4. KAPITEL

Als wir den Campus verließen, war es bereits früher Abend. Die Sonne strich langsam ihre Segel und würde in einer guten Stunde komplett verschwunden sein. Ich blieb einen Augenblick stehen und betrachtete nachdenklich das Schauspiel.

Erik und Kate taten es mir gleich. „Wir sollten die Polizei informieren“, sagte mein Schwarm und legte sich die Hände in den Nacken.

„Und was sollen wir denen erzählen?“ Ich sah von Erik zu Kate und wieder zurück. „Wenn Baxter die Affen dieses Mal auf legalem Weg erstanden hat, dann sind wir die Gelackmeierten. Schließlich sind wir bei ihm eingebrochen. Wenn wir denen erzählen, dass ich nur meinen missratenen Bruder retten wollte, zeigen die mir ’nen Vogel und buchten uns ein.“

„So schlimm wird es schon nicht werden“, kommentierte Kate meine Sorgen.

„Du warst ja auch nicht dabei“, sagte ich leicht angesäuert. „Aber Erik, ich und mein Bruder schon.“ Verärgert kickte ich einen kleinen Stein weg. „Am besten füge ich bei meiner Unibewerbung unter Freizeitaktivitäten noch hinzu, dass ich gelegentlichen Einbruchstouren nicht abgeneigt bin.“

Erik und Kate verzogen gleichermaßen den Mund. Wortlos schlenderten wir zum Auto, stiegen ein und starrten eine bedrückende Minute lang vor uns hin.

„Und wenn wir der Polizei einen anonymen Tipp geben“, schlug Erik vor, während er den Zündschlüssel drehte. Der Motor sprang an, und er bugsierte den Wagen vorsichtig vom fast leeren Parkplatz.

„Kann zurückverfolgt werden“, entgegnete ich unsicher. „Glaub ich zumindest.“

„Ach was.“

„Das Risiko ist einfach zu groß.“

„Und was ist mit deiner Mom? Du hast doch gesehen, wie Baxter auf dem Video abgegangen ist.“

Da war was dran. „Ich werde sie einfach davon überzeugen, dass Simon Baxter der falsche Mann für sie ist. Ein Griff ins Klo. Eine Ente. Ein Fehler.“ Ich gestattete mir ein verspieltes Lächeln. „Und wenn Baxter erst mal abserviert ist, werde ich ihr einen schnuckeligen Typen mit Villa und Jacht besorgen.“

„Ich hab’s!“, schrie Kate plötzlich mit einer Stimme, so schrill wie die einer Operndiva.

„Du hast einen an der Klatsche“, stöhnte ich erschrocken und Erik murmelte eine Bestätigung.

Sie verzog den Mund zu einer beleidigten Schnute und verschränkte die Arme vor der Brust. „Da macht man sich mal Gedanken, und wie dankt ihr es einem? Ich muss euch ja nicht helfen, ich war ja bei eurem kleinen illegalen Ausflug nicht dabei.“ Sie zog hörbar die Nase hoch und drehte beleidigt den Kopf zur Seite.

„Ich hätte beinahe das Lenkrad verrissen“, erklärte Erik seine vorherige Beschwerde. „Und Sarahs Herz kann man jetzt noch schlagen hören.“ Er schaltete die Scheinwerfer ein. „Junge, hab ich einen Schreck bekommen.“

„Ich höre mich ja auch so furchtbar an“, beschwerte sich Kate und drückte ihr Knie gegen meinen Sitz. „Aber wenn ihr nicht hören wollt, wie wir Baxter überführen können, dann bitte schön. Mir doch egal.“

Ich blickte erstaunt in den Rückspiegel. „Du hast eine Idee?“

„Ich hatte eine Idee, eine wirklich grandiose Idee, die ihresgleichen sucht. Aber nachdem ihr mich so böswillig angefahren habt, ist sie mir leider Gottes entfallen.“ Sie blickte starr durch das Seitenfenster und machte einen Schmollmund.

