2. KAPITEL
Als ich nach Hause kam, erklärte mir meine Mom, dass Alex bei einem Freund übernachten würde. Ich sah sie entgeistert an, konnte es aber nicht über mich bringen, ihr die Wahrheit über diesen angeblichen Freund zu erzählen. Ihrem schicken Outfit nach zu urteilen, hatte sie sich für diesen Abend verabredet, und ich wollte ihr das Date nur ungern vermiesen.
„Hat er noch irgendwas gesagt?“, erkundigte ich mich stattdessen und kramte bereits nach meinem Handy.
„Nein, nichts, wieso?“ Sie musterte mich neugierig. „Hat er was ausgefressen?“
„Ne, alles in Ordnung. Ich wollte ihn nur etwas wegen der Schule fragen.“
„Aber ihr seid doch in verschiedenen Stufen.“
Verdammt. „Klar, sicher, aber wir, äh …“ Warum musste meine Mom nur so hartnäckig nachfragen? „Weißt du, wir haben morgen bei einem seiner Lehrer Vertretung, und ich wollte ihn fragen, wie der so ist.“
„Du willst dich vorbereiten?“, entgegnete sie misstrauisch. „Und es geht dir auch ganz bestimmt gut?“
„Du sagst doch selbst immer, dass man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein muss.“ Ich legte mein schönstes Sonntagnachmittagslächeln an den Tag und schaute so lieb und unschuldig drein, dass meiner Mom überhaupt keine andere Wahl blieb, als mir die Story abzukaufen. „Schließlich will man sich von seiner besten Seite präsentieren, nicht wahr?“
„Nimmst du jetzt neuerdings irgendwelche Drogen?“
Was war denn das für eine Frage? „Jetzt, wo du es ansprichst“, sagte ich im sarkastischsten Tonfall, den man sich vorstellen kann, „ich habe letztens meinen ersten Joint geraucht und wollte demnächst auf die härteren Sachen umsteigen. Du kennst nicht zufällig einen guten Dealer? Der Preis spielt keine Rolle, Hauptsache, die Qualität stimmt.“
Den entgeisterten Gesichtsausdruck meiner Mom werde ich niemals vergessen. „Sarah“, sagte sie kopfschüttelnd, „du bist verrückt.“
„Ich hab dich auch lieb“, gab ich lächelnd zurück und begab mich direkt auf mein Zimmer. Noch bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel, hatte ich Alex’ Handy angewählt und musste entsetzt feststellen, dass ich es klingeln hörte. „Er wird doch nicht …“, dachte ich laut und trat wieder hinaus auf den Flur. Aus Alex’ Zimmer tönte der mir so verhasste Klingelton eines quakenden Frosches. Der Idiot musste sein Handy vergessen haben. Wie sollte ich ihn jetzt noch von dieser Dummheit mit der Mutprobe abbringen? In zunehmender Verzweiflung trottete ich zurück in mein Zimmer und ließ mich seufzend auf meiner Bettkante nieder. Plötzlich fiel mein Blick auf eine Postercollage, die meine beiden Lieblingsschauspieler zeigte.
„Ihr könnt mir auch nicht weiterhelfen, oder?“, jammerte ich und fuhr mit den Fußspitzen über den weichen Teppichboden. Es mag zwar ein wenig klischeehaft klingen, aber ich bin nun mal die ältere Schwester und sah mich somit in der Verantwortung für meinen jüngeren Bruder. Klar, in letzter Zeit war es zwischen Alex und mir nicht so super gelaufen, aber in der Vergangenheit hatten wir uns immer prima verstanden. Umso wichtiger war es jetzt, eine Lösung für dieses Problem zu finden – und das nach Möglichkeit sofort. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass der Abend nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Entweder mir fiel schnell was ein, oder ich würde mir höchstwahrscheinlich für den Rest meines Lebens Vorwürfe machen. Während der Minutenzeiger meiner Mickymausuhr sich plötzlich ebenso schnell wie der Sekundenzeiger zu bewegen schien, meldete sich vollkommen unverhofft mein Handy zu Wort.
