20
Nach dem Telefonat mit DeVriess fuhr ich zum Campus. Es war noch früh – noch nicht mal halb acht –, und die Büros des Anthropologischen Instituts waren noch dunkel und leer. Selbst das osteologische Labor, wo Miranda oft schon um sieben Uhr ihren Dienst antrat, war noch verschlossen. Ich stutzte, als ich im Treppenhaus direkt vor der Tür zum Labor auf eine Vase mit Blumen – roten Rosen – stieß. Zwischen den Blüten steckte eine kleine Karte; der Umschlag war nicht zugeklebt, also zog ich die Karte heraus, um zu schauen, wer die oder der Glückliche war. Ich bezweifelte, dass die Rosen für mich waren, aber man weiß ja nie.
»Für Miranda«, stand da in ordentlichen Blockbuchstaben, »meinen neuen Liebling«. Unter die Widmung war ein Herz gemalt, das von einem Pfeil durchbohrt wurde. Kaum hatte ich die Worte gelesen, empfand ich einen eifersüchtigen Stich. Doch was mich mehr beunruhigte war das Blut, das aus dem Herzen tropfte und darunter eine Pfütze bildete.
Als ich eine Stunde später im Knochenlabor anrief, war Miranda am Apparat. Sie klang nervös, was mich nicht überraschte. »Ich habe die Blumen gesehen«, sagte ich. »Was glauben Sie, wer sie geschickt hat?«
»Ich will gar nicht darüber nachdenken«, sagte sie. »Es überläuft mich kalt.«
»Es wäre aber besser, es rauszubekommen, als es nicht zu wissen«, meinte ich.
»Sie haben wahrscheinlich recht«, sagte sie, »aber eigentlich will ich mich gar nicht darüber aufregen, denn das gibt ihm mehr Macht über mich, als ich ihm geben will.« Ich sagte nichts, und nach einem Augenblick fuhr sie fort: »Ich fürchte, es ist Stuart Latham. Er hat gestern angerufen und mich gefragt, ob ich etwas mit der Untersuchung von Marys Tod zu tun hätte.«
Das verblüffte mich. »Du meine Güte«, sagte ich, »was haben Sie ihm geantwortet?«
»Ich habe ihm gesagt, ich könnte unmöglich mit ihm über rechtsmedizinische Fälle sprechen. Aber wie nicht anders zu erwarten stand, wollte er ein Nein nicht akzeptieren.« Sie stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Zuerst hat er versucht, mir zu schmeicheln, und als das nicht funktionierte, hat er den trauernden Witwer gespielt – das wahre Opfer bei der ganzen Sache – und versucht, mir so viel Schuldgefühle zu machen, dass ich es ihm erzähle. Als das auch nicht funktioniert hat, wurde er gemein.«
»Inwiefern? Hat er Sie in irgendeiner Weise bedroht?« Ich spürte, wie mein Puls schneller ging und mein Blutdruck stieg.
»Nein, nicht direkt«, sagte sie. »Er hat sich nur darüber verbreitet, wie selbstsüchtig und herzlos ich wäre.« Sie unterbrach sich. »Wie ich früher, als ich öfter bei ihnen war, mit ihm geflirtet und ihn an der Nase herumgeführt hätte. Wie unglücklich ihn das gemacht hätte, denn er wäre doch verheiratet gewesen. Wie hart es für ihn gewesen sei, über die Zurückweisung hinwegzukommen.« Sie schwieg wieder, nur ihr Atem war zu hören. Es hörte sich fast an, als weinte sie. »Die Sache, für die ich mich wirklich schäme, Dr. B., ist die, dass ich wirklich mit ihm geflirtet habe. Ich weiß nicht, warum. Nein, das stimmt nicht, ich weiß es schon. Er hat gut ausgesehen, und er war erwachsen, und er hat sich ganz offensichtlich zu mir hingezogen gefühlt. Ich glaube, es war die Verlockung, begehrt zu werden, wissen Sie?«
Das kannte ich; mich überraschte aber, dass Miranda es kannte und dass sie es in Form von jemandem wie Stuart Latham kennen gelernt hatte.
»Egal«, sagte sie, »ich wollte nie irgendwelche Probleme in ihrer Ehe machen, und ich habe aufgehört, mit ihm zu flirten, als ich erkannte, dass es Probleme gab.«
»Und wie hat der Anruf geendet?«
»Abrupt«, sagte ich. »Ich habe ihm gesagt, er soll mich nie wieder anrufen, und dann habe ich aufgelegt.«
»Glauben Sie, er hat die Blumen als Entschuldigung geschickt?«
»Haben Sie die Karte gelesen?«
»Ja«, gab ich zu.
