später einmal ein so perfekter, höflicher, mächtiger Mann zu werden.

Er ging uns voraus durch eine Tür in ein großes Arbeitszimmer. Raymond Chandler hätte mit Sicherheit formuliert: groß wie ein Tennisplatz. Alles war blau, ein beruhigendes dunkles Blau. Der riesige Schreibtisch mit einer blauen Lederunterlage, der Stuhl davor mit blauem Leder überzogen. Rechts davon eine Sitzecke in blauem Tuch.

»Nehmen Sie Platz. Was möchten Sie trinken? Ich habe alles vorbereitet.«

Wir entschieden uns für Wasser und er goss uns ein. Dann setzte er sich. Er sprach leise. »Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich einige Sätze zum grundsätzlichen Verständnis der Situation sagen. Ich will damit Ihren Fragen keineswegs ausweichen, sondern nur Feststellungen treffen, die sich auf mich selbst und meine Rolle in diesem sicherlich fragwürdig anmutenden Spiel beziehen.«

Am kleinen Finger der rechten Hand trug er einen beachtlichen Diamanten, der zuweilen aufblitzte.

»Ich bin seit Gründung dieser Firma Geschäftsführer und ich habe mit Datum von heute fristlos gekündigt. Ich lege allerdings Wert auf die Feststellung, dass mein Vertrag mit Herrn Still noch weitere vier Jahre Geltung hat und infolgedessen in voller Höhe ausbezahlt werden muss. Meine Anwälte sind bereits eingeschaltet. Ich war zuständig für den technischen und den wirtschaftlichen Teil des Unternehmens.«

»Wenn ich Sie richtig verstehe«, unterbrach ihn Rodenstock rücksichtslos und energisch, »dann wollen Sie uns erzählen, dass Sie von den kriminellen Machenschaften in dieser Firma und rund um diese Firma keine Kenntnis hatten?«

Seidler lächelte betrübt und schnurrte: »Das ist in der Tat der Kern meiner Aussage. Und ich kann das beweisen.«

Emma seufzte und sah ihn strahlend an. »Wie wollen Sie, mein Lieber, so etwas beweisen, wenn Ihr Arbeitgeber und andere Zeugen das Gegenteil behaupten?«

»Durch Unterlagen, gnädige Frau, durch Dokumente.«

»Kriminelle Handlungen sind selten in Unterlagen ersichtlich«, wandte ich ein. »Und noch seltener ist die Unkenntnis einer kriminellen Handlung dokumentiert.« Der Kerl ärgerte mich.

»Verzetteln wir uns nicht«, mahnte Rodenstock väterlich. »Fahren Sie fort, Herr Doktor Seidler, mich interessiert, was Sie zu sagen haben.«

»Danke.« Er zupfte an seinen blütenweißen Manschetten. »Es begann damit, dass wir die alten Bohrlöcher einer Generalüberholung unterziehen mussten. Dabei wurde ein Fehler gemacht. Es wurde zu tief gebohrt ...«

»Moment«, sagte Vera. »Das war doch wohl kein Fehler, das war Absicht.«

»So sehe ich das heute auch«, nickte er. »Aber damals glaubte ich an einen Fehler. Ich erfuhr erst durch ein Gespräch mit dem leider so plötzlich ums Leben gekommenen Chemiker Breidenbach, dass eine Absprache mit dem Wasserwirtschaftsamt nicht stattgefunden hatte. Der Eigentümer von Water Blue, Herr Still, sagte, die zu tiefe Bohrung sei kein Problem, er werde mit dem Amt sprechen. Das ist jedoch nie geschehen. Und das wusste ich nicht.«

»Sie wussten also auch nicht, dass auf Veranlassung von Still Bestechungsgelder gezahlt wurden?«, fragte Vera.

»Richtig«, antwortete er. »Zumal offensichtlich Gelder dafür verwendet wurden, die nicht aus den Kassen dieser Firma stammten. Aus den Kassen dieser Firma ist keine müde Mark in derartige ... in derartige kriminelle Vorgänge geflossen.«

»Woher stammten denn dann die Gelder?«, wollte Emma wissen.

»Nun, das müssen Sie Herrn Still fragen.« Seidler grinste wie ein Haifisch.

