7. KAPITEL
Später, das heißt, siebenundzwanzig Minuten nach Alex’ kinoreifer Zerstörungsorgie, trafen Erik und ich auf dem Vorplatz des mir so verhassten Labors ein. Kate hatten wir per SMS informiert, und sie kam uns aufgeregt entgegengelaufen.
„Alles in Ordnung bei euch?“
„In Ordnung ist anders. Ich musste meiner Mom ein Beruhigungsmittel verabreichen. Die Arme wäre beinahe meinem Bruder hinterhergesprungen.“ Kate starrte mich entgeistert an. „Alex hat die Abkürzung durch sein Fenster genommen“, erklärte ich bitter und schielte an ihr vorbei zu dem hässlichen Betonklotz. Simon Baxters Auto stand mit offenem Kofferraum vor dem Eingang. Auf der Rückbank stapelten sich Dutzende Kisten. Einige waren so vollgestopft, dass die sich darin befindlichen Blätter über den Rand quollen.
„Da will wohl einer die Fliege machen“, bemerkte Erik. Er sah mich kurz an und fragte: „Und du willst sicher keine Polizei dabeihaben?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wenn wir hier mit den Schwarzuniformierten auftauchen, wird er bestimmt alles abstreiten. Anschließend wird man uns wegen Verleumdung einkassieren, und Baxter kann in aller Ruhe die Stadt verlassen.“
Kate pfiff anerkennend durch die Zähne. „Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht“, stellte sie fest. „Bleibt nur zu hoffen, dass er uns bei der Suche nach deinem Bruder auch wirklich eine Hilfe ist.“
Die Eingangstür war nicht abgeschlossen. Anscheinend war Baxter dermaßen in Eile, dass er seine Angst vor Einbrechern vorübergehend vergessen hatte. Eine Spur aus verstreuten Notizen führte uns durch mehrere Gänge in den Raum, in dem das ganze Übel begonnen hatte. Die Käfige mit den Äffchen waren bereits fortgeschafft, und außer einigen wenigen Kartons und Papierstapeln zeugte nichts mehr davon, dass hier bis vor Kurzem noch an fragwürdigen Experimenten gearbeitet worden war. Baxter, oder, wie ich ihn in Gedanken schon länger nannte, Frankenstein, beugte sich über einen aufgerissenen Karton und schimpfte über dessen mangelhafte Qualität.
Wir bezogen hinter ihm Stellung und räusperten uns.
Baxter wirbelte herum und starrte uns an, als seien wir das Grauenerregendste, das er je gesehen hatte. „Ihr?“, stieß der sogenannte Wissenschaftler verwundert hervor und wich ängstlich zurück. „Was wollt ihr von mir?“ Ihm zitterte die Stimme, was wohl weniger an uns Mädchen lag. Zugegeben: Erik war ein Engel und hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können. Gleichzeitig aber überragte er Baxter um zwei Köpfe und war mit seinen Muskelpaketen eine ziemlich imposante Gestalt.
„Antworten, Mr Baxter, wir benötigen Antworten, und zwar sofort. Mein Bruder verhält sich seit einigen Tagen recht sonderbar, und wir vermuten, nein, wir wissen, dass Ihre Forschungen etwas damit zu tun haben.“
„Aber das ist doch Blödsinn.“ Er versuchte zu lächeln, was ihm gründlich misslang. „Ich bin sehr in Eile, wenn ihr mich also entschuldigen würdet?“ Er packte den überfüllten Karton und versuchte ihn so zu halten, dass keines der Dokumente verloren gehen konnte. Doch nach zwei kurzen Schritten riss der Karton komplett auf und entließ Hunderte dicht beschriebener Blätter in die Freiheit.
Während Simon Baxter anfing zu jammern, fielen Kate einige Schwarz-Weiß-Fotografien auf. Sie kniete sich hin. „Volltreffer“, murmelte sie, dann nahm sie die Fotos an sich und drückte sie mir in die Hände. „Ich wusste gar nicht, dass dein Bruder unter die Models gegangen ist“, sagte sie, den Blick auf Baxter gerichtet.