„Jetzt übertreibst du aber.“

„Kein bisschen.“

Ich verdrehte die Augen und nuschelte eine Entschuldigung, was allerdings wenig Sinn hatte. Leider. Wenn Kate erst einmal eingeschnappt war, dann verhielt sie sich wie ein Baby. Als ich merkte, dass sie nicht auf meine Entschuldigung einging, stupste ich Erik leicht mit dem Ellenbogen an und gab ihm zu verstehen, dass er sich auch bei Kate entschuldigen sollte.

„Nicht dein Ernst, oder?“

„Doch, jetzt mach schon“, drängte ich ihn flüsternd.

Kurz schüttelte er den Kopf, bevor er ein lakonisches „Sorry“ fallen ließ und dann entnervt durch die Nase ausatmete.

Im Rückspiegel sah ich Kate zufrieden lächeln. „Morgen“, sagte sie und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.

„Was heißt hier ‚morgen‘?“, stieß ich irritiert hervor, und Erik wollte schon wieder was sagen, überlegte es sich dann aber in Anbetracht unserer launischen Freundin anders.

„Dass ich euch morgen einweihen werde. Ganz einfach.“

Oh diese Kate! Ich richtete meinen Blick wieder auf die Straße. „Wehe, es ist keine gute Idee“, bemerkte ich drohend.

Kate zuckte selbstzufrieden mit den Schultern und richtete ihr Augenmerk auf die vorbeihuschende Landschaft. „Ihr werdet begeistert sein“, meinte sie nach einigen Kilometern lächelnd. „Das verspreche ich euch.“

Raus, schrie Alex’ innere Stimme. Nur weg von hier! Sein Herzschlag war außer Kontrolle. Er war nicht mehr dazu fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Welt um ihn herum versank im Strudel der Unkenntlichkeit. Alles und jeder wollte ihn fertigmachen. Er konnte niemandem mehr vertrauen. Niemandem.

Seine Beine brannten wie Feuer, und doch war es ihm unmöglich, einfach anzuhalten. Er musste weiter, immer nur weiter. Längst hatte er das Stadtzentrum mit seinen vielen Autos, Ampeln und Geschäften hinter sich gelassen. Die äußeren Bezirke waren als Brennpunkte bekannt. Die Kriminalitätsrate lag hier praktisch doppelt so hoch wie in anderen Teilen der Stadt. Kein Tag verging, ohne dass einen die Zeitung mit neuen Schreckensmeldungen konfrontierte.

„Was stimmt nicht mit mir?“ Ein einzelner Gedanke, dem Chaos entsprungen. Zu mehr schien er nicht mehr fähig. Er verlangsamte das Tempo. Atmete gierig die Luft ein und versuchte zu verstehen, was mit ihm passierte.

Zwei Gestalten lösten sich aus dem Schatten der eng stehenden Häuser und stellten sich ihm demonstrativ in den Weg.

Dass sie auf Ärger aus waren, konnte Alex geradezu riechen. Er wollte ausweichen, aber sie ließen ihm keine Chance dazu.

„Bist wohl vom Weg abgekommen, was?“, blaffte der Größere der beiden. Seine Lippen waren aufgesprungen. Sein Kollege, ein grünhaariger Punk, grinste dämlich.

Mit blutunterlaufenen Augen sah Alex von einem zum anderen. Er ballte die Hände zu Fäusten und scharrte mit den Füßen. „Verschwindet“, stieß er mit derselben Furcht einflößenden Stimme, die schon dem Imbissbudenbesitzer so unheimlich gewesen war, hervor.

Die zwei Halbstarken waren völlig zugedröhnt. Sie kicherten – sie lachten.

„Rück dein Geld raus, dann schlagen wir nicht zu fest zu, okay“, rief der Größere und presste dabei seine verkrusteten Lippen aufeinander.

„Also gut“, sagte Alex leise. „Aber ich fange an.“

Sie schrien … aber nur kurz.

