5. Kapitel

Der Schamane lächelte und fragte: »Kann ich eine Scheibe trockenes Brot haben? Vielleicht behalte ich das im Magen.«

Ich holte ihm das Brot aus der Küche, und er aß langsam und kaute sehr sorgfältig, wenngleich mir schleierhaft war, wie ein Mensch ohne alle Zähne kauen kann. »Interessant ist, dass man ein sehr genaues Bild bekommt, wenn man intelligente Menschen auf die Spur einer Szene setzt. Darauf kam es mir an. Der Schamane hat sich einfach konzentriert und ein Bild bekommen, das wahrscheinlich stimmt.« Emma sah den Schamanen fast liebevoll an.

»Ich bin eben klug«, murmelte der Schamane.

»Du solltest was für dich tun«, schlug Rodenstock vor. »Vielleicht kann ich dir Hilfe vermitteln. Willst du Hilfe?«

»Ich weiß das noch nicht genau«, antwortete er sehr ernsthaft. »Kann ich mir das heute Nacht überlegen?«

»Selbstverständlich. Ich denke, du musst gründlich entzogen werden und dann irgendeine Therapie machen und anschließend Arbeit kriegen. Erst mal körperliche Arbeit, dann wird man weitersehen. Jetzt schmeißen wir Esther raus. Sie muss nach Amsterdam.«

»Jetzt? Am Abend?«, fragte ich.

»Genau jetzt«, nickte Emma. »Sie muss früh dort sein, um gut voranzukommen. Sie kann meinen Wagen nehmen. Ich will wissen, ob dieser Wesendonker das ernst nahm mit der Liebe.«

»Da wittere ich Frauensolidarität«, murmelte ich.

»Da kannst du Gift drauf nehmen«, schnaubte sie. »Wir waren immer die Betrogenen, wir wurden immer beschissen.Vielleicht wollte er nur seinen Spaß, vielleicht hat er nie vorgehabt, nach Amerika zu gehen, vieleicht war Amerika das Lockmittel, sie ins Heu zu kriegen.«

Rodenstock nahm Esther mit in den Garten und instruierte sie genau. Wenig später brach sie nach Amsterdam auf. Sie sollte in alten Passagierlisten stöbern, sie sollte auf Maria Hansen und Karl-Heinrich Wesendonker stoßen, sie sollte den Leuten, die heute die Transatlantik-Routen bedienten, Löcher in den Bauch fragen.

Bevor sie vom Hof rollte, bemerkte sie: »Soweit ich weiß, ist das der erste richtige Job meines Lebens, der mir Spaß macht.«

Der Schamane kam von irgendwoher angeschlurft. »Leute, ich will mich verabschieden. Es ist noch früh, ich will runter zur Mosel.« Er lächelte zaghaft.

»Wieso das?«, fragte Emma. »Du wirst irgendwann anfangen, Wein zu trinken.«

»Das ist richtig«, nickte er. »Oder auch nicht. Ich muss weiter, Leute.«

»In deinem Fall soll man Reisende nicht aufhalten«, sagte Rodenstock. »Brauchst du ein bisschen Geld?«

»Was ist ein bisschen?«, fragte er grinsend.

»Weiß ich nicht. Fünfzig Mark?«

»Das ist ein großes bisschen«, nickte er. »Das würde ich annehmen.«

Rodenstock gab ihm einen Schein. »Und sieh mal zu, dass du an Deck bleibst. Du hast uns geholfen.«

Er hatte einen schiefen Mund. »Ihr wärt auch dahin gekommen, die Szene so zu sehen, wie ich sie sehe.«

»Wären wir«, nickte ich. »Gute Reise.«

»Ich danke euch, Freunde.« Er ging einfach so, wie er gekommen war; er hatte kein Gepäck, er wollte auch keins.

»Zu Dr. Martin Helmholtz nach Trier«, bestimmte Rodenstock.

Wir stiegen in mein Auto und fuhren los. Schon ab Hasborn tobte ein Sommergewitter, der Himmel war rabenschwarz, im Südwesten schwefelgelb.

Unter den Brücken standen viele Motorradfahrer, um zu warten, bis der Regen vorbei war.

Rodenstock und Emma unterhielten sich leise über Esther. SWR 3 schaltete sich ein und teilte gut gelaunt mit, dass auf der 61 in Höhe Koblenz nach einem Unfall ein Stau zu melden sei - bis jetzt sechs Kilometer lang. Mein Handy meldete sich.

Es war Dr. Michael Winter von SWR 3. Er sagte: »Ich bin weitergekommen in der Sache mit der Arisierung jüdischen Eigentums. Haben Sie Zeit, eine Minute zuzuhören?«

»Habe ich.«

»Also gut, wir wissen ja, dass an der Ahr mitten in einem Ort drei Menschen in einer Woche an Grippe starben. Sie wurden beerdigt, das Haus ging später in den Besitz der örtlichen Konsumgesellschaft über. Und es ist ziemlich sicher, dass sie nicht an Grippe starben.«

»Selbstmord?«

»Nicht unbedingt, aber durchaus im Bereich des Möglichen. Sie waren zu dem Zeitpunkt rund siebzig Jahre alt. Sie waren vollkommen isoliert, sie durften keine Lebensmittel kaufen, sie bekamen keine Lebensmittelmarken. Niemand sprach mit ihnen. Ein Leben lang waren sie angesehene Bürger, jetzt waren sie Aussatz. Der Vater, die Mutter, die Tante. Und sie wussten, dass die beiden Söhne in das Gas transportiert werden sollten. Ich nehme als gegeben an, dass sie vollkommen abgemagert waren, sodass die kleinste körperliche Störung zum Tod führen konnte. Sie sind einfach vor sich hingestorben. Hatte der Arzt aus Bad Neuenahr denn eine andere Wahl, als Tod durch Grippe zu konstatieren?«

»Hatte er nicht«, sagte ich. »Es war auch egal. Grippe war in dem Zusammenhang nur ein Wort für das Ende. Er hätte auch Lungenentzündung konstatieren können oder irgendetwas anderes. Aber wie kommen wir weiter?«

»Es gibt irgendwo in der Gegend von Mannheim und Ludwigshafen eine Verwandte, die sehr viel zu wissen scheint. Sie sagte mir am Telefon, dass sie sogar eine Personenbeschreibung von Moses Bär hat. Was wir von ihm wissen, ist spärlich. Aber jetzt können wir uns ein Bild machen, wie er aussah. Das Bild stammt von dem Maler Schorsch Kreuzberg aus Dernau, der sich daran erinnerte, wie dieser Jude aussah. Kreuzberg ist gestorben, aber vorher diktierte er dieser Verwandten einige Einzelheiten auf einen Recorder. Danach war Moses Bär ein kleiner, freundlicher Mann. Es gibt Kindheitserinnerungen, die besagen, dass dieser Moses Bär am Sabbat, also samstags, zu Fuß nach Neuenahr in die Synagoge ging. Wenn irgendjemand vorbeikam, ob mit Pferd und Wagen oder mit dem Auto, und ihm anbot, mitzufahren, lehnte er das freundlich ab. Es war seine Art, sich auf den Gottesdienst vorzubereiten. In der Synagoge war er der Vorbeter, was darauf schließen lässt, dass er in der Gemeinde hoch angesehen war. Er ging zu Fuß, das gehörte bei ihm dazu. Und er stand in Dernau in der Tür seines Hauses und rauchte eine lange Pfeife, die bis zum Boden reichte. Ich vermute mal ein sehr langes Holzmundstück mit einem Porzellankopf. Dann ist das Foto von seiner Frau aufgetaucht. Das wäre es für heute. Wann können wir darüber reden?«

»Ich weiß es nicht genau. In drei oder vier Tagen. Ich habe noch eine andere Geschichte zu erledigen. Wir telefonieren.«

»Wir telefonieren«, sagte er und unterbrach die Verbindung.

Rodenstock sah mich fragend an.