»Hat das ausgesehen wie eine Entschuldigung?«
»Wenn es eine Entschuldigung war«, sagte ich, »dann eine ziemlich gruselige.«
»Ja, ziemlich«, meinte sie, »so wie der Papst ziemlich katholisch ist.«
»Geht es Ihnen gut?«
»Es geht schon wieder«, sagte sie, »sobald ich Gelegenheit habe, eine lange, heiße Dusche zu nehmen und den Schmutz abzuwaschen.«
»Sagen Sie mir Bescheid, falls er noch einmal Kontakt zu Ihnen aufnimmt«, sagte ich. »Dann rufen wir die Campuspolizei oder gleich die Polizei von Knoxville. Das Letzte, was er im Augenblick braucht, ist, bei der Polizei noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.«
Sie dankte mir und legte auf. Im Lichte dessen, was sie mir da erzählt hatte, war es durchaus möglich, dass Stuart Latham die Blumen geschickt hatte, und das war beunruhigend. Mir kamen noch zwei weitere Möglichkeiten – und damit zwei weitere Verdächtige – in den Sinn, beide genauso beunruhigend.
Eine Möglichkeit war Edelberto Garcia, bei dem ich immer noch befürchtete, er könnte mehr in Miranda sehen als eine Kollegin oder gelegentliche Babysitterin. Garcias kühle Gewandtheit hatte etwas an sich, dem ich nicht ganz traute, obwohl mir klar war, dass mein Verdacht womöglich eher auf Eifersucht gründete als auf Logik.
Die andere Möglichkeit war Garland Hamilton, und bei dem Gedanken, Hamilton könnte Miranda die Blumen geschickt haben, fror es mich bis ins Mark. Vor einigen Monaten war Jess in Hamiltons Blickfeld geraten, und Jess war jetzt tot. Als ich über diese Möglichkeit nachdachte, konnte ich nur noch beten, dass die Blumen von Stuart Latham kamen.
Am späten Vormittag, ich war gerade in die Seiten der neuesten Ausgabe des Journal of Forensic Sciences vertieft, worin von einem Kollegen berichtet wurde, der soeben die Altersbestimmung anhand des Studiums von Schädelknochennähten verfeinerte –, drang ganz langsam ein leises, beharrliches Klopfen in mein Bewusstsein, und eine Stimme sagte: »Doc, dürfte ich mal reinkommen?« Ich riss mich in die Gegenwart zurück.
»Tut mir leid. Sicher, kommen Sie herein.« Ich blickte auf und ordnete im selben Moment die Stimme ein. Steve Morgan trat ein, und sein Anblick entlockte mir trotz der Belastung der vergangenen zwei Tage ein Lächeln. Steve war Kriminalbeamter und hatte vor Jahren bei mir studiert. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er an einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von FBI und Kriminalpolizei zu Ermittlungen über Korruption in den Dienststellen des Sheriffs von Cooke County teilgenommen.
»Ich hoffe, Sie sind hier, um mir mitzuteilen, dass Sie Garland Hamilton erwischt haben«, meinte ich.
Er zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so, aber ich komme nicht deswegen«, erwiderte er. »Ich glaube, Sie werden es trotzdem interessant finden. Wir beobachten seine Konten und schauen uns seine Kreditkartenaktivitäten an.«
»Und?«
»Wir haben einen Lagerraum gefunden, den er vor sechs Monaten gemietet hat, und darin war etwas, was Ihnen gehört.« Er trat in den Flur und kam mit einem Pappkarton in den Armen wieder. Die Schachtel war neunzig Zentimeter lang, dreißig Zentimeter hoch und dreißig Zentimeter breit. Ich kannte die exakten Maße, weil ich jahrelang Skelette in solchen Schachteln verpackt hatte. Ich hatte auch eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer in diesem speziellen Karton war: Ich hätte ein Jahresgehalt darauf verwettet, dass die Schachtel das postkraniale Skelett – also vom Hals abwärts – von Leena Bonds enthielt, einer jungen Frau, die vor dreißig Jahren in Cooke County ermordet worden war. Ich hatte die Leiche der Frau aus einer Höhle in den Bergen geborgen, wo die Kombination aus kühler Luft und extrem hoher Luftfeuchtigkeit ihr weiches Körpergewebe in Adipocire verwandelt hatte, eine seifenähnliche Substanz, die Leenas Gestalt über die Jahrzehnte sehr gut konserviert hatte. Mitten in den Ermittlungen zum Mord an Leena war jemand in mein Büro eingebrochen und hatte die Schachtel gestohlen. Dieser Jemand war Garland Hamilton gewesen.
Ich wies auf meinen Schreibtisch, und Morgan stellte die Schachtel ab. Ich hob den Deckel hoch, der an einer der Dreißig-Zentimeter-Seiten befestigt war. In der Schachtel lagen die Knochen einer jungen weißen Frau, und auf jedem Knochen stand in meiner Handschrift die Fallnummer. Zwei Teile des Skeletts fehlten, wie ich wusste: der Schädel und das Zungenbein, die ich beide an dem Tag, an dem die Schachtel gestohlen worden war, mit in die Vorlesung genommen hatte, um sie meinen Studierenden zu zeigen. Den Schädel der Frau – Leenas Schädel – und das gebrochene Zungenbein aus ihrer Kehle hatte Jim O’Conner vor acht Monaten oben im Cooke County beigesetzt. O’Conner war jetzt Sheriff dort, doch vor dreißig Jahren war er nur ein junger Mann gewesen, der Leena geliebt hatte, als sie noch ein unschuldiges junges Mädchen gewesen war. Bevor ihr Onkel sie sexuell missbraucht und ihre Tante sie erwürgt hatte.