Nicht viel später erreichte Alex einen Ort, den er, wenn er im Besitz seiner normalen geistigen Kräfte gewesen wäre, niemals betreten hätte. Sein Weg führte hinab in die Dunkelheit und endete inmitten eines von einem unheimlichen Leuchten dominierten Refugiums.

Vor zwei rot glühenden Augen, klein und ohne Seele, fiel er bereitwillig auf die Knie. Endlich war er zu Hause.

Als Alex am nächsten Morgen aufwachte, staunte er nicht schlecht. Er lag neben seinem heimischen Bett und hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war. Das Fenster stand wieder sperrangelweit offen, und das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war das Gesicht eines ängstlich dreinblickenden Mexikaners. Ein Filmriss konnte ja mal vorkommen, aber in so kurzer Zeit noch ein zweiter?

Während er sich an der Bettkante hochzog, fiel ihm auf, dass seine gesamte Kleidung klitschnass war. Nicht nur die Jeans, sondern auch die teuren Sneakers sahen aus, als sei er mit ihnen schwimmen gewesen. Hinzu kam ein widerlicher Gestank, der kaum auszuhalten war.

Jemand klopfte an die Tür. „Alex, bist du wach?“

Er brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass die Stimme, die er vernahm, zu Sarah gehörte. „Äh … ja, ich bin gerade aufgestanden.“

„Warst du die Nacht über weg?“

Verflixt. „Nein, wieso?“

„Weil Mom und ich gestern Abend ein leeres Zimmer vorgefunden haben, deswegen.“ Eine Pause trat ein. „Da macht man sich halt Sorgen.“

„Mir geht’s gut … Mir geht’s sogar super“, sagte er schnell. Was in groben Zügen auch der Wahrheit entsprach. Alex fühlte sich trotz der fehlenden Erinnerungen und der nassen Klamotten außergewöhnlich fit. „Zeig mir einen Baum, und ich reiße ihn aus“, redete er weiter und rieb sich dabei die schmutzigen Hände.

„Du bist spät dran“, ermahnte ihn Sarah. „Beeil dich lieber. Mom ist heute eh nicht so gut drauf.“ Er hörte, wie sie sich von der Tür entfernte, die Treppe nach unten ging und sich an den Küchentisch setzte. Einen kurzen Moment hielt er erschrocken inne, als ihm bewusst wurde, dass er sogar verstehen konnte, was dort unten, eine Etage tiefer, besprochen wurde.

Vier Stunden nachdem ich meinen Bruder über seine nächtlichen Eskapaden ausgefragt hatte, saß ich zusammen mit Erik in der Schulcafeteria und nippte zum dreihundertachtundsechzigsten Mal an meinem Kakao. Die Sahne hatte sich mittlerweile aufgelöst und gab dem Getränk einen zuckersüßen Geschmack.

„Ist der nicht mittlerweile kalt?“, fragte Erik und schaute dabei kurzzeitig von seinem riesigen Salatteller auf.

„Kakao kann man auch kalt genießen“, erklärte ich. „Musst du auch mal probieren.“ Ich schob ihm die Tasse zu und war voller Erwartung, ob es ihm genauso schmecken würde wie mir, als eine schlanke Mädchenhand ihm das Getränk vor der Nase wegschnappte.

„Sie hat recht“, erklärte Kate und leerte den Tasseninhalt mit einem einzigen gierigen Schluck. Dann setzte sie sich neben mich und stellte die Tasse mit einem lauten Knall zurück auf den Tisch. „Das habe ich gebraucht.“

„Was du brauchst, ist ein Doktor“, kommentierte ich ihren Auftritt. „Als du vorhin nicht im Unterricht warst, dachte ich schon, du würdest krankfeiern. Wo hast du gesteckt?“

„Zu Hause.“

Ich blinzelte verwirrt. „Du hast verschlafen?“

Statt mir zu antworten, öffnete sie pfeifend ihren Rucksack und holte einen Stapel Blätter hervor. „Erinnert ihr euch noch daran, wie ich euch in meine geniale Idee eingeweiht habe?“ Sie sah jeden von uns erwartungsvoll an und präsentierte dabei ein strahlendes Lächeln, mit dem sie jeden Zahnarzt zu Tränen gerührt hätte.