Unbekannte Nummer. Normalerweise nahm ich nur Anrufe von Leuten entgegen, die ich kannte. Ich war schon versucht, den Anruf einfach wegzudrücken, als mir einfiel, dass es sich möglicherweise um Alex handelte, der über ein anderes Handy versuchte, mich zu erreichen.
Daher nahm ich das Gespräch an: „Alex, bist du das?“
Obwohl niemand antwortete, hörte ich deutliche Atemgeräusche. „Äh, hallo?“, versuchte ich es erneut und hatte schon die Befürchtung, einen Perversen oder Schlimmeres an der Strippe zu haben, als eine mir doch recht vertraute Stimme ebenfalls „Hallo“ sagte.
Ich nahm das Handy kurz von meinem Ohr und schüttelte leicht irritiert den Kopf. „Erik, bist du das?“, wollte ich meinen Verdacht bestätigt wissen.
„Ja, ich bin’s“, schallte es mir ein wenig zu laut entgegen. „Sorry, dass ich mich nicht gleich gemeldet habe, aber … Na, ist ja auch egal. Wie geht es dir?“
Ich schlug mir mit der flachen Hand so fest gegen die Stirn, dass mir beinahe das Handy aus der Hand gerutscht wäre. Da hofft man jahrelang auf eben diesen einen Anruf und dann so was! Der ungünstigste Augenblick in der Geschichte des Telefonierens.
„Hör mal, grad ist echt schlecht.“ Hatte ich das wirklich gesagt? „Alex steckt in Schwierigkeiten, und ich muss einen Weg finden, ihm zu helfen.“
„Dein Bruder steckt in Schwierigkeiten?“
„Na ja, Cage und seine Bande haben irgendwas mit ihm vor und ich …“
„Cage?“
Ich biss die Zähne zusammen. „Ja, weißt du, mein Bruder hängt seit einiger Zeit mit diesen Idioten rum und heute soll er sich wohl beweisen, indem er irgend so eine bescheuerte Mutprobe ablegt.“ Die Erwähnung von Cages Namen hatte Erik so dermaßen in Rage versetzt, dass ich kurzzeitig glaubte, ihn ins Telefon beißen zu hören.
„Weißt du, wo diese Mutprobe stattfinden soll?“, wollte er schließlich wissen und hörte sich dabei nicht gerade fröhlich an, eher so wie ein wütender Pitbull.
Ich musste nicht lange überlegen, nannte den Straßennamen und schlug mir erneut gegen die Stirn, als mir einfiel, was so besonders an der besagten Avery Street war. „Das Labor“, raunte ich ins Handy. „Die haben irgendwas mit dem Labor vor.“ Da Erik nur Bahnhof verstand, erklärte ich ihm mit wenigen Worten, was es damit auf sich hatte.
„Ich werde mich darum kümmern“, erklärte Erik derart bestimmt, dass mir die Spucke wegblieb. „Mit Cage ist nicht gut Kirschen essen.“
„Ich komme mit.“
„Zu gefährlich.“
„Aber es geht hier um meinen Bruder!“, hielt ich stur dagegen. Ich konnte hören, wie er entnervt ausatmete und mit sich kämpfte. „Wenn es denn sein muss“, sagte er schließlich, „aber du hältst dich bitte im Hintergrund. Junge, unser erstes Date hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.“
„Ist doch ganz einfach.“ Cage verzog die Mundwinkel zu einem dreisten Killerclowngrinsen. Er drückte Alex den Baseballschläger in die Hand und sah ihm dabei fest in die Augen. „Du brauchst nur eines der Fenster im Erdgeschoss einzuschlagen und schon bist du drin.“
Alex schluckte. Er warf einen Blick an Cage vorbei zu dem in absoluter Finsternis liegenden Haus Nr. 78. Simon Baxter musste also bereits zu dem Date mit seiner Mom unterwegs sein. Alex bereute es mittlerweile zutiefst, Cage und den anderen von dem verwirrten Professor erzählt zu haben, der seiner Mom den Hof machte. Wenn er die Klappe gehalten hätte, wäre Cage niemals auf die Idee mit der Mutprobe gekommen und er müsste sich jetzt keine Sorgen um die möglichen Konsequenzen machen.
