Kapitel 2

 

»Wer mein Blut hat, ist mein Erbe.«

Alter Rechtsgrundsatz

 

Am späten Abend schickte Heerse seine beiden Mitarbeiter nach Hause. Er selbst wollte noch einmal in Ruhe die Berichte und Aussagen studieren. Mittlerweile hatten sie die Bestätigung, dass der zweite Tote besagter Zupf-Hans war.

 

Vor der Tür des Präsidiums wollte sich Lukas Bürg gerade von Dorthal verabschieden, als dieser ihn zurückhielt.

»Was hältst du von einem kleinen Absacker?«

Lukas war zwar verwirrt über das plötzliche »Du« und die vertrauliche Art von Frank Dorthal, aber gleichzeitig freute er sich über den Vorschlag.

Die Eckkneipe nicht weit von ihrer Dienststelle war klein, dunkel und urig eingerichtet. Die Kellnerin stellte Frank ein Weizenbier vor die Nase und lächelte ihm freundlich zu, während sie Lukas mit einem spöttischen Blick einen koffeinfreien Kaffee über die Theke reichte.

»Was hat dich eigentlich in den Südwesten verschlagen?«, fing Frank das Gespräch an.

Lukas hob die Schultern und machte ein beinahe entschuldigendes Gesicht. »Hat sich einfach so ergeben. Sie hätten in Hamburg und hier eine Stelle für mich gehabt und ich habe mich für den Schwarzwald entschieden.« Er nahm einen Schluck von seinem heißen Kaffee und fragte schließlich: »Und du?«

»Oh, ich wollte unbedingt nach Baden-Baden. Meine Großmutter hat in dieser Stadt gelebt und als Kinder waren wir oft bei ihr zu Besuch. Als eine Stelle frei wurde, habe ich mich beworben und ...« Frank nahm einen großen Schluck von seinem Bier, bevor er weitersprach. »Na ja, und von hier ist es auch nicht weit nach Stuttgart.«

Lukas verzog anerkennend den Mund. Sein Kollege wollte also beim Landeskriminalamt Karriere machen.

»Und wo warst du vorher?«

Frank wurde etwas einsilbiger: »Dortmund.«

Kurze Zeit schwiegen die beiden Männer und jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.

»Und, hast du eine Freundin?«, hakte Frank nach.

Lukas schüttelte den Kopf. »Momentan nicht, schließlich bin ich ja erst hierhergezogen. Ich wohne übrigens in der Weststadt.«

Frank unterließ es, sich danach zu erkundigen, ob es denn vor Lukas‘ Umzug eine Frau in dessen Leben gegeben hatte. Stattdessen sagte er nur: »Ah, Weststadt, nicht schlecht.«

»Tja, ist zwar nicht die Lichtentaler Allee ...« Lukas biss sich auf die Lippen. Er hatte natürlich längst aufgeschnappt, was sich die anderen über Frank und seine wohlhabende Frau erzählten. Jetzt lief er rot an.

Frank schien Lukas’ Verlegenheit nicht zu bemerken, sondern schwärmte hemmungslos von seiner traumhaften Wohngegend.

Nach einer Weile verstummte er. Lukas hatte kaum etwas gesagt. Das Gespräch verlief schwerfällig und gekünstelt.

Nach weiteren Minuten des Schweigens kam Frank auf den Fall zu sprechen. »Was hältst du von den Morden?«

Lukas war müde, sein Kopf schmerzte und er wollte nach Hause, deshalb sagte er: »Ehrlich gesagt, fällt mir das Denken langsam schwer.«

Frank orderte ein kleines Pils, während Lukas sich überreden ließ, noch ein Wasser zu bestellen. Es war mittlerweile fast Mitternacht.

»Was hast du heute eigentlich gemeint mit diesem ›Letzten Endes ist jeder in der Lage, sich schuldig zu machen!‹?«

Lukas hob überrascht den Kopf. Für einen Moment glaubte er, dass allein diese Frage der Grund dafür war, warum er hier mit Frank Dorthal saß. Jetzt wollte der junge Kommissar nur noch so schnell wie möglich weg.

