Kapitel 3
»Ich bin Blut und Feuer.«
Katharina von Siena (1347-1380)
Einige Tage später in Karlsruhe …
Obwohl die letzten Tage für Lukas gut gelaufen waren, fühlte er sich nicht wohl. Seine Dämonen holten ihn bereits wieder ein. Was, wenn das jetzt immer schlimmer wurde und er keinen Tag mehr Frieden hätte?
»Pass nur auf, dass du nicht auch so ein ekliger Widerling wirst wie dein Vater!«, flüsterte die Stimme seiner Mutter.
Er saß im Auto und hatte wieder einmal das Gefühl, sie wäre hinter ihm auf der Rückbank. So wie früher, als sie noch gelebt hatte und er sie gelegentlich von einer der zahllosen Kneipen abholen musste. Dann lag sie breitbeinig hinten im Fond und stieß giftig ihre Hasspredigten hervor. Ihr aufgeschwemmtes Gesicht hatte sich dabei stets zu einer hässlichen Fratze verzogen und Lukas dachte manches Mal, er würde einen geifernden Dämon durch die Dunkelheit fahren.
Das ganze Geschwätz war ihm immer noch gegenwärtig und er hatte es bisher nicht vermocht, die Erinnerung daran zu verdrängen. Seit ein paar Monaten beschäftigte es ihn immer mehr. Als die Mutter beerdigt war, hatte er für einen kurzen Moment das süße Gefühl vollkommener Freiheit kennengelernt. Aber das hatte nicht lange angehalten, und die Last, die ihm endlich genommen worden war, begann ihm zu fehlen. Das Leben wurde mit einem Mal schwerer und komplizierter und dann holten ihn all die Warnungen und Beschimpfungen wieder ein. Vielleicht hätte er mit jemandem darüber reden müssen, aber mit wem? Er schämte sich viel zu sehr. Und wie hätte das ausgesehen, wenn er, der junge Kommissar, sich in psychologische Behandlung begeben hätte! Und wer blieb dann noch? Mandy? Wohl kaum. Es war schon schlimm genug, dass sie wusste, dass er bei der Polizei war. Wie ein Tölpel war ihm bei einem seiner ersten Besuche die Brieftasche aus der Jacke gefallen und Mandy hatte sie natürlich geöffnet. Sie kannte seinen Namen, seine Adresse und er fühlte sich ihr ausgeliefert. Vermutlich gab es dafür gar keinen Grund.
Die Prostituierte hatte ihre Entdeckung lediglich mit einem Schulterzucken kommentiert und gelangweilt gesagt: »Ein Bulle. Nun, wenn sich das herumspricht, dass ich auch Kunden bei der Polizei habe, ist das schlecht fürs Geschäft.«
Lukas war mittlerweile an seinem Ziel angekommen und stieg über den Notausgang die Treppe nach oben. Er nahm nie den Aufzug des mehrstöckigen Appartementhauses. Hier in dem ungemütlich kalten Treppenhaus begegnete ihm selten jemand. Als er an der Wohnungstür klingelte, wurde sofort geöffnet. Er hatte Mandy bereits eine SMS geschickt und gehofft, dass sie frei war.
Schnell trat er in die Wohnung. Diskretion war für sie beide wichtig.
»Na, das wird ja was richtig Festes mit uns beiden«, spottete sie freundlich, als er, wie immer etwas gehemmt, ins Schlafzimmer trat.
»Was machen wir denn heute Schönes, mein Hübscher? Ein bisschen Blasen zum Warmwerden? Oder willst du es mir mit der Zunge machen? Du weißt, das biete ich normalerweise nicht an, aber bei dir würde ich schon mal eine Ausnahme machen. Das wäre ein Hunderter extra.«
Lukas nickte zustimmend. Wie immer war er sehr einsilbig. Mandy zog ihm mit wenigen Handgriffen die Hose aus und führte ihn ins Badezimmer, um ihn zu waschen. Lukas schluckte und spürte die erste Erregung.
Mandys gurrendes Lachen beruhigte ihn. Dann ging die Prostituierte in die Knie und er spürte, wie sie anfing, mit der Zunge sein Glied zu bearbeiten.
Lukas griff mit den Händen in die blond gefärbten Haare und stöhnte. Alles lief völlig normal ab. Er hatte bereits eine starke Erektion.