„H…hör mal, Cage“, fing er an und hielt sofort wieder inne, als ihm bewusst wurde, dass er stotterte.
„Willst doch nicht kneifen, oder?“, fragte der um einen Kopf größere Cage. Er ließ die Zunge über seine Schneidezähne gleiten. „Dachte, du wärst cool.“
Während die Clique sich um den silbergrauen Wagen postiert hatte, den Cage sich hin und wieder mal von seinem Onkel auslieh, standen Alex und der Bandenchef etwas abseits. Eines der Mädchen, Elli Mathews, fing an zu lachen, und ihre Freundin Rose Mac Hendriks fiel schallend mit ein. Die beiden Jungen, Jack und Leroy, verhielten sich still. Aber sie starrten Alex an, und das bereitete ihm noch mehr Unbehagen als das Kichern der Girls.
„Wenn er zu feige ist, Cage“, rief Jack, „dann ist es halt so. Seine Visage hat mir eh nicht gepasst.“
„Dir hat noch nie eine andere Visage außer deiner eigenen gepasst“, hielt Cage dagegen. „Entweder du gehst jetzt da rein und richtest ein wenig Chaos an“, wandte er sich erneut an Alex, „oder du kannst in Zukunft sehen, wo du bleibst. Kapiert?“
Alex packte den Baseballschläger mit beiden Händen und nickte vorsichtig. „Wenn ich das schaffe, dann bin ich Mitglied bei euch.“ Es war keine Frage, sondern mehr eine Feststellung, die er bestätigt haben wollte.
„Haben wir doch so gesagt“, stieß Cage zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und gab ihm einen leichten Stoß in Richtung des Hauses. „Pass aber auf, dass dich der Geist des alten Avery nicht in den Hintern beißt.“
„Erstes Date?“, rutschte es mir kurz vor der Avery Street raus. Erik und ich waren seit zwanzig Minuten unterwegs. Meiner Mom hatte ich von einem spontanen Videoabend erzählt, den ich bei Kate verbringen wollte. Hätte sie geahnt, was wirklich ablief, dann wären uns längst die Marines auf den Fersen gewesen.
Erik schaute mich nicht direkt an und verzog den Mund zu einem vorsichtigen Lächeln. „Ich mag dich“, sagte er und rieb sich verlegen den Nacken. „Und wenn ein Junge ein Mädchen mag, dann ist es doch nur natürlich, dass er auch mit diesem Mädchen ausgehen möchte, oder?“
Das leuchtete ein. „Die Sache in der Cafeteria damals … Tut mir echt leid wegen deiner Nase.“
Er tippte sich automatisch an sein in Mitleidenschaft gezogenes Geruchsorgan und scherzte: „Sieht doch besser aus als vorher. Außerdem hatte ich eine prima Ausrede, um meinem Dad diesen Sommer nicht im Laden aushelfen zu müssen. Das heißt, ich konnte das erste Mal in meinem Leben richtig relaxen.“
„Trotzdem war’s fies.“
„Das auf jeden Fall. Aber ich bin kein Typ, der jetzt irgendwie auf Rache oder so aus ist. Sobald wir deinen Bruder gefunden haben, machen wir, dass wir hier wegkommen und dann denken wir uns was für ein richtiges Date aus.“ Mit diesen Worten bogen wir in die Avery Street ein und blieben kurz stehen, um die Umgebung näher zu betrachten. Da die meisten Häuser verlassen waren, herrschte eine erdrückende Stille. Die Vorgärten erinnerten an Wüstenlandschaften. Es fehlten eigentlich nur noch die Geier, die über unseren Köpfen kreisten.
