4. Ohne Moral
Ich erwachte gegen Mittag des nächsten Tages. Mein Schlafrhythmus war noch nicht umgestellt auf die bei Vampiren übliche Umkehrung von Tag und Nacht. Ich fühlte mich schon viel besser als kurz nach der Verwandlung. Wie immer nach dem Aufwachen tastete ich mit meiner Zunge nach meinen Fangzähnen. Sie waren eingefahren, so wie immer und meine Fänge ebenfalls. Wenigstens hier hatte sich nichts verändert. Ich sah auf mein Handy, das auch schon wieder eine neue Nachricht von Nicholas enthielt.
Diesmal schrieb er:
"Wenn es sein muss, fahre ich bis ans Ende der Welt, um dich zu sehen. Sag mir wo du bist!"
Die Sache wurde immer dringender. Ich musste heute noch mit dem Fürsten sprechen, ob ich den Clan für ein paar Tage verlassen konnte. Schließlich konnten sie mich ja nicht gefangen halten. Ich war freiwillig zu ihnen gekommen, sie mussten meine Wünsche respektieren. Außerdem war ich ja das neue Oberhaupt der Familie, wenn ich das richtig verstanden hatte. Ich war schon ziemlich stolz, dass man mich zur Vereinigung der Familien brauchte. Was mir allerdings in Gradara noch bevorstehen würde, davon hatte ich keine Ahnung. Aber nach Italien umzusiedeln, gefiel mir richtig gut. Ich hoffte, das Gradara am Meer lag.
In der Zwischenzeit hatte ich geduscht und suchte nach Kleidung, denn ich konnte doch unmöglich dieses aufreizende schwarze Kleid wieder anziehen. Ich wollte etwas ganz Normales, doch meine Sachen passten irgendwie nicht hierher. In meinem kleinen Koffer waren Shorts und Trägershirts, doch dann fand ich den einzigen Rock, den ich besaß. Er war zwar ziemlich kurz, aber immerhin schwarz. Dazu zog ich eine hellblaue Hemdbluse an, die ich nur für Regentage eingepackt hatte. Hier unter der Burg war es kalt, doch das machte mir nichts mehr aus. Meine Körpertemperatur war stark abgesunken, denn das Wasser, das aus der Dusche kam, hatte mich fast verbrüht, ich musste es ganz kalt stellen. Ich stellte mich vor den Spiegel und war ganz und gar unzufrieden mit meiner Kleiderwahl. Das sah so bieder aus, als ob ich ins Büro gehen wollte.
Dann klopfte es an meiner Türe. Ich ging hin und öffnete sie einen Spalt. Draußen stand Lucrezia. Sie sah etwas zerzaust aus mit ihren blonden Locken.
"Willst du hereinkommen?", fragte ich sie höflich.
"Ja, gerne", sagte sie und schlüpfte durch den Türspalt. Sie ging im Zimmer umher und sah sich alles an. Ich setzte mich auf mein breites Bett und wartete. Sie drehte sich zu mir um.
"Weißt du", sagte sie mit ihrer leisen Stimme,
"ich bin so froh, dass du zu uns gekommen bist. Ich habe keine richtige Freundin und nur meine Mutter oder auch deine Mutter sind Frauen, die mich nicht verstehen." Ich wusste nicht, worauf Lucrezia hinauswollte. Sie kam zu mir aufs Bett und setzte sich ans Fußende, sie lehnte sich an den Bettpfosten und sah mich verträumt an. Sie trug ein graues Leinenkleid, das roséfarbene Blüten aufgedruckt hatte. Die Farben waren sehr zurückhaltend, aber ihre Figur kam darin gut zur Geltung. Der Ausschnitt war ziemlich tief und zeigte ihren zarten Brustansatz. Sie duftete nach Veilchen.
"Kann ich irgendetwas für dich tun?", fragte ich um die Stille zu unterbrechen. Lucrezias Blick wanderte verlegen von mir zur Türe und wieder zurück. Dann fasste sie sich ein Herz und sagte:
"Es ist wegen Lorenzo."
"Ach ja, und was ist mit ihm?".