„Eigentlich hast du uns in gar nichts eingeweiht“, warf Erik stirnrunzelnd ein. Er stopfte sich das letzte Salatblatt in den Mund und bedachte Kate mit einem skeptischen Blick.

Kate genoss es richtig, uns auf die Folter zu spannen. Sie kostete jede Sekunde aus und tat dabei so, als verfüge sie über den Schlüssel zum Bernsteinzimmer. „Es ist eigentlich ganz einfach, man muss nur richtig darüber nachdenken, dann kommt man ganz leicht drauf“, zwitscherte sie und spannte uns weiter auf die Folter.

„Jetzt sag schon.“ Nervös wippte ich mit den Füßen und stieß dabei an Eriks ebenfalls ruhelose Schuhspitzen.

„Also“, sie holte tief Luft, „ich habe den kompletten Fall des Simon Baxter im Internet recherchiert. Und bin dabei auf, wie soll ich es am besten ausdrücken, recht interessante Informationen gestoßen.“

„Du hast ihn gegoogelt?“, fragten Erik und ich gleichzeitig.

Kate grinste. „Einfacher geht’s echt nicht, oder?“ Sie verschränkte die Arme und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Wie ihr wisst, hat man Baxter damals wegen dieser Sache mit dem Tierschmuggel drangekriegt. Ich wollte zuerst sichergehen, ob er es dieses Mal nicht genauso gemacht hat. Die Pinseläffchen, ihr versteht?“

Wir verstanden.

„Also, wie es aussieht, hat er die Viecher tatsächlich auf legalem Weg erworben. Gleiches gilt für das Labor und das umliegende Land.“

„Hat er einen Goldesel?!“, bemerkte Erik und balancierte seine Gabel auf der Spitze seines Zeigefingers. Kate funkelte ihn böse an, und die Gabel fiel scheppernd auf den Teller zurück.

„Das würde ich jetzt nicht gerade sagen, denn richtig vermögend war er eigentlich nie. Das Geld für seine Forschung stammt aus einer fetten Erbschaft von Baxter senior. Die beiden standen sich offenbar recht nahe und der Tod des Alten muss unserem Professor wohl ziemlich nahegegangen sein.“ Sie hielt kurz inne und strich über die Papiere, die sie ausgedruckt hatte. „Über seinen Dad, Christopher Baxter, habe ich sogar mehrere Seiten im Internet gefunden. Der gute Mann war zu Lebzeiten so eine Art Indiana Jones der Zoologie. Ein echter Abenteurer.“

Ich nickte bestätigend. „Beim Essen hat Simon ihn schon erwähnt, ist aber kein einziges Mal richtig auf die Reisen seines alten Herren eingegangen.“

„Na, wundern tut mich das nicht. Christopher Baxters letzte Expedition war ein einziges Fiasko, das zahlreiche Tote gefordert hat. Um genau zu sein: Er hat als Einziger überlebt.“

Das saß. Erik und mir verschlug es einige Augenblicke lang die Sprache.

„Und, äh“, fand ich nach einigem Zögern meine Stimme wieder, „wie sind die Expeditionsteilnehmer gestorben? Ich meine … hat der alte Baxter sie …“ Ich machte die typische Killergeste, aber Kate zuckte nur mit den Schultern.

„Wenn man den Berichten Glauben schenkt, dann starben die übrigen Expeditionsteilnehmer durch eine Reihe unglücklicher Umstände. Als man Baxter senior fand, war er mehr tot als lebendig und erst eine Woche später wieder ansprechbar. Und auch dann sagte er nur, der Dschungel habe die anderen geholt.“

„Der Dschungel“, wiederholte ich schaudernd.