Als sich Mandy aufrichtete und ihn ins Schlafzimmer führte, waren alle Zweifel vergessen. Es schien, als wäre er doch ganz in Ordnung, aber er brauchte Gewissheit. Mandy zog ihre Korsage aus und er starrte auf ihre großen hängenden Brüste. Dann schälte sie sich aus dem Höschen. Sie war komplett rasiert. Lustlos legte sie sich auf den Rücken und spreizte die Beine.
»Bitte, mein Hübscher, gehört alles dir ...«
Während Mandy zur Decke starrte und ärgerlich die Stirn über die Wasserflecken auf der Tapete runzelte, begann Lukas mit der Zunge über ihre Schenkel zu fahren. Dabei wurde seine Gewissheit immer stärker, dass bei ihm alles seine Richtigkeit hatte. Nach einer Weile forderte ihn die Prostituierte auf, nun zur Sache zu kommen, sonst würde es extra kosten.
Als Lukas zwanzig Minuten später seine Hose wieder zuknöpfte und leise verschwand, sah ihm Mandy mit einem Kopfschütteln hinterher. »Was plagen dich nur für Dämonen, mein hübscher Kommissar?«
Wieder in Baden-Baden, quälte sich Lukas trotz des positiven Abends mit der Frage, was wohl wäre, wenn es eines Tages anders sein würde.
Wohnung von Marion und Frank Dorthal
Marion lag neben Frank auf dem Sofa und schlief bereits fest, als er ihr liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht strich. Er hatte ihr heute einen Strauß rote Rosen mitgebracht, einfach so, ohne Anlass, um ihr zu zeigen, wie sehr er sie liebte.
Marion hatte ihn mit ihrer geradezu überschwänglichen Dankbarkeit gerührt. Frank war natürlich klar, dass die meisten seiner Kollegen glaubten, ihre schnelle Heirat sei ein strategischer Schachzug von ihm gewesen. Aber das stimmte nicht, zumindest war das nicht die ganze Wahrheit.
Marion erdete ihn. Sie stellte keine Forderungen und wollte ihn nicht verändern. Sie liebte ihn bedingungslos und, das war für ihn überhaupt das Wichtigste, Marion brachte Normalität in sein Leben. Normalität und Ruhe, das hatte er gesucht, das wünschte er sich für die Zukunft. Dafür war er auch bereit, sich, was das Sexuelle anging, einzuschränken. Und Marion gab sich immerhin Mühe, seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Aber er spürte natürlich ihre Abneigung gegen gewisse Praktiken. Trotzdem hatte sie sich noch nie beklagt und vielleicht würde sie ja mit der Zeit doch noch Spaß dabei empfinden.
Frank Dorthal seufzte. Er war mit sich zufrieden und trank einen letzten Schluck Whisky. Heute war eine warme Nacht und er verspürte plötzlich die Lust auf eine gute Zigarre. Vorsichtig weckte er Marion. Mit verschlafenen Augen schaute sie ihn an.
»Liebling, geh ins Bett«, sagte er zärtlich, »ich drehe noch eine Runde mit einer Zigarre.«
Marion lächelte. Sie konnte Zigarrenrauch nicht ausstehen. Ihr Vater hatte die immer geraucht. Selbst wenn nur eine Schwade vom Balkon in die Wohnung wehte, wurde ihr übel.
»Das ist lieb von dir«, hauchte sie dankbar für Franks Rücksichtnahme, drückte ihm einen Gutenachtkuss auf den Mund und verschwand im Schlafzimmer. Als sie hörte, wie ihr Mann leise die Wohnungstür schloss, verspürte sie Erleichterung. Bald würde alles gut werden, dafür würde sie sorgen – so oder so.
Wohnung von Rolf und Petra Heerse
Auch Hauptkommissar Heerse war noch auf. Die letzten Wochen hatten ihn Kraft gekostet. Zwei ungeklärte Mordfälle und keinen einzigen Hinweis. An beiden Tatorten hatten die Befragungen der Anwohner zu nichts geführt. Der Eigentümer des verlassenen Firmengeländes in Oos konnte ihnen nichts zu den geparkten Fahrzeugen sagen, außer dass die Polizei diese unerlaubten Parker doch künftig abschleppen sollte.