»Das können wir nicht«, erklärte ich. »Still ist weg. Wenn er Pech hat, findet ihn der bulgarische Pate, den er geleimt hat. Und eine Leiche ist schwierig zu befragen, nicht wahr? Wissen Sie, wo sich Still zurzeit aufhält?«

»Nein. Er besitzt ein Privatflugzeug. Ich wurde über sein Reiseziel nicht unterrichtet.«

»Na, das sind Zustände.« Ich sah ihn freundlich an. »Abi Schwanitz sagte mir unlängst, Still sei wahrscheinlich in Fernost. Na ja, das Bundeskriminalamt wird es richten.«

»Kommen wir zurück auf Franz-Josef Breidenbach«, meinte Emma träge. »Sie sprachen davon, dass er plötzlich ums Leben gekommen ist. Halten Sie das nicht für eine Verniedlichung? Der Mann wurde erschlagen, ermordet.«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wissen Sie, das klingt so brutal, meine Sprache ist etwas filigraner.«

»Na gut, Sie filigraner Formulierer«, Emmas Stimme klang richtig gemütlich. »Kommen wir zu Albert Schwanitz. Einer seiner Leute gibt gerade vor der Kripo zu, dass er aus Versehen, peinlich, peinlich, von der Kupplung rutschte und Holger Schwed mit seinem Wagen zerquetschte. Und alle erzählen, dass der Betrieb hier wie eine große Familie funktionierte. Auch Schwanitz meint, dass Sie von allem wussten. Wissen Sie was, guter Mann? Sie lügen.«

»Wahrscheinlich«, sagte ich, »wussten Sie auch nichts von den Wassertransporten nach Belgien, oder?«

»Doch«, gestand Seidler eifrig und offenkundig nicht einmal wütend, dass Emma ihn einen Lügner genannt hatte. »Das wusste ich. Ich wusste von Uberkapazitäten der Quelle, aber ich wusste nicht, dass das Wasser aus der zu tiefen Bohrung stammte.«

Rodenstock machte »Hm, hm« und kratzte sich auf dem Schädel. »Mein lieber Doktor Seidler, wir sind hierher gekommen, um den Mann zu erleben, der unserer festen Überzeugung nach den Laden hier steuerte, wenn Still außer Haus war. Sie gelten als besonders harter Brocken, als hartleibiger Mensch. Nun streiten Sie Tatsachen ab, die Sie als Geschäftsführer hätten wissen müssen, es sei denn, Sie sind eine Strohpuppe, eine vollkommene Niete, die nur zur Dekoration auf den Stuhl gesetzt wurde. Und so schätze ich Sie nicht ein. Sehen Sie, da erscheint Rainer Still persönlich bei dem Fenster- und Türenhersteller Franz Lamm und fordert Gelder ein, von denen er weiß, dass Lamm sie nicht hat. Weil dem so ist, will Still die Firma von Lamm. Und nun sagen Sie, davon hätten Sie nichts gewusst.«

»Natürlich wusste ich davon!«, schnappte Seidler. »Das ist doch der Punkt. Ich wusste davon, aber ich hatte keine Ahnung, dass das mit einer kriminellen Handlung in Zusammenhang zu sehen ist.«

»Vor so viel Unschuld verbeugen wir uns«, sagte Vera in die Stille. »Und ich denke, wir gehen. Mir ist das einfach zu blöde.«

»Richtig«, nickte Emma.

Seidler hob die rechte Hand in die Höhe, den Zeigefinger steil ausgestreckt, seine Stimme streckte sich und kam eine Oktave höher. »Ich sagen Ihnen und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ...«

»Doktor Seidler!«, sagte Rodenstock scharf. »Hören Sie auf, den Nichtwisser zu spielen. Das kauft Ihnen kein Mensch ab. Ich kann verstehen, dass Sie versuchen, Ihre Haut zu retten. Das ist Ihr gutes Recht. Aber gehen Sie nicht davon aus, dass außer Ihnen nur Idioten die Welt bevölkern. Und nun entschuldigen Sie uns, wir finden den Ausgang allein.« Er lächelte freudlos. »Wissen Sie was? Sie müssen sich doch jetzt eine neue Existenz aufbauen. Was halten Sie davon, in Berlin im Bundestag Workshops mit dem Titel anzubieten: Ich habe von allem nichts gewusst! Die Leute brauchen so was!«

Wir marschierten im Gänsemarsch hinaus und Seidler blieb tatsächlich sitzen, den Kopf gesenkt.

»Wir sollten bei Breidenbachs vorbeifahren«, schlug Emma entschlossen vor. »Es ist nicht weit und vielleicht ist sie ja zu Hause. Die Frau interessiert mich.«

Niemand sprach dagegen, also steuerte ich unseren Kahn nach Ulmen. Das Haus der Breidenbachs schien verlassen, kein Auto vor dem Haus, sämtliche Rollläden unten, ein düsteres Stück Architektur. Wir schellten trotzdem.

Maria Breidenbach öffnete und sagte abwehrend: »Das passt mir im Moment aber gar nicht, wir räumen gerade auf.« Und im gleichen Atemzug: »Na gut, wenn Sie nicht zu lange brauchen.«

Wir schlängelten uns durch die kleine Vorhalle, die immer noch voller zertrümmerter Möbel stand.