»Eine verrückte Geschichte«, erklärte ich. »Zu Beginn des Jahres 1942 sterben in Dernau an der Ahr drei Juden innerhalb von drei oder vier Tagen in ihrem Haus. Wir versuchen herauszufinden, was da geschehen ist. Und irgendwie kommen wir mühsam Stückchen um Stückchen weiter.«

»Das erinnert mich aber an Tutut«, sagte Rodenstock.

»Das ist ähnlich«, nickte ich. »Und es ist beklemmend. Und eigentlich ist es unbedeutend, dass es Juden waren. Es waren Menschen, die nach Ansicht von anderen Menschen nicht weiterleben durften.«

»Und was machst du damit?«, fragte Emma.

»Ich weiß es noch nicht. Dieser Kollege, Dr. Winter, will vielleicht eine Reportage im Rundfunk machen, vielleicht ein Essay in der Süddeutschen. Wir müssen abwarten, was dabei herauskommt.«

Dann kam eine ekelhafte Frage von Emma: »Hast du die Juden nicht langsam satt?«

»Nein, habe ich nicht. Ich weiß, dass ich Jüngeren damit auf die Nerven gehe, aber wenn wir das vergessen, ist es schlecht um uns bestellt. Niemand kann mir erzählen, dass das jemals vorbei ist. Wir haben im Kosovo in diesem Jahr die gleiche, furchtbare Scheiße erlebt. Und schon wieder tun wir alle so, als ginge uns das nichts an, als geschehe das auf einem anderen Stern. Juden sind für mich ein Lebensscharnier, die wichtigste Stufe meines Bewusstseins. Ach, hören wir auf, lasst uns über etwas anderes sprechen.«

»Reden wir über Trier«, sagte Rodenstock. »Ich würde gern ein Eis essen oder so was. Hinterher.«

»Du bist ein verrücktes Huhn«, murmelte Emma liebevoll.

»Wen meinst du denn?«, fragte Rodenstock. »Mich oder Baumeister?«

»Beide. Ihr seid beide verrückte Hühner.«

»Ich möchte aber das Geschlecht gewahrt wissen«, mahnte ich. »Ich bin ein verrückter Hahn.«

Dr. Martin Helmholtz wohnte in einem Altbau links von der Porta Nigra, in jenem Straßengewirr, in dem die Zeit in den hohen Räumen höchst ehrbarer Bürgerhäuser stillzustehen scheint wie flirrender Staub. Er war ein kugelrunder, freundlicher alter Herr, der seine letzten silbernen Haare quer über den Schädel gelegt hatte, um den Rest von Fülle zu demonstrieren. Er trug über der beachtlichen Wampe ein uraltes T- Shirt mit der Aufschrift Fuck You und sagte aufgeräumt: »Es ist mir eine Ehre, eine Nebenrolle spielen zu dürfen. Kommt herein, Leute. Es gibt einen Wein aus Kues und dazu Brot mit Gänseschmalz. Und es gibt sogar saubere Gläser. Rodenstock, du Kumpel aus alten Tagen. Gut, dich zu sehen. Und ein Fraumensch hast du mitgebracht. Endlich der Hauch von Freundlichkeit in diesem Gemäuer.« Er wedelte ununterbrochen mit beiden Händen.

Rodenstock murmelte: »Danke für deine Bereitschaft. Und wo ...?«

»Sie ist gestorben. Vor Jahr und Tag. Ich lebe jetzt allein und besuche sie zuweilen auf dem Friedhof. Aber ehrlich gestanden sagen mir Grabsteine nichts. Ich erinnere mich an andere Dinge. Zum Beispiel, dass sie dauernd unter Blähungen litt und wir beide darüber lachen mussten. Sie hatte Krebs.«

Er ging vor uns her in einen hohen Raum, der ein Mittelding zwischen Wohnzimmer und Küche war. »Ich lebe hier in diesem Raum. Dann noch im Schlafzimmer. Die anderen Räume benutze ich gar nicht mehr. Sie erinnern mich nur an die Kinder. Tagsüber arbeite ich das ärztliche Archiv dieser Region auf. So habe ich etwas zu tun, was Sinn macht. Setzt euch, Kinder, und langt zu.« Er zog einen Stuhl zurück und lächelte Emma an.

»Emma ist meine Frau«, sagte Rodenstock. »Und das ist Siggi Baumeister, unser Freund. Du hast etwas vom Dr. Xaver Manstein aus Gerolstein gefunden?«

»Habe ich. Das war gar nicht schwer. Es gibt übrigens von nahezu jedem Arzt Aufzeichnungen. Und du hast gesagt, es geht um Mord und Totschlag?«

»Richtig. Es geht präzise um Freitag, den 24. August 1888. Aber erst mal einen Schluck Wein und ein Stück Brot.«

Sehr wohltuend floss das Leben jetzt träge und gemächlich dahin, die Hektik war plötzlich verschwunden. Es schien so, als habe Tutut plötzlich Zeit, als warte er geduldig, als dränge gar nichts mehr.

Helmholtz goss Weißwein aus einer Flasche ohne Etikett ein, was in dieser Region immer darauf hindeutet, dass der Wein entweder herzlich schlecht oder ganz fantastisch ist. Dem Gesichtsausdruck Rodenstocks nach zu schließen, war er hervorragend. Emma seufzte leicht mit geschlossenen Augen. Ich bekam eine Flasche Wasser und genoss das Gänseschmalz.

Helmholtz war ein Mann, der anscheinend gegen Einsamkeit kämpfte, wie ältere Menschen das tun. Er wollte nicht sofort Auskunft geben, er wollte erst einmal reden, wollte Auskunft geben über sich und wollte Auskunft von Rodenstock über dessen Leben.

»Wie geht es seit der Pensionierung?«, fragte er.

»Na ja, eigentlich hervorragend«, murmelte Rodenstock. »Kommen Deine Kinder oft zu Besuch?«

»Der Sohn ja, die Tochter überhaupt nicht. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es ist so.«

»Meine Tochter kommt auch nicht mehr«, sagte Rodenstock bekümmert.

Eine Weile ging das so weiter, bis Emma keine Geduld mehr zeigte und sanft einwarf: »Also, ihr zwei alten Kämpen, wie wäre es mit Tutut?«

»Wer ist Tutut?«, fragte Helmholtz.

Rodenstock und Emma erklärten es ihm, und er spitzte den Mund. »Das ist ja eine verrückte Geschichte. Ihr sucht also irgendetwas, was zum Freitag, dem 24. August 1888, Auskunft gibt?«

»Genau das«, nickte Emma. »An diesem Tag wurde Tutut erschlagen.«

»Und was vermutet ihr?«

»Der Täter war aller Wahrscheinlichkeit nach ein höchst ehrbarer Bürger«, sagte Rodenstock vorsichtig. »Ein Steuereintreiber namens Karl-Heinrich Wesendonker verliebte sich nach unserem bisherigen Wissen in eine Bäuerin namens Maria Hansen. Er wollte wohl mit ihr nach Amerika verschwinden. Sie ist jedoch allein in der Gegend von Chicago angekommen. Das heißt, dieser Wesendonker folgte ihr nicht, ist ihr auch später nicht gefolgt, weil aus einem anderen Brief hervorgeht, dass sie sich mit einem Bauern namens Berthold Schmitz verband und mit dem erst nach Süden und dann nach Westen nach Kalifornien ging. Jetzt kommt eine zweite Geschichte hinzu: Dieser Wesendonker hatte eine Ehefrau, die als Drache bezeichnet wurde. Was auf deutsch heißt: Die Wesendonkers machten sich das Leben zur Hölle. Ich vermute einmal, sie waren, was damals durchaus die Regel war, von ihren jeweiligen Eltern miteinander verkuppelt worden. Das führte zu oft grotesken Ehen, die von Beginn an nicht funktionierten, gar nicht funktionieren konnten. In diese Ehefrau verliebte sich der Richter aus Gerolstein. Der Richter hieß Severus Brandscheid und stammte hier aus Trier. Es war also eine Vierecksgeschichte, und sie wurde auf eine damals ungewöhnliche Weise gelöst. Wir vermuten, dass die Sache von einem Stammtisch nobler Herren aus Gerolstein verfolgt wurde. Das heißt: Das ganze obere Dutzend der Stadt war eingeweiht und wollte eine möglichst skandalfreie Lösung. Das gelang nicht, weil jemand hinging und den Boten erschlug. Tutut.

