29
Dem Schmatzen am anderen Ende der Leitung nach zu urteilen hatte ich Art gerade beim Mittagessen erwischt. »Wenn du eine Leiche bräuchtest«, sagte ich, »wo würdest du sie besorgen?«
»Himmel, lass mich überlegen«, antwortete er. »Kenne ich vielleicht jemanden, bei dem immer mal die eine oder andere Leiche herumliegt?«
»Okay, Klugscheißer. Wenn du eine Leiche bräuchtest und könntest keine von der Body Farm kriegen, wo würdest du sie dir denn besorgen?«
»Unten in Georgia. Da sind sie aufgestapelt wie Klafterholz.«
»Zu spät«, sagte ich. »Die hatte die Kriminalpolizei zum Zeitpunkt von Garland Hamiltons Flucht schon gut unter Verschluss.«
»In dem Fall«, sinnierte er, »würde ich es vielleicht bei einem Bestattungsunternehmen versuchen. Ja, ich würde mir bei einem skrupellosen Bestatter eine frische Leiche kaufen.«
»Wie würde er den trauernden Hinterbliebenen den leeren Sarg erklären, falls die den Toten noch einmal sehen wollten?«
Er überlegte einen Augenblick. »Vielleicht müsste er das gar nicht. Er wartet einfach, bis die Verwandten ihren Verschiedenen noch einmal gesehen haben, und tauscht die Leiche dann gegen ein oder zwei Betonklötze, damit die Sargträger keinen Verdacht schöpfen.«
»Warum würde dieser Bestatter dich nicht bei der Polizei verpfeifen?«
»Weil er skrupellos ist?«
»So skrupellos, dass er einem stadtbekannten Mörder hilft, der gerade geflüchtet ist? Kommt mir sehr riskant vor«, sagte ich.
»Okay, ich geb’s auf«, sagte er. »Du bist auf eine Antwort aus, die mir nicht einfallen will. Worauf willst du hinaus?«
Ich erzählte ihm, wie ich mir ein Double besorgen würde, wenn ich versuchen wollte, meinen Tod vorzutäuschen.
»Könnte funktionieren«, sagte er schließlich.
»Könntest du die Vermisstenmeldungen durchgehen und schauen, ob etwas dabei ist?«
»Klar«, sagte er. »Oh, und Bill?«
»Ja?«
»Erinner mich daran, dass ich dir in einer dunklen Gasse niemals den Rücken zukehre.«
Ich legte lachend auf.
Eine halbe Stunde später rief er zurück. »In den letzten zwei Wochen nur eine neue Meldung«, sagte er. »Ein Teenager – eine Ausreißerin. Bist du dir ganz sicher, dass die versengten Knochen von einem Mann stammen?«
»Die Beckenknochen sind in ziemlich gutem Zustand«, sagte ich. »Es ist definitiv ein Mann. Und in dem, was von Ober- und Unterkiefer noch übrig ist, sind zwei vollständig durchgebrochene Weisheitszähne, also war er mindestens achtzehn. Wegen des Zustands der Knochen ist es schwierig, eine genauere Altersschätzung abzugeben, aber ich glaube, gesehen zu haben, dass die Wirbel einige Zeichen von Arthrose aufweisen, demnach wäre er mittleren Alters.«
»Das könnte zu deiner Theorie passen«, sagte er, »obwohl es sie noch nicht beweist. Ich habe Evers angerufen und es ihm erzählt. Die gute Nachricht ist gewissermaßen, dass er es für möglich hält.«
»Und die schlechte Nachricht?«
»Er meinte, es klänge wie die verzweifelte Jagd nach einem Phantom. Selbst wenn jemand etwas gesehen hat, wird er oder sie es kaum der Polizei erzählen.«
»Verdammt.« Das sagte ich, wie mir gerade auffiel, in letzter Zeit ziemlich oft. Ich bedankte mich bei Art und legte auf. Doch ich war noch nicht bereit, die Idee aufzugeben. Ich holte das Telefonbuch heraus und schaute eine Nummer nach.
»Büro der Pflichtverteidiger«, sagte die Frau, die am anderen Ende abhob.
»Ist Roger Nooe da?« Seine Name reimte sich, trotz des Doppel-O auf »Chloe«, ging mir durch den Kopf, während ich wartete. Bei dem Gedanken an Chloe und ihr Speed-Dating musste ich lächeln, und ich überlegte, ob sie inzwischen einen aussichtsreichen Kandidaten kennen gelernt hatte.
Roger hatte viele Jahre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der University of Knoxville Sozialarbeit gelehrt; vor einiger Zeit hatte er sich zur Ruhe gesetzt, hatte dann jedoch eine Stelle beim Sozialdienst im Büro der Pflichtverteidiger angenommen. Die Mandanten der Pflichtverteidiger waren der krasse Gegensatz zu den gut betuchten Kriminellen, die Burt DeVriess gemeinhin vertrat. Rogers Arbeit brachte ihn täglich in Berührung mit Menschen, die arm waren, arbeitslos und oft beeinträchtigt durch Alkohol, Drogen oder psychische Krankheiten, Menschen, die – in den letzten Jahren zu Tausenden – durch die immer weiter werdenden Maschen des amerikanischen Sicherheitsnetzes fielen. Die Herausforderungen, denen Roger und seine Kollegen sich stellten, kamen mir hart und unüberwindlich vor, doch lag diese Härte im Auge des Betrachters: Im Laufe der Jahre hatte ich – stets zu meiner Überraschung – mit vielen Menschen gesprochen, die meine Arbeit ebenfalls als hart empfanden. Seit er im Büro der Pflichtverteidiger arbeitete, hatte ich Roger ein paar Mal gesehen und den Eindruck gewonnen, als erfüllte es ihn mit neuer Energie, Programme und Dienstleistungen zu entwickeln, mit deren Hilfe verhindert wurde, dass mittellose Mandanten durch Armut, Kriminalität und Haft in der Spirale immer weiter nach unten gerieten.