"Er hat die Nacht mit mir verbracht und ich bin nicht sicher, ob es ihm wirklich gefallen hat, denn er hat mich verlassen, um mit den anderen zur Jagd zu gehen. Wahrscheinlich habe ich alles falsch gemacht."
So viel Vertrauen ehrte mich, aber was sollte ich ihr nur sagen?
"Du meinst er hat mit dir geschlafen und ist dann einfach weggegangen?"
Wenn Lucrezia hätte rot werden können, dann wäre das sicher geschehen, doch sie sah nur beschämt auf ihre Hände."
"Es war das erste Mal!",
sagte sie dann so leise, dass ich es kaum verstehen konnte.
"Du warst noch Jungfrau?", fragte ich ungläubig.
"Du bist doch schon so alt!" Oh, das war mir so rausgerutscht. Ich hätte mich dafür ohrfeigen können. Sie sah mich mit ihren wasserblauen Augen erstaunt an. Doch dann stand ich auf und legte meinen Arm um sie.
"Verzeih mir", sagte ich,
"ich habe nicht daran gedacht, dass du noch sehr jung warst, als man dich zum Vampir machte. Doch du solltest dir keine Sorgen machen. Er kommt bestimmt wieder zu dir und beim nächsten Mal geht es schon besser."
"Er hat gesagt ich bin eine kindische Göre, die erst lernen muss, was ein Mann braucht, dann hat er mir die Kleider vom Leib gerissen und mir die Augen verbunden. Er hat sich einfach auf mich geworfen und hat seinen Penis…" Lucrezia begann zu schluchzen. Dann sagte sie leise:
"Als ich laut aufgeschrien habe, hat er gesagt, er hört erst wieder auf, wenn ich mich nicht mehr wie eine unreife Jungfrau benehme. Er war so grob zu mir und es hat richtig wehgetan. Ich hatte große Lust ihn zu beißen, aber unter Vampiren tut man das ja nicht." Lucrezia weinte jetzt lautlos und große Tränen rannen über ihre weißen Wangen.
"Manche Männer sind einfach zu ungeduldig.", sagte ich, um sie zu beruhigen. "Du musst ihm das nächste Mal sagen, was du von ihm willst. Er muss dich erst in Stimmung bringen, anstatt über dich herzufallen. Nicht du, sondern er ist unreif!" Lucrezia schluckte noch immer heftig und wischte sich die Tränen mit ihrem Ärmel ab.
"Aber er gefällt mir doch so gut!", sagte sie weinerlich. Ich wagte nicht zu fragen, wie die Sache zu Ende gegangen war, doch anscheinend wollte sie es mit ihm wieder versuchen.
"Lass ihn einfach etwas zappeln", sagte ich,
"wenn er dann wieder mit dir schlafen will, sagst du ihm dass es nur nach deinen Regeln geht", dann wird er sich schon daran halten.
"Glaubst du, er wird sich wieder auf mich werfen und mich mit diesem Ding…." Sie begann wieder zu schluchzen.
"Vielleicht musst du ihn einfach bitten, dir nicht weh zu tun." Ich war mir zwar nicht sicher, dass das viel Wert hatte, aber die Kleine tat mir leid.
"Du bist doch nicht etwa in ihn verliebt?", fragte ich nach.
"Ich habe ihn gestern auch zum ersten Mal gesehen, er war nur wegen deiner Umwandlung da und wird bald wieder abreisen. Er gehört zu den Viscontis, die noch einen kleinen Clan in Fano haben, das ist in der Nähe von Gradara."
"Ach so, ein Visconti, dann ist Silvio, der mir das Blut gegeben hat, sein Bruder?"
"Ja, sein älterer Bruder. Lorenzo wurde mit 18 Jahren zum Vampir." Das erklärte natürlich die Unerfahrenheit, mit der Lorenzo vorgegangen war. Vielleicht war es gut, wenn er bald wieder verschwand. Lucrezia würde sicher einen anderen finden, der sie besser behandelte. Ich versuchte sie zu trösten indem ich ihr sagte, dass auch ich zuerst wenig Spaß am Sex hatte, aber dass es mit dem richtigen Mann besser klappen würde.