»Nichts Bestimmtes, das sagt man doch allgemein so. Jeder ist fähig, schlimme Dinge zu tun, oder etwa nicht?«

Frank starrte seinen Kollegen an und hatte das Gefühl, dass der nicht ehrlich zu ihm war.

»Ich denke, ich mache mich auf den Weg«, sagte Lukas und kramte einen Zehn-Euro-Schein aus der Tasche, »die Getränke gehen heute auf mich. Einstand!«

 

Aber Lukas Bürg fuhr nicht nach Hause, sondern steuerte seinen Wagen in die entgegengesetzte Richtung. Heute war es besonders schlimm. Das Gespräch mit Dorthal hatte ihn verwirrt. Er wäre gerne mehr so wie Frank gewesen. Dieser strotzte geradezu vor Selbstbewusstsein. Darüber hinaus schien ihm alles zu glücken. Im Job lief es für Frank gut, er hatte eine schöne, reiche Frau geheiratet, lebte in einer tollen Wohngegend und brauchte sich über nichts Sorgen zu machen.

Im Hinterkopf hörte Lukas die Stimme seiner Mutter: »Du bist genau wie dein Vater, eines Tages, du wirst schon sehen ...«

Diese Drohung aus Kindheitstagen begleitete ihn immer noch, obwohl seine Mutter mittlerweile seit fünf Jahren tot war.

Er dachte daran, wie er sie gefunden hatte, zwischen all den Gin- und Schnapsflaschen. Totgesoffen! So hatte es der Arzt natürlich nicht ausgedrückt, aber Lukas hatte es ja all die Jahre kommen sehen. Seit sein Vater ...

»Wenn die Kerle ihn nicht mehr hochkriegen, dann werden sie zu schmutzigen, widerlichen Schweinen!«, hatte sie zu Lebzeiten gewöhnlich geplärrt, bevor sie sich mit dem letzten Glas Hochprozentigen endgültig abgeschossen hatte. Lukas hatte ihr dann die Decke über den aufgedunsenen Leib gelegt. Am nächsten Tag war sie stets ungeduldig und übellaunig gewesen, bis ihr der erste Cognac neue Kraft gab. Das Saufen wurde dann irgendwann zur Dauerbeschäftigung, genauso wie die grausamen Beschimpfungen. Tagein, tagaus hatte Lukas das ertragen. Als es dann endlich vorbei gewesen war, hatte sie ihm die Angst hinterlassen. Die Angst, eines Tages so zu werden wie sein Vater.

Wieder hörte er die alkoholgeschwängerte Stimme seiner Mutter: »Wenn du ihn nicht mehr hochkriegst, dann sieh dich vor!«

 

Wohnung von Marion und Frank Dorthal

 

Frank Dorthal hatte sich noch einen Grappa gegönnt und der Bedienung hinter der Theke ebenfalls einen ausgegeben. Der schnelle Aufbruch von Lukas hatte ihn irritiert, genauso wie dessen Bemerkungen. Ihm war dieses Geschwätz auf jeden Fall wie eine Stichelei vorgekommen. Als er sein Auto aufschloss, wurde der Ärger über den jungen Kollegen immer größer. Was bildete sich dieser Anfänger ein. Der konnte doch froh sein, dass ihn Frank überhaupt mitgenommen hatte. Und dann diese großkotzige Geste, die Getränke zu bezahlen. Frank fing an, wütend zu werden. Und wie der Heerse immer an den Lippen von Lukas Bürg hing, wenn dieser wieder irgendeinen Schwachsinn von sich gab.

Franks Ärger verstärkte sich, beinahe hätte er eine rote Ampel übersehen. Als er eine Vollbremsung machen musste, fluchte er laut.