Na, schönen Dank auch!, hatte Heerse gedacht, als er diese Information erhielt, sich allerdings eines Kommentars enthalten. Interessant war die Nachricht der Spurensicherung gewesen, dass die Kleidung des Zupf-Hans‘ tatsächlich mit dem Wasser der Oos befeuchtet worden war und nicht mit Leitungs- oder Regenwasser. Das bestätigte Fredas Aussage, brachte sie aber ebenfalls nicht weiter.
Natürlich war er zum Chef zitiert worden. Und eine ganze Menge wichtiger Leute, natürlich keine Polizisten, hatten sich versammelt, um Besorgnis auszudrücken oder sich in den Vordergrund zu drängen. Irgendjemand stellte dann die Frage aller Fragen, nämlich ob es schon ein Täterprofil gäbe. Heerse hätte daraufhin zu gerne seinen üblichen Vortrag über den Unterschied zwischen Fernsehen und Realität gehalten. Die Fallanalytiker der Polizei waren keine TV-Profiler, die mit einem Blick auf den Tatort bereits die Adresse des Mörders kannten. Die Analytiker konzentrierten sich vor allem auf die tatsächliche Spurensituation, das Verhalten des Täters und die Kriminologie.
Gerne wäre er noch einen Schritt weiter gegangen und hätte geantwortet: »Bei der Fallanalyse geht es doch nicht nur um Psychologie. Oder glauben Sie, wir finden einen Täter, wenn wir von ihm wissen, dass er abartige sexuelle Fantasien oder dergleichen hat? Wir brauchen viel mehr als das! Echte Informationen, anhand derer man Rückschlüsse auf den Ablauf und das Motiv ziehen kann.«
Aber das Abendprogramm sagte den Menschen nun einmal etwas anderes, also hatte Hauptkommissar Heerse auf die Frage mit einem schlichten »Nein« geantwortet.
Die Kollegen vom OFA, der operativen Fallanalyse, unterstützten ihn tatkräftig. Jedoch wusste Heerse, dass er an der Reihe war. Nur, wo sollte er nach dem Täter suchen?
Hinter sich hörte er Schritte. Petra tapste barfuß in die Küche.
»Oh Gott, Rolf, du musst schlafen!«
»Ich weiß, aber ich bekomme den Kopf nicht frei.«
Petra trat auf ihren Mann zu und legte ihm die Arme um den Hals. »Was hältst du davon, wenn wir mal wieder einen Kurtag einlegen, das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.«
»Unmöglich, ich kann im Moment nicht freinehmen.«
Petra verbarg ihre Enttäuschung, sie hätte sich aber ehrlich gesagt über eine andere Antwort gewundert.
»Vielleicht einen Nachmittag, damit du einmal abschalten kannst?«
Heerse antwortete nicht gleich. Diesen »Kurtag« hatten sie erfunden, als sie jung verheiratet waren. Damals hatte das Geld hinten und vorne nicht gereicht. Der Bau des kleinen Häuschens war eine große finanzielle Belastung und das Anfangsgehalt von Rolf nicht besonders üppig gewesen. Petra hatte nicht arbeiten können, weil sie ihrer Mutter helfen musste, den kranken Vater zu pflegen. So war die ersten Jahre nicht an Urlaub zu denken. Stattdessen gönnten sie sich dafür einen Tag Baden-Baden, und zwar so, wie ein Kurgast das tun würde. Besuch der Bäder, Herumschlendern in der Fußgängerzone, Spaziergänge durch den Kurgarten, Besichtigung der Trinkhalle und anschließend Kaffee und Kuchen im Kurhaus.
Heerse seufzte: »Du hast recht. Ein Nachmittag muss mal drin sein.« Damit drückte er seiner Frau einen Kuss auf die Stirn und sagte galant: »Sie dürfen mich jetzt wieder ins Bett bringen, Frau Heerse!«
In einem Waldstück, Baden-Baden/Stadtteil Sandweier
Doch aus dem geplanten Nachmittag wurde vorerst nichts.
Keine Stunde, nachdem Heerse am nächsten Morgen die Dienststelle betreten hatte, kam der Anruf.
Mit versteinerten Gesichtern betrachteten die Männer die Leiche. Heerse hatte seine Hände tief in die Taschen seiner Jacke gegraben und zu Fäusten geballt. Die Tatsache, dass er überhaupt keine Kontrolle über den Fall hatte, machte ihm schwer zu schaffen. Auch Frank Dorthal und Lukas Bürg blickten schockiert auf den Toten.