Die Knochen versetzten mich in der Zeit zurück, so wie der Duft von frischgebackenem Brot oder frischgemähtem Gras einen in die Kindheit zurückversetzen kann. Für mich war der Blick auf ein Skelett wie die Lektüre eines Tagebuchs – eines Tagebuchs, in dem Verletzungen, Krankheiten, Händigkeit und unzählige andere Dinge über das Leben verzeichnet waren, die lange nach dem Tod in die Knochen eingeschrieben blieben. In dem Raum neben meinem Büro hatte ich eine ganze Bibliothek voll mit solchen Tagebüchern – Tagebücher über Leben und Sterben. Jedes war einzigartig faszinierend, und ich erinnerte mich stets an die Einzelheiten. Jedes war auch einzigartig traurig – Leenas ganz besonders. Ich schüttelte die Erinnerungen ab und schaute Morgan an.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich habe nur gerade eine kurze Reise in einen dunklen Teil der Vergangenheit unternommen.«
Er nickte. »Das verstehe ich«, sagte er. »Lassen Sie sich Zeit.«
»Ich bin fertig«, sagte ich. »Sie haben erwähnt, dass Sie Garland Hamiltons Kreditkartenabrechnungen überprüfen. Irgendein Hinweis auf seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort?«
»Nein«, sagte er. »Den Lagerraum hat er vor ungefähr sechs Monaten angemietet und im Voraus für ein Jahr bezahlt. Die letzte Aktivität«, er zögerte, »war zwei Stunden nach seiner Flucht. Eine Überwachungskamera an einem Geldautomaten einer Filiale der Sun Trust Bank in der Hill Avenue zeigt ihn, wie er Geld abhebt. Er hat die Kreditkarte mit vierhundert Dollar belastet und noch mal vierhundert Dollar vom Girokonto abgehoben. Mehr hat der Automat nicht ausgespuckt.«
»Woher hatte er die Karten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Morgan. »Im Gefängnis hatte er sie nicht, also muss er sie an einem sicheren und gut erreichbaren Ort versteckt gehabt haben. Vielleicht in dem Lagerraum.«
»Wurden seine Konten nicht eingefroren?«
Morgan schüttelte den Kopf. »Wenn er den internationalen Terrorismus finanzieren oder Millionen unterschlagen würde, könnte die Bundespolizei seine Konten sperren. Ansonsten gibt es dafür keine rechtliche Handhabe. Mit achthundert Dollar kommt er nicht besonders weit, aber er kann den Radar wenigstens für eine Weile unterfliegen.«
»Irgendeine Idee, wo er sein könnte? Glauben Sie, er bleibt hier, oder glauben Sie, er ist auf der Flucht?«
Morgan runzelte die Stirn. »Schwer zu sagen. Typischerweise hauen entflohene Mörder ab, aber er ist nicht typisch. Er ist klüger als die meisten, und er weiß, wie die Polizei tickt.«
»Dann ist er vielleicht doch abgehauen«, sagte ich, »weil er sich denkt, dass Sie es nicht von ihm erwarten.«
»Zum Teufel, auf diese Art und Weise kann man sich mit Spekulationen und Vermutungen im Kreis drehen wie eine Katze, die den eigenen Schwanz jagt. Bringt aber nichts, außer dass man ganz schwindlig wird. Sein Bild ist überall in den Medien, und wir haben einen Fahndungsaufruf an sämtliche Polizeistationen und Sheriffbüros im ganzen Land geschickt. Wir kriegen ihn.«
»Lieber früher als später«, sagte ich.
»Früher«, sagte er. »Inzwischen habe ich jedoch nachgedacht … Haben Sie je überlegt, sich eine Waffe zuzulegen?«
»Ich? Eine Waffe? Wenn ich irgendwo an einem Leichenfundort arbeite, bin ich normalerweise auf allen vieren, und mein Hintern ragt in die Luft.« Die Beschreibung entlockte Morgan ein Lachen. »Was sollte eine Waffe mir nützen?«
»Ich meine, für dann, wenn Sie nicht draußen arbeiten«, sagte er. »Wenn Sie im Büro sind oder zu Hause. Ich weiß, dass Sie kein großer Waffenfan sind. Aber vielleicht vorübergehend, bis wir ihn haben?«
Ich hatte tatsächlich schon darüber nachgedacht. »Glauben Sie, ich bin in Gefahr?«, fragte ich.
Er überlegte. »Kommt darauf an, was Hamilton wichtiger ist«, sagte er, »davonzukommen oder es Ihnen heimzuzahlen. Er hat schon einmal versucht, Sie umzubringen. Vielleicht betrachtet er das als eine unerledigte Angelegenheit – etwas, was er nach seinem Ausbruch noch abhaken kann.«
»Puh, da geht’s mir doch gleich besser«, sagte ich.