Gegen halb zwei schloss er immer noch schlecht gelaunt die Wohnungstür auf. Im Wohnzimmer nahm er einen großen Schluck Whisky direkt aus der Flasche, dann wankte er ein wenig unsicher hin und her. Schließlich musste er grinsen. So viel Ärger wegen eines Grünschnabels, der ihm sowieso niemals das Wasser reichen könnte.

Seine Laune besserte sich, als er die Schlafzimmertür öffnete. Marion schlief schon. Sie hatte die Decke zur Seite gestrampelt und lag auf dem Rücken. Das Nachthemd hatte sich nach oben geschoben und ihre Brüste schimmerten durch den dünnen Stoff.

Leise rief er ihren Namen, als er sich völlig nackt an sie drückte. Marion öffnete verschlafen die Augen, dann lächelte sie ihren Mann an und flüsterte: »Oh Liebling, schön, dass du endlich da bist.«

Noch ehe sie ihn fragen konnte, wo er denn so lange gewesen war, presste Frank seine Lippen auf ihren Mund und küsste sie leidenschaftlich.

Marion schmiegte sich an ihn. Seine Hände wanderten zärtlich über ihren Körper. Er streifte ihr das Nachthemd über den Kopf. Während sie die Alkoholfahne und den typischen Kneipengeruch ignorierte, den er in ihr Ehebett gebracht hatte, und versuchte seine Liebkosungen zu genießen. Vielleicht würde sie ihn bald fragen, ob sie nicht ein Baby bekommen sollten.

Marion fing gerade an sich zu entspannen, als er sie etwas grober packte und auf den Bauch drehte.

»Ich brauche heute ganz besonders viel Aufmerksamkeit«, raunte er ihr ins Ohr, »ich hatte einen Scheißtag! Willst du mir helfen zu entspannen? Kannst du das für mich tun?«

Marion nickte hilflos, während er anfing, in ihre Schenkel zu beißen. Sie saß mittlerweile wie ein Hund auf allen vieren und fühlte sich nicht wohl dabei. Marion wollte sich schon umdrehen und ihm sagen, dass ihr das nicht gefiel, als er plötzlich von hinten ihre Beine spreizte. Dann leckte er mit der Zunge zwischen ihren Pobacken.

Sie flüsterte kaum hörbar: »Bitte nicht, das ist mir peinlich ...«

Aber Frank hörte nicht auf, sondern stöhnte laut, wie gut sie wäre und dass er sie bräuchte, also ließ sie ihn weitermachen. Schließlich war er ihr Mann und sie vertraute ihm. Dann kam der Schmerz. Marion wurde es in dem Moment, als sein erigiertes Glied in ihren Anus eindrang, kurz schwarz vor Augen. Sie schrie sogar auf, aber das verstand Frank als Zeichen ihrer Lust. Er bewegte sich hin und her und bemerkte nicht die Tränen, die Marion über das Gesicht liefen. Er sagte obszöne Dinge. Knetete gierig ihre Brüste und schlug seine Hüften immer wieder gegen ihren Körper. Als es endlich vorbei war, rollte er sich zufrieden auf die Seite und schlief sofort ein. Marion unterdrückte ein lautes Schluchzen und stürzte benommen ins Badezimmer. Sie fühlte sich beschmutzt und gedemütigt. Hinter sich schloss sie die Tür ab und rutschte hilflos auf die kühlen Kacheln.

Nach einer Weile stand sie auf und humpelte zur Badewanne. Ein kleines Rinnsal Blut lief ihr am Bein entlang. Sie war körperlich und seelisch verletzt.

