Morgens um sieben war die Welt noch in Ordnung, die Sonne schien, mein Teich lag zur Hälfte in gleißendem Licht, ein Feuerschwanzlibellenpaar versuchte einen Hochzeitsflug und machte eine Bruchlandung auf einem Seerosenblatt, weil irgendetwas nicht klappte.
Ich warf den Fischen eine Handvoll Futter in das Wasser und wartete, dass sie kamen. Sie kamen und wirkten ausgesprochen dümmlich, weil sie immer so aussehen, als habe ihnen jemand einen Kaugummi gegen schlechten Mundgeruch verordnet. Und weil ich gut gelaunt war, fand ich, dass sie aussahen wie eine Meute hungriger Menschen, die bei McDonald's auf den argentinischen Einheitsbrei warten.
Satchmo sprang durch die Zaunlücke von der Kirche hinauf, hielt eine beachtlich große Maus im Maul und brüllte trotzdem seinen Triumph hinaus. Er kam an den Teichrand, setzte die Maus wie ein Spielzeug sorgfältig ab und ließ sie laufen. Die Maus sauste im Geschwindschritt die Schräge in den Garten hinunter und war im Gras verschwunden. Satchmo schien das nicht im Geringsten zu interessieren, bis er sich kurz straffte und die zwei Meter im Flug erledigte. Dann hielt er die Maus im Maul und jaulte, als habe er den Gral gefunden. Das würde eine Weile so weitergehen, aber fressen würde er sie nicht. Das war absolut unter seiner Würde.
Unter dem Basaltbrocken am Moorbeet hatten sich wie üblich etwa fünfzig kleine Frösche versammelt, die nicht größer waren als der Nagel meines kleinen Fingers. Als die Sonne sie traf, bewegten sie sich unruhig. Ich wusste nichts über ihre Nacht und ihren Tag, ich wusste nur, dass sie wachsen und dann verschwunden sein würden, um irgendwann wieder aufzutauchen und ihre Eier in meinen Teich zu legen. Vielleicht würden ein oder zwei die Reise überleben, Glück haben. Das Gartenrotschwänzchen kam, tschilpte laut, nahm schnell von einem Stein aus Wasser auf und verschwand wieder.
Schwalben und Mauersegler huschten durch die Luft und jagten Futter für ihre unersättliche Brut. Es war ein Eifelmorgen, er war still und voller Leben, und nur selten kam ein Auto vorbei.
Dann schrillte das Telefon, und ich ging nicht sonderlich schnell an den Apparat. Es war Dr. Michael Winter aus Koblenz, und er war aufgeregt.
»Wir suchen doch nach alten Katastereinträgen an der Ahr. Wir wollen rausfinden, wer die Grundstücke und Häuser der Juden übernahm. Das ist vielleicht ein heißes Ding. Wollen Sie es wissen?«
»Will ich.«
»Tut mir leid, dass ich so früh anrufe. Also, es existieren sechstausend Akten über diesen Vorgang im Bereich des Bundes. Aber die Akten unterliegen angeblich dem Datenschutz, sie werden nicht herausgegeben.«
»Dann müssen wir den krummen Weg nehmen und über einzelne Hausbesitzer gehen, die genau wissen, dass ihr Haus einmal ein jüdisches Haus war.«
Er schwieg einen Augenblick. »Ich habe jedenfalls in ein Wespennest gestochen. Meine Nachfrage war denen richtig peinlich. Sehen wir uns?«
»Wir sehen uns.« Wir machten einen Termin aus. Er war von der nachdenklichen Sorte, er war ein angenehmer Mensch, ein Vollblutjournalist.
Rudi Latten stand in der Tür. »Ich nehme mal deine Mähmaschine auseinander und schärfe das Messer.« Er grinste. »Ich habe sowieso nichts zu tun.«
»Dann mach mal, du Mähmaschinenmesserschärfer.«
Er verschwand hinter dem Haus, und ich lobte das Dorf. Wer hat schon Nachbarn wie diese?
Paulchen rieb sich an meinen Beinen, und ich gab ihm etwas von dem Industriefutter, das er über alles liebte. Huhn und Karnickel in feiner Soße. Willi fehlte, ich hatte Willi überhaupt noch nicht gesehen, und wahrscheinlich hatte er wieder einmal seinen Spezialtrick benutzt. Ich ging also in das Schlafzimmer und fand ihn unter der Decke. Er schlief fest und anscheinend traumlos. Es ist jeden Morgen dasselbe Theater: Er wartet vor der Tür, bis ich schlaftrunken herauskomme, wischt dann in den Raum hinein unter das Bett und sucht sich anschließend genussvoll den wärmsten Platz. Ich nahm ihn, sagte »Guten Morgen« und warf ihn raus. Er war beleidigt und verdrückte sich hüftschwenkend, sein Hintern war reinste Verachtung.
Hermann, der Hans Dampf in all meinen Hausgassen, rumorte auf dem Dachboden herum, ein Radio dudelte »Ich hab dich so lieb«, es war alles in allem ein ganz normaler Start in den Tag.
Nicht so normal war der Anruf Günther Probsts von der Dauner Burg, der guttural und bedächtig etwa folgendes Statement abgab: »Also, Sie sollten vielleicht mal kommen. Also, wir könnten ja einen Happen zusammen essen. Frühstück also. Kaffee oder Tee? Na ja, ist ja alles da. Ich hätte nämlich eventuell eine Story für Sie, also eine ziemlich ... na, wie sagt man da? Also eine ziemlich verrückte Geschichte. Ur-Bayern würden das deppert nennen. Also komisch irgendwie. Also ... «
»Ich komme gleich. Das passt mir gut.« Und weil er ein feines Hotel hat, rasierte ich mich.
Ich rollte über den Querverbinder nach Rengen und hatte eines dieser Erlebnisse, die so typisch für die Eifel sind. Da stand rechts am Straßenrand ein Golf mit Warnblinkanlage. Der Fahrer kniete vor dem Fahrzeug im tiefen Gras und beschäftigte sich mit irgendetwas. Ich bremste, stieg aus und ging zu ihm.
Der Mann war etwa fünfzig, trug Arbeitskleidung und kniete vor einem jungen Rehbock. Das Tier litt, hatte einen zerschmetterten rechten Lauf, das Bein war verdreht und das Sprunggelenk unnatürlich angewinkelt. Das Tier stöhnte in einem festen Rhythmus, es klang erbärmlich.
»Ist mir reingesprungen, verdammt noch mal«, sagte der Mann. Es klang wie türkisches Deutsch, es klang hart und bekümmert. »Weißt du, ist mir einfach reingesprungen. Ging zu schnell, ging sehr schnell. Husch, war er raus aus dem Gebüsch und knallt mir auf den Kotflügel. Kannst du sehen, ist Beule. Ich konnte nichts machen.«
»Hast du den Förster angerufen? Oder sonst wen? Hast du ein Handy?«
»Ja, habe ich. Aber habe ich keine Nummer. Handy ist für meine Frau. Die hat Asthma und kann mich anrufen, aber ich rufe nie an.«
»Die Bullen vielleicht, äh, die Polizei?«
»Na ja, aber weiß ich nicht die Nummer. Notruf, oder so. Oh verdammt noch mal!« Er streichelte dem Tier ununterbrochen über den Kopf. »Muss ich in Apotheke, muss ich Medikament holen für Asthma. Oh, Scheiße! Kannst du totmachen?«
»Ich? Bist du verrückt?!«
»Ich kann auch nicht, ich kann so was nicht. Wer kann so was?«
»Vielleicht Förster, vielleicht Polizisten. Ich weiß nicht. Ich telefoniere mal.« Ich ging zu meinem Wagen und rief die Polizei an. Sie sagten, sie würden vorbeikommen.