»Ich will Ihnen keine Angst einjagen«, sagte er. »Ich bin nur realistisch. Besorgen Sie sich eine Waffe. Himmel, Sie sind Berater der Kriminalpolizei von Tennessee; ich bin mir sicher, dass wir Ihnen einen Waffenschein ausstellen können. Wir müssen nur raus mit Ihnen zur Schießanlage und Sie qualifizieren.«
»Verdammt«, sagte ich. »Ich hasse so etwas. Aber wenn Sie es mir ermöglichen könnten, tue ich es.«
»Gut«, sagte er. »Ich schaue mal, durch welche Reifen wir springen müssen. Und ich sage Ihnen Bescheid, sobald wir irgendetwas über Hamilton erfahren.« Er schüttelte mir die Hand und wandte sich ab. »Seien Sie vorsichtig«, sagte er im Gehen.
»Sicher doch.«
Nachdem Morgan weg war, nahm ich das Telefon und wählte.
»Cooke County Sheriff«, sagte eine forsche Stimme in dem für den Osten Tennessees typischen näselnden Tonfall. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, Madam. Ich wüsste gerne, ob der Sheriff da ist.«
»Und wer ist am Apparat?«
»Hier spricht Dr. Bill Brockton von der University of Knoxville.«
»Ich sag’s ihm, Schatz«, sagte sie. Das erinnerte mich eher an eine Fernfahrerkneipe als an eine Sheriff-Dienststelle. »Bleiben Sie dran, wenn Sie lustig dazu sind.« Der Ausdruck – der eigentlich so viel hieß wie »wenn es Ihnen nichts ausmacht« – entlockte mir ein Lächeln.
Zehn Sekunden später hörte ich Jim O’Conners Stimme. »Doc, geht’s Ihnen gut? Ich habe gehört, da unten bei Ihnen geht es gerade ziemlich heiß her.«
»Mir ging’s schon besser, aber ich komme klar«, sagte ich.
»Tut mir leid, dass er geflohen ist.«
»Nicht halb so leid wie mir«, sagte ich. »Hören Sie, sind Sie am späten Nachmittag da?«
»Müsste ich eigentlich«, sagte er. »Es sei denn, jemand begeht hier in Cooke County ein spektakuläres Verbrechen. Was«, fügte er hinzu, »immer drin ist.«
»Könnte ich hochkommen?«
»Sicher doch. Gibt’s was Bestimmtes?«
»Ich habe etwas, was ich Ihnen gerne zeigen würde«, sagte ich.
»Ich bin da. Sie wissen doch noch, wie Sie uns finden?«
»Klar«, sagte ich. »Ich fahre nach Osten, bis die Zivilisation endet, und dann folge ich dem Geballere.«
Er lachte. »Ja, Sie wissen’s noch. Wenn etwas dazwischenkommt und ich nicht hier sein kann, rufe ich Sie an.«
»Ebenfalls«, sagte ich. »Ich freue mich, Sie mal wiederzusehen, Jim.«
»Ich mich auch, Doc.«
Zwei Stunden später und achtzig Kilometer weiter östlich nahm ich von der I-40 die Abfahrt River Road und dann die kurvenreiche, zweispurige Asphaltstraße, die sich an einem tosenden Bergbach entlangschlängelte und nach Jonesport führte, der Kreishauptstadt von Cooke County.
Das Büro des Sheriffs lag in einem granitenen Gerichtsgebäude, das eher aussah wie eine kleine Festung denn wie ein Verwaltungsgebäude. Als ich parkte, fiel mein Blick auf zwei krumme alte Kerle, die auf dem Rasen vor dem Gerichtsgebäude auf einer Bank saßen und schnitzten. Die Späne häuften sich fast kniehoch zwischen den Füßen der Männer. Als ich vor neun Monaten in Cooke County war, hatte ich diese Männer in genau derselben Haltung auf ebendieser Bank sitzen sehen. Ich überlegte, ob sie ihren Posten je verlassen hatten oder ob sie zum Inventar gehörten wie die Kanone aus dem Bürgerkrieg und die Statue von Obadiah Jones, dem Stadtgründer und Namensgeber. Ich klemmte mir die Schachtel mit Leenas Knochen unter einen Arm. Als ich an der Bank vorbeiging, hob ich grüßend die andere Hand. Keiner der beiden Männer sagte etwas oder winkte zurück, doch es gab einen kurzen Augenkontakt, und beide betagte Köpfe deuteten ein Nicken an. Zwei Augenpaare richteten sich auf die Schachtel unter meinem Arm.
»Das ist ein mächtiger Haufen Späne, den Sie da haben«, sagte ich. »Seien Sie bloß vorsichtig, dass Sie kein Streichholz fallen lassen. Ich würde nur ungern herkommen müssen, um Ihre verbrannten Knochen zu identifizieren.«
»Haben Sie da Knochen in der Schachtel?«, fragte einer.
»Von dem Kitchings-Mädchen?«, fragte der andere.