Im heißen Wasser entspannte sie ein wenig. Sie wünschte sich, Frank würde an der Tür rütteln und sie fragen, was los sei, aber er kam nicht – sie hörte sein lautes Schnarchen. Vielleicht stellte sie sich einfach an? Schließlich hatte Frank einen schweren Tag gehabt. Auf ihm lag so viel Verantwortung. Natürlich war es auch nicht einfach, mit dem Neid der Kollegen umzugehen, die ihm seine glückliche Beziehung mit ihr sicher nicht gönnten. Nein, sie musste ihm helfen, für ihn Verständnis haben. Dann dachte sie an ihre Kindheit. Ihre Mutter hatte ihr schon früh eingebläut, wie wichtig es wäre, dass alles zur Zufriedenheit des Vaters abliefe. Und so war es auch gewesen. Als ihre Mutter starb, war Marion gerade sechzehn Jahre alt und übernahm danach die Haushaltspflichten. Es hatte Streit gegeben, als sie ihre eigenen Pläne verwirklichen wollte, aber ihr Vater hatte sich streng und unnachgiebig gezeigt. Sie hatte sich gefügt, weil das zu ihrem Besten war. Die Erinnerungen an den Tag kamen zurück, als der Vater plötzlich tot in seinem Arbeitszimmer gelegen war. Marion wischte sich die Tränen weg. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie die ganze Zeit über weinte.

»Die Familie ist das Wichtigste!«, hatte ihr Vater immer gesagt. Marion war eine Idee gekommen, wie sie Frank helfen könnte.

Die Familie, das war die Lösung!

 

Zur gleichen Zeit in Karlsruhe, unweit von Baden-Baden …

 

Lukas Bürg schloss etwas umständlich seinen Gürtel.

»Du bist immer ein ganz Schneller, was?«, vernahm er die piepsige Stimme von Mandy.

Er antwortete nicht. Wie immer wollte er danach nur schnell nach Hause. Er legte das Geld auf den Nachttisch und murmelte einen Abschiedsgruß.

»Dann bis zum nächsten Mal, mein Süßer«, rief Mandy und Lukas nickte ihr verlegen zu.

Draußen auf der Straße holte er tief Luft und machte sich mit großen Schritten auf den Weg zu seinem Auto. Die Stadt schlief noch und so hörte er nur seine eigenen dumpfen Schritte auf dem feuchten Pflaster. Obwohl es schon so spät war, fühlte sich Lukas ausgeruht, geradezu erholt. Bei ihm war also alles in Ordnung. Die Erleichterung darüber ließ ihn lächeln. Und doch wusste er, dass dieses angenehme Gefühl nicht lange anhalten würde. Die alte Angst folgte ihm wie sein eigener Schatten und lauerte in einer dunklen Ecke, um ihn dann ohne Vorwarnung anzuspringen und ihre Klauen in seine Seele zu hauen. Aber heute Abend, so dachte er, war alles in Ordnung.

 

Wohnung von Rolf und Petra Heerse

 

Am nächsten Tag erwachte Rolf Heerse mit einem stechenden Kopfschmerz. Die Nacht war kurz und unruhig gewesen. Seine Gedanken hatten sich bis zum Morgengrauen um die Morde gedreht. Ein mühsames Hin- und Herwälzen der Fakten und Vermutungen. So, als würde jemand einen schweren Hefeteig in seinem Schädel durchkneten.

Seine Frau Petra blickte ihn am Frühstückstisch besorgt an. Es war offensichtlich, dass Rolf unter Stress stand.

Wie zur Bestätigung sprang er plötzlich auf. »Ich werde noch einmal zum letzten Tatort gehen, bevor ich ins Präsidium fahre.«

Heerse schnappte sich seine Jacke und machte sich auf den Weg zur »Grünen Einfahrt«.

Er lebte schon viele Jahrzehnte im Stadtteil Oos und mochte diese Ecke von Baden-Baden. Auch oder gerade, weil hier der glamouröse Glanz der Innenstadt nicht so erdrückend zu spüren war. Hier war einfach alles herrlich normal, das galt sowohl für die Freuden wie auch für die Sorgen der Menschen. Man kannte sich, grüßte einander, aber immer ohne Aufdringlichkeit. Oos war ständig im Wandel. Bis zur Wiedervereinigung gab es in diesem Stadtteil ein Kasernengelände der französischen Streitkräfte. Als die Soldaten abgezogen wurden, entstand auf dem Areal ein modernes Einkaufszentrum. Man baute an Umgehungsstraßen, um das Viertel vom Durchgangsverkehr zu entlasten. Die Einwohner durften also gespannt sein, was die Zeit noch bringen würde. Jedenfalls fühlte sich Heerse hier sehr wohl.