Baxters kalkweißes Antlitz wurde noch farbloser, als es ohnehin schon war. „Ich kann das erklären“, stammelte er und zuckte bei Eriks mittlerweile ziemlich gefährlichem Anblick heftig zusammen. „Wirklich, ich kann das alles erklären!“
Ich sah von den Fotos zum Professor und wieder zurück. Die Aufnahmen zeigten meinen Bruder, wie er zwei junge Männer zusammenschlug. „Hier sind noch mehr Fotos“, rief mir Kate zu. Ich schüttelte ermattet den Kopf und verstand nur langsam, was ich hier in Händen hielt. „Sie haben es gewusst“, flüsterte ich kaum hörbar und machte einen Schritt auf Baxter zu. „Sie haben es gewusst und Alex zu einem ihrer Versuchstiere degradiert, Sie verfluchter Quacksalber!“ Am liebsten hätte ich ihm die Fotos um die Ohren gehauen, aber Erik hielt mich zurück.
„Es musste sein“, rechtfertigte Baxter sich. „Es war die einzig richtige Entscheidung, und ich dachte, so könnte er Wiedergutmachung leisten.“
„Sie sind doch krank“, brachte ich wütend hervor. Tränen liefen mir die Wangen runter. „Krank und wahnsinnig!“
Baxter hob abwehrend die Hände. „Ich bin ein Visionär. Ich wollte der Menschheit helfen, und dein Bruder hat dieses edelmütige Vorhaben durch sein ungebührliches Verhalten gefährdet. Nur durch seine Schuld ist sie entkommen, und nur durch seine Schuld kann ich meine Forschungen nicht zu Ende führen!“
Wir drei wurden hellhörig. „Wer ist sie?“, fragte ich barsch. „Wir wissen, dass Sie irgendetwas aus Brasilien eingeschmuggelt haben. Etwas, das mit der letzten Expedition Ihres Vaters zusammenhängt. Also reden Sie endlich!“
Bei der Erwähnung seines verstorbenen Vaters verhärteten sich Baxters Gesichtszüge. „Woher …?“
„Ihre Mutter“, erklärte Erik. „Sie hat uns erzählt, dass ein Expeditionsteilnehmer durchgedreht ist. Er hat die anderen getötet …“
„… ‚es‘ hat die anderen getötet. Ethan war nur der Futterlieferant“, berichtigte ich ihn. „Aber Ihre Mutter wusste nicht, um was genau es sich bei diesem ‚es‘ wirklich handelt.“ Ich sah, wie es hinter Baxters Stirn anfing zu arbeiten. „Also, Professor, werden Sie uns jetzt endlich verraten, was Ihrem Vater damals wirklich widerfahren ist, oder wollen Sie die Angelegenheit lieber mit der Polizei klären?“
„Ich musste ihm versprechen, es niemandem zu erzählen“, versuchte Baxter sich aus der Affäre zu ziehen. „Ich darf mein Wort nicht brechen.“
„Aber Ihre Nase könnten Sie sich gleich brechen, wenn Sie nicht endlich Klartext reden“, hielt Erik erzürnt dagegen. Demonstrativ schlug er sich mit der Faust in die linke Handinnenfläche.
„Das würde er doch nicht wirklich tun, oder?“ Baxter wich ängstlich zurück und warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu.
„Ich würde tun, was er verlangt“, sagte ich ernst. „Und zwar schnell. Mein Bruder macht da draußen einen auf Terminator, und ich habe keine Lust, seinen von Polizeikugeln durchlöcherten Leichnam zu identifizieren.“
„Ist ja gut.“ Baxter seufzte laut. Er war sichtlich nervös, und in mir wuchs die Befürchtung, er könne vor Aufregung ohnmächtig werden. „Die Höhle, nicht wahr? Ihr wollt wissen, was mein Vater dort vorfand.“ Es folgte ein kollektives Nicken. „Es war keine Höhle im eigentlichen Sinn, das heißt, eigentlich schon, nur eben verändert durch ihren Bewohner.“ Baxter trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Ethan war nur das Werkzeug. Er wurde durch einen einzelnen Biss gefügig gemacht.“ Er schnippte mit den Fingern. „Aus biologischer Sicht eine geniale Jagdmethode. Auf der einen Seite haben wir den Parasiten und auf der anderen Seite den, äh, wie du es nanntest, Futterbeschaffer.“
„So eine Art Zombie?“, hakte Kate nach.
