3. Jung, sexy - unsterblich
Das Refektorium war fast leer, an einem kleinen Tischchen saß Lucrezia mit einem männlichen Vampir, der sich mir noch nicht vorgestellt hatte. Ich ging quer durch den Raum auf die beiden zu, die sich, als ich kurz vor ihnen stand, in aller Eile erhoben und mich erwartungsvoll ansahen. Sie hielten ihren Blick gesenkt, was mich völlig irritierte, dann erinnerte ich mich an Orlandos Worte: Du bist jetzt die Fürstin. Gut, dann musste ich wohl zuerst das Wort an sie richten.
Es fiel mir schwer, die angespannte Stille zu durchbrechen, doch ich nahm meinen ganzen Mut zusammen:
"Liebe Schwester", sagte ich möglichst liebevoll,
"willst du mir nicht diesen Herrn vorstellen?" Lucrezia erwachte aus ihrer Starre und antwortete:
"Das ist Lorenzo, unser Cousin ersten Grades, er ist in Gradara geboren, also ein Einheimischer, wenn man so will." Lorenzo reichte mir die Hand, die ich gerne ergriff. Er sah mich dabei etwas schüchtern an, seine dunklen Locken umrahmten ein zartes, fast weibliches Gesicht und seine langen Wimpern beschatteten seine Wangen. Ein hoch geschwungener Jochbogen verlieh seinem Gesicht einen aristokratischen Ausdruck. Er war mir vorher schon im Kreis der Vampire aufgefallen, weil er als einziger ein helles Hemd unter dem schwarzen Anzug trug. Neben Lucrezia wirkte er wie ein Riese, doch er war nicht viel größer als ich. Seine dünnen langen Finger hatten sich in meiner Hand knochig angefühlt und ich sah, dass er am linken Ringfinger den gleichen Ring trug, den wir im Burghof gefunden hatten. Es schien der Siegelring der Gradaras zu sein. Lorenzo schien meinen Blick bemerkt zu haben, denn er sagte:
"Wir Gradaras haben eine Schwäche für schönen Schmuck." Mit diesen Worten schob er seine Manschette zurück und zeigte mir ein Armband, das aus goldenen Gliedern bestand, die durch quadratisch geschliffene rote Steine unterbrochen wurden. Es war wunderschön und umschloss sein knochiges Handgelenk nur locker. Ich war versucht, es anzufassen, nahm mich aber letzen Moment zusammen und sagte anerkennend:
"Ist Rot die Farbe der Gradaras?" Bevor Lorenzo mir antworte konnte, mischte sich Lucrezia ein.
"Hast Du den Familienschmuck noch nicht bekommen?", fragte sie neugierig, dann hielt sie sich schnell die Hand vor den Mund.
"Oh", das hätte ich dir nicht verraten sollen, unsere Mutter wird ihn dir übergeben und es sollte eine Überraschung sein." Sie blickte mich mit ihren großen Augen fragend an.
"Ich werde mich überraschen lassen", antwortete ich schnell und legte ihr besänftigend meine Hand auf den Arm.
"Ich kann schweigen wie ein Grab", fügte ich hinzu. Die beiden lächelten mich befreit an.
"Wenn du in Gradara geboren bist, warum sprichst du dann so gut Deutsch?" fragte ich Lorenzo.
"Ich habe in Deutschland Geschichte und Politikwissenschaften studiert", gab er mir bereitwillig Auskunft.
"Seit unsere Familie ins Exil geriet, haben wir fast 60 Jahre in Deutschland verbracht, deshalb sprechen alle aus dem Clan mehr oder weniger gut Deutsch. Natürlich sind wir im Herzen Italiener geblieben." Er berührte mit einer Faust seine linke Brust.
Oh Gott, sie waren ja alle so alt. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Erst jetzt glaubte ich zu verstehen, warum sie es so eilig hatten, mich umzuwandeln. Vermutlich war ich die letzte aus dem Clan, die für Nachfahren sorgen konnte, ich war jung genug, Kinder zu bekommen. Doch diesen Gedanken verdrängte ich sofort wieder. Als Vampir bekam man wahrscheinlich keine Kinder, ich war jedenfalls nicht darauf aus, schwanger zu werden. Wahrscheinlich wurden immer wieder Menschen durch Bisse in Vampire verwandelt, so war jedenfalls die Meinung der Leute, die ich bisher kannte.