Einige Minuten erzählten wir uns das Neueste, wie langjährige Kollegen und Freunde es tun, wenn sie ein Jahr oder länger nicht miteinander gesprochen haben. Wir tauschten Lageberichte über unsere erwachsenen Kinder aus und spekulierten über die Aussichten des Football-Teams der Universität für die kommende Saison – ungewiss, da waren wir uns einig, angesichts der Tatsache, dass viele wichtige Spieler im Frühjahr ihren Abschluss gemacht hatten. Roger erwähnte weder den Mord an Jess noch Garland Hamiltons Flucht, und dafür war ich ihm dankbar, obwohl ich das Thema selbst zur Sprache bringen wollte. Indem er es mir überließ, das Gespräch zu lenken, erlaubte er mir, die Dinge eher forensisch zu formulieren als persönlich, und das machte es mir leichter. »Roger, Sie wissen mehr über Wohnungslosigkeit und Menschen, die in Knoxville auf der Straße leben, als irgendjemand anders in der Stadt«, begann ich.
»So weit würde ich nicht gehen«, sagte er, »aber ich könnte Sie wahrscheinlich einige Stunden mit Statistiken langweilen.« Diese Bescheidenheit war typisch für Roger – auf Anfrage des Stadtbürgermeisters und der County-Verwaltung hatte er eine Zehn-Jahres-Studie über Wohnungslosigkeit geleitet, und seine Forschungsgruppe hatte einen ambitionierten Plan entwickelt, um das Problem an der Wurzel zu packen.
»Wenn ich eine Leiche bräuchte«, sagte ich, »wäre es dann leicht, einen Obdachlosen umzubringen, ohne erwischt zu werden?«
Zuerst sagte er eine Weile gar nichts; und als er dann antwortete, klang er bestürzt, ja sogar schockiert ob der Abgebrühtheit der Idee oder der Unverblümtheit meiner Frage. »Darüber muss ich kurz nachdenken«, sagte er schließlich.
»Ich frage aus folgendem Grund«, sagte ich. »Im osteologischen Labor unter dem Stadion habe ich zwei verbrannte Skelette. Wir wissen, wer Skelett Nummer eins war – ein Typ namens Billy Ray Ledbetter. Skelett Nummer zwei könnte Garland Hamilton sein.« Falls Roger verdutzt war über das, was ich sagte, ließ er es sich nicht anmerken. Vermutlich hatte er es bereits in der Zeitung gelesen. Ich beschrieb ihm, was wir im Keller der Hütte in Cooke County gefunden hatten – ein Skelett, das vor dem Brand mazeriert gewesen war, und ein zweites Skelett, das eindeutig von einer frischen Leiche stammte. »Wir denken … und ich hoffe sehr«, räumte ich ein, »dass Hamilton ums Leben gekommen ist, als er versucht hat, mit Hilfe von Billy Rays Skelett seinen Tod vorzutäuschen. Doch wir haben Probleme mit einer positiven Identifikation. Vielleicht ist Skelett Nummer zwei aber auch nicht Hamilton … Vielleicht ist es eine Doppelfinte. Können Sie mir folgen?«
»Gerade mal so«, sagte er. »Wir Sozialarbeiter sind nicht ganz so hintenherum wie ihr Forensiker. Wir neigen eher dazu, uns zu überlegen, wie man Menschen retten kann, weniger, wie man sie umbringt.«
»Normalerweise denke ich auch nicht in solchen Bahnen«, sagte ich. »Ich versuche nur, wie Hamilton zu denken, und das ist nicht leicht, denn er ist entweder psychotisch oder durch und durch böse. Doch ich hoffe, Sie können mir sagen, ob ein Obdachloser ein leichtes Opfer wäre, falls Hamilton nach jemandem suchte, den er entführen und als Double für sich selbst töten könnte.«
»Wissen Sie was«, erwiderte er, »wenn Sie eine oder zwei Stunden Zeit haben, könnten wir ein bisschen Feldforschung betreiben. Ich fahre sie ein wenig herum, und Sie können mit den Augen eines potenziellen Mörders einen Blick darauf werfen und sich selbst ein Bild machen.«
»Klingt toll. Wann?«
»Haben Sie am späten Nachmittag, frühen Abend Zeit? Heute Abend findet etwas statt, was Sie interessieren könnte, falls Sie noch keine Verabredung zum Abendessen haben.«
»Meine Pläne fürs Abendessen drehen sich mit dem Teller in der Mikrowelle«, sagte ich. »Ich habe allenfalls eine heiße Verabredung mit einem Fertiggericht.«
Er lachte. »Nun, etwas so Schickes kann ich Ihnen nicht versprechen, aber ich kann Ihnen zusätzlich zu den Erkenntnissen, die Sie gewinnen, eine Mahlzeit anbieten.«
»Ein solches Angebot kann ich unmöglich ausschlagen«, sagte ich. »Wo und wann sollen wir uns treffen?«
»Wissen Sie, wo unsere Büros sind?«
»In der Liberty Street, nicht?«
»Ja«, antwortete er. »Angesichts der Tatsache, wie oft unsere Kunden hinter Gittern landen, ist das entweder maßloser Optimismus oder grausame Ironie. Doch der Straßenname war vor uns da. Wie wäre es so gegen vier?«
Einige Stunden später holperte ich über die Eisenbahnschienen zwischen Kingston Pike und Sutherland Avenue, bog an der Zementfabrik links ab und fuhr auf der Sutherland Avenue nach Westen, an den Spielplätzen und Gruppenunterkünften des John-Tarleton-Kinderheims vorbei, und bog dann rechts in die Liberty Street. Das Büro der Pflichtverteidiger war in einem modernen Gebäude aus roten Backsteinen und grünem Glas untergebracht. Roger öffnete mir die Tür. »Die Empfangsdame ist schon nach Hause gegangen«, sagte er. »Waren Sie schon einmal in unserem neuen Domizil?« Ich verneinte, und er bot mir an, mich kurz herumzuführen. Er fing mit dem Empfangsbereich an, einem hohen, halbrunden gläsernen Atrium, das stilvoll und freundlich wirkte – ganz anders als das triste, baufällige Quartier, in das ich die Pflichtverteidiger in meiner Vorstellung verbannt hatte. Im hinteren Bereich des Gebäudes war eine Turnhalle, die auch als Sitzungssaal diente, wo Kunden und Familien an Selbsthilfegruppen teilnehmen und mit Sozialeinrichtungen in Verbindung treten konnten. Das Gebäude strahlte – genau wie Roger – Hoffnung, Energie und beträchtliche Vorüberlegungen aus.