Baxters Wangen zuckten. „Äh, nicht so ganz, denn der Gebissene ist ja kein Untoter. Bei Ethan soll es damals genauso gewesen sein. Er wurde gebissen, aber die Wunde verheilte so schnell, dass weder mein Vater noch einer der anderen Wissenschaftler sich diesen Umstand erklären konnte. Sie machten den Fehler, diesen unglaublichen Heilungsprozess einfach zu ignorieren.“ Er breitete die Arme aus. „Das muss man sich mal vorstellen: Fähige Wissenschaftler, die bei der größten Entdeckung des Jahrhunderts plötzlich zu blinden Maulwürfen mutieren. Ein Witz der Superlative.“
„Die Höhle“, ermahnte ich Baxter, bevor er noch weiter abschweifen konnte.
„Die Höhle?“ Er blinzelte verwirrt. „Ja sicher, tut mir leid. Aber die Euphorie – ihr versteht?“
„Nicht im Geringsten“, sagte Erik.
„Oh, das werdet ihr, glaubt mir, Kinder, das werdet ihr. Und wenn es erst einmal so weit ist, werdet ihr mir dankbar sein.“
Frankenstein, dachte ich wehmütig und lauschte zusammen mit meinen Freunden dem letzten Akt der Geschichte von der Bestie aus dem Dschungel.
21. April 1984, brasilianischer Regenwald
Christopher Baxter war ein Mann der Wissenschaft. Jemand, der nach der reinen Wahrheit strebte und für dieses Ideal sein Leben gelassen hätte. Doch dieser Ort, dieser dunkle Ort, in welchem er hoffte, seine Freunde lebend vorzufinden, ließ ihn am Sinn seines Strebens zweifeln. Auf dem Boden, an den Wänden und sogar an der niedrigen Decke – überall klebte ein widerlicher roter Schleim, von dem ein gespenstisches Leuchten ausging. Wie glühendes Eisen. Mit jedem Schritt sank Christopher ein Stück tiefer in den stinkenden Morast und hatte Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu halten. Je tiefer Ethan ihn in diese Höhle hinabführte, desto stärker überkam ihn die unerträgliche Gewissheit, dass sein einstmals bester Freund dem Wahnsinn verfallen war.
„Du bist so schweigsam“, sagte Ethan grinsend und leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht.
Christopher kniff die Augen zusammen. „Geh weiter.“ Die Mündung seines silbernen Revolvers zeigte dabei auf Ethans Gesicht.
„Du würdest mich doch nicht wirklich erschießen?“
„Nur wenn mir keine andere Option mehr bleibt.“
Ethan grinste voller Hohn. „In dem Augenblick, wo du noch darüber nachdenkst abzudrücken, habe ich dir bereits das Genick gebrochen, mein Freund.“
„Das ist doch Irrsinn.“ Christophers Stimme klang schrill und wurde von den schleimigen Wänden geschluckt. „Hör mir zu, Ethan, dieser Biss hat dich verändert. Du hast die Kontrolle über deinen Willen verloren und …“
„Ich habe mich nie besser gefühlt“, schnitt ihm Ethan das Wort ab. Er bugsierte die Taschenlampe von einer Hand in die andere. „Habe mich nie freier gefühlt, verstehst du?“
Christopher wischte sich mit einer fahrigen Bewegung den Schweiß von der Stirn. „Wie weit ist es noch?“, lenkte er das Thema auf den eigentlichen Grund ihres Hierseins.
„Eldorado ist nicht mehr fern.“ Sein linkes Augenlid zuckte unkontrolliert. „Es wird dir gefallen, alter Freund. Glaub mir, du wirst über die Maßen überrascht sein.“ Er presste in freudiger Erwartung die Lippen aufeinander und ging endlich weiter.
Christopher atmete angespannt aus. Beinah hätte ich abgedrückt, dachte er, erschrocken über sich selbst. Guter Gott.