„Die Häuser waren ursprünglich für die Mitarbeiter des Labors vorgesehen“, sagte ich an Erik gewandt. „Nach der Schließung waren natürlich auch die Bewohner weg, und niemand machte sich die Mühe, für neue zu sorgen.“
„Wer möchte schon gerne in der Nähe eines ehemaligen Labors leben, dessen Ruf alles andere als vorzeigbar ist?“, meinte Erik, rieb sich nachdenklich das Kinn und warf beim Vorbeigehen einen Blick durch eines der schmutzverkrusteten Fenster. „Sogar die Möbel haben sie dagelassen. Sieht ja nach einer richtigen Massenflucht aus.“
„Nachdem das Labor in den Achtzigern in die Schlagzeilen gekommen war, wollte anscheinend niemand mehr mit dem Namen Avery in Verbindung gebracht werden“, dachte ich laut nach und wartete, bis Erik sich mir wieder anschloss.
„Warst du schon mal dort? Ich meine, so aus reiner Neugierde?“
„Ich weiß eigentlich nur, dass sich das Labor am Ende der Straße befindet. Simon hat fast eine komplette Stunde davon erzählt, wie ihm das Gebäude in die Hände gefallen ist. So eine Tortur muss man am eigenen Leib erfahren, sonst glaubt man sie nicht.“
„Aber selbst warst du noch nie da oben?“
„Gibt schönere Orte.“
Erik lächelte schelmisch. „Das auf jeden Fall.“
Während wir also drauflosmarschierten, leuchteten keine hundert Yards vor uns die gleißend hellen Scheinwerfer eines Autos auf. Reifen quietschten, und als der silbergraue Wagen an uns vorbeirauschte, glaubte ich, den Geruch verbrannten Gummis wahrzunehmen.
„Da hatte es aber einer verdammt eilig, von hier wegzukommen“, bemerkte Erik und sah dem Wagen mit hochgezogenen Augenbrauen nach. „Vielleicht der Freund deiner Mom?“
„Der fährt irgendwas Rotes“, entgegnete ich und ärgerte mich maßlos darüber, dass ich eine Ente nicht von einem Mercedes unterscheiden konnte.
Wir erreichten den Ascheplatz vor dem Labor. Es verfügte über zwei Stockwerke, war in einem scheußlichen Ockerbraun gehalten und damit wahrscheinlich das hässlichste Gebäude, das mir jemals unter die Augen gekommen war. Es gab kein sichtbares Eingangstor, aber der Drahtzaun, der das Labor in der Vergangenheit hermetisch von der Außenwelt abgeschottet hatte, war an den meisten Stellen so in Mitleidenschaft gezogen, dass der leiseste Windhauch ausreichend schien, ihn vollständig in sich zusammenbrechen zu lassen. Wir konnten, fast ohne uns zu bücken, das Grundstück durch eines der Löcher betreten.
„Einladend ist anders“, murmelte ich und flehte innerlich darum, dass Alex klug genug gewesen war, die Mutprobe abzulehnen. Der Gedanke war kaum gedacht, da machte Erik mich auf eine eingeschlagene Fensterscheibe aufmerksam.
„Vielleicht saß er zusammen mit den anderen im Au…“
Aus dem Inneren drang ein leiser Schrei an unsere Ohren. Ich machte einen Schritt auf das zerborstene Fenster zu. „Alex!“, stieß ich entsetzt aus.