Roger führte mich zur Tür hinaus auf den Parkplatz, wo er mir anbot zu fahren. Da ich keine Ahnung hatte, wohin es ging, hielt ich das für eine gute Idee. Er hatte eine Honda-Geländelimousine, und es dauerte nicht lange, da waren wir unterwegs. Hinter einem freistehenden Gebäude mit Glasfassade, auf dem ein Schild mit der Aufschrift Labor-Ready prangte, bog er auf eine gekieste Fläche, die an die Eisenbahnschienen und an den Third Creek grenzte. Ein Fußweg führte zu den Bäumen und Sträuchern, die den Bach säumten, und ich sah Hemden und Hosen im Geäst hängen – natürliche Wäscheleinen. Bei LaborReady, erklärte Roger, konnten Arbeitgeber Tagelöhner anheuern und Obdachlose oder Durchreisende kurzfristig einen Job kriegen. »Ist es eine gemeinnützige Agentur«, fragte ich, »oder ein Unternehmen?«
»Ein knallhartes Unternehmen«, sagte er. »Am Ende des Tages bezahlt der Arbeitgeber LaborReady für die geleistete Arbeit einen Stundenlohn von etwa zwölf Dollar, und dann zahlt LaborReady dem Arbeiter den Mindestlohn. Sie nehmen um die fünfzig Prozent Provision.« Das war nicht gerade altruistisch, aber viel anders machte die Universität das auch nicht: Sie bezahlte mich und andere Professoren von den Studiengebühren, nachdem sie einen diebischen Gemeinkosten-Anteil abgezogen hatte. Als wir rückwärts wieder auf die Straße setzten und dann in Richtung Innenstadt fuhren, zeigte Roger auf die Eisenbahnschienen direkt hinter dem Gebäude. »Für die Obdachlosen sind die Eisenbahnschienen eine gute Möglichkeit, von einem Ort zum anderen zu gelangen«, sagte er. »Sie sind gerade und flach; sie folgen oft Bächen, sodass es Wasser gibt, und es gibt zahlreiche Stellen, wo man kampieren kann.« Ich schaute zu den Schienen hinüber, und tatsächlich, ein breiter Streifen Bäume und Sträucher säumte den Bach und das Bahngelände – und die Schienen führten direkt in die Innenstadt, ein holpriger, kostenloser Verbindungsweg für Menschen, die zu Fuß durchs Leben tappten.
Als Roger den Honda durch die Innenstadt lenkte, staunte ich, wie viel länger und umständlicher als die Eisenbahnschienen unsere Route war. In den zehn Minuten, die wir brauchten, um mit dem Auto herzukommen, hätten wir die anderthalb Kilometer fast zu Fuß gehen können. In der Jackson Avenue kamen wir an dem ausgebrannten Gerippe eines alten Lagerhauses vorbei, das vor ein, zwei Jahren einem spektakulären Brand zum Opfer gefallen war. Vor dem Feuer war das Gebäude gelegentlich von Hausbesetzern bewohnt worden, die sich ein paar Wochen oder Monate dort niederließen, ehe sie von der Polizei auf Bitten der innerstädtischen Ladenbesitzer verscheucht wurden – ebenfalls für ein paar Wochen oder Monate. Den Block weiter hinauf, nahe der Ecke Jackson Avenue und Gay Street – Knoxvilles Hauptstraße –, hielt Roger vor einer Ladenfront, auf der »Volunteer Ministry Center« stand. Ich linste hinein und sah zwei ungepflegte Männer und eine junge Frau, die an einem Computer arbeitete. »Das ist der Tagesraum«, sagte Roger. »Hier kommen Menschen her, die eine Mahlzeit brauchen oder einen Ort, wo sie sich tagsüber aufhalten können. Oder sie schreiben sich in ein Programm ein, das ihnen hilft, mit ihrer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit fertig zu werden.«
»Nicht viel los«, sagte ich. »Sieht ziemlich klein aus.«
»Es ist viel größer als das, was man durchs Fenster sehen kann«, sagte er. »Sie haben hinten einen großen Speisesaal und weitere Aufenthalts- und Seminarräume und unten einen Hof. Gut möglich, dass sich innen fünfzig oder hundert Menschen aufhalten, von denen Sie hier draußen nichts sehen können.«
Die junge Frau blickte vom Computer auf und musterte die Geländelimousine, die vor dem Tagesraum geparkt hatte. Sie richtete den Blick zuerst auf mich und dann auf Roger, und als sie ihn erkannte, lächelte sie. Selbst durch die rußige Fensterscheibe sah ich auf ihren Wangen ein Paar Weltklassegrübchen. Sie winkte, schob ihren Stuhl zurück und kam nach draußen, wo sie sich durch mein offenes Fenster beugte, um mit Roger zu plaudern. Sie trug einen Dienstausweis mit ihrem Foto, ihrem Namen und den Buchstaben VMC.
»Bill, das ist Lisa, sie leitet den Tagesraum. Lisa, dies ist Dr. Bill Brockton, forensischer Anthropologe an der University of Knoxville. Er versucht, ein Mordopfer zu identifizieren.« Sie schüttelte mir durchs offene Fenster die Hand und ließ ihr nettes, von Grübchen gerahmtes Lächeln aufblitzen. Ich vergaß beinahe, welche Frage ich ihr hatte stellen wollen.