Was hinterher aus Karl-Heinrich Wesendonker wurde, wissen wir ebenso wenig, wie was aus seiner Ehefrau und dem Richter wurde. Vielleicht lebten sie glücklich bis an ihr Lebensende. Aber einer von ihnen erschlug wahrscheinlich Tutut.«

»Gucken wir mal«, sagte Helmholtz sachlich und ging hinaus.

Als er wiederkehrte, hatte er einen offenen Karton in der Hand, in dem schwarze Bücher lagen. Es waren Din-A4 große, schwarz in Leinen gebundene Bücher, die im Grunde nichts anderes waren als alte Kassabücher, wie Geschäftsleute um die Jahrhundertwende sie in Gebrauch hatten.

»Manchmal fehlt eine ganze Sequenz von Tagen«, erklärte Helmholtz, »manchmal fehlen die Wochenenden. Dann ist entweder die Praxis nicht gelaufen oder der Arzt war im Urlaub oder es war einfach nichts los. Natürlich trug kein Arzt sämtliche Details seiner Patienten ein, aber manchmal kam es auch zu persönlichen Bemerkungen.« Er grinste. »Das richtet sich einfach danach, was der Doktor für erwähnenswert hielt und was nicht. Euer Xaver Manstein war ein ziemlich mitteilungsfreudiger Mann. Er hat viel eingetragen; manches mit Kürzeln versehen. Zum Beispiel behandelt er hier in diesem Buch auf Seite zweiundzwanzig eine gewisse Lydia Brocker, elf Jahre alt, auf Mumps. Er kürzt Mumps mit MP ab. Also, wir suchen den 24. August 1888, richtig?« Er blätterte, holte dann ein weiteres Buch aus dem Karton, blätterte wieder. »Hier ist Freitag, der 24.8.88. Da steht:

Pat.n.H.gesch. Muss m. um S.M. kümmern. Too. übernimmt. Eklige Sache das

Er starrte in unsere verblüfften Gesichter und lachte lautlos über unsere Verwirrung. »Das ist überhaupt nicht schwierig, Leute, das ist sogar sehr einfach. Das heißt auf gut deutsch: Patienten nach Haus geschickt, muss mich um S.M. kümmern. Too übernimmt und so weiter. Er hatte also einen schweren Fall, der wichtig war. Was Too heißt, wisst ihr wahrscheinlich, oder?«

»Das war der Apotheker Toombers«, sagte ich. »Der gehörte zur Herrenrunde. Aber was S. M. heißt, weiß ich nicht. Gibt es andere Eintragungen in dieser Zeitphase?«

»Gibt es. Es gibt sogar noch ein Postscriptum an diesem Tag: Zustand von S.M. sehr kritisch, spritze Morphium. Die Pr. der Best, hat schreckt. Wunde gerissen. Ich vermute, das soll die Pranke der Bestie heißen. Muss ein Hund gewesen sein oder so was.«

»Nein, das war ein Bär«, sagte ich. »Ich weiß jetzt auch, was S.M. heißt. S.M. war Schniggers Michel. Wesendonker wohnte im Haus eines Michel Schneider. Und der Arzt hat die Kürzel S.M. für Wesendonker gesetzt.«

»Wie kommen wir an die Texte?«, fragte Rodenstock. »Können wir das kopieren? Wir müssen auch die ganzen Tage vor dem 24. August haben und vor allem die danach.«

»Ihr könnt die Bücher mitnehmen, ihr könnt die wichtigen Seiten kopieren und mir die Bücher zurückbringen.«

»Du bist großzügig«, murmelte Rodenstock. »Vielen Dank.«

»Ich nehme mal an, dass niemand danach verlangt, nachdem sie hier mehr als hundert Jahre herumgelegen haben.«

»Es wird die Basis einer Doktorarbeit«, erklärte Emma. »Insofern kann es sein, dass irgendein Tutor der zuständigen Universität um Einblick bittet.«

»Ich würde mich freuen, eine solche Anfrage zu bekommen«, sagte Helmholtz. »Sieh mal an, eine Doktorarbeit. Medizingeschichte? Regionalgeschichte? Regionalgeschichte ist Mode zur Zeit. Das freut mich. Der alte Manstein hätte sich sicher auch gefreut, dass er nach einhundertelf Jahren aus dem Dunkel geholt wird. Und wer, bitte, soll nun diesen Tutut totgeschlagen haben?«

»Genau das wissen wir nicht so genau. Es kann dieser Wesendonker gewesen sein, es kann aber auch jemand anders vom Stammtisch getan haben.« Rodenstock rieb sich das Kinn. »Es ist so, dass wir den Tatort nicht genau rekonstruieren können. Es kann ein Mann gewesen sein. War es ein Mann, dann war es mit großer Sicherheit Wesendonker. Es kann aber auch sein, dass es zwei oder drei waren - eine Versammlung höchst ehrbarer Totschläger, könnte man formulieren.«

»Leben noch Verwandte? Das würde mich interessieren.« Helmholtz lächelte. »Die werden im Dreieck springen, wenn sie hören, was der Ururgroßvater angerichtet hat.«

»Soweit wir wissen, nicht«, sagte Emma. »Und jetzt laden wir Sie ein zu einem Eis mit viel Sahne oder zu irgendetwas, was Sie jetzt gerne essen würden. Zu einem Wein? Zu einem Sekt? Ein handgeschüttelter Rieslingsekt von der Mosel? Wäre das was?«

Er war richtig gerührt, er stotterte: »Ich? Richtig eingeladen? Wenn ich richtig eingeladen bin, möchte ich das alles, was Sie gerade aufgezählt haben, gnädige Frau. Also Eis mit Sahne, also Wein, also Sekt, also irgendetwas Leichtes. Kalbsfleisch zum Beispiel.« Er starrte Rodenstock von der Seite an. »Ging dir das nach der Pensionierung auch so? Warst du plötzlich out und hast gar nicht gewusst, warum?«

»Das ging mir auch so«, nickte Rodenstock. »Kein Schwein rief an, niemand wollte mehr etwas von mir wissen. Nur ein junger Mann der Mordkommission erinnerte sich an mich und wollte Hilfe in einem schwierigen Fall. Und der ausgerechnet war unbeliebt, und ich selbst konnte ihn auch nicht leiden.«

»Niemand hat mich angerufen, nicht einer. Sie haben alles vergessen, sogar meinen Geburtstag. Manchmal denke ich, ich war ein Leben lang nur von Arschlöchern umgeben. Aber nun seid ihr da, und ich kriege Eis mit Sahne, und mir wird fürchterlich schlecht werden.« Er legte Rodenstock eine Hand auf die Schulter. »Und der Grund, warum sich das alles geändert hat, ist diese Dame hier - wenn ich das richtig verstehe.«

»Richtig«, sagte Rodenstock. »Und dieser Mensch da, dieser Siggi Baumeister. Vielleicht schaffst du dir auch eine Emma an und auch einen Baumeister?«

Helmholtz nickte. »Ich habe vor ein paar Tagen mit meiner Frau drüber gesprochen, ich meine, auf dem Friedhof. Sie hat mir zu verstehen gegeben, dass sie sich über eine solche Entwicklung freuen würde.« Er lachte in übervoller Heiterkeit. »Ich habe zwei einschlägige Adressen, sogar eine Kollegin ist dabei, eine veritable Urologin, höchst praktisches Mädel. Nur etwas scheu, aber immerhin erst einundsiebzig.«

»Das ist doch was!«, sagte Emma herzlich. »Und jetzt will ich Eis.«

In dem Gefühl, einen Riesenschritt getan zu haben, gingen wir mit dem alten Arzt hinaus in den späten Sommerabend.