Einer der Uniformierten vor Ort erklärte ihnen sichtlich betroffen: »Mitarbeiter des Forstamtes haben ihn gefunden! Der Mann heißt Walter Barus, achtundfünfzig Jahre alt, ein Freizeitjäger. Auf dem kleinen Parkplatz da hinten haben wir sein Auto gefunden. In den Sachen hier«, der Beamte deutete mit der Fußspitze zu einem großen, olivgrünen Jägerrucksack, der verlassen auf dem Boden stand, »waren seine Papiere. Wollen Sie die Adresse?« Der Polizist räusperte sich und flüsterte: »Er trägt einen Ehering ...«
Die Männer blickten gleichzeitig zu der rechten Hand des Opfers, die sich bleich von dem dunklen Waldboden abhob. Der Anblick des Ringes versetzte dem Hauptkommissar einen Stich.
Er nickte kurz und der Uniformierte war dankbar, sich nun, nach Erfüllung seiner Pflicht, vom Tatort entfernen zu können.
Auch dieses Mal bezweifelten die Beamten nicht, dass sie es mit ihrem Beilmörder zu tun hatten.
Der ausgetrocknete Untergrund war an den Stellen, an denen das Blut kleine Pfützen bildete, dunkler und feucht. Was hier stattgefunden hatte, glich einem Massaker. Selbst die Waldarbeiter, die sicher nicht zartbesaitet waren, hatten Mühe gehabt, sich nicht zu übergeben oder ohnmächtig zu werden.
Die drei Polizisten standen vor einem Hochsitz. Der Tote lag auf dem Bauch, direkt an der Leiter, die nach oben führte. Das Beil musste ihn von hinten erwischt haben. Wie bei den anderen Opfern auch war sein Schädel gespalten. Allerdings war das dem Mörder dieses Mal nicht genug gewesen. Mehr denn je glaubte der Hauptkommissar, es mit einem vollkommen wahnsinnigen Täter zu tun zu haben, dessen Motiv nicht zu begreifen war. Warum sollte sonst jemand einen anderen Menschen so zurichten? Mit starrem Blick betrachtete Heerse die geschundene Leiche. Der Rücken des Opfers war nur noch eine abstoßende rote Masse aus Fleisch, Blut und zerrissener Kleidung. Immer und immer wieder musste die Schneide des Beils den Körper aufgerissen haben, so als würde im Inneren ein gefährlicher Feind lauern, den sie um jeden Preis vernichten wollte. Unzählige Male war die Mordwaffe niedergesaust und hatte nichts übrig gelassen, außer zerfetztes Gewebe. Heerse schluckte und richtete seinen Blick auf die absurde Anordnung dreier toter Kaninchen neben dem Opfer. Die Tiere lagen aufgereiht auf einem natürlichen Bett aus Tannennadeln und Erde, daneben lag ein Schrotgewehr. Ihre toten, trüben Augen blickten teilnahmslos zu Heerse, so als wollten sie sagen: »Für uns ist es längst zu spät, es gibt kein Erbarmen!«
»Wieso sind die eingewickelt?«, unterbrach Frank Dorthal die Stille. Seine Stimme war rau.
Heerse blickte, ohne eine Antwort zu geben, weiter auf die toten Tiere. Jedes für sich war bis zum Hals in weißes Küchenpapier eingeschlagen. Es sah aus, als hätte man den Kaninchen weiße Totenhemden angezogen. Über ihren Köpfen lag eine große Stabtaschenlampe, die immer noch leuchtete. Jetzt bei Tageslicht sah man das natürlich kaum, aber bei Nacht musste ihr Strahl die Köpfe der toten Tiere in ein gespenstisches Licht getaucht haben.
»Gott steh uns bei«, flüsterte der Hauptkommissar und wendete sich ab.
Bestürzt darüber, dass es ihnen nicht gelungen war, diesen weiteren Mord zu verhindern, schwiegen die Männer auf der Fahrt zu der Adresse des Opfers.