„Der Alte soll nach der Tragödie komplett den Verstand verloren haben. Nachdem seine Frau sich von ihm hatte scheiden lassen, wurde es sogar noch schlimmer. Er drehte so dermaßen am Rad, dass man ihn in die Klapse einliefern musste.“

Ich verzog die Mundwinkel. „Du meinst natürlich die Psychiatrie.“

„Kommt auf dasselbe raus“, erwiderte sie knapp. „Um dem Ganzen noch die Krone der Ungerechtigkeit aufzusetzen, diagnostizierte man später bei ihm Krebs. Allen Widrigkeiten zum Trotz hielt er wie durch ein Wunder noch fünf Jahre durch, bevor er dann vor zwei Jahren den Kampf gegen die Krankheit verlor und ins Gras biss.“

Ich musste an meinen eigenen Vater denken und wie ich mich nach dessen Tod gefühlt hatte. „Armer Simon“, sagte ich leise.

Kate kramte ein Blatt Papier aus dem unübersichtlichen Haufen. Es zeigte neben der Schwarz-Weiß-Fotografie eines grobschlächtig dreinblickenden Mannes einen kleinen Text. Einige der Passagen waren rot unterstrichen. „Dieser liebenswerte Herr, Ladies and Gentlemen, hört auf den extravaganten Namen Xander Murdock und lebt im schönen Rio de Janeiro. Ein Mann, dessen Vorstrafenregister neben Diebstahl, Körperverletzung und … äh … Einbrüchen …“

Ich lief rot an.

„… auch den Schmuggel exotischer Tiere beinhaltet.“

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. „Aber du sagtest doch, dass Baxter die Affen auf legalem Wege erstanden hat.“

Kate lächelte. „Die Äffchen schon, aber neugierig und schlau wie ich bin, habe ich natürlich tiefer gegraben und siehe da: Vor zwei Wochen bekam unser werter Professor Baxter eine Kiste aus Brasilien zugeschickt.“ Sie beugte sich über den Tisch. „Die Frage, die wir uns nun stellen sollten, wäre die nach dem Inhalt dieser geheimnisvollen Kiste.“

„Noch mehr Affen“, warf Erik nachdenklich ein. „Vielleicht benötigt Baxter für seine Forschung Arten, an die er anders nicht rankommt.“

Während Kate ihre ganz eigene Theorie zum Besten gab, fiel mir das zerstörte Oberlicht wieder ein. „Affen können keine glatten Wände hochklettern, oder?“, fragte ich leise und damit verstummten meine Freunde. Bevor einer der beiden etwas dazu sagen konnte, erzählte ich ihnen schnell von meiner Beobachtung.

„Wenn es kein Affe war“, sagte Kate leicht hysterisch, „was war es dann?“

„Etwas, das in der Lage ist, eine nackte Wand hochzuklettern, um dann ganz mühelos eine Fensterscheibe zu zerschlagen.“ Angestrengt dachte ich nach. „Hört sich jetzt blöd an, aber ich glaube, es …“ Nein, das konnte ich nicht sagen. Also formulierte ich schnell ein anderes Satzende: „… wäre vielleicht am besten, wenn wir die ganze Sache einfach auf sich beruhen lassen.“

Sowohl Kate als auch Erik schauten nun blöd aus der Wäsche.

„Nicht dein Ernst, oder?“, vergewisserte Erik sich vorsichtshalber.

„Doch, mein voller“, gab ich nicht besonders überzeugend zurück. „Hört mal, ich find’ es super, dass ihr mir helfen wollt, aber im Endeffekt bin ich mir sicher, dass es besser ist, wenn wir Simon Baxter in Ruhe lassen. Ich muss nur noch meine Mom davon überzeugen, ihn in Zukunft zu meiden. Ein paar gut platzierte Kommentare, und die Sache ist geritzt, denke ich.“

Kate und Erik blickten einander verwirrt an. „Du meinst also, wenn du den Teufel ignorierst, wird er nichts Böses mehr tun“, bohrte Kate nach.