Ganz Trier schien auf den Beinen und übermächtig heiter zu sein. Sicherlich herrschten noch zwanzig Grad, und sicherlich durften die Kinder dieser Stadt an diesem Abend lange aufbleiben. Auf dem Hauptmarkt, diesem alten Ensemble großmächtiger Kaufleute und Handwerker, herrschte ein Betrieb wie am Samstagvormittag.

Studenten und junge Leute hockten auf dem Pflaster, hielten Cola- und Bierdosen in den Händen und sprachen miteinander. Einige von ihnen hatten Ghettoblaster mitgenommen, und so dudelte die ganze Gesellschaft in verschiedenen Programmen herum, das Gewirr war babylonisch.

Wir fanden einen kleinen Tisch draußen vor einem Restaurant und hockten uns vergnügt hin. Emma bestellte wie üblich eine Platte mit Vorspeisen, Rodenstock und ich hielten uns an große Eisportionen mit Sahne, der alte Helmholtz entschied sich tatsächlich für ein Kalbsfrikassee und ließ Anekdoten aus dem Ärztestand dieser schönen Stadt vom Stapel, wobei er jedes Mal betonte: »Das ist die reine Wahrheit, wie ich hier sitze!« Wir glaubten keine Geschichte, aber sie waren durchweg gut gelogen. Plötzlich, als habe ihn der Blitz eines hellen Gedankens getroffen, fragte er: »Ihr glaubt also, dass dieser Wesendonker, dieser Steuereintreiber, allein an dieses Nachtlager von Tutut ging, dass es einen Streit gab, dass Wesendonker in dessen Verlauf Tutut erschlug. Habe ich das so richtig verstanden?«

»Völlig richtig«, nickte Rodenstock.

»Das kann nicht sein, das kann so nicht sein. Mein alter, längst verblichener Kollege schickt am folgenden Tag diesen Too. hin. Gemeint ist wohl eindeutig, dass dieser Mann, ein Apotheker, die Pflege dieses Mannes übernahm, also von da an jeden Tag hinging. Ich denke, das können wir als gegeben hinnehmen. Er hat aber auch notiert, dass es sich um eine sehr schwere Verletzung handelte. Er notiert, dass die Bestie eine schreckliche Wunde gerissen hat. Darf ich wissen, wie weit entfernt von diesem Nachtlager des Zigeuners das Haus des Steuereintreibers stand?«

»Ich schätze die Strecke auf mindestens vier Kilometer«, gab ich Auskunft.

Er nickte bedächtig. »Also, wenn ein Arzt einwandfrei konstatiert, dass ein Tier eine schreckliche Wunde gerissen hat, dann muss der Mann geblutet haben, sehr massiv geblutet haben. Wahrscheinlich hatte er Wahnsinnsschmerzen. Wie ist er eigentlich dorthin gekommen?«

»Mit einem Pferd, er ritt. Das Pferd allerdings ist am Ende der Szene tot, der Bär hat auch das Pferd gerissen. Wir fanden das Skelett. Ich merke, auf was du aus bist.« Rodenstock nickte.

»Ich denke, dass dieser Verletzte niemals aus eigener Kraft in der Nacht die vier Kilometer hätte zurücklegen können. Da muss mindestens ein weiterer Mann zugegegen gewesen sein.«

»Ich denke, wir müssen die ganze Tatszene neu rekonstruieren«, nickte Emma. »Das leuchtet ein, Karl-Heinrich Wesendonker kann nicht allein gewesen sein. Vielleicht war der Richter bei ihm, vielleicht auch der Apotheker. Aber was sollte der damit zu tun haben?«

»Vielleicht der ganze Stammtisch der edlen Herren«, warf ich ein. »Ich glaube, sie waren alle beteiligt. Ich glaube, sie wollten alle den Skandal vermeiden.«

»Aber welchen Skandal denn?«, fragte der kluge Helmholtz. »Es war in jenen Zeiten im Grunde normal, eine Ehefrau samt Kindern zu haben und sich mit einer Geliebten zu verlustieren, wie man das damals nannte.«

»In den Großstädten, ja«, stimmte ich zu. »Aber sicher nicht in der tiefsten Provinz, sicher nicht in Gerolstein. Da durfte so etwas nicht geschehen.«

»Nimm es mir nicht übel, Helmholtz, aber ich will nach Hause, ich will mich mit den Aufzeichnungen beschäftigen.« Rodenstock winkte einer Bedienung und bat um die Rechnung.

Wir brachten den Arzt zu seiner Wohnung, setzten uns dann in das Auto und fuhren auf die Autobahn. Wir waren aufgeregt, wir hatten uns an diesem Tag über den zwanzigsten toten Punkt gerettet, nun wollten wir wissen, was der Gerolsteiner Arzt damals vor hundertelf Jahren notiert hatte, als ein scheinbar vollkommen unwichtiger Zigeuner totgeschlagen wurde, weil edle Herren plötzlich Angst bekamen und sich an den Boten hielten.

In Höhe Hasborn wurde die laue Luft plötzlich kühl, im Westen stand eine Gewitterfront, und es donnerte los, als wir die Ausfahrt Manderscheid passierten.

Es regnete heftig und prasselnd. Dreihundert Meter vor dem Dreieck Vulkaneifel stand ein Laster quer, blaue Lichter kreisten, die Polizei war da, die Feuerwehr, das Deutsche Rote Kreuz. Der Laster hatte einen kleinen PKW durch die Leitplanken gedrückt, er sah aus wie eine zerknäulte Bierdose. Wir fuhren langsam vorbei und rollten dann weiter.

Meine Kater Paul, Willi und Satchmo hatten sich wie üblich vor der Haustür versammelt und warteten. Aber sie wirkten nicht gelassen, irgendetwas machte sie unruhig.

»Sie haben Hunger«, konstatierte Emma.

»Haben sie. Aber da muss noch etwas anderes sein.«

Das Gartentor stand auf, da lag ein weißer Zettel auf der Biotonne. In flüssiger Schrift stand da: »Keine Bange, ich bin es nur.«

Der Schamane lag tief schlafend unter der Birke, die ich in Rengen mit Genehmigung geklaut hatte, als ich den Garten anlegte. Wir weckten ihn nicht. Wir gingen ins Haus, ich setzte einen Kaffee an, Rodenstock nahm im Wohnzimmer Bilder von der Wand und klebte drei breite Bahnen Packpapier auf, Emma verschwand irgendwohin und kam in einem Trainingsanzug wieder. Dann versammelten wir uns.

»Dann wollen wir mal sehen, was der Dr. Xaver Manstein uns zu erzählen hat.« Rodenstock hatte eines der uralten Kassabücher vor sich gelegt, auf dem in großen kursiven Lettern 1888 stand. Es dauerte eine Weile, dann sagte er: »Der war offensichtlich an allem interessiert, was so in Gerolstein passierte. Hier, im Mai, schreibt er wörtlich:

Tragischer Unglücksfall am Hang zur Munterley. Der Knecht Alwin Servatius kommt mit einem Pferdefuhrwerk zu Tal gefahren. Die Pferde gehen durch, er kann nicht mehr bremsen, die Pferde jagen ungezügelt auf die Kyll zu, der Wagen wird auf einen Felsen geworfen und stürzt um, der Mann wird vorwärts geschleudert, und nichts kann ihm mehr helfen.

Am 28. Mai 1888 - sieh mal einer an – notiert der Arzt:

S.M. wird unruhig, trinkt ungewöhnlich viel. Ich vermute einen desolaten Zustand in seiner Ehe. Versuche ihn anzusprechen. Er reagiert jedoch nicht.

Dann, am 31. Mai, notiert er:

S.B. war heute zu Gast. Traf auf S.M. und dessen Frau. Habe den Eindruck, dass sie sehr weich wird, wenn sie ihn sieht. Irgendetwas zwischen S.B. und S.M.s Frau geht da vor. Genau registriert: S.M. muss es bemerkt haben, reagiert jedoch ungewöhnlich gelassen, reagiert gar nicht.