»Wenn einer dieser Menschen verschwinden würde«, sagte ich schließlich und wies in den Tagesraum, »wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihn jemand vermissen würde?«
Darüber musste sie nicht lange nachdenken. »Kennen Sie das alte Gleichnis über den Baum, der im Wald umstürzt? Wenn niemand da ist, der es hört, macht er dann trotzdem ein Geräusch? Die meisten von denen haben niemanden, der hört, wenn sie umstürzen. Sie fallen den Menschen eher ins Auge, wenn sie nicht vermisst werden – wenn sie durch die Straßen laufen, unter einer Brücke schlafen oder betteln. Wenn ein zerlumpter alter Kerl nicht mehr an Ihrem Laden in der Innenstadt oder Ihrer Wohnung vorbeiläuft, sind Sie wahrscheinlich dankbar, dass er weitergezogen ist.« Ich nickte; so würden wohl neunundneunzig von hundert Menschen denken. Hinter uns hupte ein Auto, also verabschiedeten wir uns. Sie lächelte ein letztes Mal, während sie winkte. Ihr Lächeln war vermutlich das Schönste, was die meisten im Tagesraum heute zu sehen bekommen würden. Am liebsten hätte ich selbst eine Zeitlang dort abgehangen, nur wegen dieses Lächelns. Doch Roger fuhr bereits vom Bordstein los.
An der Kreuzung Jackson Avenue und Gay Street bog er rasch rechts ab und fuhr durch einen Block mit gehobenen Miet- und Eigentumswohnungen, die in Backsteinlagerhäusern mit hohen Decken und Ladengeschäften aus den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts untergebracht waren. Manche dieser schicken städtischen Wohnungen kosteten eine halbe Million Dollar und mehr, und ich konnte mir eine ironische Bemerkung über ihre Nähe zu dem Tagesraum für die Obdachlosen nicht verkneifen.
»Das ist nicht alles«, sagte Roger und zeigte auf das Gebäude direkt an der Ecke. »In dem Haus da drüben hat das Volunteer Ministry Center sechzehn Wohnungen« – Übergangsbleiben für Menschen, die versuchten, wieder auf die Beine zu kommen, wie er mir erklärte. Der Rest des Blocks bestand aus schicken Eigentumswohnungen, Galerien, Designerläden und einem trendigen Sushi-Restaurant. Die Kundschaft für die Läden kam vermutlich eher aus den Lofts und den Eigentumswohnungen und nicht aus dem Tagesraum oder den Übergangswohnungen. »Wie Sie sehen können, sind das hier zwei sehr unterschiedliche Welten«, sagte er, »und diese Welten kollidieren so gut wie jeden Tag. Bei der Polizei gehen viele Beschwerden von Ladenbesitzern und Anwohnern ein. Manchmal sind sie berechtigt – aufgebrochene Autos, Betrunkene, die die Toilette oder das Telefon benutzen wollen. Doch manchmal ist es auch reine Schikane – die Besitzenden wollen, dass die Besitzlosen weggejagt werden.«
»Wohin?«
»Das ist das Problem«, sagte er. »Es kann sich zum Hütchenspiel auswachsen. Sie werden aus der Innenstadt verjagt, also ziehen sie den Broadway rauf, in Richtung des Kroger und der Pfandleihhäuser. Oder nach Westen zu den Fernfahrerlokalen an der Lovell Road. Oder sie hängen auf Grünstreifen und unter Brücken herum. Hier, ich zeig’s Ihnen.« Er bog noch zweimal rechts ab und fuhr in Richtung Norden auf den Broadway. Als wir unter der achtspurigen Brücke durchfuhren, welche die I-40 an der Innenstadt vorbeiführte, und meine Augen sich an die Schatten gewöhnt hatten, entdeckte ich im Dämmerlicht zwanzig oder dreißig Menschen – einige standen in Grüppchen auf dem Gehweg, einige saßen auf einer niedrigen Mauer am Rand, andere streckten sich auf dem kahlen Boden dahinter aus. Einige hatten Rucksäcke, Matchbeutel oder Mülltüten mit ihren Habseligkeiten dabei; andere hatten nichts als die schmuddeligen Kleider, die sie am Leib trugen. Ein paar schauten zu uns herüber, als wir langsam vorbeifuhren; einige achteten gar nicht auf uns, denn sie waren auf ein Gespräch mit anderen konzentriert oder auf die Stimmen in ihrem Kopf; andere schliefen oder blickten ins Leere. »Den Geschäftsleuten hier unten gefällt das absolut nicht«, meinte Roger und wies nickend auf ein Farbengeschäft und eine Firma, die mit Industriepumpen handelte. »Bis auf den Lebensmittelladen«, er zeigte auf einen kleinen Laden, der mir noch nie aufgefallen war und dessen Fenster mit einem stabilen Stahlgitter geschützt war, »der jede Menge Bier absetzt.«
Als wir unter dem Schatten der Brücke hervorrollten, kamen wir zu den Sozialdiensten. Auf der westlichen Seite des Broadway hatte die Heilsarmee einen großen Secondhandladen – in diesem Laden hatten im Laufe der Jahre viele meiner Doktoranden billige Kleider, gebrauchte Möbel oder ramponierte Küchengeräte gekauft. Hinter dem Secondhandladen lagen weitere Gebäude – Büros und ein modernes Haus, das nach einem Wohnheim aussah. Strenggenommen beherbergte die Heilsarmee keine Stadtstreicher oder Durchreisenden, erklärte Roger mir. Wie das Volunteer Ministry Center stellte die Heilsarmee Übergangswohnungen zur Verfügung, für Familien in Krisensituationen oder Menschen, die an der »Operation Bootstrap« teilnahmen, einem Sechs-Monats-Programm, das den Leuten helfen sollte, ihre Drogen- oder Alkoholprobleme in den Griff zu bekommen und eine neue Arbeit zu finden. »Die Bootstrap-Leute treiben sich im Allgemeinen nicht auf der Straße herum oder hängen tagsüber irgendwo ab«, sagte Roger. »Sie nehmen an Kursen teil oder arbeiten.«
Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Heilsarmee lag das Knox Area Rescue Ministry, das Roger mit dem Akronym KARM abkürzte. Da fehlt nur ein Buchstabe zu »Karma«, dachte ich. KARM hatte eine alte Kirche renoviert und das Schulgebäude zu einem Nachtasyl mit über zweihundertfünfzig Betten umgebaut, dem Lazarus House. »Das Nachtasyl öffnet erst gegen Abend«, sagte Roger, »von denen unter der Brücke warten sicher viele darauf. Die Polizei kommt alle zwei Stunden vorbei und scheucht die Leute auseinander, aber fünf Minuten später finden sie sich wieder ein.«
Roger fuhr auf dem Broadway noch ein paar Blocks nach Norden, dann bog er links auf die Central Avenue, eine weitere Verkehrsader, die aus der Innenstadt hinausführte. Ähnlich wie der Broadway war auch die Central Avenue ziemlich heruntergekommen, wenigstens auf diesem Abschnitt. In der Innenstadt dagegen war sie in den letzten zwanzig Jahren arg aufgehübscht worden; in die hundert Jahre alten Backsteingebäude waren Restaurants, Bars und Boutiquen eingezogen. Das Ganze nannte sich jetzt Old City. Die nördliche Grenze der Old City war zwar grobschlächtig, aber deutlich gezogen: ein holpriger zweispuriger Bahnübergang kurz vor der White-Lily-Getreidemühle und dem Greyhound-Busdepot, ein weiterer Knoxviller Scheideweg für die sozialen Absteiger.
