Leseprobe »Die Akte Aljona«

 

Ein grausam verstümmelter Mann taucht plötzlich halb nackt auf einer Landstraße bei Görlitz auf und behauptet, Stalin wäre für die furchtbaren Misshandlungen an seinem Körper verantwortlich. In Moskau wird ein Junkie vergiftet, in der Schweiz verschwindet eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind spurlos und ein angesehener deutscher Bioinformatiker gerät in Bedrängnis.

Was haben diese Ereignisse im November 2014 mit einem geheimen Forschungsprojekt der Nazis zu tun?

Paul Berens wird von dunklen Mächten quer durch Russland, halb Europa bis nach Pakistan gehetzt. Es geht um viel mehr, als er sich je hätte vorstellen können …

 

Kapitel 1

 

»In der Tierwelt gibt es verschiedene Beispiele für Lebewesen, die nur sehr kurz schlafen. Bei Kälbern diverser Meeresbewohner hat man festgestellt, dass diese im ersten Monat ihres Lebens überhaupt nicht schlafen.

Beim Menschen führt ein Schlafentzug innerhalb weniger Tage zu ernsthaften Problemen. Neben Gedächtnislücken und einer Erhöhung der Reaktionszeit können auch Halluzinationen auftreten.«

 

Moskau, Russland – Oktober 2011, 23.00 Uhr

 

Ungeduldig blickte er auf seine Armbanduhr mit dem kaputten Glas. Er war unruhig und gereizt. Den letzten kläglichen Rest Kokain hatte er schon gestern verbraucht. Aber das spielte keine Rolle mehr, denn heute war der Tag, an dem er das Geschäft seines Lebens machen würde. Dann wäre bald alles wieder so wie früher. Das große Haus, die Autos, die jungen hübschen Frauen auf den Partys, alles würde zu ihm zurückkommen.

Die letzten Monate waren unerfreulich gewesen. Nach den lächerlichen Korruptionsvorwürfen hatte er gehen müssen. Das Geld hatte kaum für die ersten Wochen gereicht, sein Drogenkonsum nahm seither drastisch zu und jetzt war er kurz davor auf der Straße zu landen. Aber er war ein Kämpfer, aufgeben kam für ihn nicht infrage. Und dann hatte er diese Idee gehabt.

Er erinnerte sich an einige verstaubte Kartons, die unbeachtet in den dunklen Kellerarchiven seines ehemaligen Arbeitgebers standen. Längst vergessene kleine Zeitbomben, die ihr Ticken eingestellt hatten und selig vor sich hin schlummerten, bis sie eines Tages wieder jemand aktivieren würde. Innerhalb kürzester Zeit klopfte er den Markt ab. Das konnte er gut, er hatte immer schon gewusst, wie das Prinzip von Angebot und Nachfrage funktionierte. Der Deal war schnell eingefädelt und ein Wachmann, der ihm noch einen Gefallen schuldete, hatte sich als äußerst nützlich erwiesen.

Dieser staubige Karton, den er nun fest umschlungen hielt, war sein Rückfahrtticket in eine bessere Welt.

Endlich tauchte die schwarze Limousine in der verlassenen Nebenstraße auf. Zur Sicherheit prägte er sich das Kennzeichen ein. Vielleicht kann man diese Geschäftsbeziehung noch eine Weile fortbestehen lassen?, dachte er hinterhältig.

Der Wagen hielt jetzt direkt neben ihm. Die Scheibe fuhr automatisch herunter und er reichte den kleinen Karton hindurch. Gierig starrten seine rot geäderten Augen auf den dicken Umschlag, den ihm lange Finger in einem teuren Lederhandschuh entgegenstreckten. Als er die Beigabe, die oben auf dem Kuvert lag, erkannte, war es um seine Beherrschung geschehen.

»Nur ein kleiner Bonus für Ihre guten Dienste!«, sagte eine Stimme aus dem Inneren des Fahrzeuges, »bitte, genieren Sie sich nicht, wir sind doch immerhin Geschäftspartner …«

Der Gedanke war zu verlockend – und was würde es schaden? Hektisch tauchte er das angebotene Röhrchen in das weiße Pulver und spürte kurz darauf das verheißungsvolle Kribbeln in der Nase. Mit einem Seufzer hob er den Kopf und blickte in den Wagen. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Es war eine Mischung aus Ungläubigkeit und Wut, mit der er auf die schwarze Limousine starrte. Eine Sekunde später lief ihm das Blut aus Nase und Mund, während er verzweifelt nach Luft schnappte. Mit einer Hand fasste er nach dem Türgriff der Limousine, aber er konnte ihn nicht mehr greifen. Seine Beine rutschten unter ihm weg und er fiel auf den matschigen Brei aus Zigarettenkippen, Hundekot und Müll, der hier überall auf der nassen Straße verteilt lag. Ein letztes Keuchen quälte sich aus seiner Kehle, dann war es vorbei.

Die Tür des Wagens öffnete sich, der Fahrer stieg aus, griff nach dem Umschlag, murmelte etwas von »Rattengift für die Ratten« und schlüpfte wieder in die Limousine.

Während der Wagen ohne Eile zurück zur Hauptstraße fuhr, wurde der Karton geöffnet. Behandschuhte Finger strichen sanft über das oberste Dokument und die Person auf der Rückbank flüsterte liebevoll: »Aljona!«

 

Drei Jahre später …

 

Ostdeutschland zwischen Hoyerswerda und Görlitz – 11. November 2014

 

Die Landstraße war an diesem trüben Novembermorgen nur wenig befahren. Wie ein feines Netz verteilte sich der Nieselregen auf der geteerten Fahrbahn. Die umliegenden Felder lagen unter einer dünnen Frostschicht. Hier und da lugten noch einige helle Getreidestoppel aus der dunklen Erde, während der für diese Jahreszeit typische Morgennebel gemächlich über den Boden waberte. Eine Gruppe Raben hatte sich auf dem Dach einer alten Scheune versammelt und unterbrach gelegentlich die Stille mit durchdringendem Gekrächze.