Plötzlich fiel sein Blick auf eine winzige Unregelmäßigkeit, eine seltsame Ausbuchtung in der Höhlendecke. Wenn sie sich nicht genau in Augenhöhe befunden hätte, wäre sie ihm überhaupt nicht aufgefallen. Er trat näher und streckte bereits die Finger danach aus, als die Erkenntnis, auf einen menschlichen Zahn gestoßen zu sein, ihn am ganzen Körper lähmte.
„Allmächtiger“, hauchte er und torkelte angeekelt zurück. Die Wahrheit, so heißt es, sei die bitterste Medizin. Und Christopher Baxter musste eine ganze Ladung davon schlucken. „Das ist …“
„… der eigentliche Sinn des Lebens“, flüsterte Ethan ihm ins Ohr, bevor er ihn niederschlug.
Während wir wie hypnotisiert Baxters Geschichte lauschten, befand sich mein Bruder auf einer scheinbar endlosen Wanderschaft. Die Schmerzen waren kaum noch auszuhalten. Die Frist war längst überschritten, und es war nur mehr eine Frage der Zeit, wann sein nach dem Biss schreiender Körper schlappmachte. Er musste zurück. Aber wenn er ihr mit leeren Händen entgegentrat, würde sie ihn abweisen. Vielleicht sogar töten. Die Brut hatte Hunger.
„Keine Hunde mehr“, sprach er den Gedanken laut aus. Er blieb stehen und nahm seine Umgebung in Augenschein. In seinem Schädel pochte es. „Menschen“, stieß er zischend aus und streckte seinen Hals nach vorn. Die Nüstern blähten sich auf, und innerhalb einer Sekunde strömten eine Milliarde Gerüche auf ihn ein. Alex war noch immer Mensch genug, dass er selbst entscheiden konnte, wen er ihr brachte. Es sollte kein unbescholtener Bürger sein. Nein. In seinen Gedanken nahm eine Person einen ganz besonderen Platz ein, und es war für ihn oberste Priorität, diese Person ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Über einige Minuten stand Alex nur so da und sortierte die Gerüche. Tiere, Pflanzen, Häuser, Parfüms, Essen, Menschen. Jeder Geruch erschuf ein klares Bild vor seinem inneren Auge, das, sobald er es überprüft hatte, sofort durch das nächste ersetzt wurde. Er forschte nach einem Mann, und als er ihn endlich gefunden hatte, war die Überraschung umso größer, da der Gesuchte sich ganz in der Nähe aufzuhalten schien. Voller Vorfreude setzte er sich in Bewegung. Er mied die Straßen und bahnte sich seinen Weg über die Dächer der Stadt. Die Dämmerung setzte bereits ein. Die Nacht, sein mächtigster Verbündeter, würde bald die Sonne in ihre Schranken weisen. Die Dunkelheit war Alex’ wichtigstes Werkzeug, und er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Kein Mensch sollte ihn bei der Ausübung seiner Tat beobachten.
An der Brüstung eines alten Hochhauses kam er zum Stehen. Der Abend war da und mit ihm sein schlimmster Jäger. Während Alex leise wie ein Schatten die Feuerleiter nach unten stieg, fing sein linkes Augenlid an zu zucken. „Nicht jetzt“, knurrte er und versuchte, diesen kleinen störrischen Muskel wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er setzte seinen Weg fort und stoppte schließlich vor einem halb offenen Fenster. Der Geruch, der ihn hierhergeführt hatte, war mittlerweile so stark, dass er förmlich greifbar war. Der Gesuchte war nicht mehr fern.
Leise drückte er das Fenster auf und schwang sich durch die Öffnung. Die einzige Lichtquelle im Inneren der Wohnung war der blaue Schein eines Farbfernsehers aus dem Nebenzimmer. Der Lautstärkeregler war bis zum Anschlag aufgedreht und ließ die gerahmten Fotos an den Wänden erzittern. Alex blieb stehen und nahm eines davon in die Hand. Es zeigte einen lachenden Jungen, nicht älter als vier. Das blonde Haar stand nach allen Seiten hin ab. „Schöne Kindheitserinnerungen“, sagte Alex grinsend. Er ließ den Bilderrahmen achtlos zu Boden fallen und schritt wie ein Henker zum Galgen ins Wohnzimmer.