Dann folgen andere Dinge, die mit Tutut nichts zu tun haben. Am 2. Juni steht da:

Eindeutig Liebesgesch. zwischen S.B. und dem Drachen. Die Frau zetert nicht mehr, sehr angenehm. Frage mich, wie S.M. reagiert. Müsste wütend reagieren. Warum nicht?

Moment, Moment. Es geht weiter am 4. Juni. Da heißt es:

Traf S.M. im Hotel und deutete an, dass ich die Liaison zwischen seiner Frau und S.B. bemerkt habe. S.M. sieht mich an und nickt, nichts sonst. Nickt einfach. Sagt dann: Kann damit leben, ist sogar eine Erleichterung. Hat selbst eine Frau gefunden. Tiefe Gefühle, sagt er. Ich frage mich: Wer ist die Frau?

Damit ist dann Schluss am 4. Juni.« Rodenstock sah Emma an. »Was sagst du?«

»Unsere Geschichte bekommt Profil«, murmelte Emma. Sie hatte die Daten und Ereignisse mit einem breiten Filzstift auf das Packpapier an der Wand geschrieben. »Das steuerte wohl auf einen Riesenskandal zu, denke ich. Der Arzt hatte Bedenken, suchte wahrscheinlich solidarisch nach Lösungsmöglichkeiten. Sicherlich hatte er keinen Totschlag im Kopf.« Sie legte den Kopf schräg. »Ich glaube übrigens, dass der Dr. Helmholtz in Trier unbedingt recht hatte: Niemals war Wesendonker, den sie alle S.M. oder Schniggers Michel nennen, allein bei Tutut. Wahrscheinlich war der Richter bei ihm. Aber, mach mal weiter, Liebling, vielleicht hat Xaver Manstein noch Botschaften für uns.«

»Hier ist etwas. Am 10. Juni schreibt er:

Die Frau ist M.H., die Bäuerin vom sogenannten Hexenhof. Hat keinen guten Ruf. Gilt als liederliches Frauenzimmer, hat oft im Hotel bedient, aber auch in der alten Kneipe hier am Ort. Sie ist hübsch, sie wirkt sinnlich, kein Mann, der ihr nicht gern zusieht, wie sie bedient und lächelt.

Sieh mal einer an, fast ein Lyriker, der Herr Medizinalrat Dr. Xaver Manstein. Er notiert weiter, sogar unter Benutzung der Klarnamen:

Wesendonker hat sich mir offenbart. Er liebt die Bäuerin. Er war auf dem Hexenhof, um fällige Steuern zu erheben. Bauer Hansen war nicht da, verbarg sich vermutlich in der Scheune. Die Bäuerin war voller Angst. Wesendonker hat sie beruhigt, sie könnten sich Zeit lassen. Dann haben sie sich nach dem morgendlichen Melken getroffen. Im Lager des Boten. Gütiger Himmel, wenn das ruchbar wird, wird Gerolstein erbeben. Wir brauchen eine schnelle Lösung.«

»Also war der Arzt solidarisch«, murmelte ich. »Er wollte den Liebesleuten helfen, er suchte nach einer Lösung. Das ist doch tröstlich. Wann geht es weiter?«

»Am 12. Juni schon. Manstein notiert:

Tutut idealer Kurier, wäre im Kriege unersetzbar. Bewegt sich pausenlos in Gerolstein, holt Botschaften aus Verstecken und schafft sie in solche. Er gibt S.M. und M.H. Schutz, verbirgt sie im eigenen Lager, riskiert Kopf und Kragen, transportiert des Richters Botschaften und die Botschaften des Drachen, muss wohl sagen, der wie verwandelten Ehefrau des S.M. Ich denke, sie weiß von Maria H. Ich weiß ziemlich verbindlich, dass der Richter zu ihr ins Haus schleicht (von hinten über den Burgberg1.), wenn ihr Mann bei M.H. in Tututs Lager ist. Komisch ist das Ganze auch.«

Mein Handy meldete sich, und ein aufgeregter Vater Schmitz murmelte in leichter Atemnot: »Ich weiß, es ist geradezu unsittlich, sich mitten in der Nacht zu melden. Aber meine Tochter hat einen Liebesbrief in Händen. Und außerdem acht Zettel voller Zärtlichkeiten. Früher hat man das wohl Billetdoux genannt. Wollen Sie diesen Liebesbrief?«

»Mitten in der Nacht?«, fragte ich schrill.

Er lachte. »Es ist spannend, bei einer Doktorarbeit zu helfen. Ja, mitten in der Nacht. Außerdem klingen Sie nicht so, als hätte ich Sie aus dem Tiefschlaf geholt.«

»Wir haben die Aufzeichnungen des Arztes Dr. Xaver Manstein in Besitz, wir erstellen gerade einen zeitlichen Ablaufplan. Und wie sind Sie an den Brief und die Zettel gekommen?«

»Ganz einfach. Es ist längst rund in Gerolstein, was meine Tochter vorhat. Und gegen Abend schellt es an meiner Haustür, und draußen steht eine Frau, die für die Caritas arbeitet. Sie sagt, sie hätte vom alten Fräulein Hasewinkel - die hieß wirklich so - einen Haufen Korrespondenz geerbt. Und da sei die Rede von Liebschaften aus dem damaligen Gerolstein. Fräulein Hasewinkel war die alte Lehrerin, älter als ein Dinosaurier. Sie ist vor vier Jahren hoch in den Neunzigern gestorben. Und woher die die Briefe und Zettel hatte, kann auch unsere Informantin nicht sagen. Fräulein Hasewinkel hatte sie einfach. Also, was ist? Können wir eben vorbeikommen? Und - stellen Sie sich das einmal vor: Der Richter Severus Brandscheid hat die Ehefrau des Steuereintreibers Karl-Heinrich Wesendonker mit >Geliebte Haselmaus< angeredet.« Er prustete vor Heiterkeit.

»Dann kommt her«, sagte ich gnädig. »Ich komme mir sowieso schon vor wie ein Barbesitzer.« Zu Emma und Rodenstock: »Die Schmitzens fallen gleich mit ein paar Dokumenten ein. Also, weiter in der Zeitskala. Der Arzt weiß alles, der Apotheker weiß wahrscheinlich auch alles.«

»Der nächste wichtige Eintrag für uns«, murmelte Rodenstock, »betrifft den 15. Juni 1888:

Tutut macht unseren Blumengarten sauber. Frage ihn, was er alles weiß. Er lacht und antwortet: Tutut weiß alles, wirklich alles. Aber Tutut schweigt wie ein Grab. Da frage ich mich, ob er wie ein Grab schweigen wird, wenn jemand mit ein paar Münzen klimpert.

Der Steuereintreiber verfolgt wahnsinnige Idee: Will mit Maria Hansen nach den USA auswandern. Sagt: Das ist das Beste für alle. Sagt: Ich verschwinde ohne Spur, meine Frau hat freie Bahn. So verrückt, wie das zuerst klang, kommt mir das gar nicht vor. Unter besonderen Umständen muss zu besonderen Mitteln gegriffen werden. Gleich einen Tag später steht da: Der Apotheker Toombers fürchtet, dass die Opposition sich an Tutut heranmachen könnte. Mit Bargeld. Der Apotheker ist ein furchtsamer Mann, ein guter Pfleger, ein miserabler Ehemann und Vater, aber ein treuer Freund.

Merkt ihr was, Leute, da fängt der Skandal zu kochen an. Nicht der Arzt hat Furcht, nicht der Wesendonker, nicht der Richter, sondern ausgerechnet der eigentlich gar nicht beteiligte Apotheker Toombers. Wieso das?«

»Darf ich was dazu sagen?«, bat ich demütig, worauf Emma und Rodenstock grinsten. »Es ist meines Erachtens nach so, dass da ein Stammtisch der bürgerlichen Elite zusammenhockte. Und zwei höchst ehrenwerte Mitglieder des Stammtisches, nämlich der Richter und ein Steuerbeamter, geraten in durchaus ernsthafte Beziehungsschwierigkeiten. Es ist offensichtlich so, dass die Herrenrunde dabei solidarisch ist und sich keineswegs von den zwei Herren abwendet. Im Gegenteil, denn es geht ja auch um den gutbürgerlichen, soliden Ruf der ganzen Runde.