Der Mann schien allein. Wie in Trance bewegte er sich auf der zweispurigen Fahrbahn. Seine nackten Füße waren seltsam nach innen verbogen, die Hände gefaltet wie zu einem stillen Gebet, wobei jedoch seine Finger die ganze Zeit hektisch zuckten. Mit schlurfenden Schritten quälte er sich vorwärts. Sein Blick war leer und doch schienen die Augen ein unsichtbares Ziel zu fixieren. Wieder setzte er umständlich einen Fuß vor den anderen. Trotz der Kälte war der Mann lediglich mit einem OP-Hemd bekleidet, deshalb konnte man seine blasse Haut an Armen und Beinen sehen. Bizarr bildeten sich die dicken blauen Venen ab. Der Kopfverband verdeckte fast vollständig sein blondes Haar. Die wenigen sichtbaren Strähnen standen wirr in alle Richtungen. Ohne auf seine Umgebung zu achten, stolperte er weiter. In einiger Entfernung hörte man das Brummen eines Motors. Das Geräusch bewegte sich schnell auf den einsamen »Spaziergänger« zu.

 

Bernd Möring erschrak fast zu Tode, als er seinen Kleintransporter um die Kurve steuerte. Instinktiv trat er auf die Bremse. Sein lautes Hupen ließ die Raben aufschrecken, aber der Mann vor ihm wich nicht aus. Die Straße war nass, das Fahrzeug kam ins Schlingern. Erneut drückte Bernd auf die Hupe und riss hektisch am Lenkrad. Der Wagen ließ sich einfach nicht mehr kontrollieren.

Bremsen, loslassen, bremsen …, dachte der Fahrer. Dann gab es einen dumpfen Schlag und der Transporter kam zum Stehen. Der Schock saß Bernd Möring in den Knochen, trotzdem funktionierte er noch. Er war Berufsfahrer, also führte er instinktiv alle notwendigen Handgriffe aus, auch wenn er hinterher nicht mehr hätte sagen können, wie ihm das gelungen war.

Als er den fremden Mann, der vor seinem Laster lag, erreichte, blieb ihm für einen Moment die Luft weg. Gerade wollte er sich zu ihm herunterbeugen, da fing der Verletzte an sich zu bewegen. Ein Gefühl der Erleichterung erfüllte Bernd. Der Zusammenstoß konnte also nicht allzu schlimm gewesen sein.

Schnell eilte er dem Fremden zu Hilfe: »Bleiben Sie liegen, nicht bewegen!«, rief er besorgt und wollte den Mann sanft stützen. »Es kommt gleich ein Krankenwagen, ich …«

Weiter kam er nicht, denn beim Anblick des Verletzten verschlug es ihm die Sprache. Mühsam richtete sich dieser jetzt auf, stieß einen wilden Schrei aus und riss sich, mit einem Ruck, das OP-Hemd vom Leib. Mit seinen Armen vollführte er groteske Bewegungen und fing an, sich stolpernd im Kreis zu drehen. Die ganze Zeit über gab er markerschütternde Töne von sich, ähnlich einem verletzten Tier, das vor Schmerzen wahnsinnig wurde.

Geschockt starrte Bernd Möring auf den Rücken und die Unterarme des Mannes. An diesen Stellen fehlte Haut und Gewebe. Stattdessen hatte der Fremde dort große, auseinanderklaffende Wunden, an denen noch vereinzelt chirurgische Klemmen hingen. Abrupt blieb der Verletzte stehen, betrachtete seine blanken Knochen und fing an zu weinen. Bernd war wie gelähmt, als der Fremde nun seine Arme hob und anfing, grob an dem Kopfverband zu zerren. Langsam fielen die weißen Mullstreifen auf den Boden. Plötzlich hielt der Verletzte etwas in der Hand. Im ersten Augenblick sah es so aus, als hätte er ein dickes Haarbüschel ausgerissen, aber dann konnte man erkennen, dass seine zittrigen Finger die eigene Schädeldecke umklammerten. Das Gehirn lag völlig frei. Der Lkw-Fahrer hörte das Blut in seinen Ohren rauschen und musste sich übergeben. Fassungslos starrte er auf den Mann, der jetzt in die Knie ging. Das Stück Schädel entglitt seiner Hand und rollte die Straße entlang. Wie ein Kreisel drehte es sich ein paar Mal um die eigene Achse und blieb dann ruhig liegen. Bernd gab sich einen Ruck und näherte sich dem Verletzten.

Mit einer zögerlichen Bewegung griff er nach dem OP-Hemd am Boden und legte es ihm vorsichtig um die Schultern. Kaum wagte er es, den Fremden zu berühren. Unterhalb des Nackens hatte der Mann eine noch frische Narbe, die die Folge einer schweren Verbrennung war.

»Mein Gott, wer hat dir das angetan?«, stöhnte Bernd hilflos. Da hob der andere ruckartig den Kopf. Der Lkw-Fahrer sah direkt in das schmerzverzerrte Gesicht seines Gegenübers, das nur noch wenig Menschliches hatte. Erst blieb der Fremde stumm, dann aber drangen gurgelnde Laute aus seiner Kehle. Irgendwo im Hintergrund hörte man das Geräusch von sich nähernden Fahrzeugen. Bernd Möring hing wie gebannt an den Lippen des Verletzten. Dieser atmete schwer, neigte ein wenig den Kopf und flüsterte: »Stalin …«

 

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