„Dein Bruder ist tatsächlich ein Idiot“, schimpfte Erik und zog sich, noch während er sprach, die Jacke aus. Dann wickelte er sie um seine Hand und entfernte eine übrig gebliebene Glasscherbe. „Der Wagen eben“, meinte er, „ich gehe jede Wette ein, dass Cage und seine Bande da drin saßen und sich einen auf deinen Bruder abgelacht haben. Die Schweine haben gewartet, bis er im Gebäude war, und sind dann abgehauen.“
Obwohl Erik wollte, dass ich draußen warte, hatte ich vehement darauf bestanden, ihn zu begleiten. Das Argument „Aber er ist doch mein Bruder“ zog Gott sei Dank immer noch.
So heftete ich mich also an die Fersen meines Schwarms und hoffte inständig, dass meinem missratenen Bruder nichts Schlimmes widerfahren war. Die dunklen Flure erschienen endlos, und es gab mehr Warnschilder als in einer Fabrik für Feuerwerkskörper. Der Linoleumboden war in einem hellen Grün gehalten und wies zahlreiche Flecken auf, die unter der dicken Staubschicht klar hervortraten. Es war mir schleierhaft, welcher Teufel Simon geritten hatte, sich gerade hier einzuquartieren.
„Der Freund deiner Mom muss nicht mehr ganz sauber ticken“, bemerkte Erik nach ein paar Minuten. Wir waren kurz stehen geblieben und überlegten, welche Richtung wir einschlagen sollten.
„Er meinte, hier könnte er ungestört arbeiten“, sagte ich und lauschte zitternd einem weiteren Schrei. „Außerdem muss er es sehr billig erstanden haben.“
„Ich tippe mal, dass er es geschenkt bekommen hat“, murmelte Erik und betrachtete eine fette, sich vor seinem Gesicht abseilende Spinne mit solchem Ekel, dass ich glaubte, er müsse sich übergeben. „Ich hasse Spinnen“, erklärte er und zog nach links in einen der Gänge. „Ist keine Phobie, sondern mehr so ’ne Macke von mir.“
„Ich kenn so was“, wollte ich antworten, hielt dann aber inne, als mir auffiel, dass dieser Gang im Vergleich zu den Fluren zuvor recht sauber war. Natürlich lag auch hier Staub, aber bei Weitem nicht so hoch, dass er für eine Maus zur Todesfalle werden konnte. „Das muss der Bereich sein, in dem Simon seinen Forschungen nachgeht“, kombinierte ich rasch. Ich formte meine Hände zu einem Trichter und rief den Namen meines Bruders.
Keine Antwort.
Wir gingen weiter, hielten dann wieder an und wollten es dieses Mal gemeinsam versuchen, als ein lautes Scheppern unsere Aufmerksamkeit auf eine verschlossene Tür lenkte. „Labor 5-G“, las ich hastig den etwas verwitterten Schriftzug und führte meine Hand bereits zur Klinke, aber Erik hielt mich zurück.
„Ich gehe vor“, bestimmte er und schob mich sanft zur Seite. „Weiß der Teufel, welche Art von Experimenten dieser Simon hier abzieht.“ Wieder hörten wir das Scheppern und zuckten beim Klang lauten Gekreisches heftig zusammen.
„Das war kein Mensch“, sagte ich ängstlich und beobachtete, wie Erik die Tür öffnete. Willkommen im Chaos! Überall lagen aufgebrochene Käfige. Der Boden war übersät mit Glasscherben, die in den unterschiedlichsten Farben glitzerten und vormals als Behälter für irgendwelche Flüssigkeiten hergehalten haben mussten, die sich nun zu großen Pfützen verbanden.
Erik rümpfte die Nase. „Riechst du das?“
„Eine Mischung aus Zoo und chemischer Reinigung.“ Ich widerstand dem Impuls, mir die Nase zuzuhalten, und rief stattdessen erneut Alex’ Namen. Ein armseliges Stöhnen lockte uns ans andere Ende des komplett in Weiß gehaltenen Raumes. Erik half mir gerade über einen der aufgebrochenen Käfige zu klettern, als direkt neben mir etwas auf dem Boden aufschlug.