»Polizei kommt gleich«, murmelte ich.
Er sagte: »Meine Frau ist krank, schlimm krank. Muss ich Asthmamittel holen.«
»Dann fahr doch, ich bleibe hier.«
»Machst du das?«, fragte er.
»Na sicher mache ich das. Du kommst dann wieder hier vorbei, falls die Polizisten dich brauchen.«
»Das ist gut, Mensch«, sagte er und stand auf. Dann fuhr er los.
Jemand in einem lindgrünen Subaru rollte heran und stieg aus. Er trug Grün, was ich unter diesen Umständen für hervorragend hielt.
»Er hat Schmerzen, da ist eine Menge kaputt.«
Der Mann war vielleicht dreißig. »Das haben wir gleich«, sagte er. Er ging zu seinem Wagen und kam mit einem Brecheisen zurück. »Gehen Sie mal weg da«, sagte er.
Ich ging sogar ganz schnell weg, ich kann bei diesen Dingen nicht zuschauen.
Er sagte: »Ist schon erledigt.«
Ich sagte: »Die Polizei kommt gleich.«
»Ich mache das schon«, versicherte er und wischte sich die Hände an der Jeans ab.
Tod am Morgen.
Im Frühstücksraum waren eine Menge Leute, und offensichtlich waren sie alle gut gelaunt. Irgendjemand musste einen Witz erzählt haben, sie lachten alle lauthals. Ich erkundigte mich bei der Bedienung, ob ich mitlachen könnte, und sie flüsterte: »Der Belgier, der am runden Tisch, hat einen Blondinenwitz erzählt. Was sucht eine Blondine am Meeresgrund? Antwort: Leonardo di Caprio.« Sie kicherte, wurde wieder dienstlich. »Herr Probst hat den Tisch da ausgesucht. Er kommt gleich. Kaffee, Tee?«
»Weder noch. Schokolade.«
Dann kam Probst in seiner unnachahmlich geistesabwesenden Art in den Raum gesegelt. Er trug einen seiner leichten, braunen Anzüge, die so aussahen, als habe er vier Wochen drin geschlafen. Seine Anzüge sind aus Seide, sehen aber immer so aus. »Was ist? Lassen wir uns was Fleischiges mit Ei machen?«
»Nichts dergleichen. Ich bin sowieso zu fett.«
Er grinste und setzte sich mir gegenüber. »Was macht das weibliche Geschlecht?«
»Es wächst und gedeiht und hat mit mir nichts am Hut.«
»Wie schön!«, strahlte er. Dann wandte er sich an die Bedienung. »Also, ein paar Würstchen, ein Rührei vielleicht. Nein, nicht für mich, für den Baumeister hier.«
Ich widersprach nicht, ich mag seine Küche.
Nachdem wir eine Weile über das Wetter, die Gesamtwirtschaft, die Regierung in Berlin, den Bundeskanzler, den Arbeitsminister, den Finanzminister und ähnliche unwichtige Dinge geschwätzt hatten, begann er unvermittelt: »Also, da war eine junge Dame hier. Was heißt jung ... also vielleicht so um die dreißig. Schmal, sehr klein, feuerrotes Haar, gefärbt. Eine Schnauze wie ein Maschinengewehr, studierte Historikerin. Die sitzt an einer Doktorarbeit. Über Gerolstein. Also nicht über Gerolstein, wie das heute so ist, sondern über ein Jahr, ein bestimmtes Jahr. 1888.« Er grinste. »Ich sehe, Sie lächeln, aber die hat irgendwie Power. Sie will nämlich einen Mord beweisen. Also, nicht einen Mord, sondern vielmehr ... also, sie will einen Täter nach hundertelf Jahren fassen und überführen, und ...«
»Lebt der in einem Altenheim?«
Er begann schallend zu lachen. »Nein, nein. Sie behauptet, dass sie ziemlich sicher weiß, wer den Mord begangen hat. Geht so was überhaupt?«
»Das könnte klappen. Immer vorausgesetzt, sie hat die Leiche.«
Er war entzückt: »Die, ausgerechnet die, hat sie nicht.«
»Dann wird es nicht gehen. Auf was hofft sie denn? Ich meine, sie muss doch irgendeinen Ansatzpunkt haben? Wenn schon keine Leiche, dann wenigstens ein schriftliches Zeugnis, dass jemand aufgrund von Gift oder körperlicher Gewalt zur Leiche wurde. Irgend so etwas muss sie doch haben.«
»Sie ist noch mehr oder weniger jung«, bat er um Verständnis. »Sie hat eine Menge krauser Ideen im Kopf, aber auch eine Menge ganz vernünftiger Ansichten. Also, ich will mal sagen: Das, was sie vorhat, ist nicht ohne.«
»Was ist denn, wenn ein altes Gerolsteiner Geschlecht drin-hängt?«
»Das habe ich sie auch gefragt«, nickte er. »Aber da hat sie keine Bedenken. Sie sagt, das Geschlecht existiert nicht mehr.«
»Das gibt es nicht«, erklärte ich aufgebracht. »Eifler sind nicht totzukriegen. Irgendeine Linie lebt immer wieder auf, irgendwer fühlt sich immer betroffen. Wie heißt denn die möglicherweise betroffene Sippe?«
Er lachte glucksend. »Schmitz!«
»Ach, du lieber mein Vater. Das könnte gehen, weil man immer behaupten kann: Sie sind nicht gemeint.«
Wir schwiegen eine Weile, und ich widmete mich meinen Würstchen. Zusammen mit dem Kakao war das eine etwas herbe Mischung.
»Tja«, meinte er dann, »eigentlich ist sie nach Gerolstein gekommen, um zu heiraten. Hat sie jedenfalls gesagt.«
»Und wer ist der Glückliche?«
Er grinste wieder. »Ob der so glücklich ist, weiß ich nicht genau. Er war zusammen mit ihr hier und hat in zwei Stunden genau zwei Worte gesagt: Guten Tag. Das war es dann. Und sie sagte: Mein Verlobter trinkt keinen Schnaps.«
»Oh Gott, so was heiratet man doch nicht.« Dann nahm ich den unvermeidlichen Anlauf. »Und was, bitte, habe ich damit zu tun?«
Er lächelte traumverloren in Richtung Fenster. »Ich habe ihr gesagt, sie könnte vielleicht mit Ihnen zusammentreffen. Also, ich habe vielleicht gesagt, nichts versprochen oder so.«
»Habe ich das richtig verstanden, die junge Frau ist aus Gerolstein?«
»Richtig, der Vater sitzt im Sprudel. Irgendein höheres Tier.«
»Und der Name?«
»Schmitz natürlich. Sie heißt Tessa.«
»Ich denke, so heißen nur Pferde.«
»Irgendwie ist sie ein Pferd.« Er sah mich an, weil er natürlich versprochen hatte, dass diese Tessa mich treffen könnte. Er lächelte lieblich.
»Also gut, sie soll kommen. Heute Nachmittag in meinem Garten. Vierzehn Uhr. Und pünktlich.« Dann machte ich mich über den Rest meines Frühstücks her, und wir sprachen Belangloses. Ich erwähnte nur noch: »Sie sollte ihren Verlobten mitbringen. Der Mann interessiert mich.«
»Vielleicht eröffnen wir einen Hilfsfond«, murmelte er auf seine treffliche Weise. »Der Mann ist blond, dürr, trägt eine Nickelbrille und wirkt so hoffnungsfroh wie Boris Jelzin.«
»Ich zahle zehn Mark ein«, versprach ich leichtsinnig. Dann trollte ich mich.
Es war klar, dass ich mir Hilfe holen musste, ehe ich allein diesem Maschinengewehr und dem Verlobten gegenübersitzen würde. Wer hat schon mal mit einer Dame geplaudert, die nach hundertelf Jahren einen Mörder überführen will?