Die Schreie von Gisela Barus würden Heerse wahrscheinlich den Rest seines Lebens verfolgen. Die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen zu überbringen, war jedes Mal ein Gang durch die Hölle. Er war derjenige, der den Menschen dann alles nahm. Auch Gisela Barus bettelte ihn an, er möge doch sagen, dass das eine Verwechslung sei, dann schluchzte sie und schließlich folgten verzweifelte Schreie. Heerse schlang die Arme um die Frau und diese trommelte mit ihren Fäusten auf ihn ein. Er ließ sie gewähren.
Lukas Bürg stand angespannt daneben und sah den Schmerz der Witwe. Es war so ähnlich wie damals, als er und seine Mutter die Wahrheit über den Vater erfahren hatten.
Lukas vernahm die Schreie von Gisela Barus und es war, als würde er noch einmal seine Mutter hören, wie sie vor Jahren wie von Sinnen um eine andere Erklärung gefleht hatte.
Auch Frank Dorthal rang um Fassung. Er dachte an Marion und hatte das starke Bedürfnis, jetzt bei ihr zu sein. Plötzlich fühlte er sich seiner Frau ganz nah und wollte ein besserer Ehemann werden.
Unbeweglich stand Dorthal da, bis ihn Heerse anfuhr: »Frank, hören Sie, versuchen Sie die Schwester von Frau Barus zu erreichen. Die Nummer liegt beim Telefon.«
Mehr hatte der Hauptkommissar der Frau des Opfers nicht entlocken können. Zumindest wollte er nun dafür sorgen, dass sie nicht alleine in der Wohnung zurückbleiben würde, wenn er und seine Männer sich verabschieden mussten.
Schluchzend neben ihm auf dem Sofa saß Gisela Barus und ließ sich hilflos in seinen Armen wiegen. Die Schwester beeilte sich, benötigte aber trotzdem eine Viertelstunde, bis sie völlig aufgelöst eintraf. Die Beamten fühlten Erleichterung, als sie das Haus endlich verlassen konnten, schämten sich aber sogleich dafür.
Heerse lehnte es strikt ab, im Dienst zu trinken, aber heute machte er eine Ausnahme und bat einen Kollegen des Präsidiums, doch in der Eckkneipe drei doppelte Cognacs zu besorgen. Es war nicht nötig, deshalb weitere Erklärungen zu geben, die Bitte wurde ihm gerne erfüllt.
Präsidium der Kriminalpolizei, Baden-Baden
Erst in Heerses Büro fiel die Starre des Entsetzens langsam von ihnen ab. Tief betroffen saßen die drei Männer zusammen.
Die ersten vorläufigen Berichte trafen ein. Danach war Walter Barus von hinten erschlagen worden, vermutlich, als er sich nach vorne gebückt hatte. Ob er den Mörder gesehen und ihm im Vertrauen den Rücken zugedreht hatte oder von ihm überrascht worden war, blieb fraglich. Als Todeszeitpunkt wurde ein Uhr nachts angenommen. Das Schrotgewehr, das Küchenpapier und die Stabtaschenlampe gehörten offensichtlich zu seiner Ausrüstung. Die Wildkaninchen hatte er selbst geschossen. Das Schrotkaliber, das man in den Tieren gefunden hatte, stimmte mit dem Kaliber der Patronen überein, die Barus mit sich geführt hatte.
Nach Rücksprache mit dem Forstamt konnten sie vorerst ausschließen, dass Barus selbst die Tiere in das Küchenpapier eingewickelt hatte. Ein diesbezügliches Jagdritual war niemandem bekannt.
Heerse hatte das befürchtet. Wieder war eine Botschaft hinterlassen worden und wieder gelang es ihnen nicht, diese zu verstehen.
»Warum hat man ihn so zugerichtet? War das Wut?«, fragte jetzt Lukas Bürg mit belegter Stimme.