Panisch schrie ich auf, stolperte und fand mich Sekunden später inmitten der stinkenden Brühe wieder. Da, wo meine Haut mit ihr in Kontakt kam, fing es sofort an zu jucken, und meine Augen begannen zu tränen. Wenn Erik nicht gewesen wäre, hätte ich gar nichts mehr verstanden. Er zog mich wie eine Marionette zurück auf die Beine und dirigierte mich zu einem Waschbecken. „Affen“, sagte er und zeigte dabei hinter sich. „Ich glaube, es sind Kapuziner oder so was Ähnliches.“ Während ich mir die Hände im viel zu heißen Wasser verbrühte, sprang einer der Affen Erik an und verkrallte sich in seiner Schulter. Erik schüttelte das Tier ab und fing an, lautstark loszufluchen.
„… erstes Date …“, glaubte ich herauszuhören. Er hob eine noch intakte Phiole vom Boden auf und warf sie in die ungefähre Richtung mehrerer Affen. Die Tiere sprangen kreischend auseinander und verkrochen sich hinter umgestürzten Tischen und Stühlen.
„Warte hier“, gab Erik mir auf und machte sich daran, den klagenden Lauten zu folgen, die nach wie vor zu uns vordrangen. Nachdem ich sicher war, das klebrige Zeug endlich los zu sein, ging ich ihm trotz seiner Anweisung nach und fand ihn bei einem umgekippten Wandregal, welches meinen Bruder unter sich begraben hatte.
„Alex!“, schrie ich mir beinahe die Lunge aus dem Hals. Ich ging in die Hocke und starrte mit wachsender Angst in seine trüben Augen. Als er blinzelte, entfuhr mir ein erleichterter Seufzer.
„Du musst mir helfen, ihn da rauszuziehen“, sagte Erik ächzend und versuchte, mit aller Kraft das Regal anzuheben. „Sobald ich ‚jetzt‘ sage, ziehst du mit aller Kraft, greif ihm am besten unter die Arme.“
Ich nickte knapp und tat wie mir geheißen, dabei jammerte ich immer wieder Alex’ Namen und konnte vor lauter Tränen nur noch verschwommen sehen. „Dass du auch immer so einen Mist abziehen musst!“
Erik ging wie ein kanadischer Gewichtheber in die Hocke, griff unter das Regal und spannte seine Muskeln an. Dann drückte er sich mit den Knien nach oben und lief dabei so dermaßen rot an, dass ich Sorge hatte, er könnte ohnmächtig werden. „Jetzt“, presste er durch die Zähne hervor und gab mir damit das Zeichen, Alex aus seiner Misere zu befreien.
Es gelang direkt beim ersten Versuch, und als er so vor mir lag, die Hände unschuldig von sich gestreckt, hätte ich diesem Idioten am liebsten eine verpasst und ihn anschließend tröstend in die Arme genommen. Auch Erik ging jetzt in die Knie und betrachtete den wieder zu sich kommenden Alex mit einer Mischung aus Erleichterung und nur schwer zu bändigender Wut.
„Nichts gebrochen“, erklärte ich leise ausatmend. „Er hat verdammtes Schwein gehabt.“ Erik knackte mit den Fingergelenken. „Davon bekommt man Arthritis“, meinte ich automatisch und erinnerte mich daran, dass Dad das immer zu uns gesagt hatte.
Erik öffnete bereits den Mund, um etwas zu erwidern, als Alex sich stöhnend aufrichtete und uns aus zusammengekniffenen Augen anstarrte. „Was macht ihr denn hier?“, stieß er krächzend hervor und rieb sich den Hinterkopf. Das Haar stand ihm zu allen Seiten vom Kopf ab und erinnerte in gewisser Weise an die Frisur eines Kapuzineräffchens.