»Entschuldigung«, sagte Maria Breidenbach, »aber wir haben uns verbunkert, weil alle Nachbarn und Bekannten uns besuchen wollten, aber dann kommt man ja zu nichts. Nehmen Sie doch Platz.« Sie bedeutete den beiden Kindern im Hintergrund zu verschwinden. Dann setzte sie sich auf einen Küchenstuhl und zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr geraucht, jetzt hilft es mir.«

»Hat die Kripo Sie erneut angehört?«, wollte Rodenstock wissen.

»Angehört?«, empörte sie sich. »Die fragten mich, wo das Geld ist, das mein Mann bekommen hat. Ob ich es gefunden hätte und verschwinden ließ. Die sind doch verrückt!«

»Wir haben gehört, Frau Breidenbach, jemand von der Firma Water Blue habe Sie aufgefordert, das Geld zu suchen und gegen zwanzig Prozent Beteiligung zurückzugeben.« Emmas Stimme klang freundlich und sachlich.

»Das müsste ich doch wissen, oder?«, fragte sie scharf.

»Allerdings«, nickte Emma. »Und Sie waren wirklich nicht in der Nähe des Steinbruchs, als Ihr Mann ums Leben kam?«

»War ich nicht«, sagte sie. »Die Kinder lagen in ihren Betten und schliefen. Ich habe abends bis ungefähr zehn Uhr mit einer Freundin telefoniert, dann bin ich ins Bett. Ich kann sogar sagen, welches Buch ich gelesen habe.«

»Welches?«, fragten Vera und ich gleichzeitig.

»Die Schatten schlafen nur von Leenders, Bay, Leenders. So was lese ich gerne.« Das kam schnell und ohne Überlegung.

»Sie wussten also nichts davon, dass Ihr Mann sich bezahlen ließ?«, fragte Rodenstock. »Und haben keine Ahnung, wo er das Geld versteckt haben könnte?«

»Nein. Zweimal nein.« Ihr Gesicht färbte sich zunehmend rot. Es sah aus, als könnte sie ein Problem mit ihrem Blutdruck bekommen.

»Frau Breidenbach, meine nächste Frage wäre die nach der Pensionierung Ihres Mannes. Er hat das ja bekanntlich heimlich vorbereitet. Haben Sie gar nichts gemerkt?« Emma sprach leise und vertraulich.

»Das hat mich die Kripo auch dauernd gefragt. Nein. Franz-Josef hat mit mir nicht mehr geredet, verstehen Sie?« Sie sah sich um. »Hier war es so kalt wie in einem Eisschrank. Das ging schon seit Jahren so. Die Kinder und ich hatten gehofft, dass er wenigstens etwas gegen die Trinkwasservergifter unternehmen würde. Aber nein, selbst da hat er irgendwie dichtgemacht, tat so, als ginge ihn das alles nichts an, als berühre ihn das nicht. Er hat über nichts mehr mit uns gesprochen. Jedenfalls über nichts Wichtiges.«

Emma sah uns an und murmelte: »Ich denke, das reicht, lasst uns fahren. Haben Sie recht herzlichen Dank, Frau Breidenbach.«

»Oh, bitte, ich habe Ihnen ja gar nicht helfen können.«

Als wir im Wagen saßen, sagte Emma nachdenklich: »Sie muss die Hölle auf Erden gehabt haben.«

»Ob Breidenbach das Geld so versteckt hat, dass seine Familie eine reelle Chance hat, es zu finden?«, überlegte Rodenstock. Und antwortete selbst: »Nein, nach allem, was wir über ihn erfahren haben, glaube ich, dass er sich einen Platz gesucht hat, auf den die Leute, die ihn besonders gut kannten, nie im Leben kommen konnten.«

»Bekommt man so viele Geldscheine eigentlich durch den Zoll? Oder sieht man das Geld mithilfe der Röntgengeräte?«, fragte ich Vera.

Sie überlegte einen Augenblick. »Nein. Man sieht es nicht, wenn man nicht gezielt darauf angesetzt wird. Falls du jetzt an Kreta denkst: Du weißt doch, was für ein Andrang herrscht, wenn diese Urlaubsbomber gefüllt werden. Und die Maschinen starten und landen fast im Minutentakt, kein Mensch kann auf so etwas achten. Außerdem ist der Flughafen in Iraklion ein kleiner Provinzflughafen, der den Verkehr, dem er ausgesetzt ist, kaum noch schlucken kann. Ich bin inzwischen auch davon überzeugt, dass Breidenbach das Geld auf Kreta versteckt hat. Es dorthin zu bringen, muss ein Kinderspiel gewesen sein.«

»Wer fliegt?«, fragte Rodenstock sachlich.

»Vera und Baumeister«, entschied Emma rasch. »Die beiden sind noch jung genug, das durchzustehen. Wir sind nicht mehr katastrophenfest, mein Lieber. Und wir besitzen ein Häuschen, das gebaut werden will.«