„Baxter ist kein Teufel.“

„Er ist gefährlich, daran gibt es nichts zu rütteln.“

Erik lachte leise auf. „Ihr packt das total falsch an“, kommentierte er unseren kleinen Streit. „Ich meine, es ist doch bestimmt kein Zufall, dass die Kiste aus Brasilien kam. Ich gehe jede Wette ein, dass die Expedition des alten Baxter in Zusammenhang mit Juniors Forschungen steht. Das Einzige, was wir zu tun haben, ist, die Person aufzusuchen, die sowohl Christopher als auch Simon Baxter gut genug kennt, um uns eine Erklärung zu liefern.“

„Klar ist die Idee gut, aber ich finde, wir sollten unser Glück nicht überstrapazieren. Es läuft doch alles prima, also, warum ein Risiko eingehen?“

Entgeistert warf Kate mir den Basketball zu. „Du solltest dich mal reden hören“, maulte sie. „Da stößt man auf das Geheimnis des Jahrhunderts, und du benimmst dich wie die Prinzessin auf der Erbse.“

Ich warf einen Korb und trottete, Kates Vorwurf ignorierend, dem Ball nach. „Du kannst dich aufregen, soviel du willst. Ich bleibe dabei. Wenn wir Simon Baxter in Ruhe lassen, dann haben wir nichts zu befürchten und können in aller Ruhe unserem lieben Alltag nachgehen.“ Ich dachte an das vorangegangene Gespräch in der Cafeteria. Erik hatte doch allen Ernstes vorgeschlagen, dass wir Simon Baxters Mom aufsuchen sollten, um die alte Frau über ihren Sohn und den verstorbenen Exmann auszufragen. Ich war natürlich dagegen, was eine hitzige Diskussion nach sich zog, die damit endete, dass ich wenig erwachsen aus der Cafeteria stürmte und Kate sowie Erik einfach sitzen ließ. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass Kate sich nicht so einfach von einer Idee verabschiedete, schließlich strebte sie eine spätere Karriere als Journalistin an. Aber dass sie mir jetzt, während meines heiß geliebten Basketballspiels, damit in den Ohren lag, grenzte fast schon an Besessenheit.

„Bist du denn kein bisschen neugierig?“, hakte sie nach und verlieh ihrer Stimme dabei einen honigsüßen Klang. „Verquere Professoren, Brasilien, geheime Forschungen …“ Geschickt schnappte sie mir den Ball weg und dribbelte ihn unter den Korb. Unsere Blicke trafen sich. „Jetzt gib’s schon zu“, stieß sie, den Ball von der einen in die andere Hand balancierend, hervor. „Du bist genauso neugierig wie ich, aber du hast Angst, dass wir Ärger bekommen könnten.“ Sie grinste, warf und traf. Der Ball plumpste sauber durchs Netz, bevor ich ihn wieder an mich nahm und den Ausgleich machte.

„Selbst wenn ich tatsächlich diese Neugierde verspüren würde, von der du sprichst“, räumte ich ein, „warum sollte ich ein Risiko eingehen? Verdammt, Kate, niemand weiß von dem Einbruch, und dabei soll es auch bitte bleiben. Du weißt doch: Schlafende Hunde soll man nicht wecken.“

Am Nachmittag, exakt fünf Minuten nach dem Ende der letzten Unterrichtsstunde, sollte ich erfahren, dass die Köter schon längst aufgewacht waren …

Kate und ich verließen soeben das Hauptgebäude und gingen den breiten Gang Richtung Schulbibliothek entlang, als sich aus dem Schatten der mit Efeu bewachsenen Fassade mehrere Gestalten lösten und sich uns in den Weg stellten.