Deshalb empfand er diesen grausamen Mord unter der Blutbrücke wie ein gewaltsames Eindringen in seine Privatsphäre. Mit grimmigem Gesicht marschierte er zum Tatort. Die Leiche war längst weggeschafft und die Absperrbänder verschwunden. Eine Spaziergängerin mit Hund kam ihm entgegen. Wenn er erst einmal pensioniert wäre, dann würde er auch einen Hund haben und hier große Runden drehen. Seine Gedanken kehrten zurück zu den Verbrechen und er sondierte konzentriert die Umgebung.

Als würde der Ort seinen Verstand schärfen, kam ihm eine Idee: Wie war der Mörder überhaupt hierhergekommen? War es nicht wahrscheinlich, dass er mit einem Pkw unterwegs gewesen war, den irgendwo geparkt hatte, um sich dann auf die Suche nach seinem Opfer zu machen? Rolf Heerse überlegte weiter. Ein guter Platz zum Parken wäre beispielsweise das wenige Gehminuten entfernte Bahnhofsgelände gewesen. Vielleicht hatte eine Parkplatzkamera etwas aufgezeichnet. Das Gleiche galt für den Mord an Annemarie Müller. Möglicherweise war den Anwohnern nahe der Schrebergartenkolonie ein fremder Wagen in Erinnerung. Er musste seine Leute nochmals rausschicken, sie sollten die Nachbarn erneut verhören. Heerse würde es übernehmen, die Obdachlosen zu befragen. Vielleicht hatte der Zupf-Hans einen Kumpel gehabt, der irgendetwas wusste. Bürg sollte ihn begleiten, während Frank Dorthal die Hausbefragungen koordinieren würde. Sicher war es an der Zeit, dem Oberkommissar Dorthal mehr Verantwortung zu geben.

 

Befragung der Obdachlosen, Baden-Baden

 

Von der Gerichtsmedizin erfuhren sie, dass das zweite Opfer um Mitternacht getötet worden war. Weiterhin hatte der Arzt festgestellt, dass sich kein Wasser in den Lungen des Mannes befunden hatte.

Weitere Fakten, die uns nicht weiterbringen, dachte Heerse, als er sich mit Lukas Bürg auf den Weg machte. Sie hatten vor, die bekannten Treffpunkte der Obdachlosen abzuklappern. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, weil die meisten entweder Reißaus nahmen, wenn sie Heerse und seinen jungen Kollegen kommen sahen, oder zu betrunken waren, um ihnen Fragen zu beantworten. Am Augustaplatz in der Innenstadt hatten sie dann endlich Glück. Ein kleines Männchen mit runzligem Gesicht und schlechten Zähnen ließ sich von den Dienstmarken der beiden nicht einschüchtern. Er lief sogar auf die Beamten zu, so als hätte er sie bereits erwartet.

»Seid ihr die, die dem Hans zu Gerechtigkeit verhelfen?«

Heerse verstand. Es hatte sich also bereits herumgesprochen, dass einer von ihnen auf grausame Weise ermordet worden war. Schwer zu sagen, ob das die Sache jetzt vereinfachte oder nicht.

Das Männchen wartete auf eine Antwort.

»Ich bin Hauptkommissar Rolf Heerse und das ist mein Kollege Lukas Bürg.«

Lukas, der heute sehr gelassen wirkte, streckte dem anderen seine Hand entgegen. Etwas verwirrt ergriff der Obdachlose diese und drückte sie kurz. Lukas hatte die Nikotinflecken an den Fingern des Mannes bemerkt und griff schnell nach seinen Zigaretten. Er bot dem Fremden eine an, bevor er sich selbst bediente. Ohne Eile verteilte er Feuer und nahm einen kräftigen Zug.