Roger bog links von der Central Avenue ab und fuhr von hinten an den Nationalfriedhof – einen ordentlich gemähten Veteranenfriedhof, dessen Hunderte von Gräbern durch exakte Reihen identischer Grabsteine markiert waren: Selbst im Tod präsentierten sich die Soldaten in einheitlicher Ausstattung und perfekter Formation. Direkt hinter dem Friedhof, nach der Überquerung weiterer Eisenbahngleise, bog Roger wieder von der Straße ab und holperte über einen breiten Versorgungsweg, der parallel zu den Schienen verlief. Links grenzten die Schienen an eine Reihe von Industriebauten, in denen ich Maschinenhallen vermutete. Rechts, auf meiner Seite also, war eine Wand aus Laub. Roger hielt an und führte mich auf einem breit ausgetretenen Pfad zwischen die Bäume. Das Waldstück war überraschend groß – es erstreckte sich rund fünfzig Meter am Ufer des First Creek. Auch hier hingen Hemden und Hosen zum Trocknen über Zweigen, auf kleinen Lichtungen lag Bettzeug, überall türmten sich Abfallhaufen und Kleidungsstücke. »Bis vor ein paar Tagen war das hier ein ziemlich großes Camp«, sagte Roger. »Wahrscheinlich waren zwei Dutzend Leute hier. Die Eisenbahn hatte am Rand der Bäume da drüben ziemlich große Kanalröhren gestapelt, und manche haben in den Röhren geschlafen. Die Eisenbahn hat dann die Polizei gerufen und sie gebeten, den ganzen Bereich zu räumen.«
»Wie machen die das? Kommt ein Haufen Polizisten her und verhaftet die Leute, oder fahren sie mit Lautsprecherwagen durch und bitten sie, sich zu entfernen, oder wie?«
»Ganz so grob geht es nicht zur Sache«, sagte er. »Die Polizei sagt den Sozialdiensten und den Sozialämtern, dass sie ein Camp schließen wird, und dann gehen die Sozialarbeiter raus und warnen die Leute, sagen ihnen, wenn sie ihre Sachen nicht verlieren möchten, sollten sie vorher zusammenpacken und sich aus dem Staub machen. Die Eisenbahn hat die Röhren schon woandershin geschafft, und die Stadt schickt wahrscheinlich in ein paar Tagen oder Wochen oder Monaten einen Trupp raus, um aufzuräumen. Inzwischen suchen sich die Leute eine andere Stelle zum Kampieren.«
»Das Hütchenspiel?«
»Das Hütchenspiel.«
Wir gingen zurück zum Honda und holperten über den Feldweg zurück in die Stadt. Vor uns konnte ich die Rückseite des Gebäudes der Heilsarmee sehen und die darüber schwebenden Betonsäulen und die Brücke der I-40. Wir hatten fast den Kreis geschlossen, obwohl wir immer noch abseits der Straße waren und uns hundert Meter westlich vom Broadway einem großen gekiesten Bereich unter der Interstate näherten. Unter der Brücke der I-40 über den Broadway hatte ich gestaunt, wie viele Menschen sich dort versammelt hatten; jetzt staunte ich über die geschäftige Szene, die sich hier vor mir entfaltete. Es war fast, als würde ich eine Treppe hinuntersteigen und mich in den unter Disneyland versteckten Servicetunneln wiederfinden – einem Bereich, von dem ich kaum gewusst hatte, dass er existierte, und in dem es doch wimmelte von Menschen und Aktivitäten.
Dutzende von Pkws und Pick-ups standen an einer Seite des gekiesten Bereichs unter der Brücke, der etwa die Größe eines Footballfelds hatte. In der Nähe der geparkten Wagen stand ein Container, so ein schweres Ding aus Wellblech, wie man sie auf Frachtschiffen sieht. Der gelbe Container trug die Aufschrift »Lost Sheep Ministry«. Wenn ich dem Programm einen Namen hätte geben müssen, hätte ich nicht das verlorene Schaf gewählt, sondern eher die Arbeitsbiene oder eine gut geölte Maschine, denn ich hatte noch nie eine solche Effizienz gesehen. Ein stetiger Strom von Arbeitern, hauptsächlich Teenager mit frischen Gesichtern und junge Erwachsene, beförderten Klappstühle und -tische aus dem Container und stellten sie so in Reihen auf, dass sie einem Pult oder einer Kanzel gegenüberstanden. Eine Reihe starker Scheinwerfer – wie sie nachts beim Autobahnbau benutzt werden – wurde eingeschaltet und vertrieb die Düsterkeit unter der Brücke. Während Roger und ich zuschauten, wurde aus dem Platz unter der rumpelnden Brücke ein improvisierter Versammlungssaal mit Dutzenden von Tischen und Hunderten von Stühlen. Mehrere Tische wurden in einer Reihe hinter den Stuhlreihen aufgestellt und von einem zweiten Trupp Hilfskräften mit professionellen dampfbeheizten Theken, Hunderten von Erfrischungsgetränken sowie Bergen von Sandwiches und Kartoffelchips bepackt.