Ich verstehe immer besser, wie hoch der Druck zu diesem Zeitpunkt ist. Und man muss wissen, wie das damals zuging. Angenommen, es wird offen zur Kenntnis genommen, dass der höchst ehrenwerte Richter ein intimes, außereheliches Verhältnis mit der Ehefrau eines preußischen Steuerbeamten hat, dann wird dieser Richter buchstäblich in die Walachei versetzt. Und zwar nicht als Richter, sondern als billiger Büttel, vielleicht als Verwalter eines preußischen Gefängnisses im hintersten Mecklenburg. Genau dasselbe wird dem Steuereintreiber Karl-Heinrich Wesendonker widerfahren, wenn seiner Behörde zu Ohren kommt, dass er ein intimes Verhältnis mit der Ehefrau eines Eifler Bauern hat. Für beide Männer bedeutet dies das absolute berufliche Aus, es bedeutet aber auch wesentlich geringere Einkünfte. Und noch etwas fiel mir auf: Angenommen, der Skandal kocht hoch, die Verhältnisse werden öffentlich, dann wird jedermann in Gerolstein denken: Wenn der höchst ehrenwerte Richter so etwas treibt, was ist dann mit dem Apotheker, was ist dann mit dem Medizinalrat. Es ist, als ob du einen Stein ins Wasser wirfst - immer weitere Kreise werden gezogen, in Daun wird man ebenso darüber sprechen wie in Wittlich oder Bitburg oder Trier oder Koblenz. Unter dem Druck eines möglichen Skandals kann es zu verrückten Reaktionen kommen. Und eine dieser Reaktionen war Tututs Tod.«

»Wahrscheinlich war die Elite Gerolsteins in einem höchst aufgeregten Zustand, der mit rationalen Maßstäben überhaupt nicht erklärbar ist«, sagte Emma. »Und bei allen unseren Überlegungen müssen wir davon ausgehen, dass nichts undenkbar war. Wirklich gar nichts.«

»Gut, einverstanden«, nickte Rodenstock. »Also, weiter im Text. Weitere vier Tage später steht hier in unserer Sache folgender Eintrag:

Gestern kommen beide Paare zu mir als Patienten. Unabhängig voneinander. Sie hatten wohl dieselbe Idee. Alle vier sind zittrig und nervös, alle vier wissen nicht, wie es weitergehen wird. Versuche, sie zu beruhigen. Kein Erfolg. Wesendonker sagt: Ich will weg hier, nur weg. Der Richter sagt: Ich muss weg hier, nur weg. Die Bäuerin Hansen hat die Erlaubnis der Verwaltung bekommen, auszuwandern. Der Ehemann wurde nicht verständigt, weil alle wissen, dass er sie dauernd züchtigt und quält, Jedermann scheint zu begreifen, dass die Frau fliehen will, nur fliehen, weit weg. Großer Gott, ich danke Dir für meine gute Ehe.

Merkwürdig, wieso benutzt er keine Kürzel? Wahrscheinlich, weil er weiß, dass niemand diese Bücher liest, niemand sich traut, sie aufzuschlagen. - Oh, was ist das ? - Ach du lieber Himmel! Hier steht unter dem Datum 22. Juni 1888:

Erwischt! Im Heu erwischt. Musste Kaplan den Arsch verbinden. Heugabelstich! Kaplan war zu Gast bei adligen Gastgebern in Dreis. Kam hierher, weil er von hier stammt. Traf eine Schulkameradin, Tochter eines Bauern. Sie landeten im Heu oben über der Munterley. Der Vater fand sie in unsittlicher Position. Daher die Heugabel.«

Rodenstock grinste wölfisch. »Diese Aufzeichnungen sind Gold wert. Am 23. Juni geht es mit Tutut weiter. Hier steht:

Bauer Hansen gibt auf. War sowieso nicht von hier. Geht an die Mosel. Ist also verreist. Prompt erscheint Wesendonker, prompt erscheint die Frau des Hansen. Liebe ist seltsam, ist komisch, ist vollkommen meschugge. Apotheker Toombers ist ängstlich. Sagt: Tutut wird nicht schweigen, wenn jemand Geld bietet. Rede mit Tutut, der immer noch unseren Garten bestellt. Tutut sagt: Ich habe noch nie im Leben geredet. Ist mein Brot, dass ich nicht rede. Der Mann ist ehrlicher als mancher hier in der Stadt. Der Kaufmann Ernst Mogge sagte gestern Abend im Hotel, man müsse zusammenstehen. Der Mann hat recht. Vereinbare mit dem Drachen, dass, wenn ihr Mann verschwunden ist, wir eindeutig aussagen, dass er in eine lange währende Kur gegangen ist. Das bringt Zeitgewinn

Es geht weiter am 28. Juni. Wörtlich:

Wir haben das alles fest im Griff, die Bürgerschaft ahnt nichts und wird nie etwas erfahren. Wir vereinbaren eine geheime Konferenz. Der Stammtisch wird in drei Tagen nach Hillesheim marschieren. Wir nennen es das Sommerfest, irgendeinen Titel muss das Kind ja haben. Im Augenblick treffen sich die vier in Tututs Lager hoch oben am Anberg.

Ich brauche Kaffee!«

Ich goss ihm eine Tasse ein.

Emma sagte: »Wir kriegen allmählich ein lückenloses Bild. Und allmählich fallen mir die Augen zu. Nehmen wir einmal an, Wesendonker traf den Richter Severus Brandscheid. Sie kamen zu dem Schluss, dass Tutut eine große Gefahr für sie sei. Sie gingen zu Tututs Lager, es kam zu der tödlichen Begegnung.«

»Das reicht mir nicht«, widersprach ich. »Wir vergessen das Grab, das wir ausgebuddelt haben. Da war Tutut, da war das Pferd, da war der Sattel. Und von diesem Grab bis hinunter zu Tututs Lager ist es eben nicht gerade ein kurzer Weg. Nehmen wir einmal an, der Richter und der Arzt werden zusammen mit zwei Gendarmen zum Ort des Verbrechens gerufen. Morgens sehr früh. Zu diesem Zeitpunkt ist meines Erachtens nach alles so belassen worden. Das heißt: Tututs Leiche war noch dort, die Leiche des Pferdes auch, der Karren und der Esel oder Maulesel von Tutut. Könnt ihr mir folgen? Das musste so sein, schon wegen der zwei Gendarmen, denen man ja etwas vormachen wollte. Und genau dieses Bild stimmt für mich nicht mehr. Deshalb bin ich dagegen, dass der Richter und Wesendonker zu Tutut gingen und ihn töteten. Es ist viel logischer, wenn sämtliche Teilnehmer des Stammtisches dort waren und mit vereinten Kräften aufräumten. Wer saß am Stammtisch? Der Arzt, der Richter, der Apotheker, der Kaufmann Mogge, der Lehrer, von dem wir noch gar nichts gehört haben, also mindestens fünf Männer. Ist es denn nicht viel einleuchtender, dass der ganze Stammtisch zugeschlagen hat?«

»Das kann sein«, nickte Emma. »Machen wir jetzt im Zeitplan weiter?«

»Pause«, sagte ich. »Da kommt Vater Schmitz mit seiner Verwandtschaft.«

Sie stolperten übermüdet, aber glücklich herein und setzten sich. Sie sahen den Zeitplan, und wir berichteten ihnen von den Aufzeichnungen des Arztes Dr. Xaver Manstein.