Ich hockte mich also an den Teich und rief Rodenstock an der Mosel an. Er war nicht da, stattdessen erklärte Emma lammfromm: »Rodenstock hier. Und bitte, verkaufen Sie mir nichts.«
»Ich habe aber etwas ganz Besonderes für Sie, gnädige Frau. Ein Unterwäscheset, dass Ihrem hochzuverehrenden Gatten die Augen klingeln werden.«
»Baumeister, du Ekel. Macht nichts, ich liebe dich trotzdem. Hast du dich verliebt?«
»Nein, wieso? Sollte ich? Habe ich da etwas nicht mitgekriegt?!«
»Na ja, ich dachte, wenn du anrufst, ist eine Frau im Spiel.«
»Das ist nicht ganz falsch«, murmelte ich. »Sie ist rothaarig, etwa dreißig, klein und hat eine Schnauze wie eine Kalaschnikow oder so was.«
»Klingt toll. Aber wahrscheinlich ist sie verheiratet oder so.«
»Eher oder so. Sie ist verlobt.«
»Dann schubs ihn weg, Baumeister.«
»Kannst du nicht einmal vernünftig reden? Ich meine, irgendwie mitteleuropäisch gesittet? Musst du unbedingt und immer auf meinen Einsamkeiten herumreiten? Ich meine ...«
»Tut mir leid.« Sie war schnell, sie war betroffen, es war gar nicht mehr spaßig.
»Schon gut. Ich habe eine Frage. Kennst du dich unter Historikern aus?«
»Nicht sehr. Da ist Rodenstock besser. Und der ist beim Zahnarzt. Sie streiten, ob er seine letzten vier Backenzähne opfern soll.«
»Sag ihm, er soll sie opfern. Wir leben in einer Zeit strahlender, schneeweißer Gebisse. Also raus mit dem Schrott, umsatteln auf Weißwandbeißer. Hör zu, diese Frau, die rothaarige, kommt gleich hierher. Sie will eine Doktorarbeit schreiben. Es geht um einen Mord in oder bei Gerolstein im Jahre des Herrn 1888. Sie behauptet, den Mörder zu kennen, hat aber keine Leiche.«
»Das soll vorkommen. Warum nicht? Wenn sie hartes Material hat? Warum eigentlich nicht? Hör sie an, das weitet deinen Horizont. Da fällt mir ein, dass mich morgen eine Verwandte besucht. Etwas jünger als hundertelf Jahre, so runde achtunddreißig. Sie ist Jüdin, heißt Esther, und sie kommt direkt aus Tel Aviv, hat zwei Scheidungen hinter sich, dabei gut abgesahnt, keine Kinder und lebt jetzt sozusagen in Hotels. Falls du also ... «
»Nicht ich, bitte. Lass mich da raus. Sag Rodenstock bitte Bescheid, er soll mich mal anrufen. Vielleicht hat er ja Tipps oder so was.«
»Ich habe einen Kollegen bei der Amsterdamer Kripo. Der ist Historiker, den rufe ich jetzt mal an. Wir melden uns, okay? Und noch etwas, verdammt noch mal: Ich will dich doch nur glücklich sehen, Baumeister. Nichts sonst. Dieses Alleinleben geht dir doch auf den Geist, oder?«
»Ein bisschen«, gab ich zu. »Aber bemüh dich nicht, ich komme schon zurecht.«
Da hockte ich in der Sonne und dachte darüber nach, wieso mich so viele nette Leute unter die Haube bringen wollten. Taugte ich als Einzelwesen eigentlich gar nichts? War ich nur gesellschaftsfähig mit irgendeinem weiblichen Menschen an meiner Seite?
Sechs oder sieben der winzigen Frösche machten einen Ausflug in das flache Wasser. Immer schön langsam, immer der Reihe nach und in hübschen kleinen Sprüngen. Dann schwammen sie hintereinander einen kleinen Kreis und hüpften dann über die Moorerde zurück unter ihren Basaltblock. Genug getan für heute, Schluss mit dem Kindergartenausflug.
Hermann kam in den Garten und war weiß wie eine Wand. »Die Platten mussten abgeschliffen werden.« Er hustete.
»Dann nimm den Gartenschlauch, damit geht das Zeug runter.«
»Hat keinen Zweck.« Er schüttelte den Kopf. »Das schmiert dann nur.« Er drehte sich eine Gauloises und rauchte genüsslich. »Ich frage mich natürlich, wie wir die Billardplatte da raufkriegen.«
»Ich bestelle einen Kran.«
Er grinste. »Willst du den Dachstuhl abheben?«
»Warum nicht? Das wäre doch mal was Neues. Ich mache mir Kaffee. Willst du auch einen?«
Er wollte, und wir hockten uns in die Küche und starrten zum Fenster hinaus und schlürften den Kaffee. Dann klingelte das Telefon, diesmal war es Rodenstock: »Hör zu, ich habe mich mal erkundigt. Es ist unter Historikern zur Zeit Usus, sich mit regionalen Themen zu beschäftigen. Die Geschichte der Heimatgemeinde, du verstehst schon, was ich meine. Insofern ist die Dame sicherlich up to date. Und ein Mord als Thema ist nicht von schlechten Eltern, finde ich. Ohne Leiche fehlt einem was, aber vielleicht ist das ja zu kompensieren.
Vielleicht hat sie Quellen ausgegraben, die einem die Schuhe ausziehen. Also, für eine Historikerin muss sie gute Nerven haben. Schließlich will sie in der eigenen Gemeinde recherchieren.« Dann machte er eine Pause und bemerkte unumwunden: »Ich würde gern mitmachen. Emma auch. Sie hat schon wieder diesen Blick.«
»Aber sie soll ihren verdammten Colt zu Hause lassen.«
»Den hat sie nicht mehr. Sie hat ihn abgegeben. Jetzt jammert sie und will einen neuen. Ich habe ihr einen versprochen. Mit ziseliertem Lauf und so.«
»Schreckschuss, kauf eine Schreckschusswaffe. Das reicht für die Frau, das reicht vollkommen. Na schön, kommt her. Und bringt eine Schüssel Eis mit. Für mich Zitrone, viel Zitrone.«
»Ich geh mal wieder«, murmelte Hermann. »Die Schleifmaschine ruft.«
Dann sagte eine weibliche Stimme in der Haustür: »Wollt ihr frische Erdbeeren?«
»Will ich. Siebenhundertvierundvierzig Kilo und sechsunddreißig Gramm.«
»Ich hab nur Körbchen.«
»Das ist aber fein.« Wir wurden handelseinig, ich bezahlte und verstaute die Ware im Eisschrank. Irgendwann würde ich Zeit haben, sie zu zuckern und zu essen. In drei Wochen oder so, jedenfalls vor Einbruch des Winters.
Ich legte mich auf das Bett und las Alexander von Gisbert Haefs. Es war richtig schön, den ollen Aristoteles sprechen zu hören, als liege er neben mir.