»Sie war keine Kitchings«, berichtigte ihn der Erste. »Sie war eine Bonds.«
»Bonds. Ich weiß«, sagte sein Freund. »Ich hatt’s bloß kurz vergessen.«
»Sind’s Knochen? Die von dem Bonds-Mädchen?«, hakte der Erste nach.
»Das müssen Sie den Sheriff fragen«, sagte ich.
»Der Sheriff ist drin«, sagte Nummer zwei.
»Räumt er im Land ordentlich auf?«, fragte ich.
»Die Aussicht von hier ist die ganze Zeit so ziemlich dieselbe«, sagte der erste Schnitzer. »Direkt hier vor dem Gerichtsgebäude werden auch nicht allzu viele Verbrechen begangen.«
Der Zweite entblößte lachend seinen zahnlosen Gaumen. »Im Gerichtsgebäude hat sich dafür aber ein ganzer Haufen Verbrechen abgespielt«, sagte er.
Darüber musste der Erste keuchend kichern.
»Obwohl wir damals natürlich so manches nicht wussten. Der neue Sheriff macht vielleicht Sachen, von denen wir auch nichts wissen.«
»Ich glaube nicht«, sagte ich. »So einer ist Jim O’Conner nicht. Wie auch immer, ich gehe wohl besser mal rein. Schneiden Sie sich bloß nicht.« Sie nickten und beugten sich wieder tief über ihre Schnitzerei.
Jim O’Conners Kopf war hinter dem riesigen Stapel von Papieren und Aktendeckeln auf seinem Schreibtisch kaum zu sehen. Ich klopfte an die Tür. Er stand auf und linste über den Stapel.
»Gott sei Dank«, sagte er. »Dieser Papierkram treibt mich noch die Wände hoch, und ich brauche dringend eine Pause. Kommen Sie rein.«
»Nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe«, sagte ich. »Ich dachte, Sie sind da draußen und jagen Diebe und Alkoholschmuggler und Wilderer und so weiter.«
»Na, der Job besteht größtenteils aus Verwaltungskram«, versetzte er. »Ich muss Ausbildungsprotokolle schreiben, Zuschussanträge formulieren, Zuschussberichte schreiben, Prozesse vorbereiten und Leute einstellen.«
»Sie stellen Leute ein? Dann boomt das Geschäft?«
»Nun«, sagte er, »wir hatten ja von Anfang an nicht viel Personal. Und von denen musste ich einige entlassen, weil sie gewissermaßen in Orbin Kitchings Tonlage gestimmt waren«, sagte er. »Gesetzesvollzug zur persönlichen Bereicherung.«
Bei der Erwähnung des Namens verzog ich das Gesicht. Orbin Kitchings war Chief Deputy im County gewesen, und er hatte seinen Sheriffstern und seine Autorität benutzt, um ungestraft das Gesetz zu brechen. Niemals würde ich das Gespräch zwischen Orbin und einem kleinen Marihuana-Bauern vergessen, dessen Zeuge ich geworden war – der Deputy hatte dem Mann Geld abgepresst und den Hund des armen Kerls grausam abgeknallt.
»Überrascht mich nicht, dass Sie damit Schwierigkeiten hatten«, sagte ich. »Es ist ein kleines County mit Grenzlandmentalität. Die Grenze zwischen den Guten und den Bösen verschwimmt da manchmal, besonders wenn es um Geld geht.«
»Oh, ich wollte nicht unhöflich sein«, sagte O’Conner. »Hier, ich räume Ihnen ein Fleckchen frei, dass Sie sich setzen können.« Er kam um den Tisch herum, um einen Stapel Papiere und Aktendeckel von dem einzigen Besucherstuhl im Büro zu entfernen. Da fiel sein Blick auf den Karton. Er schaute von dem Karton zu mir auf, genau wie ich, als Steve Morgan ihn in mein Büro gebracht hatte. Ich las die Frage in seinen Augen. »Ist es das, was ich vermute?«
»Ja«, sagte ich. »Die Kriminalpolizei hat ihn gefunden, als sie einen von Garland Hamilton angemieteten Lagerraum durchsucht hat.«
Der Sheriff holte tief Luft und atmete langsam aus. Dann machte er sich daran, Akten vom Schreibtisch zu packen und in einer Ecke zu stapeln.
Nachdem er eine Seite des Schreibtischs freigeräumt hatte, stellte ich die Schachtel dorthin und trat einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen, körperlich wie emotional. Er klappte den Deckel auf und betrachtete die Knochen mit einer Mischung aus Bedauern und Zärtlichkeit, der dreißig Jahre kaum etwas hatten anhaben können. Einen nach dem anderen holte er die Knochen aus der Schachtel und drehte sie zwischen den Händen. Einen Oberschenkelknochen. Einen Hüftknochen. Eine Handvoll Rippen. Sein Blick wirkte abwesend.