„Hallo, Sarah, hallo, Kate.“ Cage grinste uns bitterböse an. „Lange nicht mehr gesehen.“ Er machte einen Schritt nach vorne und bedachte mich mit einem Blick, der Hannibal Lector zur Ehre gereicht hätte. „Weißt du, es existiert da so ein Gerücht und, na ja …“ Er lachte hämisch. „… es heißt, du und dieser Waschlappen, dem ich das Gesicht verschönert habe, ihr seid jetzt ein Paar. Stimmt das? Ich meine, du und die Nase?“

„Musst du nicht zu Mami und Papi zurück?“, zischte Kate wütend.

„Wüsste nicht, dass ich mit dir geredet habe.“

„Es wundert mich, dass du überhaupt etwas weißt“, hielt Kate dagegen. „Muss doch schwer sein, den ganzen Tag mit einem Vakuum zwischen den Ohren rumzulaufen.“

Cage lief rot an. Er kniff die Augen zusammen und schien jeden Moment auszurasten.

„Kate, lass gut sein“, versuchte ich die extrem spannungsgeladene Situation zu entschärfen. „Wir gehen jetzt weiter, und die können sehen, wo sie bleiben, okay?“ Zwar hätte ich Cage für seine dämlichen Kommentare bezüglich Erik gern einen Denkzettel verpasst, aber ich durfte keine Handgreiflichkeiten heraufbeschwören. Cage und Co. waren eindeutig in der Überzahl, und ausgerechnet jetzt war nirgends einer unserer Mitschüler auszumachen.

„Ihr bleibt schön, wo ihr seid“, presste Cage ungehalten hervor. Er biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich mit den Fingern durchs strähnige Haar. „Ihr glaubt wohl, ihr kommt einfach so davon?“ Seine Stimme zitterte vor Wut, und es war nicht zu übersehen, dass seine Clique über diese Entwicklung der Situation in keiner Weise erfreut war.

„Hör mal, Cage …“, versuchte Jack einzugreifen, aber bevor er weitersprechen konnte, drehte Cage ruckartig den Kopf in seine Richtung. „Auch wenn du denkst, du hättest was zu sagen … behalt es für dich, klar?“, zischte er und wandte sich wieder Kate und mir zu. „Also, wo waren wir stehen geblieben?“

Ohne Cage weiter zu beachten, nahm ich Kate bei der Hand und wollte mich an ihm vorbeistehlen, als dieser plötzlich meinen Arm ergriff und mich brutal am Weitergehen hinderte.

„Ich sagte, ihr bleibt“, stieß er wütend hervor und verstärkte den Griff.

Bei Kate brannten alle Sicherungen durch. Sie warf sich Cage entgegen und wollte ihm einen Schlag versetzen. Aber der Mistkerl war schneller. Er ließ von mir ab und stieß meiner Freundin den Ellenbogen in die Seite, sodass ihr für einen kurzen Moment die Luft wegblieb. „Ich bin nicht eure Witzfigur!“ Cage war außer sich. Ein tollwütiger Hund, den man von der Leine gelassen hatte. Er stand gerade im Begriff, Kate die Faust ins Gesicht zu schlagen, als wie aus dem Nichts plötzlich Alex auf dem Plan erschien. Schützend stellte er sich vor Kate und blockte Cages Schlag mit einer Leichtigkeit ab, die nicht nur bei mir für Verblüffung sorgte.

„Bist du irre?“ Cage kreischte beinahe. „Mach, dass du …“ Weiter kam er nicht mehr. Alex’ Faust traf punktgenau. Cage taumelte zurück. Er blutete aus beiden Nasenlöchern, und seine rote Gesichtsfarbe war einem käsigen Weiß gewichen. „… irre?“, gurgelte er noch einmal und musste von Jack und Leroy aufgefangen werden. Sie waren ungefähr genauso überrascht wie wir. Den beiden Girls, Ellie und Rose, die sonst für ihre großen Klappen bekannt waren, hatte es wohl das erste Mal im Leben die Sprache verschlagen. Niemand sagte einen Ton. Stattdessen glotzten sie nur ungläubig von Cage zu Alex und von Alex wieder zurück zu ihrem gedemütigten Anführer.