Das macht er gut, dachte Heerse und schon hörte er das Männchen sagen: »Sie scheinen in Ordnung zu sein, Herr Wachtmeister!«

Heerse sah im Augenwinkel, dass ein Stück entfernt eine Gruppe Obdachloser stand, die sie beobachtete. Die Männer schienen nervös und zappelig. Vermutlich hatten sie das Männchen vorgeschickt.

»Ich bin Kurt«, und mit einer Handbewegung Richtung der Gruppe ergänzte er, »die da sind Freunde von mir. Ich soll die Verhandlungen führen.«

Heerse unterdrückte ein Schmunzeln. Er wollte den Mann keinesfalls beleidigen. Die Obdachlosen hatten es schon schwer genug, also gab es keinen Grund, es an Respekt fehlen zu lassen. Lukas schien das begriffen zu haben, denn als ihm Heerse das Gespräch überließ, verhielt sich der junge Kommissar sehr höflich.

»Selbstverständlich«, sagte Bürg gerade ernst und ließ Kurt weitersprechen.

»Es ist nämlich so«, fuhr dieser fort, der gerne eine weitere Zigarette nahm, »es könnte sein, dass es einen Zeugen gibt. Aber der will keine Unannehmlichkeiten ...«

»Die wird er nicht bekommen«, versicherten Lukas und Heerse dem Mann.

»Und der Zeuge will nicht aufs Revier. Und nix unterschreiben«, fügte Kurt an.

Heerse schnaufte leise, zeigte Lukas aber durch ein leichtes Nicken sein Einverständnis und bedeutete seinem jungen Kollegen fortzufahren.

»Machen wir es doch so: Wir sprechen mit dem Zeugen. Sie und Ihre ›Kollegen‹ können dabeibleiben und dann, wenn wir wissen, was dieser Zeuge gesehen hat, dann können wir noch einmal verhandeln.«

Kurt ließ die Männer stehen und trabte zu seinen Freunden, die sich aufgeregt beratschlagten. Nach einer Weile verstummte das Gemurmel und die beiden Polizisten wurden herangewunken.

»Machen Sie die Befragung, Bürg, die scheinen Ihnen zu trauen«, flüsterte Heerse seinem Kollegen zu.

Als die Beamten nun bei der Gruppe ankamen, schob sich diese auseinander und gab den Blick auf eine Frau frei. Vermutlich war sie nicht älter als fünfzig, aber das Leben auf der Straße hatte seinen Tribut gefordert, deshalb hätte man sie auch leicht auf siebzig schätzen können. Die Haare, die unter einer dreckigen Strickmütze vorlugten, waren fettig. Ihr Gesicht wirkte eingefallen – was daran lag, dass sie kaum noch Zähne im Mund hatte. Die Frau trug trotz der milden Temperaturen eine dicke Jacke über den zahllosen Schichten alter Kleider. Heerse hatte während seiner Dienstzeit viele Obdachlose getroffen und so wusste er, dass jede dieser Frauen und Männer ihr eigenes trauriges Schicksal hatte, das schließlich auf der Straße endete.

»Das ist Freda«, sagte Kurt und gab ihr seine Zigarette, die sie gierig entgegennahm und fest daran zog. »Erzähl dem Kommissar, was du gesehen hast, Freda!«

Die anderen Obdachlosen schienen sich jetzt wieder etwas dichter an die Frau zu drängen, so als wollten sie ihr Mut machen und Schutz bieten.

Erst krächzte Freda nur leise, aber dann blickte sie Lukas Bürg direkt in die Augen und sagte mit fester Stimme: »Ich hab den Hans gesucht, wusste, dass er gerne unter der Brücke hockt, wenn es nicht so kalt ist.«

Wieder zog sie an der Zigarette, die sie mit zittrigen Fingern hielt. Der Geruch der ungewaschenen Körper und die Alkoholausdünstungen stiegen den Beamten in die Nase, aber sie wichen nicht zurück.