»Das ist ja unglaublich«, sagte ich zu Roger. »Wenn das U.S.-Militär mit solcher Geschwindigkeit und Konzentration vorginge, hätten wir im Irak in einer Woche die Kurve gekratzt.«
Er nickte.
Aus einem Topf wehte mir der Geruch von Rindereintopf in die Nase, und es duftete besser als alles, was ich mir diese Woche in die Mikrowelle geschoben hatte. Aus allen Richtungen bewegte sich eine bunt zusammengewürfelte Menschenmenge auf die Tische mit dem Essen zu: Mehrere Dutzend, dann Hunderte kamen aus den Sträuchern, von den Eisenbahnschienen, von den Gehwegen und aus den Straßen und stellten sich ordentlich in einer Schlange auf. Eine der Ersten war eine junge Frau mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, etwa so alt wie meine Enkelsöhne. Die Mutter und ihre Kinder schienen sauber und gesund zu sein, doch sie hatten einen wachsamen, müden Blick, selbst die Kinder, und das machte mich traurig – sie so früh im Leben schon so niedergeschlagen zu sehen. Hinter ihnen in der Schlange stand ein Mann, der sich mit ungleichmäßigen, schlurfenden Schritten vorwärtsbewegte und dessen Kopf und rechter Arm regelmäßig zuckten, während er ohne Unterlass vor sich hin murmelte, entweder zu sich selbst oder zu einem unsichtbaren Gefährten.
Eine Lautsprecheranlage ging knisternd an, und ich hörte eine Frau, die sich über den Straßenlärm als Maxine Raines vorstellte, Gründerin des Lost Sheep Ministry. Sie zitierte einen Passus aus der Bibel – »Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand; sondern gedenke seiner in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen« – und fuhr dann mit einer Auslegung der Stelle fort. Maxine war selbst einst obdachlos gewesen, erklärte Roger mir. Ihre kurze Predigt machte deutlich, dass sie fest daran glaubte, Gott habe sie genau an diesen Ort geführt, genau zu diesem Programm, damit sie unter der Interstate-Brücke Kleidung und Essen ausgebe. Roger zufolge teilten nicht alle Maxines Vision – einige Sozialarbeiter waren nicht besonders begeistert über Lost Sheep und ähnliche kirchlich orientierte Sozialprogramme, weil sie die Leute ihrer Ansicht darin unterstützten, sich vor Arbeitssuche und Eigenverantwortung zu drücken. Doch was für eine Arbeit, überlegte ich, sollten einige dieser verlorenen und gebrochenen Seelen ausüben?
Maxine reichte das Mikrofon einem jungen Mann, der – seinem eigenen Bericht nach – einst einer von Knoxvilles größten Drogenhändlern gewesen war, bevor er Gott gefunden und in seinem Leben aufgeräumt hatte. Ihm folgte eine Sängerin – eine hübsche junge Frau mit langem, braunem Haar, einer akustischen Gitarre und der lieblichen, schlichten Stimme einer Folksängerin. »When the music fades«, sang sie, »I simply come longing to bring something that’s of worth, that will bless your heart.« Ich war mir nicht sicher, wie viele Menschen dem Text folgten – die meisten schienen sich mehr dafür zu interessieren, was sie auf dem Büfett und auf den Tischen mit Männer- und Frauenkleidung sowie rezeptfreien Medikamenten erwartete –, aber vielleicht waren die Worte auch nicht der wichtigste Teil der Botschaft. Ich dachte an die Widmung auf der Gedenktafel für Jess auf der Body Farm – Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe –, und ich bewunderte das Mitgefühl dieser Armee von über hundert Freiwilligen, selbst wenn sie nur Symptome behandelten, statt die eigentlichen Ursachen für Obdachlosigkeit zu bekämpfen.
Fast so rasch, wie er begonnen hatte, fand der Gottesdienst – sowie die Mahlzeit und die anderen Angebote – ein Ende. Die letzten Nachzügler erhielten eben noch ihre Rationen Eintopf, Schuhe und Aspirin, da machten sich die ersten Helfer schon daran, Stühle und Tische wieder zusammenzuklappen und zu verstauen. Die Teller mit Essen waren von fünfhundert Menschen leergeputzt worden, und die Menschenmenge zerstreute sich wieder in Richtung der Obdachlosenheime und Brücken und Camps am Bachufer, wo sie sich in dieser speziellen Nacht zur Ruhe betten würden. Einer der Letzten, der wegging, war der zuckende, murmelnde Mann, den ich ziemlich am Anfang der Essensschlange gesehen hatte. Als er sich den Bäumen am Rand der Eisenbahnschienen näherte, schloss sich ihm ein Mann an, nahm ihn am Arm und hielt ihn zu einem kurzen Gespräch am Rand der Dunkelheit an.
Es war ein freiwilliger Helfer von Lost Sheep, erkannte ich, der sich wahrscheinlich Sorgen um das Wohlergehen des Mannes machte. Doch es hätte genauso gut Garland Hamilton sein können, der ihm auflauerte – der einem heruntergekommenem Alkoholiker, der buchstäblich für ein Glas sterben würde, ein paar Dollar anbot.