Sie kamen in schneller Reihenfolge. Erst rauschte Emma mit ihrem Volvo auf den Hof, dann fiel sie mir um den Hals, dann schubste Rodenstock sie beiseite und umarmte mich, und als wir alle drei gleichzeitig irgendeinen Blödsinn von uns gaben, tuckerte ein betuchter Golf Diesel auf meinen Hof, am Steuer ein blonder, dürrer Mensch mit einer Nickelbrille. Er drehte das Fenster herunter und fragte in unsere freundlichen Gesichter: »Könnte es richtig sein, dass ich hier einen Herrn Siggi Baumeister antreffe?«
»Das ist richtig«, nickte Rodenstock freundlich. »Verlassen Sie Ihr Fahrzeug und stellen Sie sich mit erhobenen Händen zur Durchsuchung.«
Der mit der Nickelbrille wusste absolut nicht, was er davon halten sollte. Die Frau neben ihm stieg aus, sie war rothaarig und klein und zierlich und hübsch. Und sie sagte: »Wir sind angekündigt.«
»Kann man so sehen«, nickte Emma. »Wer kocht jetzt Kaffee?«
»Ich. Hockt euch in den Garten, gebt euch die Hände und vertragt euch.« Ich ging in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee an. Dann schleppte ich Tassen und all das Notwendige auf einem Tablett hinaus. Paulchen hatte sich bereits auf Emmas Schoß breitgemacht, und Satchmo saß auf der Schulter von Rodenstock. Willi streifte um die Hosenbeine von der Nickelbrille.
»Es ist so, Frau ... wie war der Name?«
»Schmitz. Tessa Schmitz.«
»Also, es ist so, dass wir Freunde von Herrn Baumeister sind. Und Ihr Vorhaben interessiert mich. Nicht ohne Grund, wie Sie gleich hören werden. Meine Frau ist holländische Kriminalrätin. Ich bin Kriminaloberrat a.D. Wir sind aber recht handzahm. Einen hundertelf Jahre alten Mord? Ist das tatsächlich so? Und wie sieht Ihr Material aus?«
Dann herrschte Schweigen, ich drehte mich herum und versuchte, Land zu gewinnen. Es war mir vollkommen klar, was Rodenstock wollte: Er wollte sie kirre machen, kleinkriegen, ehe sie anfing, ihr Genie zu betonen. Ich kriegte noch mit, wie sie munter lossprudelte: »Also, das ist ja irre. Fachleute, richtige Fachleute. Wissen Sie, das ist ein echtes Manko bei dieser meiner Arbeit: Niemand hört richtig zu, und niemand ...« Den Rest verschluckte die Hausecke.
Als ich zurückkehrte, sagte sie gerade: »Und dann kam mir eine Idee. Ich dachte: Du musst einfach fest daran glauben, dass dieser Mord zu beweisen ist. Du darfst dich durch nichts davon abbringen lassen, dass es noch Material gibt, das Licht in diese Sache bringt. Ich sagte mir immer wieder: Tessa, gib nicht auf, ich dachte ...«
»Erst mal Kaffee«, sagte ich rasch und hart. Ich sah, wie Emmas Blick zum Himmel schweifte, wie sie alle Heiligen beschwor, um Gnade flehte.
Ich drückte der Nickelbrille die Kaffeekanne in die Hand und sagte freundlich: »Na los, junger Mann, niemand soll darben.«
Er nahm die Kaffeekanne mit ganz spitzen Fingern, als sei sie eine Kreuzotter. Und dann wusste er nichts damit anzufangen.
»Da drin ist Kaffee«, half Emma süß. »Der muss in die Tassen.«
»Ingbert«, sagte Tessa mahnend. »Du bist gefordert.«
Ingbert beugte sich vor und fragte Rodenstock: »Darf ich einschenken?«
»Aber ja«, murmelte Rodenstock. »Zu freundlich.«
Die Zeremonie dauerte ziemlich lange, aber Ingbert schaffte das alles ohne zu zittern, wofür ich ihn heimlich bewunderte.
»Können wir langsam noch einmal von vorn beginnen?«, fragte ich. »Wann soll denn diese Tat geschehen sein? Ich meine das präzise Datum.«
»An einem Freitag. Es war der 24. August 1888«, antwortete Tessa wie aus der Pistole geschossen.
»Wo genau ist das passiert?«, fragte Emma.
»Es war genau an der Stelle, wo von der Straße zwischen Gerolstein und Daun der alte Weg nach links auf Rockeskyll abging. Geradeaus kam man nach Essingen. Da war ein kleines Wäldchen, ein großes Gebüsch.«
»Uhrzeit?«, fragte Emma sachlich.
»Es muss nachts gewesen sein. Die Uhrzeit habe ich nicht.«
»Wer wurde denn getötet?«, fragte Rodenstock. Er hatte ein Blatt Papier vor sich und einen Kugelschreiber in der Hand. Er machte sich eine Notiz.
»Ein Mann. Seinen Namen habe ich nicht. Alter ungefähr dreißig. Die preußische Gendarmerie in Gerolstein wurde am Morgen über einen Vorfall, bei dem ein Unbekannter sein Leben gelassen haben soll, verständigt. Sie zog mit zwei Gendarmen, einem Arzt und einem Einzelrichter aus. Ich habe alle Namen.«
»Warum soll jemand namens Schmitz den Namenlosen getötet haben?«, hakte Rodenstock nach. Ein paar Dinge hatte ich wohl beim Kaffeeholen verpasst.
»Weil an dieser Stelle auf Rockeskyll zu ein Bauer namens Schmitz ein Kartoffelfeld hatte. Und vier Tage später war Schmitz mitsamt seiner Familie verschwunden. Ausgewandert nach den USA. Mit einem Motorsegler namens Memphis, der hundertdreiundvierzig Auswanderer an Bord hatte. Schmitz und seine ganze Familie, Frau und acht Kinder, waren darunter.«
»Warum soll dieser Schmitz, der an der Stelle ein Kartoffelfeld hatte, diesen Mann ermordet haben?«, fragte Emma. Sie rauchte einen dieser widerlich stinkenden holländischen Zigarillos.
»Weil der wahrscheinlich der einzige Mensch weit und breit war, der über Bargeld verfügte«, entgegnete sie rasch und weidete sich an unserer Verblüffung.
»Wieso denn das?«, fragte Rodenstock und machte sich wieder eine Notiz.
»Ich vermute, das war ein Händler. Die zogen mit Körben oder Pfannen und Töpfen, mit Hausrat eben, durch die Gegend.«
»Viel zu schnell«, sagte Emma. »Das geht mir alles viel zu schnell. Sie sagten, dass ein Bauer die Gendarmerie in Gerolstein benachrichtigte. Frühmorgens wahrscheinlich, oder?«
»Das ist korrekt.«
»Daraufhin zogen zwei Gendarmen, ein Richter und ein Arzt aus Gerolstein an den Tatort. Ich nehme an, Sie haben das Protokoll des Tatortes.«
»Das habe ich. Es ist Bestandteil einer alten Akte der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Wir waren vor vierzehn Tagen dort, Ingbert und ich.«
»In dem Protokoll muss aber doch stehen, wer das Opfer war, oder zumindest, wer das Opfer denn gewesen sein könnte.« Rodenstock war aus irgendeinem Grunde sauer. Er setzte scharf nach: »Wie kommen Sie zu der Annahme, dass das Opfer ein Händler war?«
»Ganz einfach. Die Beamten fanden am Tatort einen zweirädrigen Karren mit einer Art Plane darüber. So sahen diese Verkaufskarren damals aus.«
»Wer zog den Karren denn?«, fragte ich. »Etwa ein Pferd?«
»Selbstverständlich«, sagte sie leicht säuerlich. Sie war offensichtlich empört, dass wir sie so krass ins Gebet nahmen. »Was soll es denn sonst gewesen sein?«
Rodenstock sah mich lächelnd an, dann zwinkerte er Emma zu. »Nun, damals war ein Pferd immer noch das Privileg des Adels und der reichen Bürger. Diese wandernden Verkäufer hatten meist einen Esel oder ein Maultier, manchmal einen Ochsen. Die waren genügsamer und entschieden billiger. Wahrscheinlich steht im Protokoll Zugtier oder so etwas, nehme ich an.«
»Das steht da«, nickte sie mit schmalen Lippen.
»Wird bei dem Opfer eine Heimatgemeinde angegeben?«, fragte Rodenstock.