Obwohl es ihm aufgrund der gebrochenen Nase schwerfiel, das Popcorn zu genießen, hatte sich Cage seit Beginn des Films schon dreimal Nachschub besorgt. Er liebte Popcorn und hatte nicht vor, es sich durch den größenwahnsinnigen Ausraster des kleinen Green verderben zu lassen. Die komplette Sippschaft musste wahnsinnig sein … ja, genau so musste es sein. Warum sonst hätte Sarah ihm einen Korb geben sollen? Bisher war noch jede Frau irgendwann …
„Nettes Filmchen?“, vernahm er plötzlich eine kichernde Stimme hinter sich. Cage sprang wie von der Tarantel gestochen auf und warf dabei das Popcorn um.
„W…wer, zum …“, stammelte er und bekam große Augen, als er im spärlichen Schein des Fernsehers Alex Green erkannte, der ihn mit irrem Blick fixierte.
„Hallo, Cage.“ Alex grinste heimtückisch. „Nette Bude habt ihr hier.“
„Green, ich bring dich um, wenn du nicht sofort deinen Arsch hier rausschaffst!“
Alex zuckte nur mit den Schultern, dann sprang er mit Leichtigkeit über den Sessel und blieb eine Armeslänge vor Cage stehen. „Warum denn so unhöflich? Behandelt man so einen guten Freund?“
Cage wich zurück. Er ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen und bereitete sich darauf vor, dem kleinen Freak mit aller Kraft die Faust ins Gesicht zu schmettern. „Das ist mein letztes Wort, hörst du? Verschwinde von hier oder du kannst …“ Noch bevor er den Satz beenden konnte, rammte Alex ihm zuerst die Faust in den Magen, dann packte er ihn am Kragen seines Shirts und schleuderte ihn gegen den Fernseher. Als Cage sich nicht mehr regte, nickte Alex zufrieden und klatschte abschätzig in die Hände. „Du wirst bereits erwartet“, erklärte er und hob den bewusstlosen Cage auf seine Schulter. „Wird Zeit, dass du dich mal nützlich machst.“
21. April 1984, brasilianischer Regenwald
Ob er tot war oder wider alle Wahrscheinlichkeit noch lebte, wusste Christopher Baxter, als er aufwachte, nur schwerlich zu sagen. Ethan hatte seine anfängliche Verwirrung über seinen Fund ausgenutzt und ihn so mit Leichtigkeit außer Gefecht gesetzt. Während Christopher sich aufsetzte, verfluchte er seine eigene Dummheit.
Nachtschwarze Finsternis hielt ihn umfangen wie ein Gefängnis. Einzig das schwache Leuchten des ihn umgebenden Schleims sowie ein fast leeres Feuerzeug spendeten gerade genug Licht, dass er einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Hier gab es noch viel mehr von dem roten Schleim. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hielt der Wissenschaftler nach weiteren sterblichen Überresten seiner Freunde und Kollegen Ausschau. Und just in dem Moment, in dem er sich einredete, dass sein Fund gar kein Zahn war, dass er sich geirrt hatte, fand er einen Fingerknochen. Weiß, blank und abgenagt. „Großer Gott!“
Die Flamme des Feuerzeugs erlosch, und als er sie wieder entzündete, starrte er in das feist grinsende Gesicht Ethans.
„Sie sind alle tot, nicht wahr?“, stammelte Christopher. Sein Blick fiel auf den roten Schleim, und ein schrecklicher Gedanke kam ihm. „Das Blut unserer Freunde …“
Ethan führte seinen Zeigefinger zum Mund und bedeutete dem aufbrausenden Baxter, still zu sein. „Du weckst noch die Kleinen auf und das wollen wir doch nicht, oder?“
Christopher ging nicht auf die wirren Worte ein. „Du hast sie ermordet. Sie alle. Einfach …“ Seine Stimme erstarb.