Die Familiengeschichte der Gradaras hielt sicher noch einige Überraschungen für mich bereit.
Ich sah auf meine Uhr: sie zeigte 0 Uhr 30. Orlando stand noch immer dicht hinter mir, ich hatte ihn für einen Moment vergessen. Ich drehte mich zu ihm um und sagte: "Sind die anderen alle auf der Jagd, oder wohin sind sie verschwunden?" Orlando antwortete:
"Die Jagd beginnt normalerweise bereits um 23 Uhr, aber heute sind wir alle spät dran, ich werde deshalb auch hier bleiben. Deine Umwandlung hatte Vorrang und schließlich können wir auch eine Zeit von unseren Reserven leben. Man braucht nicht täglich frisches Blut. Und je älter ein Vampir wird, desto besser hat er seinen Durst im Griff." Ich sah ihn zweifelnd an, dann fragte ich:
"Wie alt bist du eigentlich?"
"Älter als alle hier anwesenden", gab er mir ausweichend zur Antwort. Doch ich ließ mich nicht so leicht abspeisen.
"Mehr als 100 Jahre?", fragte ich neugierig nach. Orlando lachte laut auf.
"Ja, viel mehr", sagte er dann freimütig.
"Da du es genau wissen willst: ich bin 350 Jahre alt." Das mit den 100 Jahren war von mir eigentlich nur als Spaß gemeint, doch 350 haute mich echt um.
"Du meinst, du hast noch den Napoleon erlebt, war das nicht so um 1700?" Ich konnte es kaum fassen, doch Geschichte war nie meine Stärke gewesen. Vielleicht lag ich ja falsch. Orlando lächelte vielsagend. Sein Blick war in weite Ferne gerückt. Er sagte:
"Es stimmt, doch ich bin ihm zum Glück nie begegnet, zu dieser Zeit war ich in London und dort waren die Zustände wirklich superb. Die beste Phase meines Lebens!"
"Als Vampir?", wollte ich wissen. Orlando nickte.
"Dort wurde ich verwandelt durch den Biss einer Adeligen. Gradara kam erst viel später – aber das ist eine andere Geschichte!"
Diese Art von Neuigkeiten musste ich erst verdauen. Die Langlebigkeit von Vampiren, oder besser gesagt: die Unsterblichkeit war so ein Begriff, den ich zwar kannte, doch wirklich verstanden was das heißt, hatte ich erst jetzt. Das würde bedeuten, dass ich die nächsten Jahrhunderte, egal was kam, egal wie sich die Welt entwickelte, immer dabei war. Bis zum nächsten Krieg und vielleicht darüber hinaus. Orlando musste meine Gedanken gelesen haben, denn er sagte:
"Du bist jetzt jung und du wirst es für immer bleiben. So schön, so begehrenswert und so sexy." Das 'sexy' sagte er so leise, dass nur ich es hören konnte. Lucrezia und Lorenzo waren selbst in ein Gespräch vertieft. Mit einem Seitenblick auf Lucrezia sagte ich:
"Und was ist mit ihr, wie alt ist sie?
"Sie wurde mit 15 verwandelt, und 15 ist sie natürlich noch immer, aber das ist auch schon mehr als 200 Jahre her. ´
"Und", er senkte die Stimme zu einem Flüstern:
"Sie hat leider seitdem nicht viel dazu gelernt!" Lucrezia war wirklich ein süßes Geschöpf. Sie blickte mit ihren hellblauen leuchtenden Augen so arglos in die Welt, dass man niemals darauf kommen würde, sie könnte ein Vampir sein.
Ich war plötzlich erschöpft vom vielen Reden und sicher auch noch von der anstrengenden Verwandlung. Deshalb sagte ich zu Orlando:
"Du musst mich jetzt entschuldigen, ich möchte mich zurückziehen. Es war einfach zu viel für mich!" Er sah mich verständnisvoll an und bot mir seine Begleitung an, doch ich sagte:
"Danke ich finde selbst hinauf in meinen Salon. Gute Nacht, bis morgen!" oder was wünscht man sich in Vampirkreisen?