Während mein Bruder der ebenfalls recht verdutzt dreinblickenden Kate wieder auf die Beine half und sich wie ein Kavalier alter Schule nach ihrem Wohlbefinden erkundigte, starrte Cage ihn mit einem Gesichtsausdruck der Kategorie „Wenn Blicke töten könnten“ an.

„Du bist erledigt“, nuschelte er und ließ sich von Leroy ein Taschentuch geben. „Hörst du? Erledigt!“ Jack hielt seinen Anführer am Oberarm fest und raunte ihm etwas zu. Es waren nur zwei kurze Sätze, die bei Cage für wütendes Kopfschütteln sorgten. „Ihr könnt mich mal. Ich werde diesen kleinen Scheißer so tief in den Boden rammen, dass er in China wieder rauskommt!“

In der Entfernung wurden Stimmen laut. Eine Gruppe von jüngeren Schülern bewegte sich auf uns zu.

„Lass uns hier abhauen“, meinte Leroy. „Du kannst es ihm später immer noch heimzahlen.“ Er spähte hinüber zu Alex, konnte aber dessen Blick nicht standhalten.

„Er hat recht“, sagte Alex so cool, dass ich tatsächlich einen eisigen Windhauch zu spüren glaubte. „Gib mir nur Bescheid, wenn du die nächste Abreibung brauchst. Für solche Gefälligkeiten bin ich immer zu haben.“ Er grinste überlegen und zwinkerte Cage herausfordernd zu.

Endlich erreichte uns die Schülergruppe. Als hätte ihnen jemand den Stecker rausgezogen, standen die circa zwei Dutzend Jungen und Mädchen nur so da und glotzten doof aus der Wäsche. Ein blutender Cage war für sie in etwa so ungewöhnlich wie ein Besuch von Außerirdischen. Sie begannen untereinander zu tuscheln. Mein Bruder und Cage fixierten einander. Keiner von ihnen wandte den Blick ab, und wenn just in diesem Augenblick nicht unser Sportlehrer Mr Sinclair aufgetaucht wäre, so hätte ich für nichts mehr garantieren können.

„Alles in Ordnung hier?“ Er sah das Blut, dann erkannte er Cage. „Junge, was ist passiert?“

Cage drehte sich auf dem Absatz um und gab seinen Leuten zu verstehen, dass es Zeit war zu verschwinden.

Mr Sinclair runzelte die Stirn. „Was ist hier passiert?“, wollte er nun von mir und Kate wissen. Alex hielt sich vornehm im Hintergrund.

„Nun … äh … ich „, stotterte ich und suchte nach einer Erklärung, die irgendwie glaubwürdig klingen musste.

„Er ist gestolpert“, log Kate. „Cage ist gestolpert und hat sich die Nase gestoßen.“ Sie lächelte und rieb sich dabei die Wange. „Nicht weiter tragisch.“

„Wirklich?“ Mr Sinclair schien nicht überzeugt und richtete den Blick auf die kleine Blutlache am Boden. Dann drehte er sich zu einem der jüngeren Schüler um und schickte ihn wegen des Flecks zum Hausmeister. Kopfschüttelnd richtete er daraufhin die Aufmerksamkeit erneut auf Kate und meine Wenigkeit. Alex schien er seltsamerweise überhaupt nicht wahrzunehmen. „Ihr würdet mich doch nicht anlügen, oder?“

„Niemals“, sagten wir wie aus einem Mund. „Sie kennen uns doch“, zwitscherte Kate, „wir sind ehrlich bis auf die Knochen.“ Ohne weiter auf die Sache mit Cage einzugehen, entließ er uns zurück in die Freiheit. Alex heftete sich wortlos an unsere Fersen und pfiff eine seltsame, mir völlig unbekannte Melodie.