»Nein«, sagte Ingbert ganz ernst. »Und genau das macht mich stutzig.«
»Wieso denn?«, fragte Emma freundlich.
Ingbert sah seine Tessa an, aber die sah gänzlich desinteressiert zu meiner Gartenmauer hinüber. Da schwelte ein Konflikt.
»Es ist so«, sagte Ingbert und wurde zusehends munterer. »Gerolstein lag in den preußischen Landen. Die hatten eine sehr straffe Verwaltung, die waren geradezu berühmt für ihre Beamtenschaft. Nehmen wir an, der Händler war das, wofür Tessa ihn hält: Also ein durchaus seriöser, durch die Eifel ziehender Händler. Dann hätte er zumindest nach damaligem Verwaltungsrecht eine Kennkarte gehabt, einen behördlichen Eintrag, wo er zu Hause ist, wie er heißt, woher er kommt.« Er sah Emma an. »Stimmen Sie mir zu?«
Sie nickte. »Das denke ich auch. Angenommen, er war kein solcher Händler, wer kann er Ihrer Meinung nach gewesen sein?«
»Ein Roma«, sagte Ingbert einfach. »Ein Zigeuner.«
»Unmöglich«, mischte sich Tessa scharf ein, und der Zorn machte sie noch hübscher. »Roma konnten sich in der Eifel noch nie sehen lassen. Sie wurden immer weggejagt.«
»Eben nicht immer«, widersprach ihr Ingbert sanft. »Es gab unter ihnen Leute, die sogar sehr beliebt waren. Sie dienten als Boten zwischen den Gemeinden, sie brachten manchmal Briefe von Haus zu Haus, sie waren sehr verlässlich, und sie konnten viele Geschichten aus anderen Städten und Gemeinden erzählen. Sie waren so etwas wie die fehlende Tageszeitung.«
»Und verfügten diese herumziehenden Zigeuner über Bargeld?«, fragte Rodenstock. »Selten«, sagte Ingbert sehr sicher. »Und wenn sie welches hatten, zeigten sie es nicht, sondern versteckten es irgendwo. Und es waren in der Regel nie mehr als ein paar meist wertlose Münzen.«
»Somit fiele also auch dieser Landwirt namens Schmitz als Raubmörder aus«, sagte ich.
»Nicht unbedingt, aber sehr wahrscheinlich«, nickte Ingbert.
»Wie ist denn dieser Mann mit dem Karren überhaupt getötet worden?«, fragte Rodenstock.
»Er hatte einen zertrümmerten Schädel«, sagte Ingbert. »Aber das ist nicht das Ausschlaggebende. Das Entscheidende ist für mich, dass dieses Tatortprotokoll nicht den geringsten Hinweis auf eine Besonderheit enthält und schon gar keinen Hinweis auf einen Verdächtigen.« Er lächelte versonnen. »Das ist schon merkwürdig: Da wird nachts zwischen Gerolstein und Daun ein Mann erschlagen. Das wird zur Kenntnis genommen, protokolliert, aber nicht sonderlich merkwürdig gefunden. Die zwei Gendarmen stammten aus Gerolstein, waren Gerolsteiner Jungens. Der Arzt war der Medizinalrat Dr. Xaver Manstein, ein höchst geachteter Gerolsteiner, damals etwa vierzig Jahre alt. Der Richter war Severus Brandscheid, ein gebürtiger Trierer und gleichzeitig ein großer Hobbygeologe, der Fossilien und Steine sammelte und diese Funde in seinem Amtsgericht in Glasvitrinen zeigte. Also höchst ehrbare Leute.
Und die lassen ein Protokoll schreiben, in dem nur steht, dass ein Namenloser von einem Unbekannten so heftig auf den Kopf geschlagen wurde, dass er augenblicklich verstarb. Das ist alles, das ist absolut alles. Der Fall wird an keiner Stelle, in keinem Amt, auch nicht in der Kreisstadt Daun in den folgenden Jahren wieder erwähnt. Auch im Preußischen Zentralregister findet dieser Mord nicht statt, schon gar keine Verfolgung von Tätern. Das Merkwürdigste ist vielleicht, dass dieser Ermordete nirgendwo vermisst wird. Es gibt nirgendwo eine Vermisstenanzeige. Es ist so, als sei der Mann vom Himmel gefallen. Es ist so, als habe diese Tat nicht stattgefunden. Und das ist für das damalige Preußen ein schieres Wunder, für Gerolstein ein vollkommen unglaublicher Vorgang.« Er sah zu seiner Tessa hin, die beleidigt wirkte und ihn keines Blickes würdigte. »Mein Spezialgebiet sind nämlich die preußischen Rheinlande der damaligen Zeit.« Dann sank er in sich zusammen, er hatte seinen Senf dazugegeben, sein Senf wirkte entschieden überzeugender als der Senf seiner Verlobten.
»Wenn ich Sie richtig interpretiere, dann vermuten Sie so etwas wie einen vertuschten Skandal.« Rodenstock sprach ganz leise.
»Richtig«, nickte Ingbert. »Da muss irgendein großes Ding versteckt worden sein. Irgendetwas Bedeutsames. Ehrlich gestanden vermute ich die Einmischung äußerst honoriger Leute, wahrscheinlich waren lokale Politiker verstrickt, möglicherweise Bürgermeister.« Er wuchs wieder zu seiner beachtlichen Länge empor, als habe ihn jemand aufgeblasen. »Um klarzumachen, wie der Unterschied zwischen mir und meiner Verlobten aussieht, möchte ich definieren: Tessa macht es sich zu leicht, einfach den nächstgelegenen Bauern zum Täter zu machen. Das habe ich ihr wiederholt gesagt, das ist unwissenschaftlich.«
»Hah!«, sagte Tessa und starrte in den blauen Eifelhimmel.
»Wir Frauen haben es immer ein bisschen schwerer«, murmelte Emma. »Aber wie Baumeister andeutete, wollen Sie beide heiraten.«
»Das ist richtig«, nickte Tessa. »Das wollen wir. Deshalb sind wir eigentlich hier. Ingbert sollte meine Eltern kennenlernen.«
Ingbert sagte nichts dazu, zeigte ein steinernes Gesicht, und ich dachte bei mir: Tessa-Mädchen, da musst du aber schwer aufpassen, dass Ingbertchen dir nicht von der Schippe springt.
»Wie auch immer«, versuchte Emma die Szene aufzuheitern, »wir sollten vielleicht noch eine Kanne Kaffee machen.«
»Moment, Moment«, murmelte Rodenstock. »Ich hätte gern von Tessa gewusst, wieso sie eigentlich auf den Landwirt Schmitz gekommen ist. Sie muss doch einen Grund haben.«
»Habe ich«, sagte sie erfreut. »Kennen Sie die damaligen Auswanderungswellen?«
Ich wusste genau, dass Rodenstock darüber gelesen hatte, aber er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Klären Sie mich auf.«
»Wir haben um 1890 generell im Gebiet Gerolstein hundertsiebenundvierzig Auswanderer. Gemeint sind in der Regel ganze Familien, also liegt die wirkliche Zahl etwa sechs- bis siebenmal so hoch. Die Familien hatten nicht selten zehn Kinder und mehr. Das Land war arm, die Landwirtschaft legte sich selbst durch ein unsinniges Erbrecht lahm, die Böden gaben nicht viel her. In der Regel wird immer gesagt: Die Eifel war bitterarm, also wanderten die Leute aus. Aber so einfach war das nicht. Es gab ungezählte Familien, die dem preußischen Staat ganz einfach Steuern schuldeten. Sie konnten nur auswandern, wenn sie den Regierungsstellen zusammen mit einem Antrag auf Auswanderung das Geld vorweisen konnten, mit dem sie die Überfahrt bezahlen wollten.« Sie machte eine gekonnte Pause, sie setzte ein Zeichen. »Auch wenn es hier um eine historische Doktorarbeit geht, muss ich den Mut zu viel Fantasie aufbringen. Der August des Jahres 1888 war ein heißer Monat. Die Klimaaufzeichnungen sind zwar nicht komplett, aber komplett genug, um das sagen zu können. Der Mann, das spätere Opfer, macht sich von Gerolstein aus auf den Weg nach Daun. An der Einmündung des Weges nach Rockeskyll macht der Mann halt. Wahrscheinlich zündet er sich ein Feuer an, wahrscheinlich isst er irgendetwas. Die Nacht bricht herein. Nach den Unterlagen des Katasteramtes Gerolstein lag das Haus des Landwirtes Schmitz leicht erhöht auf dem Hang nach Rockeskyll in ungefähr dreihundert Metern Entfernung. Das heißt: Der Landwirt Schmitz konnte von seinem Haus aus das Feuer sehen, das das spätere Opfer entfacht hatte.« Sie machte wieder eine Pause, sie schürzte die Lippen, sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, sie scheuchte mit einer schnellen Handbewegung eine Fliege weg.