Freda sprach weiter: »Ich war spät dran, normalerweise bin ich nicht so spät dran«, erklärte sie umständlich. »Jedenfalls, als ich durch den Park kam, sah ich am Ufer eine Bewegung. Erst hab ich gedacht, es ist der Hans, der zu viel gesoffen hat. Dann tanzte der immer. So war der halt ...«

Zur Bestätigung ihrer Worte brummelten die anderen zustimmend vor sich hin.

»Aber es war nicht der Hans.«

Heerse und Bürg hatten Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen.

Freda wurde nervös und sah Hilfe suchend zu Kurt, der ihr aufmunternd zunickte. »Jedenfalls hab ich mich hinter einem Baum versteckt. Ich hatte Angst. Du weißt ja nie, wer da nachts unterwegs ist, und unsereins muss vorsichtig sein. Sieht man ja jetzt am Hans.«

Wieder setzte zustimmendes Gemurmel ein.

»Was haben Sie denn nun gesehen?«, fragte Lukas sanft, damit sie nicht noch weiter vom Thema abkamen.

»Na, da ist ein Teufel herumgesprungen. Ganz in Schwarz war der. Erst hab ich gar nicht kapiert, was der dort macht. Immer wieder ist dieses Ding zum Wasser, hat eine Flasche gefüllt und dann ist es damit zum Brückenpfeiler. Konnte aber nicht genau sehen, worauf das Wasser geschüttet wurde. Dachte kurz, jemand hat ein Feuer gemacht ...«

»Und das ist mehrmals passiert?«, hakte Lukas nach.

Freda nickte.

»Hab doch nicht wissen können, dass der Hans tot am Brückenpfeiler hockt. Und der Teufel ihn taufen will.«

Die Obdachlose zog wieder an der Zigarette, sodass mittlerweile der Filter zu kokeln anfing. Lukas bot ihr schnell eine Neue an.

»Und dann?«

»Hab gewartet und irgendwann war der Teufel weg, einfach verschwunden. Ich war neugierig und bin zur Brücke ...«

»Sie haben den Hans also gefunden?«

Dieses Mal schaute Freda zu Boden und nickte. »War grauenvoll, hatte Angst und bin weggerannt.«

»Schon gut, das war auch richtig. Es hätte niemandem genützt, wenn Sie sich in Gefahr gebracht hätten.«

Freda schien erleichtert und auch ihre Freunde entspannten sich.

»Haben Sie denn das Gesicht dieses Teufels erkennen können?«

»Nee, dazu war es zu dunkel.«

»War es ein Mann oder eine Frau?«

Ihre Zeugin schnaufte genervt: »Keine Ahnung.«

»Und wie groß war er?«, mischte sich jetzt Heerse das erste Mal ein.

Fredas Augen sahen den Hauptkommissar skeptisch an, bevor sie zögerlich antwortete: »Mal war er klein, dann groß und schnell, wie der Teufel eben.«

Die Beamten tauschten kurz einen Blick aus. Der Mörder hatte sich gebückt und aufgerichtet, um die Flasche mit dem Wasser zu füllen und es anschließend über die Kleidung des armen Zupf-Hans‘ zu schütten. Fredas Aussagen machten Sinn. Und ja, sie hatte den Teufel gesehen, aber einen Teufel aus Fleisch und Blut.