Die unwirkliche Szene unter der I-40 stand mir am nächsten Morgen noch lebhaft vor Augen, als ich im Knochenlabor Schädelfragmente studierte. Als das Telefon klingelte, ignorierte ich es, denn ich war völlig vertieft in das Oval eines zusammengestückelten Schläfenbeins, das ich in einer Hand hielt, und die schartige Scherbe, die ich mit einer Pinzette in der anderen Hand hielt. Nach dem sechsten Klingeln schwieg das Telefon, nur um wieder von vorne zu beginnen. Ich warf einen Blick auf das Display und sah, dass es Peggy war, die einzige Anruferin, die ich nicht ignorieren konnte. Ich seufzte, legte das größere Segment auf die Sandschicht in der Kuchenform und das einzelne Stück zurück auf das Tablett mit den unzähligen anderen Stücken.
»Hallo, Peggy«, knurrte ich.
»Sind wir heute Morgen etwa ein wenig brummig?«
»Ja«, sagte ich. »Tut mir leid.«
»Da ist eine Lisa Wells für Sie in der Leitung«, sagte Peggy.
»Wells?« Der Name sagte mir nichts. »Könnten Sie eine Nachricht entgegennehmen? Ich habe im Augenblick alle Hände voll zu tun.«
Einen Augenblick später klingelte das Telefon wieder; und wieder war es Peggy. Ich griff leise fluchend nach dem Hörer. »Was gibt’s denn?«
»Es tut mir leid, Dr. B., aber Ms. Wells sagt, es wäre wichtig. Sie sagt, sie kennt vielleicht den Obdachlosen, den Sie suchen.«
»Oh, stellen Sie sie durch«, sagte ich. Einen Augenblick später wurden die leisen Hintergrundgeräusche aus Peggys Büro in meinem rechten Ohr abgelöst von lautem Straßenlärm – vorbeirauschende Autos, in Schlaglöcher rumsende Reifen, ein irgendwo im Hintergrund dröhnender Presslufthammer. »Hallo«, sagte ich, »ist das Lisa mit den Grübchen?«
»Wie bitte?« Ich wusste nicht, ob sie verdutzt war oder mich bei dem ganzen Lärm schlicht nicht verstanden hatte.
»Hallo, hier ist Dr. Brockton«, sagte ich ein wenig lauter und formeller. »Klingt, als wäre im Tagesraum viel los.«
»Ich bin zum Telefonieren rausgegangen«, erwiderte sie. »Da drin gibt’s kaum Privatsphäre. Dr. Brockton, ich habe lange über das nachgedacht, was Sie mich gestern gefragt haben.«
»Nachdenken ist gut«, sagte ich.
»Ich bin in einer schwierigen Position«, sagte sie. »Ich muss die Privatsphäre unserer Klienten schützen, aber seit unserem Gespräch mache ich mir Sorgen um einen Mann, der eigentlich regelmäßig kommt, einen Mann namens Freddie. Er war die letzten sechs Monate fast jeden Tag hier, aber jetzt habe ich ihn über eine Woche nicht gesehen.« Sie zögerte. »Er trinkt, aber in letzter Zeit ging’s ihm besser. Als er nicht mehr aufgetaucht ist, habe ich mir Sorgen gemacht, er wäre auf Sauftour gegangen. Jetzt fürchte ich Schlimmeres.«
»Können Sie mir Freddie beschreiben – weiß, schwarz, klein, groß, jung, alt?«
»Weiß«, sagte sie. »Mittleres Alter, irgendwo zwischen fünfundvierzig und sechzig. Obdachlose altern im Allgemeinen schneller, das Leben auf der Straße hat seinen Preis. Wahrscheinlich knapp ein Meter achtzig groß, dünn. Vielleicht fünfundsiebzig Kilo.«
»Erinnern Sie sich an seine Zähne?«
»Sie meinen, ob er welche hatte?«
Ich lachte. »Nun, das wäre ein Anfang.«
Sie lachte ebenfalls. »Manche haben keine«, sagte sie. »Davon abgesehen, nein, ich erinnere mich nicht an seine Zähne.«
»Dann nehme ich an, Sie wissen nicht, wie wir an seine Zahnarztunterlagen kommen könnten?«
»Zahnarztunterlagen? Nein«, sagte sie. »Die Leute, mit denen wir arbeiten, kommen gerade mal so durch, Dr. Brockton. Wir haben einen Zahnarzt, der einen Tag im Monat unentgeltlich behandelt, um für das Allernotwendigste zu sorgen, aber Zahnarztunterlagen? So etwas haben unsere Klienten in der Regel nicht.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte ich, »aber fragen musste ich. Es wäre sehr viel leichter, das verbrannte Skelett zu identifizieren, wenn wir Röntgenbilder der Zähne hätten.«
»Röntgenbilder?« Selbst bei dem ganzen Straßenlärm hörte ich, dass ihre Stimme sich veränderte. »Müssen die von den Zähnen sein?«
»Die von den Zähnen sind normalerweise am besten. Aber eine Aufnahme eines Arms oder eines Beins wäre auch gut, falls sie etwas zeigt, was wir vergleichen können – ein verheilter Bruch oder ein orthopädisches Implantat oder etwas in der Art.«
»Und ein Kopf?«
»Ein Kopf?«
»Ein Röntgenbild vom Kopf. Der Schädel?«
Ich hörte, dass meine Stimme sich veränderte. »Sie haben ein Röntgenbild von Freddies Schädel?«
»Ich nicht, aber das Unikrankenhaus vielleicht. Kurz nachdem er zum ersten Mal herkam, ist er im Speisesaal gestürzt und hat sich böse den Kopf angeschlagen – er war bewusstlos. Wir haben einen Krankenwagen gerufen, und die haben ihn ins Unikrankenhaus in die Notaufnahme gebracht.«
Ich ließ mir von Lisa Freddies Nachnamen geben und rief dann die Radiologie an.