»Schon komisch«, sagte er. »Sie ist schon so lange tot. Diese Knochen sind nicht sie, aber sie waren sie. Jedenfalls ein Teil von ihr. Ich könnte sie nicht aus einer Reihe gleicher Knochen herauspicken, ich meine, ich kann ein Skelett nicht vom anderen unterscheiden. Aber weil Sie sagen, es ist ihres, weiß ich, dass es wahr ist, und das bringt die ganze Sache zurück. Klingt das seltsam?«
»Überhaupt nicht«, sagte ich. »Ich habe diese Reaktion schon oft erlebt. Wir scheinen ein tiefes Bedürfnis nach einem Schlussstrich zu haben, wenn jemand stirbt, den wir lieben. Deswegen können die Eltern eines vermissten Kindes erst aufhören zu trauern, wenn die Leiche gefunden ist. Es ist uns lieber, wenn unsere Geschichten ein Ende haben, selbst wenn dieses Ende uns das Herz bricht.«
Er sagte nichts, doch er nickte, und seine Augen glitzerten. Dann fiel sein Blick auf die Papiertüte, die in einer Ecke der Schachtel steckte. Er zögerte ganz kurz, dann öffnete er die Tüte und schaute hinein. Er sah zu mir auf und sagte: »Würde es Ihnen etwas ausmachen?«
Ich nahm die Tüte und schüttete ihm den Inhalt vorsichtig in die aufgehaltenen Hände: die winzigen Knochen eines halb ausgewachsenen Babys, das Leena unter dem Herzen getragen hatte, als sie umgebracht worden war. Der größte Knochen, der Oberschenkel, war kleiner als ein Hähnchenschenkelknochen. »Verdammt, Doc«, sagte er. »Ich weiß nicht, wen ich mehr hasse, ihre Tante, weil sie sie umgebracht hat, oder ihren Onkel, weil er sie geschwängert hat.«
»Ich weiß nicht, ob das eine weniger schlimm ist als das andere«, sagte ich. »Und es ändert wahrscheinlich nichts, dass der Onkel tot und die Tante im Gefängnis ist.«
»Kein bisschen.«
»Sie haben vor einer Weile gesagt, wenn wir diese Knochen je zurückbekommen, würden Sie sie gerne mit dem Schädel beerdigen. Empfinden Sie das immer noch so?«
Er nickte.
»Was ist mit den fötalen Knochen – wollen Sie die mit Leenas Knochen beerdigen?«
»Natürlich«, sagte er. »Es war Leenas Baby.« Er unterbrach sich. »Selbst wenn es von einem scheinheiligen Dreckskerl gezeugt wurde, der seine eigene Nichte missbraucht hat.«
»Ja«, sagte ich.
Er holte noch einmal tief Luft, schüttelte sich und schaute dann auf die Uhr an der Wand über der Bürotür. »Ich denke, es ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um Feierabend zu machen«, meinte er. »Es ist nach fünf, und ich glaube, ich kann mich heute eh nicht mehr auf den Papierkram konzentrieren. Müssen Sie gleich wieder zurück nach Knoxville?«
»Ich habe es nicht eilig«, sagte ich.
»Kommen Sie mit rauf zur Farm?«
»Ich hatte gehofft, dass Sie mich fragen.«
»Wollen Sie mit mir fahren oder lieber hinter mir her?«
»Ich fahre hinter Ihnen her«, sagte ich. »Dann müssen Sie mich später nicht in die Stadt zurückbringen.«
Wir gingen zusammen hinaus, an der Bank vorbei, an den beiden schnitzenden Veteranen vorbei. Diesmal hatte O’ Conner die Schachtel mit den Knochen unter dem Arm.
»’n Abend, Sheriff«, sagte Nummer eins. Entweder rangierte O’Conner in seiner Achtung höher als ich, oder sie platzten schier vor Neugier und ergriffen deshalb zuerst das Wort.
»Guten Abend, Leute«, antwortete er.
»Sind das die Knochen von dem Mädchen?«
Zuerst sagte O’Conner nichts – ich konnte zwei verschiedene Gefühle in seiner Miene miteinander kämpfen sehen –, dann glätteten sich seine Züge, und er sagte: »Ja, Sir, das sind sie. Wir werden sie endlich anständig beerdigen.«
»Das ist gut«, sagte der alte Mann. »Eine Schande, was diese Kitchings ihr angetan haben. Sie hat eine anständige Beerdigung verdient.«
»Ihnen einen Guten Abend«, sagte O’Conner. »Wir sehen uns morgen früh.«
»Nacht, Sheriff«, sagten die beiden Männer im Chor.
O’Conner stellte die Schachtel auf den Rücksitz eines schwarzweißen Jeep Cherokee, der auf der Seite einen siebenzackigen Stern hatte.
