14
Der Freitagmorgen dämmerte heiß und strahlend herauf, und als die Sonne herauskam, waren Art und ich schon seit einer Stunde auf der Straße. Um sieben Uhr verließen wir an der Ausfahrt Ooltewah die Interstate, rund fünfzehn Kilometer nordöstlich von Chattanooga. Die endlose Asphaltfläche vor dem Cracker Barrel war praktisch leer.
»Der Parkplatz hier ist fast so groß wie der vom Neyland-Stadion«, sagte ich.
»In einer Stunde ist er rappelvoll«, sagte Art, »und man muss eine halbe Stunde warten, bis man einen Tisch kriegt.«
»Das würde ich nicht machen«, sagte ich.
»Was?«
»Warten«, erklärte ich. »Ich finde das Essen hier toll. Super Frühstück, tolles Gemüse. Aber ich hätte keine Lust, mich dafür eine halbe Stunde anzustellen.«
»Ich auch nicht«, sagte Art. »Obwohl ich versucht wäre, wenn sie endlich ihre Buttermilchbrötchen auf die Reihe kriegten.«
»Du boykottierst sie wegen ihrer Buttermilchbrötchen?«
»Ich boykottiere sie nicht direkt«, sagte er, »aber wegen der Buttermilchbrötchen würde ich mich nicht durch den Menschenandrang kämpfen. Man sollte doch denken, dass ein Lokal, dass sich seiner Südstaatenküche rühmt, anständige Buttermilchbrötchen backen würde, aber die Brötchen hier sind wirklich erbärmlich. Schwer und teigig und viel zu viel Backpulver, vielleicht nehmen die ja sogar eine Backmischung. Die Buttermilchbrötchen bei Hardee’s sind zehnmal besser. Außen golden und knusprig, innen leicht wie Luft.«
»Hardee’s macht wirklich bessere Buttermilchbrötchen«, stimmte ich ihm zu. »Das sollten wir denen bei Cracker Barrel mal sagen. Im Geiste konstruktiver Kritik natürlich.«
»Hab ich schon«, zeterte er. »Tu ich. Jedes verdammte Mal, wenn ich in einem Cracker Barrel esse, fülle ich so eine Kundenbefragungskarte aus und schreibe, ›Ihre Buttermilchbrötchen sind erbärmlich‹.«
»Das ist deine Vorstellung von konstruktiver Kritik?«
»Danach wird es konstruktiver. ›Machen Sie bessere Buttermilchbrötchen‹, schreibe ich. ›Stellen Sie einen Brötchenbäcker von Hardee’s ein.‹ Man sollte meinen, sie verstehen die Botschaft. Aber das tun sie nicht – es sei denn, sie stellen Leute von Hardee’s ein und schreiben ihnen dann vor, sich an dasselbe erbärmliche Buttermilchbrötchenrezept zu halten. Inzwischen habe ich es so ziemlich aufgegeben. Bestelle mir stattdessen Maismuffins.«
»Die Maismuffins sind nicht schlecht«, sagte ich.
»Sind sie auch nicht«, sagte er, »aber zum Frühstück will man wirklich ein gutes Buttermilchbrötchen. Und überhaupt, man könnte meinen …«
»Ja, man könnte meinen«, sagte ich. »Diese Welt ist ein Tal der Tränen, Art, voller Ungerechtigkeit und Enttäuschung.«
»Und erbärmlicher Buttermilchbrötchen«, sagte er.
Die Pfirsichpfannkuchen waren köstlich, und das geräucherte Würstchen war jedes tödliche Gramm Cholesterin wert. Aber ich konnte nicht anders, ich wünschte mir zum Nachtisch ein anständiges Buttermilchbrötchen, mit Butter und Honig. Ich nahm mir eine Kundenbefragungskarte und schrieb los. Art tat es mir nach.
Nachdem wir auf das East Ridge gefahren und dann hinunter in das breite Tal gerollt waren, in dem Chattanooga lag, nahmen wir die Abfahrt Rossville Boulevard und fuhren auf der U.S. 27 Richtung Süden, durch die Stadt Fort Oglethorpe und dann durch die gepflegten Wiesen und Wälder des Chickamauga Battlefield, wo die Armee der Konföderierten im Bürgerkrieg einen phänomenalen Sieg errungen hatte, nur um kurz danach erst Chattanooga und dann Atlanta zu verlieren. Südlich von Chickamauga führte der Highway größtenteils schnurgerade durch weite Kiefernwälder und Weiden, unterbrochen von Tankstellen, Friseursalons und baptistischen Kirchen. Wir passierten die Querstraßen East Turnipseed und West Turnipseed und bogen einige Kilometer dahinter vom Highway auf die asphaltierte Straße, die Miranda mir auf der Karte angestrichen hatte. Die Straße war eher ein Weg und so schmal, dass sie keinen Mittelstreifen hatte. Art und ich suchten nach einem Krematoriumsschild, fanden jedoch keines. Als wir das Ende der Straße erreichten, wusste ich, dass wir es verpasst hatten. Ich wendete und fuhr die Straße zurück, teils weil ich wild entschlossen war, den Laden zu finden, und teils weil es keinen anderen Weg zurück in die Zivilisation gab.
Nach einem knappen halben Kilometer entdeckte ich links eine gekieste Zufahrt. Die Einfahrt wurde von einem Gatter blockiert, das an eine überbreite Leiter erinnerte, einen Meter zwanzig hoch und drei Meter breit, die Querstangen aus röhrenförmigem feuerverzinktem Stahl. Eine kräftige Kette und ein Vorhängeschloss sicherten das Tor an einem dicken Holzpfahl. An dem Pfahl hing ein zerbeulter Briefkasten, und als ich genauer hinschaute, konnte ich in kleinen, handgemalten Buchstaben den Namen Littlejohn ausmachen.