Es gab einiges Durcheinander, als Tessa begeistert schrie: »Wir haben die Lösung, wir haben die Lösung!«

Ingbert widersprach ihr sanft: »Wir haben sie noch lange nicht. Wir wissen immer noch nicht, wer denn Tutut erschlug. Es muss nicht Wesendonker gewesen sein, auch wenn er von dem Bär angefallen wurde.«

»Was habt ihr für einen Liebesbrief?«, fragte ich.

Vater Schmitz murmelte geradezu inbrünstig: »Also, wir wissen nicht, wie die alte Gerolsteiner Lehrerin Fräulein Hasewinkel das hier bekommen hat. Ich nehme einmal an, dass ihr das jemand einfach schenkte, weil sie die Lehrerin war. Sie wird viele Nächte lang darüber gegrübelt haben.« Er nahm aus einem groben braunen Kuvert zwei Bogen Papier und legte sie vor sich auf den Tisch. »Wunderschöne alte Schrift. Der Richter Severus Brandscheid schreibt an seine Geliebte, die Frau des Steuereintreibers Karl-Heinrich Wesendonker.

Das Datum ist der 1. August 1888. Der Text lautet so:

Geliebte Haselmaus!

Bald hat alle Not ein End. Ich werde dieses Schreiben an der gleichen Stelle in der alten Bruchsteinmauer deponieren, die wir ausgemacht haben. Unser sehr rühriger Bote wird es nehmen und mit sich tragen und hinter euer Grundstück gehen und unter den Stein legen. Die Wege dieser Briefe sind, gelinde gesagt, eigentümlich, aber notwendig, und wenn wir lieben, sind wir allesamt wie die Kinder. Unserem Glück soll nichts mehr im Wege stehen können. Dein Mann wird Gerolstein am 1. September verlassen, das hat er mir mitgeteilt und gleichzeitig zu erkennen gegeben, dass er von diesem Tage an nie mehr wieder den alten Kontinent betreten und sich auch nicht mit einem Brief oder einer Depesche melden wird. Das, was uns anfangs als Unglück erschien, haben wir nun zum Besten gewendet.

Man hat mir aus Cölln die Nachricht gegeben, dass meine Bitte um Versetzung in die Hauptstadt des Reiches auf freundlich zugeneigte Ohren trifft und dass man durchaus daran denkt, noch im Laufe dieses Jahres die Versetzungsurkunde nach Berlin hierherzuschicken.

Ich weiß zutiefst, dass Du immer noch große Schwierigkeiten hast, Deine geliebte Seele frei zu machen für einen neuen Anfang. Zu tief in Dir ist die eheliche Treue verankert, ganz so, wie Mutter Kirche es von ihren Kindern fordert. Aber glaube mir, Dein Leben wäre immer bitterer geworden an der Seite eines Mannes, dem Du gewissermaßen als Magd von Deinen Eltern anvertraut wurdest und den Du nicht lieben konntest.

Ich denke, dass wir Menschen innerhalb der Schranken unserer Gesellschaft nur mühsam leben können und gar oft gezwungen sind, unsere wahren Gefühle zu verbergen und sie vor allem nicht leben zu können. Ich frage mich, wie viele Menschen denn in genau der gleichen Not stecken und niemals die Möglichkeit haben, ein anderes Leben zu beginnen. Wir haben diese Möglichkeit durch Gottes Güte erfahren.

Glaube mir, Geliebte, Dein Mann ist kein schlechter Mann und seine Schritte in Richtung auf ein neues Leben auf dem weit entfernten Kontinent waren ihm mühsam. Er hat stets darüber sinniert, dass er Dich nicht verlassen kann, ohne dafür zu sorgen, dass es Dir gut ergehen möge. Nun hat er dafür gesorgt und wird fortgehen in ein anderes irdisches Leben.

Die Maria Hansen ist arg gequält worden von ihrem Ehemann, und auch sie hat es verdient, ein anderes Leben zu leben. Sei also zuversichtlich - ich sehe Dich im Hause vom Toombers am Sonntag auf einen Kaffee und Kuchen. Und ich sage Dir, es fällt mir sehr schwer, Dich nicht zu berühren und die Fassung zu wahren.

Ich liebe Dich. S«

»Du lieber Himmel«, hauchte Emma ehrfürchtig. »Die große Liebe, die wirklich große Liebe.«

»Da war noch die Rede von acht Zetteln oder Botschaften«, warf ich ein. Ich war erneut an einem toten Punkt, die Augen drohten mir zuzufallen, es war jetzt zwei Uhr fünfzig.

»Ja, ja«, nickte Tessa eifrig. »Hier sind die Zettel. Und sie sind nicht mal verklausuliert. Und geschrieben haben sie der Richter, die Frau Wesendonker, die Frau Hansen und der Wesendonker. Ich frage mich, wie die alte Lehrerin daran kam, aber wahrscheinlich wird das zu den Dingen gehören, die wir nie mehr klären können.

Der erste Zettel stammt von der Maria Hansen. Da steht in fehlerhafter Schrift:

Glaubst du, dass der Bote den Mund wird halten können?

Der Zettel ist nicht datiert. Der nächste Zettel lautet auf das Datum vom 31. Mai. Frau Wesendonker schreibt an den Richter Severus Brandscheid:

In aller Klarheit hat meine Seele es bis gestern nicht gewusst. Ich liebe Dich, ich liebe Dich so sehr. Deine Haselmaus.

Dann ein Zettel vom Wesendonker an Maria Hansen:

Will Dich morgen sehen, muss Dich morgen sehen, kann es nicht mehr erwarten. Zu groß ist das Glück, das mit Dir in mein Leben einzog. K.H.

Dieser Zettel ist undatiert. Dann ein datierter Zettel vom 14. Juni 88 vom Richter an Frau Wesendonker:

Geliebte Haselmaus! Habe die ganze Nacht an Dich und Dein bebendes Herz gedacht. Konnte nicht schlafen, wollte auch nicht schlafen, habe mir höchst vergnügliche Dinge gedacht und bin morgens frisch wie der Tau in mein Büro marschiert. S.

Dann wieder Maria Hansen an Karl-Heinrich Wesendonker, wieder undatiert:

Geliebter Mann, ich habe wohl eine schwere Sünde auf mich geladen. Mein Mann trinkt sehr viel und wollte mir wieder Gewalt antun. Ich war nicht gehorsam, ich habe mich nicht gefügt. Es war im Stall, und die Tiere sind dann immer sehr aufgeregt, wenn etwas passiert. Ich lag da im Mist, und er schlug mich. Und mein ganzes Elend stand vor meinen Augen. Und ich habe geschrien, er solle mich doch verschonen, aber er wollte mich nicht verschonen. Und dann habe ich mit einem Knüppel zugeschlagen und sein Gesicht getroffen. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, aber ich habe den Knüppel gegriffen, den er sonst benutzt, wenn die Tiere beim Melken nicht sauber in einer Reihe stehen wollen. Gott sei mir gnädig, mein Geliebter. Ich gehe morgen früh gegen neun Uhr beim Krämer Nähsachen einkaufen. Ich hoffe so sehr, Dich zu sehen. Sei es auch nur, um zu erleben, wie Du an mir vorbeigehst, Beinen Hut hebst und Guten Morgen zu mir sagst. Komisch, irgendwie finde ich das lustig. Stets Deine M.

Dann hier der datierte Zettel von Frau Wesendonker an den Richter vom 12. Juli 88:

Ich weiß immer noch nicht, mein Geliebter, wie unser gemeinsames Leben aussehen soll. Und eine gute Köchin bin ich auch nicht. Karl-Heinrich hat das immer mit der allergrößten Geduld ausgehalten, nur einmal hat er gar nicht einmal unfreundlich ausgerufen: Mit deinen Reibekuchen könnte man das Haus für alle Ewigkeit decken. Da haben wir beide gelacht, und recht hat er gehabt, es waren ganz scheußliche Reibekuchen und sehr versalzen. Man sagt ja, verliebte Köchinnen nehmen immer zuviel Salz. Heute hatte ich im Krämerladen eine komische Begegnung. Die Frau vom Mogge stand neben mir und sagte plötzlich: Da hört man ja Enormes von Veränderungen, die auf uns zukommen sollen! Ach ja, habe ich geantwortet, was meinen Sie denn? Und sie druckste herum und sagte dann: Ich meine die neue Firma Gerolsteiner Brunnen. Da kommen ja große Veränderungen. So wird es sein, habe ich geantwortet, fetzt frage ich mich: Weiß die etwas, hat da irgendein Mensch ein Sterbenswörtchen ausgeplaudert? Ich hoffe, Du kannst mich beruhigen. Deine Dich liebende Haselmaus.