"Bitte erzähle Orlando nichts davon, denn er hat all die Jahre auf mich aufgepasst und verhindert, dass ich meine Jungfräulichkeit verliere. Aber jetzt ist es eben passiert."
Inzwischen hatte sie sich wieder etwas beruhigt und ihre Tränen waren versiegt.
"Weshalb hat er auf dich aufgepasst, ausgerechnet er?" Ich konnte einen sarkastischen Unterton nicht unterdrücken.
"Er hat mich damals zum Vampir gemacht", sagte Lucrezia ohne Umschweife.
Aber ich kann dir diese Geschichte jetzt nicht erzählen." Sie schniefte schon wieder. Um sie abzulenken sagte ich:
"Du hast ein hübsches Kleid an, ich komme mir dagegen richtig schäbig vor. Lucrezia sah mich taxierend an, dann sagte sie:
"Komm, lass uns in die Kleiderkammer gehen. Hat dir denn noch niemand gezeigt, wo du schöne Sachen finden kannst. Wir haben einen riesigen Fundus von Gradara mitgebracht. Da gibt es sogar Kleider, die mehr als zweihundert Jahre alt sind und noch immer wunderschön. Aber wir haben auch moderne Sachen."
"Wo bekommt ihr denn diese Sachen her?", fragte ich neugierig.
"Dafür ist ein Vampir verantwortlich, der in München eine Boutique leitet. Er schickt uns manchmal ausgefallene Einzelstücke, die keine Käufer finden, weil sie entweder zu extrem oder zu teuer sind."
Lucrezia war aufgesprungen und ging mir voran den langen Gang hinunter bis zu einer unscheinbaren Türe. Wir mussten den Kopf einziehen, um einzutreten. Sie drückte mehrere Lichtschalter und eine lange Reihe von Neonröhren flammte auf. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Viele Kleiderständer in Reih und Glied nach Farben sortiert standen in diesem großen Gewölbe, das sich im hinteren Teil noch zu verzweigen schien.
"Komm", sagte Lucrezia,
"ich zeige dir, wo die modernen Sachen hängen."
Wir gingen vorbei an wunderschönen Seidenroben mit Pelz besetzt, Marabufedern, Mäntel aus Brokat und anderen wertvollen Materialien, die ich gar nicht kannte. Es war wie im Märchen. Ich musste immer wieder verschiedene Sachen anfassen, fühlen, um welche Stoffe es sich handelte. Sogar eine Abteilung für Hüte und Schuhe gab es. Doch Lucrezia ging zielstrebig voraus in den hinteren Teil der Kammer. Dann blieb sie stehen und machte mit der Hand eine weit ausholende Bewegung.
"Hier findest du alles, was du brauchst", sagte sie triumphierend.
"Die alten Sachen da vorne können wir unseren Müttern überlassen, die passen da besser hinein!"
Wir begannen beide die Kleiderständer zu durchforsten und legten verschiedene Hosen, Röcke, Kleider und Shirts auf ein altes Sofa, das in der Ecke stand. Dort war auch ein großer, fahrbarer Spiegel für die Anprobe.
"Eigentlich brauche ich zuerst Unterwäsche", sagte ich zu Lucrezia.
Sie drehte sich um und öffnete die Schublade einer Kommode:
"Voilà! Es dürften keine Wünsche offen bleiben." Ich suchte mir eine Corsage aus und dazu passende Strings und dünne Seidenstrümpfe mit Spitzenabschluss. Lucrezia lächelte mich an und sagte:
"Dein Geschmack ist wirklich außergewöhnlich. Aber du kannst das ja tragen!"
"Du doch auch", antwortete ich. Doch Lucrezia zog die Mundwinkel nach unten.
"Ich habe zuwenig Busen! Und ich fürchte, da wird sich auch nichts mehr ändern!"
"Da könnte ich dir gerne etwas abgeben!", sagte ich, doch ich war eigentlich stolz auf meine festen und üppigen Brüste, die bisher alle Männern, die ich kennen gelernt hatte in Aufregung versetzten. Als ich meinen Rock auszog, um den String und die Strümpfe anzuziehen, entdeckte Lucrezia mein Tattoo.