Ich stieg in meinen Wagen, und zusammen fuhren wir entlang der River Road rund drei Kilometer zurück in Richtung I-40, dann bogen wir auf eine Schotterstraße entlang eines kleinen Bachs, der auf der anderen Seite der Teerstraße in den Fluss mündete. Bei meiner ersten Fahrt die Schotterstraße hinauf hatte man mir die Augen verbunden und mich mit Klebeband gefesselt – ein riesiger Bergmensch namens Waylon hatte mich gekidnappt, um mich Jim O’Conner vorzuführen. Ich hatte damals nicht gewusst, was links und rechts des Schotters war. Bei meiner zweiten Fahrt hatte ich die Augen nicht verbunden gehabt und hatte gesehen, dass die Schotterpiste an einer grünen Wand endete – oder zu enden schien. In Wirklichkeit tauchte die Straße unter einer Kaskade von Kudzuranken ab. Wir hatten uns durch einen Kudzutunnel geschlängelt und waren dann in einem kleinen hängenden Tal herausgekommen, wo O’Conner heimlich ein landwirtschaftliches Experiment durchführte. Nicht Marihuana, wie ich an einem Punkt vermutet hatte, sondern Ginseng: Er hatte eine Möglichkeit gefunden, wilden schwarzen Ginseng zu züchten, die Sorte, die von Wilderern hochgeschätzt wurde und die auf dem chinesischen Markt die höchsten Preise erzielte. Bei dieser Fahrt fiel mir auf, dass die Straße kürzlich frisch geschottert worden war. Sie sah ein wenig breiter aus, und ein Staubfilm auf dem Unkraut am Weg deutete auf viel Verkehr. Als wir zu dem Kudzutunnel kamen, sah ich, dass die Ranken, die den Eingang des Tunnels verbargen, zurückgeschnitten worden waren und das, was einst der Geheimzugang zu O’Conners kleinem Tal gewesen war, in eine schattige Laube verwandelt worden war. Die Ranken waren ausgedünnt worden, worum man sich angesichts der wunderbaren Eigenschaft von Kudzu, am Tag bis zu dreißig Zentimeter zu wachsen, regelmäßig kümmern musste. Sonnenlicht schien hindurch. Es war zwar nicht richtig kühl hier drunter, aber es bot eine kurze Verschnaufpause von der glühend heißen Sonne des Spätsommernachmittags. Als wir auf der anderen Seite herauskamen und auf eine große Lichtung mit einem Farmhaus in Fachwerkbauweise an einem Ende fuhren, war ich überrascht über die Veränderungen. Ein halbes Dutzend Fahrzeuge, Pick-ups und allerneueste Pkws standen auf einem kleinen gekiesten Parkplatz. Die Kudzuranken, die die Rückseite des Hauses überwuchert hatten – wo sie einen weiteren Tunnel gebildet hatten, die Verbindung zu der riesigen Ginseng-Anbaufläche –, waren ebenfalls zurückgeschnitten worden, und das Haus war frisch gestrichen. Ich entdeckte eine kleine Satellitenschüssel und Anschlussdosen, wo Telefonleitungen und Fernsehkabel aus der Erde kamen.
»Ich sehe, dass Sie hier einige Veränderungen vorgenommen haben«, sagte ich beim Aussteigen zu O’Conner.
Er lächelte. »Ein paar«, sagte er. »Meine Deckung war eh aufgeflogen, also dachte ich mir, ich könnte genauso gut mit der Ernte dieses Herbstes, unserer ersten, auf den Markt gehen. Wir haben einige Proben zu Käufern gebracht, und wir haben Verträge für alles, was wir produzieren können. Das sind mehrere tausend Pfund erstklassiger Ginsengwurzeln. Wir bekommen nicht ganz das, was die Wilderer für das Zeug aus dem Nationalpark kriegen«, sagte er, »aber fast. Wenn wir verhindern können, dass uns das Ganze in der Sommerhitze austrocknet, ernten wir mehrere tausend Pfund, zu einem Preis von fast zweihundert Dollar pro Pfund.«
Ich rechnete kurz nach. »Dann erwarten Sie sechsstellige Zahlen?«
»Ja«, sagte er. »Sieben, mit ganz viel Glück. Aber wissen Sie was? So wichtig ist das gar nicht. Es war ein interessantes Experiment. Vielleicht hilft es, die Nachfrage nach gewildertem Sang zu senken, und allein dafür hätte es sich gelohnt. Und inzwischen arbeiten ein halbes Dutzend Leute für mich, gehen einer ehrlichen Arbeit nach, was hier in Cooke County auch eine gute Sache ist. Das Geld brauche ich eigentlich nicht, wenn es also nicht funktioniert, ist es auch nicht schlimm.«
Ich lachte. »Ja, ich weiß, wie groß der Gehaltsscheck eines Sheriffs ist«, sagte ich.
»Na ja, reich werde ich davon nicht«, sagte er. »Aber ich habe auch fast keine Kosten, abgesehen von dem Ginseng-Anbau hier. Mein Auto ist ein Dienstwagen. Die Farm hier ist seit langem in meinem Besitz. Wenn ich nicht arbeite, lebe ich wie ein Mönch. Zum Teufel, ich gebe nicht mal alles aus, was das County mir zahlt.«
»Sie hören sich an wie ein Mann, dessen Leben im Gleichgewicht ist«, sagte ich. »Allerdings haben Sie auch einen ziemlich ausgeglichenen und zufriedenen Eindruck gemacht, als Sie daherkamen wie ein Bandit.«
»Ich habe eine Weile gebraucht, um dahin zu kommen«, sagte er. »Aber, ja, ich meine, man ist, wer man ist, und nicht, was man tut.«
Mit einer Geste lud er mich ein, die breite Holzveranda zu betreten, wo zwei verwitterte Schaukelstühle nebeneinanderstanden wie ein altes Ehepaar.