Mein Handy lag auf meinem Nachttisch. Ich nahm es in die Hand und sah, dass sich mehrere Nachrichten angesammelt hatten. Drei stammten von Nicholas, eine von Ikarus und eine von Mareike. Ich las zuerst die von Nicholas. Er teilte mir mit, dass er mich unbedingt nächste Woche wiedersehen wollte. Seine letzte SMS gipfelte in der Aussage:
"Du kannst Dich nicht vor mir versteckt halten. Ich werde dich suchen und finden!" Na super! Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich war ratlos. Hier mitten in Rumänien konnte er mich nicht finden, das war klar. Aber ich wollte ihn auch unbedingt wiedersehen. Ich musste mit dem Fürsten sprechen. Er hatte mir zugesagt, dass ich Nicholas jederzeit sehen könnte. Ich fühlte mich ziemlich mies, wenn ich daran dachte, welche Lügengeschichten ich ihm auftischen musste, um ihn nicht gleich zu verlieren.
Die SMS von Mareike las sich dagegen sehr entspannt. Sie waren noch unterwegs, aber es lief gut und Ben verhielt sich auch wieder normal. Doch die Nachricht von Ikarus machte mich richtig wütend.
Er schrieb:
"Ich fasse es nicht, dass du dich umwandeln lässt. Mit mir wäre alles besser gekommen. Dämonen sind auch nur Menschen! Ich liebe Dich."
Er hatte mich von Anfang an belogen und betrogen. Sein Blut hätte mich schleichend weiter vergiftet, bis ich genau so gewesen wäre wie er. Was hatte er damit nur bezweckt? Vielleicht wusste der Clan mehr über die Absicht eines Dämons?
Ich antwortete Nicholas und schrieb ihm, dass ich schon bald nach München kommen würde, ich bat ihm noch um etwas Geduld: Ich versprach ihm heiße Nächte und viele Küsse. Vielleicht würde er mir verzeihen, dass ich ihn so lange warten ließ. Von meiner neuen Familie schrieb ich ihm noch nichts. Er nahm an, dass ich mit Freunden Urlaub machte und hier in Rumänien Verwandte besuchte. Vorerst wollte ich ihn in diesem Glauben lassen. Ich musste erst selbst mit meinem neuen Leben klarkommen, bevor ich einen Sterblichen einweihen konnte.
Die Nacht war schon fast vorüber, doch ich musste mich endlich schlafen legen. Ich zog das tolle Kleid aus und betrachtete mich nackt im Spiegel. Es war Gott sei Dank nur ein Märchen, dass sich Vampire im Spiegel nicht sehen konnten. Ich sah mich sehr genau und es gefiel mir, was ich dort sah: einen vollkommenen Körper, doch etwas hatte sich verändert. Meine Haut war nicht mehr so rosig, sie war weiß wie Alabaster und glänzte matt. Ich strich mit der Hand über meine Brüste, den Bauch, die Hüften bis zu den Oberschenkeln. Ich konnte nicht sagen, ob sich die Temperatur meiner Haut verändert hatte, aber sie sah wirklich anders aus. Meine Venen zeichneten sich sanft unter der Oberfläche ab und mein Tattoo war nicht mehr so schwarz, es war deutlich heller geworden.
Meine schwarzen Haare machten aus meinem Gesicht ein Schneewittchen mit knallroten Lippen und schwarzen Augen. Das musste den Männern gefallen. So würde ich jetzt die nächsten Jahrhunderte aussehen. Unbeschreibliche Freude stieg in mir auf. Ich hatte dem Alter ein Schnippchen geschlagen. Vielleicht hatte ich doch die richtige Entscheidung getroffen.
Ich ging zum Bett und ließ mich rückwärts auf die Kissen fallen. Ich würde heute Nacht nackt schlafen. Ich freute mich schon darauf, Nicholas auf meinem neuen Körper zu spüren. Ob es ihm auffallen würde, dass meine Haut glatter und schöner geworden war? Er hatte mich bisher nur im Kerzenlicht gesehen, deshalb nahm ich an, dass er vielleicht gar nichts bemerken würde. Jetzt rauschte reines Vampirblut in mir, das mir mehr Kraft und Ausdauer verleihen würde. Er würde sich anstrengen müssen, mich zu befriedigen. Diese Gedanken erregten mich stark und ich spürte, wie mein Körper sich nach seinen Händen und Berührungen sehnte.
Ich war froh, dass ich Orlando eine Absage erteilt hatte, er war sicher mit den Anderen bei der Jagd nach Blut. Wäre er jetzt hier gewesen, hätte ich ihm bestimmt nicht widerstehen können. Mein Verlangen nach Sex war auch nach der Umwandlung nicht weniger geworden, eher noch stärker. Schließlich übermannte mich die Müdigkeit und ich schlief ein.