„Wir haben ein Date“, grummelte Erik und bedachte meinen Bruder mit einem solch finsteren Blick, dass dieser beschämt zu Boden schaute. „Wärst du vielleicht so freundlich, mir und deiner Schwester zu erklären, welcher …“, er wollte „Affe“ sagen: „… Teufel dich geritten hat, so einen Blödsinn abzuziehen?!“
„Wo ist Cage?“, stellte Alex die Gegenfrage – ein Verhalten, das mich nur noch wütender machte.
„Dein lieber Cage“, erwiderte ich aufgebracht und kniff ihm in den Arm, „hat sich mit seinen Freunden abgesetzt, kaum dass du durch das eingeschlagene Fenster gestiegen warst. Er hat dich angeschmiert, lieber Bruder.“
Alex’ Augen wurden groß. „Du lügst doch“, murmelte er und fasste sich mit schmerzverzerrter Miene an die Schulter. Mir fiel ein dunkler Blutfleck auf, aber bevor ich ihn darauf ansprechen konnte, stand er bereits wieder auf den Beinen. „Cage hat mir versprochen, mich nach vollendeter Mutprobe in die Clique aufzunehmen. Und das habe ich doch geschafft, oder?“
„Wir sollten ihn in ein Krankenhaus bringen, damit man sein Gehirn checkt“, sagte Erik kopfschüttelnd.
„Es würde mich wundern, wenn er überhaupt eins hat“, gab ich ebenfalls kopfschüttelnd zurück. „Lasst uns verschwinden, solange wir noch können. Wir haben Glück, dass sämtliche Häuser in der Nähe unbewohnt sind, sonst hätte man längst die Polizei benachrichtigt.“ Auf dem Weg nach draußen fiel mein Blick auf einige Glassplitter, die nicht zu den übrigen passten. Ich suchte nach der Quelle und stellte schließlich fest, dass sie von einem zerbrochenen Oberlicht stammen mussten, das sich in einer Höhe von circa fünf Metern befand. Während ich noch darüber nachdachte, wie es meinem Bruder gelungen war, etwas so hochgelegenes zu beschädigen, glaubte ich eine Sekunde lang, eine Bewegung wahrzunehmen. Ein Umriss, der sich vor dem nachtschwarzen Hintergrund abzeichnete. Hastig trat ich ein paar Schritte zurück, musste aber feststellen, dass da nichts war außer dem zerstörten Oberlicht.
„Sarah?“
„Ich komme schon“, sagte ich leicht verwirrt und schloss zu den beiden Jungs auf.
„Alles in Ordnung?“, wollte Erik wissen.
„Meine Augen haben mir wohl einen Streich gespielt“, sagte ich schnell und ertappte mich dabei, wie ich insgeheim an meinen eigenen Worten zweifelte.
Erik bestand darauf, mich und meinen Bruder bis zu unserem Haus zu begleiten. Leicht benebelt trottete Alex hinter uns her. Dass Cage ihn an der Nase herumgeführt hatte, hatte ihm offensichtlich die Sprache verschlagen. Klar tat er mir leid, aber ich war mir auch ziemlich sicher, dass er in Zukunft besser auf sich achtgeben würde.
„Er führt da bestimmt Tierversuche durch“, stellte Erik leise fest und spielte damit auf den kleinen Zoo an, den wir entdeckt hatten. „Dieser Simon muss schon ein seltsamer Kerl sein.“
„Wem sagst du das?“, bestätigte ich diese Mutmaßung. „Wer weiß, was er den kleinen Äffchen angetan hat.“
„So harmlos wirkten die auf mich gar nicht.“
Erleichtert stellte ich fest, dass Moms Wagen nicht vor unserem Haus stand. Offenbar lief ihr Date um einiges besser als mein eigenes. Dennoch beschlich mich ein mulmiges Gefühl, als ich daran dachte, mit wem sie zu dieser späten Stunde um die Häuser zog. Es gab unzählige Singlemänner, und meine Mom musste ausgerechnet mit einem Typen ausgehen, der Tierversuche durchführte.