An den Pfosten links und rechts des Tors waren große »Betreten verboten«-Schilder angebracht. Unter beiden Schildern hing jeweils noch ein Schild »Privatgelände«. Und darunter war auf beiden Seiten je noch ein Schild mit der Aufschrift »Zutritt verboten«.
»Nicht besonders einladend«, sagte ich zu Art.
Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand, auch wenn es hier, soweit ich das beurteilen konnte, nicht viel Verkehr gab. Art und ich stiegen aus, traten ans Tor und schauten in einen Tunnel aus Bäumen und Gestrüpp, die die gekieste Zufahrt säumten. Wir konnten die schmale Einfahrt etwa fünfzig Meter weit hinuntersehen, bevor sie einen leichten Bogen beschrieb und eine Wand aus Bäumen uns den Blick versperrte. Ich lauschte, ob ich irgendwelche menschlichen Aktivitäten hörte, doch alles, was an mein Ohr drang, war das Zirpen der Zikaden in der Sommerhitze.
»Hallo«, rief ich, zuerst vorsichtig. Als ich keine Antwort bekam, rief ich noch einmal, diesmal lauter: »Hallo! Können Sie mich hören? Ist da jemand?« Immer noch keine Antwort. Ich versuchte es noch einmal, diesmal aus vollem Hals. Nichts. Ich ging zum Wagen, beugte mich durchs offene Fenster und hupte dreimal. Ich wartete eine Minute, dann lehnte ich mich eine Weile auf die Hupe.
»Ich kann mich irren«, sagte Art schließlich, »aber entweder ist niemand zu Hause, oder sie wollen nicht gestört werden.«
»Könnten auch taub sein«, sagte ich. Ich musterte die sechs Schilder links und rechts des Tors. Alle sechs forderten mich auf, dem Grundstück fernzubleiben, doch ich war drei Stunden gefahren, um herzukommen, und ich suchte Antworten auf einige, wie ich fand, beunruhigende Fragen. Ich schaute Art an. »Sollen wir?«
»Alter vor Schönheit«, sagte er und wies mit der Hand auf das Tor. Ich benutzte die Querholme des Tors als Sprossen, kletterte hinauf, drehte mich und stieg auf der anderen Seite hinunter.
Mein Fuß hatte kaum den Boden berührt, da hörte ich ein tiefes Knurren. Ich wirbelte herum. Die Einfahrt herauf kam mit offenem Maul und gefletschten Zähnen der größte, gemeinste Pitbull auf mich zugeschossen, den ich je gesehen hatte. Für so ein großes Tier war er bemerkenswert schnell, und ich bewegte mich, wie ich feststellte, ebenfalls bemerkenswert behände, kletterte die Querstangen hoch, oben rüber und auf der anderen Seite wieder runter. Gerade hatte ich die Hände von der obersten Stange gelöst, als mächtige Kiefer wie eine Bärenfalle zuschnappten, nur zwei Zentimeter von meinen Fingern entfernt. Der Hund war zu groß, um mehr als die Schnauze durch die Stangen zu kriegen, doch das hinderte ihn nicht am Springen und Schnappen. Ich erinnerte mich an eine Dokumentation auf Animal Planet, in der ein Hai einen Taucher in einem Schutzkäfig so heftig attackiert hatte, dass die Stangen langsam zur Seite wichen, und er den zitternden Menschen darin beinahe aufgefressen hätte. Zum Glück war dieses Tor aus stabilerem Material gefertigt: Es mochte ächzen und klappern, und die Kette war zum Zerreißen gespannt, aber es hielt.
Schließlich ließ die Raserei des Hundes ein wenig nach, nicht aber das Gefühl der Bedrohung, das er verströmte. Wir steckten in einer Sackgasse. Vermutlich hatte ihn jemand als Reaktion auf mein Hupen und Rufen rausgelassen, denn wenn er schon auf dem Gelände gewesen wäre, um Wache zu halten, wäre er wahrscheinlich um einiges früher angestürmt gekommen. »Na, ich schätze, das war’s dann«, sagte ich. »Tut mir leid, dass wir die Fahrt umsonst gemacht haben.« Ich holte ein Taschentuch heraus und wischte mir Gesicht und Hals ab. Der Schweiß war zum Teil sicher auf den Adrenalinschub wegen des Hundes zurückzuführen, doch der Morgen war schon bemerkenswert heiß. »Lass uns an der nächsten Tankstelle halten und etwas Kaltes trinken.«
In dem Moment, da ich das sagte, spürte ich einen leichten Luftzug, ein Flüstern von Süden – aus dem Wald hinter dem Zaun. Dabei stieg mir ein Hauch von etwas Wohlvertrautem in die Nase, und einen Augenblick dachte ich, ich wäre kurz weggetreten gewesen, hätte einen Blackout gehabt, der angedauert hatte, bis ich wieder in Knoxville war, hinter dem Universitätskrankenhaus. Als ich meinen Irrtum erkannte, stellten sich mir an den Armen und im Nacken die Haare auf, und es durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag. Ich atmete den Gestank des Todes ein – menschlichen Todes en gros, menschlichen Todes im Body-Farm-Ausmaß –, und zwar nicht in Tennessee, sondern hier in Georgia, wo er träge über das Tor des Trinity-Krematoriums wehte.