Der siebte Zettel ging von Wesendonker an Maria Hansen. Er ist ziemlich lang, undatiert und lautet so:

Habe ein Exemplar der Beiblätter der Illustrierten Zeitung ergattert, in dem zu lesen steht, was uns erwartet. Wir werden in New York ausgeschifft und treten dann die Reise in die Gegend der Oberen Seen an, in die Nähe von Chicago. Wir können dort im Grunde tun und lassen, was uns beliebt, sofern es uns nur gelingt, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Wir können akzeptieren, dass uns die Regierung der Vereinigten Staaten einige Äcker kostenlos zur Bebauung überlässt, wir können jedoch auch gänzlich auf Ackerbau verzichten, wenn sie denn einen Verwaltungsbeamten mit meiner Erfahrung brauchen können. In der Illustrierten steht, dass es an Fachkräften meiner Art erheblich mangelt... «

»Entschuldige die Unterbrechung. Aber wieso nennt ihr das Zettel, obwohl die Nachrichten eigentlich Briefe sind?«

»Wir haben sie Zettel genannt, weil sie ohne Kuvert sind, weil sie wahrscheinlich ohne Kuvert zugestellt wurden.«

»Konnte Tutut schreiben?«, fragte ich weiter.

Eine Weile herrschte betroffenes Schweigen.

Emma formulierte langsam. »Wenn er lesen und schreiben konnte, und das sollte man von einem klugen Zigeuner annehmen, kannte er den Hintergrund der ganzen Affäre. Mit anderen Worten: Wäre er ein mieser Charakter gewesen, und hätte er den Versuch unternommen, die ehrenwerten Herren zu erpressen, dann hätten sie ihm zahlen müssen, was immer er wollte. Aber bisher spricht nichts für diese Möglichkeit. Und todsicher hätte in den Briefen und Zetteln irgendetwas davon gestanden. Selbst wenn Tutut lesen konnte, er hat sein Wissen nicht benutzt. Bisher fehlt dafür jeder Beweis.«

»Kann ich weitermachen?«, fragte Tessa. »Also, es geht weiter: ...

dass es an Fachkräften meiner Art erheblich mangelt und dass ich somit wahrscheinlich in jeder öffentlichen Verwaltung tätig werden kann.

Ich weiß, das wäre eine große Lebensumstellung für Dich, aber wäre es denn nicht auch eine gute Möglichkeit, der schweren Arbeit des bäuerlichen Standes zu entkommen? Du könntest dann unserem Haushalt vorstehen und für uns sorgen und brauchtest Dir keine Mühsal mehr zu bereiten. Überlege Dir das genau, meine geliebte Maria, noch ist Zeit, noch drängt nichts. Da ich wegen des Teilverkaufs meines Hauses im Besitz einer einigermaßen angemessenen Barschaft bin, können wir jedoch auch direkt von New York aus in den Süden gehen. Nach der Halbinsel Florida oder nach Louisiana oder Texas. Dort ist das Wetter angenehmer, und die Winter sind milde. Die meisten, die mit uns auf dem Schiffe reisen werden, müssen nehmen, was sie kriegen können. Das bedeutet in der Regel eine Zukunft als Bauer.

Wir dagegen haben es fürstlich, wir können tatsächlich auswählen.

Falls irgendetwas dazwischenkommt: Deine Passagekarte liegt in Amsterdam bei der Schifffahrtslinie, deren Adresse Du auswendig lernen wolltest. Ich denke nicht, dass das Schicksal uns noch einen Streich spielen wird. Hoffe mit mir. Ich liebe Dich. K.H.

Dann noch ein letzter Zettel von Frau Wesendonker an den Richter Severus Brandscheid, geschrieben am 15. Juli 1988. Der Wortlaut:

Geliebter! Ich glaube, ich habe Misstrauen gegen Tutut in Deiner Stimme entdeckt. Aber warum sollte er irgendetwas verraten? Sieh mal, er bekommt von allen kleine oder große Münze. Von Dir, von mir, von Maria Hansen, von meinem Mann, sogar von Dr. Manstein, für den er den Garten macht und andere Besorgungen. Außerdem ist am 1. September, wenn mein Mann spurlos verschwindet, unsere größte Notzeit vorbei, und wir können uns in Ruhe und Besonnenheit auf ein neues Lebensglück einrichten. Also, Geliebter, sei mutig! Deine Dich liebende Haselmaus.

Das wäre es, Leute, und ehrlich gestanden reicht mir das auch.«

»Mir nicht!«, widersprach Ingbert mit wissenschaftlicher Strenge. »Mir durchaus nicht. Was wissen wir denn? Gut, zwei Liebesgeschichten, wahrscheinlich keine lokale Politik im Spiel. Ein ganzer Stammtisch nimmt Anteil, wie zwei gestandene Männer eine neue Frau kriegen und ein neues Leben suchen. Haben ihn nun die zwei umgebracht oder haben sie nicht? Da frage ich die Fachleute, da frage ich Emma und Rodenstock.«

Emma sagte erstaunlicherweise: »Ich brauche noch ein wenig Zeit, mir darüber klar zu werden, was geschehen sein könnte. So viel steht fest: Es gab Tutut gegenüber bereits viel Misstrauen. Rodenstock? Einverstanden?!«

»Ja, Misstrauen gab es.« Rodenstock nickte. »Ich würde am liebsten hingehen und die Stunde vor der Tat, die Tat selbst und die Stunde nach der Tat in Sekundenscheiben schneiden, um herauszufinden, was sich wirklich ereignet hat.

Der oder die Täter hatten einfach eine Unmenge zu erledigen. Und eins steht fest: Die Leiche Tututs sowie die des Pferdes sind nicht erst morgens abtransportiert worden, als man die Tat entdeckte. Ich gehe jede Wette ein, dass zum Zeitpunkt des Eintreffens der beiden Gendarmen, des Richters und des Arztes, der Platz im Grunde aufgeräumt war. Kein Tutut mehr, kein totes Pferd mehr ...«

»Aber dann stimmt doch einiges andere nicht«, sagte Tessa wild. »Man kann doch nicht mit zwei Gendarmen an einem Tatort aufkreuzen, der keiner mehr ist.«

»Oh doch«, sagte ich ebenso heftig. »Genau das kann man. Der Richter kann den Gendarmen erzählt haben, er sei schon des Nachts dort gewesen, und jetzt ginge es nur darum, den Platz ein wenig aufzuräumen. Und dann fügt der Richter hinzu: Leute, ich verlasse mich felsenfest darauf, dass hierüber kein Wort zu irgendeinem Menschen gesagt wird. Und die Gendarmen werden nichts sagen und ihre Erinnerungen mit ins Grab nehmen - wortlos. Gerede wird es allerdings gegeben haben, schließlich wusste man ja von Tutus Tod.«

»Aber das würde bedeuten«, murmelte Tessa entsetzt, »dass bereits in der Nacht... «»Oh nein, oh nein«, sagte Ingbert zufrieden und leise. »Herr Baumeister geht davon aus, dass einer oder zwei, Wesendonker bzw. Wesendonker und der Richter, zu Tutus Lager gingen, und dass der ganze Stammtisch geschlossen hinter den Nachbarbüschen steckte, um zu lauschen und zuzusehen - und anschließend aufzuräumen.«

»Genau«, sagte ich. »Genau das meine ich.«