Ich warf einen Blick zurück und erwischte Alex dabei, wie er sich die Schulter massierte. „Wurdest du gebissen?“, wollte ich wissen und musste schlagartig an Tollwut denken.
„Nur ein wenig verrenkt.“ Er vollführte eine theatralische Bewegung und spielte pantomimisch seinen kleinen Unfall mit dem Wandregal nach. „Ist morgen bestimmt wieder gut.“
Er verheimlicht mir etwas, dachte ich noch, als Erik mir plötzlich seine Hand auf die Schulter legte und mich nah zu sich heranzog.
„Morgen Abend Kino? Den Film kannst du aussuchen“, raunte er mir verschwörerisch zu. Ich bekam dabei eine Gänsehaut, was aber nicht unangenehm war, und akzeptierte die Einladung freudig nickend. „Das zweite Date soll eh immer besser sein als das erste“, fügte er noch hinzu und tippte sich dabei schelmisch gegen die Nasenspitze.
Als Alex uns überholte, meinte er kopfschüttelnd: „Nehmt euch bitte ein Zimmer. Das ist ja nicht mit anzusehen.“
„Neidisch?“
Mein Bruder blieb stehen und warf mir einen genervten Blick zu. „Ich gehe mich dann mal aufs Ohr hauen.“ Er war definitiv zu kaputt, um sich jetzt mit mir zu zanken.
„Tu das“, sagte ich. „Aber spring vorher noch unter die Dusche, wer weiß, was das für Chemikalien …“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung und schloss die Haustür auf.
„Dein Bruder weiß, wie man sich Freunde macht“, bemerkte Erik zähneknirschend, nachdem Alex das Haus betreten hatte. „Das nächste Mal würde ich ihn einfach unter dem Regal liegen lassen.“
„Er hatte es die letzten Jahre nicht leicht.“
„Weil euer Dad gestorben ist?“
Überrascht sah ich ihn an. „Du scheinst ja bestens informiert zu sein.“
Er lächelte sanft. „Ich bin kein Stalker, aber ich kenne sehr viele Leute, da ist es nicht verwunderlich, dass man früher oder später das eine oder andere aufschnappt.“
„War keine schöne Zeit“, sagte ich leise und schauderte, als die alten Erinnerungen wieder hochkamen. Die Verzweiflung, der ganze Schmerz. „Alex hat ihn verehrt …“
„Irgendwann heilt jede Wunde. Egal ob seelischer oder körperlicher Natur.“
„Schön wär’s.“
„Zum Glück gibt es die Möglichkeit, den Heilungsprozess zu beschleunigen.“
Ich sah ihn direkt an. „Jetzt bin ich aber neugierig.“
„Einer meiner Großonkel hat mir nach dem Tod seiner Frau erzählt, dass er ihr am Totenbett versprechen musste, seinen Humor beizubehalten.“
„Weil Lachen die beste Medizin ist?“
Er schüttelte den Kopf. „Er war Clown von Beruf und ohne Humor hätte er seinen Job verloren.“
Entgeistert riss ich die Augen auf. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“
„Doch.“
„Aber …“
Als er anfing zu grinsen, verpasste ich ihm einen sanften Schubs. „Darüber macht man keine Witze“, bemerkte ich übertrieben pikiert, musste aber selbst grinsen.
„Nein?“
„Nein.“
Wir sahen einander an. Wussten beide, was jetzt passieren würde. Was einfach passieren musste.
„Allein für diesen Augenblick hat sich die gebrochene Nase gelohnt“, sagte Erik lachend, dann beugte er sich vor und küsste mich so leidenschaftlich, wie ich es mir immer erträumt hatte.
Das war der perfekte Abschluss eines nicht ganz so perfekten Abends.