Ethan hatte die Taschenlampe eingeschaltet und lenkte ihren gleißenden Strahl auf ein aus dem Boden ragendes Skelett. Dem nach oben hin flehentlich ausgestreckten Arm fehlte die Hand, und der Schädel wies an einer Stelle ein faustgroßes Loch auf. Während Christopher versuchte, nicht zu schreien, wanderte der Kegel der Taschenlampe zu einem zweiten Skelett, welches aus der Decke zu wachsen schien. „Matthew und Gregory“, gab Ethan die Identität der beiden Knochenmänner preis. „Aber es sei dir gesagt, dass ihr Fleisch nicht verschwendet, sondern einem höheren Ideal zugeführt wurde.“
Ein leises Fiepen und Trillern ließ den fassungslosen Christopher einen Halbkreis beschreiben. Seine durch die geweiteten Pupillen fast schwarzen Augen nahmen das auf einer künstlichen Anhöhe hockende Wesen zuerst nur schemenhaft wahr. Es war nicht viel größer als ein Schäferhund. Der fette Leib bebte, war immer in Bewegung, und doch schien es sich keinen Zentimeter zu bewegen, hockte dort und starrte ihn aus zwei rot glühenden Augen an. Nicht die Kälte, die von dem Wesen ausging, ließ ihn erstarren, sondern die Art und Weise, wie es ihn musterte. Es strahlte eine berechnende Intelligenz aus, wie er sie bei keinem anderen Tier dieser Welt gesehen hatte.
„Sie ist göttlich, nicht wahr?“, bekundete Ethan seine Hochachtung.
Christopher brachte keinen Ton hervor, und selbst wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, hätten ihm die Worte gefehlt. Er wusste, dass dieses Tier für den Tod seiner Männer verantwortlich war, und er wusste auch, dass es Ethan kontrollierte.
„Zuerst habe ich mich dagegen gesträubt“, flüsterte dieser und tat demütig einen Schritt auf Christopher zu. Die Taschenlampe glitt ihm aus den Fingern und blieb im Schleim stecken. „Ich wusste nicht, wie mir geschah, als ich ihren Kuss erhielt, und die Angst fraß mich beinah auf, als ich das erste Mal ihre liebliche Stimme vernehmen durfte, doch ich überwand diese Furcht und bin nun Teil ihrer Existenz. Ich beschütze sie, bringe ihr Nahrung …“
„Menschen“, stieß Christopher angewidert aus. „Guter Gott, du hast dieser Bestie unsere Freunde zum Fraß vorgeworfen!“
„Und zum Dank für meine Loyalität lässt sie mich Tag für Tag an ihrer Macht teilhaben.“ Ethan fiel auf die Knie und kroch einem Wurm gleich zu der Anhöhe. Er zitterte am gesamten Körper. „Bitte“, flehte er die Bestie an. „Zeig es ihm.“
Das Tier plusterte sich zur doppelten Größe auf. Das Fiepen und Trillern nahm zu, wurde in der Enge dieser Umgebung zu einer unerträglichen Qual. Christopher hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Da er es nicht wagte, näher heranzugehen, erschien ihm das, was er sah, wie ein unwirkliches Schattenspiel. Ethan legte seinen Hals frei. Er murmelte etwas und stieß, als die Bestie zuschnappte, einen euphorischen Schrei aus. Es dauerte nur Sekunden, und als Ethan sich wieder erhob, zitterte er nicht mehr. Er stand ganz ruhig da und auf seinem Gesicht lag ein seliges Lächeln.
„Sie gibt mir Stärke, und du wirst ihr nun dein Fleisch opfern“, sagte er in demselben Tonfall, mit dem man seinen Tischnachbarn um den Salzstreuer bittet.
Christopher wich zurück. Kalter Schweiß lief ihm übers Gesicht und brannte ihm in den Augen. Er spürte bereits den kalten Atem des nahenden Todes und schrie entsetzt auf, als er gegen eines der Skelette lief.