»Wir kommen jetzt also zu diesem Landwirt Schmitz, mit Vornamen Berthold. Sein Los war unbeschreiblich ärmlich, aber das war zu den damaligen Zeiten in der Eifel leider normal. Zusammen mit seiner Frau, die Susanna hieß, hatte er acht Kinder.
Dazu kam noch ein Onkel, der im gleichen Haus lebte, ein gewisser Sebastian Tombers. Sie waren also elf Leute in dem Haus. Sie hatten viel zu wenig Land, um diese elf Menschen zu ernähren. Das hatte zu einer sozialen Verelendung geführt. Berthold Schmitz war vorbestraft. Und zwar wegen Waldfrevel. Auf gut deutsch hat er also Holz gestohlen, um es im Winter etwas warm zu haben. Er hatte von einem privaten Geldvermittler ein Darlehen aufgenommen. Mit diesem Geld hat er den Nachweis erbracht, dass er die Überfahrt nach Amerika bezahlen konnte und ... «
»Augenblick mal«, unterbrach ich scharf. »Woher, zum Teufel, wissen Sie von diesem privaten Kredit?«
»Aus einem Kirchenbuch von Michelbach. Dort hat nämlich der Pfarrer die privaten Kredite dieses Geldvermittlers untersucht und zur Anzeige gebracht. Dabei wurde ausdrücklich erwähnt, dass Berthold Schmitz aus Rockeskyll einen Kredit bekommen hatte.«
»Sehr gut, weiter.«
»Die Familie Schmitz war so heruntergekommen, dass sie nur drei Acker zu bearbeiten hatte, da war kein Hoffnungsschimmer in Sicht. Die Äcker hatten sie zwar verkauft, aber der Ertrag war geradezu lächerlich. Nehmen wir einmal die einfachste Sichtweise an, versetzen wir uns in diese Nacht. Berthold Schmitz sieht das Feuer dieses Händlers. Er geht dorthin, er sieht den Karren und hat nur eine Idee: Dieser Mann muss Geld bei sich haben.« Sie seufzte. »So ist es dann passiert.«
»Wie ist es dann passiert?«, fragte ich. Ingbert hatte recht, sie war zu schnell, zu leichtfertig. »Sie müssen doch eine Vorstellung davon haben, was sich zwischen den beiden Männern zutrug.«
»Muss ich nicht«, antwortete sie schroff. »Mir reicht, dass der unbekannte Händler mit zertrümmertem Schädel zurückblieb.«
Eine Weile herrschte Schweigen, Ingbert breitete leicht die Arme aus, als wolle er Tessa korrigieren. Aber er sagte nichts.
»Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Bauerngehöfte an diesem Weg lagen?«
Tessa nickte. »Wir haben eine alte Karte ausgegraben. Der Händler kam von Gerolstein. Nehmen wir das einmal an. An diesem zurückgelegten Weg lag zweitausend Meter entfernt ein Gehöft. Die Leute konnten das Feuer des Händlers nicht sehen. Und auch das Gehöft des Berthold Schmitz war für sie nicht sichtbar. In Richtung Daun lag dann noch in etwa eintausend Metern Entfernung das Haus eines Schuhmachers. Auch der konnte wegen der Windungen der Straße weder das Feuer des Händlers sehen noch den Hof von Berthold Schmitz.«
»Wenn ich Sie also richtig verstehe«, murmelte Rodenstock und schrieb etwas auf, »dann konnte sich Berthold Schmitz vollkommen unbeobachtet fühlen. Richtig?«
»Korrekt. Niemand konnte ihn sehen.«
Plötzlich verstand ich, auf was Rodenstock hinauswollte. Ich verzögerte noch einmal. »Ich hätte trotzdem gern gewusst, wie Sie sich den Streit zwischen beiden Männern vorstellen.«
Tessa sah zur Kirche hinüber. »Ich weiß nicht, ob Berthold Schmitz von Beginn an einen Plan hatte. Vielleicht ist er zunächst nur an das Feuer des Mannes gegangen, weil er neugierig war, nichts sonst. Vielleicht ergab sich zunächst ein Gespräch. Vielleicht ging aus dem Gespräch hervor, dass der Händler gute Geschäfte gemacht hatte. Vielleicht fasste Berthold Schmitz erst dann den Entschluss, den Mann auszurauben. Das werden wir niemals erfahren. Es kam zum Streit, es kam zu der Tötung.«
»Was denken Sie?«, fragte Emma Ingbert.
»Das ist gut überlegt und sehr strikt«, sagte Ingbert. »In diesem Punkt stimme ich mit Tessa überein. Es kann durchaus so gewesen sein.«
»Bleiben wir dabei, dass es so gewesen sein kann. Ein paar Tage später bricht Berthold Schmitz mit seiner Familie nach Amsterdam auf, um das Schiff zu erreichen. Er hat den Händler erschlagen, er hat das Geld. Ich nehme an, dass er vermeiden wollte, ohne einen Pfennig in der Tasche in den USA anzukommen. Sehe ich das richtig?«
Ingbert nickte schnell. »Von der Motivation her kann ich zustimmen, vom weiteren Verlauf aber nicht. Wir wissen, dass die Familie in die Nähe von Chicago ging - wie übrigens viele Familien aus der Eifel. Ein Jahr später schrieb Berthold einen erschütternden Brief an den Pfarrer von Gerolstein.
Seine Frau war gestorben, er litt höchste wirtschaftliche Not. Dann kam keine Nachricht mehr. Falls er den Händler ausgeraubt hat, wird der vielleicht ein paar Münzen besessen haben. Mehr kann es nicht gewesen sein, denn dem Berthold Schmitz hat es nicht geholfen. Einer seiner Söhne übrigens ist um 1910 in die Eifel zurückgekehrt, aber nicht nach Gerolstein, sondern nach Hillesheim. Er hat glaubhaft berichtet, die Familie sei ohne einen Pfennig in die USA gekommen. Und die Familie sei dort zunächst vollkommen verarmt und habe von katholischen deutschen Gemeinden ernährt werden müssen. Das änderte sich erst, als der Vater mitsamt der Familie nach Süden wanderte und dort eine andere Frau heiratete.«
Rodenstock wandte sich sehr väterlich an Tessa. »Ich habe Bedenken, dass Berthold Schmitz der Täter gewesen ist. Wissen Sie warum? Nun, er war ein Bauer, ein sehr erdhafter Mensch und sicherlich sehr praktisch veranlagt. Wenn er ungesehen den Händler erschlagen hätte, lag nichts näher, als den Händler zu beseitigen, einzugraben oder so. Nichts lag näher, als den Tatort vollkommen zu verändern, den Karren und das Zugtier zu stehlen, und beide in den nächsten Tagen billig zu verkaufen. Die einfachste Art, noch vor der Abreise schnell zu Geld zu kommen.« Er lächelte.