»Hallo, hier ist Dr. Brockton«, sagte ich zu Theresa, der Empfangsdame der Radiologie. »Ein Mann aus einer der Obdachlosen-Initiativen war vor rund vier Monaten wahrscheinlich bei Ihnen in der Notaufnahme und bekam den Schädel geröntgt. Sein Name war Freddie Darnell, D-A-R-N-E-L-L. Wir versuchen, ein Mordopfer zu identifizieren, und es besteht die Möglichkeit, dass es Darnell ist. Könnten Sie bitte nachschauen, ob es bei Ihnen eine Krankenakte gibt? Wir können einen Gerichtsbeschluss besorgen, falls das notwendig ist.«
»Bleiben Sie kurz dran, Dr. Brockton«, sagte sie und legte mich in die Warteschleife. Eine Minute verstrich, dann drei, dann fünf. Ich behielt die Balken meines Handys im Blick, da ich vergessen hatte, es über Nacht aufzuladen. Jetzt war nur noch ein Akku-Balken zu sehen, und ich machte mir Sorgen, das Telefon könnte den Geist aufgeben, bevor sie wieder dran war.
»Unter Darnell konnte ich nichts finden«, sagte sie. Mich verließ der Mut. »Aber wir hatten einen Mann namens Parnell hier, mit P«, sagte sie. »Könnte es der sein? Vielleicht hat jemand beim Sozialdienst den Namen falsch notiert oder bei der Aufnahme in der Notaufnahme wurde er falsch verstanden.«
Mein Puls fing an zu rasen. »Vorname Freddie, vielleicht auch Fred oder Frederick? Weiß, männlich, fünfundvierzig, plus/minus ein paar Jährchen?«
Sie zögerte. »Ich nehme nicht an, dass Sie eine Einverständniserklärung von ihm haben, oder?«
»Nein«, sagte ich, »und ich fürchte, er ist zu tot, um mir noch eine zu geben. Brauchen Sie einen Gerichtsbeschluss, damit ich mir seine Röntgenbilder ansehen kann?«
»Bleiben Sie noch eine Minute dran, Doc.«
Ich blieb dran. Der Akku-Balken an meinem Handy fing an zu blinken – und zapfte dem Akku damit noch schneller den Saft ab.
Schließlich war sie wieder am Apparat. »Was für ein Zufall, Dr. B.«, sagte sie. »Dr. Shepherd sagte gerade, dass er Sie in just diesem Fall konsultieren müsse.«
Ich lachte. »Theresa, Sie sind unschlagbar. Kann ich in zehn Minuten vorbeikommen?«
»Ich habe die Akte schon gezogen«, sagte sie. »Ich sage Dr. Shepherd Bescheid, dass Sie gleich rüberkommen, um mit ihm zu reden.«
Fünfzehn Minuten später schaltete Ben Shepherd einen Röntgenbildbetrachter ein und klemmte eine Schädelaufnahme daran fest. Dr. Shepherd und ich hatten bei mehreren Fällen zusammengearbeitet, und es war Ben, der mir den mobilen Röntgenapparat besorgt hatte, den wir unten an der Laderampe benutzen konnten, damit wir verweste Leichen, die geröntgt werden mussten, nicht mehr ins Krankenhaus verfrachten und seine ganze Abteilung verpesten mussten. Ich hielt jedes Jahr für die Mitarbeiter und Ärzte der Radiologie einen Diavortrag, bei dem ich ihnen eingeschlagene Schädel und zerstückelte Leichen zeigte. »Mir gefällt eine ordentliche Schusswunde«, hatte Ben einmal zu mir gesagt. »Die Abschrägung der Ränder. Die Bleispritzer im Innern des Schädels. Um einiges interessanter als ein Skateboardfahrer mit einem gebrochenen Arm.«
Ben studierte Parnells Schädelaufnahme. »Hm«, sagte er. »Nicht viel zu sehen. In seiner Akte steht, dass er eine leichte Gehirnerschütterung hatte, aber das sieht man auf dem Röntgenbild natürlich nicht.«
Ich musterte das geisterhafte Bild. Die Zähne waren nicht der Grund für die Röntgenaufnahme, also war auf dem Bild nicht viel davon zu sehen. Und der Schädel wies keinerlei Spuren verheilter Brüche auf, die wir mit dem verbrannten Schädel hätten vergleichen können. Doch es gab eine Hoffnung, erkannte ich, als ich die Vorderansicht des Schädels betrachtete. Knapp über dem Augenbrauenwulst, mitten auf der Stirn, verlief innen im Schädel in einem zart ausgebogten Muster, das an die Lappen eines Ginkgoblatts erinnerte, eine gewellte Grenze zwischen Hell und Dunkel. Diese bogenförmige Linie war der obere Rand der Stirnbeinhöhle, einer Höhlung in der mittleren von drei Knochenschichten des Schädels. Die Stirnbeinhöhle jedes Menschen war einzigartig und daher ein potenzielles Mittel zur positiven Identifikation – zumindest theoretisch, denn die Theorie war noch nicht so umfassend angewandt oder getestet worden wie die Identifikation mittels Fingerabdrücken, Zähnen oder DNA. Ich wies mit der Spitze eines Kugelschreibers auf Parnells Stirnbeinhöhle und zeigte auf den wellenförmigen Rand. »Wenn wir Glück haben und unseren Schädel wieder zusammensetzen können«, sagte ich, »können wir schauen, ob es hier eine Übereinstimmung gibt.«
»Wenn Sie genug zusammenhaben, um es zu vergleichen«, sagte er, »bringen Sie es rüber, dann machen wir eine Röntgenaufnahme.«
»Eigentlich«, sagte ich, »glaube ich nicht, dass wir überhaupt ein Röntgenbild machen müssen. Beim Verbrennen haben sich die inneren Knochenschichten des Schädels gelöst, sodass die Stirnbeinhöhle schon freigelegt ist. Wenn wir eine Kopie des Röntgenbilds hätten, könnten wir den Knochen direkt mit dem Bild vergleichen.«
»Ich sag Ihnen was«, sagte er. »Ich glaube, ich bin gerade angepiepst worden. Ich bin ein paar Minuten weg. Wenn Sie nicht mehr hier sind, wenn ich zurückkomme, gehe ich davon aus, dass Theresa hier war und die Akte wieder einsortiert hat.« Er zwinkerte, schüttelte mir die Hand und wünschte mir viel Glück.