Ethan kam weiter auf ihn zu, makaber in Szene gesetzt vom Schein der Taschenlampe, die ihn von unten anstrahlte und sein Gesicht verzerrte. Ein Blick in seine fanatischen Augen reichte aus, um Christopher alle Hoffnung zu nehmen. Sein alter Freund würde ihn überwältigen und der im Schatten ruhenden Bestie zum Fraß vorwerfen.
Als Ethan seine kalten Hände um Christophers Hals legte, brachte er sein Gesicht nahe an das des Todgeweihten. „Es nützt nichts“, raunte er ihm lächelnd zu. „Akzeptiere dein Schicksal und werde Teil von etwas Wundervollem.“
Ohne zu wissen, woher er den Mut nahm, riss Christopher das Knie hoch. Ethan kreischte auf, was zur Folge hatte, dass die Bestie in Aufruhr geriet. Sie entfaltete zwei gewaltige Schwingen und lüftete mit dieser Geste das Geheimnis ihrer Identität.
Ethan steckte die Attacke schnell weg und versetzte dem geschockten Christopher einen Stoß. Dieser versuchte sich an dem Skelett festzuhalten und fand sich plötzlich auf dem Boden wieder, übersät mit Knochen. Ethan warf sich auf ihn, das Gesicht zu einer wütenden Fratze verzerrt.
„Dein Fleisch gehört ihr“, stieß er aus. Speichel lief seine Mundwinkel herab und an seinem Hals war deutlich der Biss der Bestie zu erkennen. Er blutete nicht, stattdessen schimmerte rund um die Wunde ein winziger Rest der Droge, mit der das geflügelte Monstrum seinen Sklaven unter Kontrolle hielt. Während Ethan nach und nach die Oberhand gewann, wanderten Christophers Gedanken zu den Menschen, die er liebte, seiner Frau und ihrem gemeinsamen Sohn. Er würde ohne Vater aufwachsen müssen und der Name Christopher Baxter würde in irgendwelchen Archiven verstauben. Niemand würde jemals erfahren, was ihm und seinen Männern widerfahren war. Konnte es ein unrühmlicheres Ende geben, als von einer riesigen Fledermaus gefressen zu werden?
Seine schleimverschmierten Finger schlossen sich um einen herumliegenden Rippenknochen. „Ich will nicht sterben“, stieß er krächzend aus. „Nicht hier …“ Dann riss er den spitzen Knochen mit einem Ruck an sich – ließ den Arm vorschnellen und trieb seinem Kontrahenten die Rippe in die Kehle.
Ethan schrie auf und versuchte das Loch in seinem Hals mit den Händen zu verschließen. Er taumelte rückwärts auf die sich nun erhebende Fledermaus zu.
Weck die Kleinen nicht auf …
Dies war der Moment, in dem Christopher Baxter seinen Verstand verlieren sollte. Hunderte, wenn nicht gar tausend winzige rote Augenpaare flackerten, überall am Körper der Fledermaus auf. Das Fiepen und Trillern schwoll an zu einem nie zuvor vernommenen infernalischen Geschrei. Ethan drehte sich orientierungslos um die eigene Achse. Er versuchte zu sprechen, brachte aber keinen menschlichen Laut mehr zustande. Er war so gut wie tot, und die Fledermausbrut wusste dies.