»Kommen Sie rauf«, sagte er. »Setzen Sie sich ein Weilchen. Möchten Sie einen Eistee?« Ich nickte.
Das Holz der Fliegengittertür war ebenfalls frisch gestrichen, doch die Scharniere quietschten noch, als O’Conner die Tür aufzog. Er grinste.
»Ich mochte das Geräusch immer«, sagte er. »Der Typ, der am Haus gearbeitet hat, hat die alten Scharniere durch neue ersetzt, die überhaupt kein Geräusch von sich gaben. Da hab ich ihn gebeten, die neuen Scharniere aus- und die alten wieder einzubauen.«
O’Conner verschwand und kam mehrere Minuten später mit zwei großen Keramikbechern aus der Küche. Der Becher, den er mir reichte, war eiskalt und am oberen Rand bereift – frisch aus dem Tiefkühlschrank. Ich trank einen Schluck. Den heißen Ginsengtee von O’Conner hatte ich schon einmal getrunken, doch Ginseng-Eistee hatte ich noch nie probiert. Er schmeckte mir. Er hatte den leicht erdigen, scharfen Geschmack, an den ich mich erinnerte, und einen Hauch Honig sowie vielleicht ein wenig Obstsaft darin.
»Gut«, sagte ich. »Sie sollten das Zeug in Flaschen füllen.«
Er lächelte. »Steht so im Businessplan – fürs zweite Jahr«, sagte er. »Sie haben einen Sinn fürs Geschäft, Doc.«
Ich trank noch einen Schluck. »Nein, ich weiß nur, was lecker ist, wenn ich einen Schluck davon trinke«, sagte ich.
O’Conner setzte sich auf den zweiten Stuhl und begann im Rhythmus mit mir zu schaukeln. Zwischen den Schaukelstühlen stand ein kleiner Tisch, auf dem eine Fernbedienung lag. O’Conner drückte einen Knopf, und ein Deckenventilator rührte über unseren Köpfen eine leichte Brise auf.
»Noch eine Neuerung«, bemerkte ich.
»Ja«, sagte er. »Normalerweise geht hier ein schönes Lüftchen, aber diesen Sommer war es so heiß, dass ich am Ende nachgegeben und ein bisschen Technik angeschafft habe. Inzwischen weiß ich schon nicht mehr, wie ich ohne das Ding zurechtgekommen bin. Ich habe jetzt ein Haus in der Stadt, aber manchmal, wenn die Nacht nicht zu heiß ist, komme ich hier rauf und schlafe auf der Veranda.« Er zog an dem Tischchen eine Schublade auf und holte eine kleine silberne Flasche heraus. »Möchten Sie ein Schlückchen Jack hinein?«, fragte er.
»Nein danke.«
»Stimmt, Sie trinken ja nicht«, sagte er. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich bei mir ein Schlückchen dazukippe?«
»Nur zu«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob es wirklich den Geschmack verbessert, aber Sie wissen wahrscheinlich, was Sie tun.«
»Ich habe ausgiebig getestet«, sagte er. »Und ich glaube, ich habe genau das richtige Verhältnis gefunden.« Er schenkte einen winzigen Schluck hinein – es konnten keine dreißig Milliliter gewesen sein –, dann schraubte er den Deckel wieder auf die Taschenflasche und gab sie zurück in die Schublade. »Anders«, sagte er, tat einen Schluck und ließ ihn sich auf der Zunge zergehen, »aber mächtig gut.«
»Wollen Sie die Version auch in Flaschen abfüllen?«, fragte ich.
Er lachte. »Im dritten Jahr. Gut, dass ich nicht versuche, irgendwelche Geschäftsgeheimnisse vor Ihnen zu hüten.«
Wir schaukelten bis zum Sonnenuntergang und dann noch ein Weilchen, der Sheriff und ich. Als das Tageslicht schwand, verloren sich auch unsere Worte, und die Nacht hüllte uns in eine Decke behaglichen Schweigens. Nach einer Weile bemerkte ich, dass Jim und ich nicht allein auf der Veranda waren. Leena Bonds – Jims ermordete Liebste – war bei uns, irgendwo im Dunkeln hinter ihm. Genau wie Jess Carter bei mir war, auf die Weise, wie jeder, den man je geliebt hat, bei einem bleibt, egal was mit einem selbst oder dem anderen passiert.
Während hier unten die Schaukelstühle knarrten und da oben die Sterne herauskamen, spürte ich, wie sich der Schmerz und die Angst in mir legten. An ihre Stelle traten – wie ich mit Verwunderung feststellte – zumindest für diesen Augenblick Frieden und ein Gefühl, das ich nur als stille, unvermutete Freude bezeichnen konnte.