»Leuchtet Ihnen das ein?« Er verstärkte das Lächeln. »Sie können an Ihrer Version festhalten, aber Sie werden begreifen müssen, dass sie zu viele Fehler hat, zu viele Lücken.«
»Und wie könnte es abgelaufen sein?«, fragte Tessa etwas verbissen.
Rodenstock sah Emma an, und sie zögerte nicht. »Nun, wir haben zwei rätselhafte Punkte. Erstens: Wer war der Tote? Und zweitens: Weshalb wurde er erschlagen? Das mit dem möglichen Geld bei dem Händler leuchtet mir nicht ein. Nehmen wir an, der Händler hatte wirklich Geld. Nehmen wir an, er war ein Mann, der gewohnt war, in seinem Karren zu übernachten. Dann wird er das Geld so versteckt haben, dass niemand es auf Anhieb finden konnte. Einverstanden? Ich würde sogar auf einen Mann tippen, der eben nicht ein seriöser Händler war. Nicht unbedingt ein Krimineller, aber jemand, den man verscharren konnte, ohne dass ihn jemand vermissen würde. Ich schlage vor, an einem anderen Punkt zu beginnen. Bei der Frage nämlich, wieso dieser Fall keine Fortsetzung hatte, wieso nicht nach Verdächtigen gefahndet wurde, wieso der Fall geschah, aber nichts folgte. Warum?«
»Es gibt weder Primär- noch Sekundärquellen«, sagte Ingbert tapfer. »Es gibt im Grunde gar nichts. Und es ist einhundertelf Jahre her.«
Emma lächelte. »Das glaube ich nicht. Es gibt immer Quellen. Und dann gebe ich noch zu bedenken: Was, wenn der Händler gar nicht aus Gerolstein, sondern aus Daun kam? Was ist, wenn er aus Rockeskyll kam? Was ist, wenn er nirgendwoher kam? Ich will damit sagen, dass er möglicherweise an dieser Stelle für ein paar Tage so etwas wie ein festes Lager hatte. Weil er zum Beispiel damit rechnete, dass Leute mit Geld des Weges kamen. Ich stimme meinem Mann zu: Wenn der Bauer Schmitz ihn tötete, hätte er die Leiche verschwinden lassen. Den Karren und das Zugtier auch. Die waren nämlich Bargeld, das er nach Ihrer Theorie dringend brauchte.« Sie lächelte versonnen. »Das scheint so, als mache es alle Ihre Voraussetzungen kaputt, aber das ist nicht so. Rodenstock, sag was!«
Rodenstock grinste und schnarrte: »Jawoll!« Dann drehte er sich zu Tessa. »Ich hoffe, der Berufskriminalist darf etwas bemerken. Angenommen, Sie würden mir den Fall vortragen, so würde ich nach kurzem Nachdenken nur an einer Stelle zu graben beginnen. Es ist die Stelle, die Sie selbst bereits erwähnt haben. Wir haben es mit preußischen Beamten zu tun, die damals tatsächlich so etwas wie den Status des Göttlichen innehatten.« Er grinste voller Ironie. »Es muss einen Grund geben, weshalb der Fall zu den Akten gelegt wurde, still und schweigsam. Und genau an dieser Stelle müssen Sie ansetzen! Und insofern ist es wirklich eine Gerolsteiner Geschichte: Denn der Arzt, der Richter und die Gendarmen kamen aus Gerolstein. Einverstanden?«
»Einverstanden«, nickte Tessa. Sie hatte in diesen Sekunden sehr nah am Wasser gebaut, und Emma murmelte beschwichtigend: »Ach, Kindchen!«
Und weil das gar nicht hilfreich war, weinte Tessa einen Moment, und der schweigsame Ingbert sah ihr dabei interessiert zu, als habe sie einen Anfall sonderbaren Hustens.
»Ich habe noch Erdbeeren«, sagte ich in die Stille.
Niemand wollte Erdbeeren, stattdessen schrillte irgendein Handy. Jeder griff sich in irgendeine Tasche, weil niemand wusste, wo es schrillte. Es war die übliche Idiotie. Emma war gemeint. Sie lauschte einen Augenblick, sagte dann ganz erschreckt: »Oh Gott, Kindchen!« und lauschte wieder. Schließlich steckte sie das Teufelsding zurück in ihre Handtasche und bemerkte zu Rodenstock: »Sie kommt nicht morgen, sie kommt heute, und sie steht vor der Tür und hat fast einen Weinkrampf. Könntest du vielleicht einmal kurz ... «
»Ich fahre eben kurz an die Mosel«, murmelte er.
»Du bist lieb«, sagte sie.
»Das weiß ich«, murmelte er.
»Tja, dann gehen wir mal«, sagte Tessa.
»Tja, das scheint gut«, nickte Ingbert sachlich.
»Wir sehen uns«, versicherte ich dümmlich, weil mir nichts anderes einfiel.
»Ich lasse Ihnen meine Telefonnummer hier.« Sie schien sich beruhigt zu haben. »Und ich danke auch schön für die Hilfe.«
Als sie fuhren, war Rodenstock längst vom Hof, und Emma stand malerisch in der Gegend rum und winkte ihnen nach. »Der wird sie nicht heiraten«, murmelte sie gedankenvoll. »Der wird wahrscheinlich niemanden jemals heiraten.«
»Aber warum will sie, dass er sie heiratet?«
»Sie hat sich das so ausgeguckt, und also will sie es so. Du verstehst Frauen eben nicht, mein Lieber. Wir können so unendlich dämlich sein.«
»Und was halst du von dem Fall?«
Sie sah mich an. »Wir werden ihn lösen, was denn sonst?«
»Weil ich eigentlich keine Zeit habe«, sagte ich. »Die habe ich auch nicht«, erwiderte sie. »Trotzdem werden wir das Ding lösen und irgendwie weiterleben.«
»Zu Befehl!«
»Kann ich eines deiner Sofas haben? Ich bin eine alte Frau. Ich habs im Kreuz und in den Beinen und überall. Tessa ist richtig hübsch und richtig süß, aber heiraten wird er sie nicht. Oder später, nach der Pensionierung. Sie ist nämlich auch ein Teufel. Wäre das nichts für dich? Ich meine, zum Spielen, oder so.« Sie schlug sich auf den Schenkel. »Verdammte Tat, ich vergesse immer, dass du die Nase voll hast. Gehen wir rein? Ich fürchte um meinen edel-blassen Teint.« Sie sah aus wie jemand nach acht Wochen Gomera. »Und ich hasse mich, dass ich Rodenstock losgeschickt habe.«
»Warum bist du nicht selbst gefahren?«
»Weil ich ein faules Stück bin. Und weil er sowieso gesagt hätte: Ich mach das schon. Aber du hast recht, ich nutze ihn schamlos aus. Zu dem Fall: Siehst du eine Möglichkeit, weiterzukommen?«
»Ja, wir werden uns darauf konzentrieren müssen, Kirchenbücher und so etwas zu lesen. Es gab Pfarrer in Lissendorf, Michelbach, Rockeskyll und Gerolstein, die aufgeschrieben haben, was los war. Vielleicht finden wir Hinweise.«
Wir schlenderten ins Haus. Paul lag auf dem Küchentisch und schlief fest. Strategisch ist der Punkt ideal: Er kann alles überwachen, die Küche, den Flur, den Hof. Das Einzige, was stört, sind gelegentlich Katzenhaare in der Butter. Aber wozu hat der Mensch Augen?