„Lieber Gott, nein“, hauchte Christopher und wurde Zeuge, wie tausend winzige Schwingen sich zu einer tödlichen Wolke zusammenschlossen. Im Schein der Taschenlampe glänzten ihre Körper, und ihre Flügel reflektierten das Licht. Als sie ihre kleinen Mäuler in sein Fleisch schlugen, war Ethan noch am Leben. Er lebte selbst dann noch, als die ersten Fledermausjungen durch das Loch in seiner Kehle schlüpften und damit begannen, ihn von innen aufzufressen …
„Er soll dabei gelächelt haben“, flüsterte Simon Baxter. „Selbst im Angesicht eines solch grauenhaften Todes war Ethans Loyalität gegenüber der geflügelten Kreatur ungebrochen. Und auch wenn meinem Vater die Flucht gelang, so blieb doch ein Teil seiner Seele auf ewig an diesem schrecklichen Ort zurück.“ Er nahm das an einer Kette um seinen Hals hängende Feuerzeug zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Fledermäuse?“, fragte ich ungläubig. „Das ist doch ein Witz, oder?“
Simon Baxter schüttelte wortlos den Kopf. „So hat er es mir erzählt. Und alles, was ich seitdem über diese Spezies in Erfahrung bringen konnte, bestätigt seine Geschichte bis ins kleinste Detail.“
Erik griff sich an den Kopf. „Ihr Vater wird inmitten des brasilianischen Regenwalds beinahe von einer Monsterfledermaus und ihrer Brut gekillt, und das Beste, was Ihnen dazu einfällt, ist, eines dieser verdammten Viecher in unsere Stadt zu schaffen?“ Die Augen meines Freundes wurden zu schmalen Schlitzen. „Wie bescheuert muss man eigentlich sein, um so einen Mist abzuziehen?“
„Ich wollte der Menschheit einen Dienst erweisen“, rechtfertigte Baxter sich händeringend. „Der Speichel dieser Fledermausart verfügt über Kräfte, die die moderne Medizin revolutionieren könnten.“
„Sie meinen diese Zombiebrühe, die das Vieh seinen Dienern einflößt?“
Missbilligend verzog Baxter die Mundwinkel. „Diese ‚Brühe‘ verfügt über Eigenschaften, die das Immunsystem eines jeden Menschen auf ein nie da gewesenes Level aufsteigen lässt. Praktisch das Ambrosia des 21. Jahrhunderts. Nachdem mein Vater an Krebs erkrankt war, setzte ich alle Hebel in Bewegung, eine dieser Kreaturen in meine Gewalt zu bekommen. Es war keine große Überraschung, als sich herausstellte, dass die Fledermäuse sich bei der Wahl ihrer Diener auf unsere nächsten Verwandten, die Affen, spezialisiert hatten. Ich erzielte ungeahnte Erfolge und war mir keiner Schuld bewusst. Leider wurden meine damaligen Forschungen durch die Einmischung der Regierung zunichtegemacht.“ Seine Wangen zuckten vor Wut. „Wenn man meiner Arbeit nicht so kleingeistig entgegengetreten wäre, hätte ich sicherlich eine Möglichkeit gefunden, aus dem Speichel der Fledermaus ein Mittel zu entwickeln, das meinen Vater und viele andere vor dem Tode bewahrt hätte.“
Fast tat er mir leid. „Wenn diese Kreatur wirklich so gefährlich ist, wie Sie sagen, dann muss sie um jeden Preis aufgehalten werden.“ In Gedanken sah ich meinen Bruder über und über mit winzigen Babyfledermäusen bedeckt, die sich an seinem Fleisch gütlich taten. „Sie haben Alex doch beschattet, oder nicht?“ Ich nahm eine der Schwarz-Weiß-Fotografien in die Hand, auf welcher mein Bruder einen vollgepackten Sack hinter sich herzog. „Oh mein Gott.“
„Nur Hunde, die Katzen lässt er aus irgendeinem Grund in Ruhe“, erklärte Baxter nervös blinzelnd.
Kate schlug sich die flache Hand gegen die Stirn. „Stand sogar in der Zeitung. Man ging von einer Bande aus, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdient, Haustiere an Tierversuchslabore zu verhökern. Wer hätte denn damit rechnen können, dass es sich bei den gemeinen Kidnappern im Endeffekt um eine einzelne Person handelt?“
„Gleichzeitig wirft das aber auch die Frage auf, wohin er die armen Viecher gebracht hat.“ Eriks Miene entspannte sich. „Ihr wisst schon, Stichwort Futterlieferant für die Bestie und das ganze kranke Zeug.“ Er sah Simon Baxter forschend an. Kate und ich taten es ihm gleich. Der Professor schrumpfte auf ein Drittel seiner ursprünglichen Größe zusammen. Ich erkannte, worauf Erik aus war, und griff Baxter direkt an. „Da Sie meinen Bruder die ganze Zeit über beschattet haben, müssen Sie doch auch wissen, wo das Versteck der Fledermaus liegt. Hab ich recht?“
Baxter nickte und berührte mit den Fingerspitzen das Feuerzeug seines Vaters.