"Oh", sagte sie,
"du bist tätowiert. Jetzt verstehe ich, warum Orlando bei deiner Umwandlung immer wieder unter das Laken sehen musste, das sie über deinen Unterkörper gelegt hatten."
"Wie? Du meinst die haben mich während der Umwandlung ausgezogen?"
"Na ja, es hätte ja passieren können, dass man deinen Brustkorb öffnen muss oder etwas in der Art!"
Ich sah Lucrezia mit offenem Munde an. Diese Prozedur war also doch gefährlich gewesen, man hatte es mir nur nicht gesagt.
"Es war ja immer ein Arzt da, der eingegriffen hätte", sagte sie, um mich zu beschwichtigen. Ich schüttelte nur den Kopf. Ich würde meinen Vater noch Mal zu dieser Sache zur Rede stellen. Ich stand wieder auf, um weiter nach Kleidung zu sehen. Wir fanden einige Sachen, die mir wie angegossen passten, doch es war nichts dabei was wirklich 'alltäglich' war. Es gab nur Designerkleidung. Schließlich zog ich ein dunkelblaues Paillettenkleid an, das einen tiefen Rückenausschnitt hatte und so eng saß, dass bei jeder Bewegung Lichtblitze aufzuckten. Lucrezia war beigeistert.
"Das wird den Vampiren gefallen, und besonders Orlando.", sagte sie mit einem schelmischen Lächeln.
"Er steht auf dich!" Ich drehe mich noch vor dem Spiegel hin und her und versuchte dabei in ein Paar Sandalen zu steigen, die mir Lucrezia gebracht hatte. Dann rafften wir die Sachen zusammen, um sie in meinen Salon zu bringen.
Ich hatte schon lange kein Blut mehr bekommen und das Gefühl in meiner Brust wurde immer stärker. Ich brauchte dringend etwas, um nicht völlig apathisch zu werden. Deshalb sagte ich zu Lucrezia:
"Meinst du es gibt irgendwo etwas Vernünftiges zu trinken?" Ich vermied es nach Blut zu fragen.
"Du meinst das, was wir Vampire so lieben?" Ich musste lachen. Sie war so erfrischend ehrlich, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen und gedrückt hätte. Vielleicht würde sie doch meine Freundin werden.
Im Refektorium stand in einem Kühlschrank, der als Einbauschrank getarnt war, eine große Karaffe mit dem flüssigen Stoff, der für mich jetzt so wichtig war.
Lucrezia schenkte uns beiden große Gläser ein und wir prosteten uns zu und tranken beide in vollen Zügen das wunderbare Getränk.
"Wo ist denn die restliche Familie?", fragte ich Lucrezia. Doch sie zuckte nur mit den Schultern.
"Normalerweise schlafen die jetzt alle, aber ich brauche nicht so viel Schlaf wie die anderen, ich gehe ja auch nicht mit auf die Jagd. Sie sagen immer, ich verderbe ihnen den Spaß!"
"Und was meinen sie damit?" fragte ich nach.
"Na ja, ich sehe eben zu jung aus und wenn sie in eine Disco oder ein anderes Lokal gehen, muss ich manchmal draußen bleiben und das ist dann immer schwierig. Außerdem sind die Mädels dann misstrauisch, wenn eine Frau dabei ist."
"Du meinst, sie jagen in Discos?" Genau wie ich in meinem früheren Leben. Was würden sie machen, wenn ich mit ginge? Ich sagte zu Lucrezia:
"Dann müssen eben wir beide Mal losziehen, zu zweit kommen wir in jede Disco, das verspreche ich dir. Wir brauchen die Männer nicht. Wir suchen uns dann jede ein geeignetes Opfer und beißen zu! Darauf freue ich mich schon jetzt."
Lucrezia strahlte mich an. Sie sagte:
"Ja, denen werden wir es zeigen. Ich möchte auch frisches Blut und nicht diese ewigen Konserven!"
Jetzt hatte ich eine Verbündete.