 

Präsidium der Kriminalpolizei, Baden-Baden

 

Frank Dorthal war gut vorangekommen. Die Auswertungen der Parkplatzkameras liefen und die Hausbefragungen waren in vollem Gange. Er hatte sich an den Rechner gesetzt und, wie mit Heerse abgesprochen, die Datenbank der Polizei nach ähnlichen Fällen durchkämmt – leider ohne Ergebnis. Heute fühlte er sich richtig gut. Delegieren, das war seine Stärke. Endlich, so schien es, hatte der alte Heerse sein Potenzial erkannt. Momentan konnte er sich nicht beklagen. Mit Marion verstand er sich immer besser, um Geld brauchte er sich nicht zu sorgen, und dieser Fall würde ihn auch beruflich voranbringen. Einen Job in der Zentrale in Stuttgart in leitender Position, so sah Frank Dorthal seine Zukunft.

 

Gegen Abend kamen seine Kollegen von ihren Untersuchungen zurück. Kurz tauschten sich die drei aus.

»Wir haben einen Anwohner, der meint, um kurz nach Mitternacht vom Fenster aus gesehen zu haben, wie ein schwarzer Wagen viel zu schnell über die Ooser Hauptstraße in Richtung Stadt gefahren sei.«

»Kennzeichen?«, fragte Heerse, ohne darauf ernsthaft eine Antwort zu erwarten.

Frank Dorthal erwiderte: »Natürlich nicht, aber vielleicht ist das hier interessant.« Er fischte nach einem Computerausdruck auf seinem Schreibtisch und reichte ihn Heerse. »Ein Ehepaar war noch spät mit dem Hund draußen.«

Ohne unsere Hundebesitzer würden wir vermutlich nie irgendetwas erfahren, dachte Heerse, sagte aber nichts.

»Jedenfalls haben die sich darüber gewundert, dass so viele Autos mit auswärtigen Kennzeichen geparkt hatten.«

»Wo war das?«, hakte Heerse nach.

»Auf einem leeren Firmengelände.«

»Kennzeichen?«

»Nicht wirklich. Sie meinten, zwei Fahrzeuge aus Karlsruhe, eines aus Pforzheim und eines aus Stuttgart. Die Kennzeichen haben sie sich nicht gemerkt.«

Heerse überflog die Aussage der Zeugen. Dort stand: Wir fanden es merkwürdig, dass dort überhaupt jemand geparkt hatte, schließlich gab es ein Verbotsschild mit Abschleppandrohung. Sonst hat dort noch nie ein Auto gestanden, schon gar nicht am Wochenende.

»Gut, versucht den Eigentümer des Geländes ausfindig zu machen. Vielleicht weiß der, wer dort geparkt hat. So können wir diese Infos womöglich als irrelevant ausschließen, bevor wir drei deutsche Großstädte unter Generalverdacht stellen. Zudem könnte der Täter auch aus der Region kommen. Vielleicht sogar direkt aus Baden-Baden.«

Frank Dorthal seufzte: »Das bleibt zu befürchten, dass uns dieser kranke Spinner näher ist, als wir denken.«

Heerse erwiderte: »Eben!«

»Sonst noch etwas?«, fragte Lukas und studierte die Unterlagen, die ihm Frank reichte. Obwohl sich die beiden jetzt duzten, was auch Heerse erfreut zur Kenntnis genommen hatte – ihm war es recht, wenn sich sein Team gut verstand –, hatte man das Gefühl, dass die Stimmung zwischen den beiden frostiger geworden war.

»Von allem etwas«, sagte Lukas gerade nachdenklich. »Ein Taxifahrer sah eine junge Frau gegen ein Uhr Richtung Bahnhof marschieren. Eine Anwohnerin, die spät von einer Feier zurückkam, sah einen kräftigen Mann mit Rucksack in die gleiche Richtung gehen und so weiter. Niemand kann die Gesichter beschreiben, und letzten Endes werden die Aussagen immer unklarer.«

»Trotzdem ist das wichtig! Man kann nie wissen, auf was man bei diesen Befragungen stößt. Gute Arbeit, Herr Dorthal, dranbleiben, vielleicht kommt ja noch was von den Anwohnern der Schrebergartenkolonie.« Damit verabschiedete sich Heerse von seinen Männern.

Sie waren kaum vorangekommen und der Hauptkommissar befürchtete das Schlimmste.