*
Hermann kam hochkonzentriert herein und murmelte: »Also, es geht mit einer Mischung aus Terpentin und Leinöl.«
»Was geht?«, fragte ich.
»Ach so, ja. Die Balken müssen eingeölt werden. Das gibt dem Holz einen edlen Schimmer, würde ich sagen.« Er goss sich einen Becher Kaffee ein und verschwand wieder.
»Der hat mich gar nicht gesehen«, murmelte Emma verblüfft. »Ist der immer so?«
»Wenn er arbeitet, arbeitet er. Wenn er den Papst auf dem Dachboden entdeckt, würde er auch nur sagen: Rutsch mal zur Seite, Kumpel, ich habe zu tun. Wie geht es Rodenstock eigentlich?«
»Gut«, sagte sie zufrieden. »Gut bis sehr gut. Er will ein Buch machen, ein Fachbuch. Alle meine Tatorte – irgendetwas in dieser Richtung. Das kann gut werden, falls er es wirklich angeht. Und falls die vorgesetzte Behörde zustimmt und die Akten rausgibt. Soll ich uns etwas in die Pfanne hauen? Spiegeleier?«
»Spiegeleier!« stimmte ich zu. »Bratkartoffeln, wenn ich die Kartoffeln schäle? Nachmittags Bratkartoffeln stimmen mich immer froh. Diese Tessa imponiert mir. Sie geht einen extremen Fall an.«
»Und sie wird noch viel weinen und lachen und jubeln - und wieder weinen. Ich möchte wissen, was ihr Vater dazu sagt. Zwiebeln in die Bratkartoffeln? Oder Schinkenspeck?«
»Dann müssten wir erst eine Sau jagen gehen.«
»Dein Eisschrank sieht aus wie nach einem Durchzug von Napoleons Armee. Du müsstest mal wieder was auffüllen. Hier gehört eine Frau ins Haus.«
»Du kannst die Scheiß-Kuppelei auch nicht lassen.«
Sie grinste wie ein Junge. »Ich liebe dich eben, Baumeister. Du bist so richtig schön naiv. Da wittert jede Frau die große Aufgabe. Koch mal noch einen Kaffee, sonst schlafe ich im Stehen ein. Meine Mutter sagte immer: Bevor du zu kochen anfängst, solltest du einen Kaffee trinken. Das schärft den Geschmackssinn.«
»Wo hat deine Mutter gelebt? Was war sie?«
»Sie war eine Hausfrau, und sie war eigentlich eine gute Mutter. Und sie starb in Auschwitz.«
»Das wusste ich nicht. Hast du eine klare Erinnerung an sie?«
»Nicht sehr klar. Als sie sie holten, war ich fast noch ein Baby. Und es gelang ihr irgendwie, mich im Keller zurückzulassen. In einer alten Zinkwanne. Ich wurde von einer Nachbarin gefunden, die offiziell behauptete, ich sei ihr Kind. Schäl nicht so viele Kartoffeln. Das reicht.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sprachen wir über Belanglosigkeiten und hockten uns an den Tisch, um zu essen. Wir tranken Kaffee und konnten nicht weitersprechen, weil Werner einen Vierzigtonner rückwärts in den Hof setzte und dann brüllte: »Die Steine! Die Steine!« Wenn Werner brüllt, ist Sendepause für alles, was lebt.
»Kipp sie gegen die Wand«, sagte ich.
Er hatte ein teuflisches Lachen im Gesicht. »Dir ist doch klar, dass dein sonniger Lenz jetzt zu Ende ist. Jetzt musst du arbeiten, sonst kann kein Mensch mehr auf deinem Hof parken.«
»Sklaventreiber.«
Es gab einen Krach, als hätte jemand vor, mein Haus abzureißen. Die Grauwacke knallte auf das alte Pflaster, und ein paar Brocken kullerten natürlich in Richtung Haustür. Ich nahm Arbeitshandschuhe und schleppte sie auf den Haufen. »Für die Teichumrandung«, erklärte ich. »Die Steine haben in der Diagonalen alle um die vierzig bis fünfzig Zentimeter. Das interessiert keinen Menschen, aber es ist wichtig für meine kleine Welt. Und es macht Spaß. Glaubst du, dass der Tote ein Händler war?«
Sie schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Er war irgendetwas anderes, vielleicht war er ein besonderer Mann. Aber anscheinend gibt es nicht einmal ein Grab. In dem Jahr nahm diese Wasserfabrik ihre Produktion auf, nicht wahr?«
»Ja, der Gerolsteiner Brunnen legte los. Ein Mensch namens Castendyck gründete ihn - und niemand ahnte, was daraus werden sollte.«
»Vielleicht hängt der Mord damit zusammen?«
»Das könnte sein«, nickte ich. »Das könnte sogar gut sein. Es war sozusagen der Beginn der Industrialisierung Gerolsteins.«
»Aber sie hätten, wenn es ein Gerolsteiner gewesen wäre, die Leiche nicht so einfach verscharren können«, überlegte sie.
»Moment, junge Frau. Wir wissen nicht, was mit der Leiche passierte, wir wissen gar nichts. Kann es nicht sein, dass er als ehrenhafter Bürger unter Anteilnahme des Männerchores zu Grabe getragen wurde? Nach einem - was weiß ich – Herzanfall, Schlaganfall, Herztod?«
»Das wäre hilfreich, denn dann müsste es in den Akten zu finden sein.«
»Also brauchen wir die Abteilung Tod und Geburten. Und wir brauchen die Liste der Beerdigungen, die nach diesem Datum verzeichnet wurden.«
Wir hockten uns in den Garten, Emma wechselte dann auf eine Liege und schloss die Augen. »Ich werde etwas ruhen, sagte meine Mutter immer. Eine Minute später schnarchte sie wie ein Walross, und wir Kinder mussten auf Zehenspitzen gehen. Jedenfalls erzählte solche Sachen immer meine ältere Schwester.«
»Und wie hat die überlebt?«
»Auf einem alten Kutter im Rotterdamer Hafen. In einem Raum, der nicht größer war als anderthalb Quadratmeter. Sie hat nie erfahren, wie sie dorthin gekommen ist. Es war einfach so, basta.«
Eine halbe Stunde später rollte Rodenstock auf den Hof. Eine Weile war nichts zu hören, dann erschien eine Figur wie aus einem Kitschfilm. Die Frau war mittelgroß, trug irgendetwas Seidenartiges, Knallrotes. Sie hatte lange schwarze Haare, die zu einem Turban aufgetürmt waren. Und sie stakste auf meinem Rasen herum wie ein Storch im Salat. Sie sagte dauernd »uhuh!« und ging so vorsichtig, als sei sie nur provisorisch verschraubt. »Das ist aber sehr rustikal hier«, sagte sie mit einem Alt, der einem die Schuhe auszog. Sie trug den Hauch von goldenen Riemchensandalen am Ende ziemlich langer Beine. Sie sah Emma auf der Liege, und sie tirilierte: »Ach Gottchen, ist das anstrengend hier. Liebling, es ist so fantastisch, dich zu sehen. Also, was du da geheiratet hast, ist ja ziemlich beeindruckend. Der Mann ist ja so was von viril. Ach Gottchen, da ist ja noch einer. Und wer ist das?«
»Siggi Baumeister«, sagte Emma träge. »Und steig endlich aus dieser Andeutung von Schuh, und benimm dich wie eine Mitteleuropäerin, und küss mich nicht auf den Mund, das ist unhygienisch, und benimm dich so, als seist du ein menschliches Wesen, und rechne nicht damit, dass du etwas erbst.«
Rodenstock stand am Gartentor und lachte sich krank.