Frank betrachtete noch einmal die Tatortfotos. »Vielleicht gehört das aber auch zur Inszenierung der Leiche. Die toten Karnickel, der Jäger am Hochsitz ... Könnte der Mörder versucht haben, das Opfer auszuweiden?«
Heerse nahm ihm das Foto aus der Hand. »Hört sich zwar abartig an, aber möglich wäre es. Auf so etwas muss man erst einmal kommen ...«
Kurz überlegte der Hauptkommissar, dann hatte er eine Entscheidung getroffen. »Wir fangen noch einmal von vorne an. Ich fordere mehr Männer an. Ich möchte erneut die Anwohner befragen. Vielleicht hat doch irgendwer etwas gesehen. Und ich will mehr über die Opfer erfahren. Hakt dort noch einmal nach. Fangt gleich mit Walter Barus an.«
»Aber beim letzten Tatort kann das mit den Befragungen schwierig werden«, warf Bürg ein. »Mitten im Wald ...«
»Richtig, aber das ist ein Jagdgebiet. Vielleicht waren noch andere Jäger in der Nacht unterwegs, überprüft das.«
»Mir ist aufgefallen, dass bisher alle Morde in den Stadtteilen und nicht in der Innenstadt begangen wurden. Balg, Oos und jetzt Sandweier.«
»Ja«, meinte Heerse, »das ist ein guter Einwand. Versuchen wir die Kollegen von den Streifen mehr einzubinden. Die sollen noch wachsamer sein.«
Eine Stunde später besprach Heerse diese Pläne mit seinem Vorgesetzten. Zum Glück war es ihnen dank dem guten Draht zur heimischen Presse gelungen, Einzelheiten der Verbrechen bisher zurückzuhalten. So sprachen die Zeitungen lediglich davon, dass die Opfer kaltblütig erschlagen worden waren. Weder das Beil noch die »Botschaften« des Mörders hatte man erwähnt. Wie lange man das allerdings noch unter Verschluss halten konnte, war fraglich. Abgesehen davon fingen langsam auch die überregionalen Medien an, sich für die Morde in Baden-Baden zu interessieren.
* * *
Heerses Vorahnung, was das Stillhalten der Presse betraf, sollte sich schon zwei Tage später erfüllen. Eines der Sensationsblätter mit deutschlandweiter Auflage titelte an diesem Morgen mit der Schlagzeile: »Serienmorde in Baden-Baden, Pommerenke ist zurück!«
»Geschmackloser Dreck!«, brüllte der Hauptkommissar wütend, als er die Zeitung in der Hand hielt. »Und wie haben die von dem Beil als Tatwaffe erfahren?«
»So was kann man gar nicht unter Verschluss halten, davon wissen zu viele«, wollte ihn Frank Dorthal besänftigen, »wenigstens ist nichts von den Inszenierungen der Leichen durchgesickert.«
»Noch nicht«, sagte sein Vorgesetzter zornig, »und dann diese Pommerenke-Geschichte. Nur um die Angst der Menschen noch mehr anzuheizen. So was kotzt mich an.«
Dorthal und Bürg schwiegen. Sie wussten, was ihr Chef damit meinte. Heinrich Pommerenke war wegen vier Morden, zahllosen Mordversuchen, Vergewaltigungen und Überfällen verurteilt worden. Seine Morde beging er 1959 im südwestdeutschen Raum. Das war für die Zeitung natürlich ein perfekter Aufhänger. Die Ermittlungen waren damals nicht einfach gewesen, vor allem, weil erst sehr spät die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gewalttaten erkannt wurden. Dennoch konnten die Behörden Pommerenke noch im gleichen Jahr festnehmen. Das Gericht verurteilte ihn zu mehrfacher lebenslanger Haft. Im Alter von einundsiebzig Jahren starb er im Gefängnis. Heinrich Pommerenke ging damit als grausamer Serienmörder in die Kriminalgeschichte ein. Und jetzt hatte sich diese Zeitung auf Baden-Baden gestürzt wie ein Wolf auf das Lamm, und die Telefone und E-Mail-Server liefen heiß. Alle wollten etwas über den »Beilmörder, den neuen Pommerenke von Baden-Baden« erfahren. Heerses Chef kochte und die Stadtoberen verzweifelten aufgrund dieser negativen Presse. Schließlich war die Region bisher bei den Touristen sehr beliebt gewesen.
Allerdings glaubte Heerse nicht, dass diese Meldung die Besucherzahlen senken würde. So funktionierten die Menschen nicht. Die wenigsten verkrochen sich vernünftigerweise in der Sicherheit ihres Zuhauses, um abzuwarten, bis die Gefahr vorbei war. Nein, erfahrungsgemäß zog es die meisten zum Ort des Geschehens, um eine ungesunde Neugier zu befriedigen. Vermutlich würde das auch dieses Mal so sein, und das Hotelgeschäft in und um Baden-Baden könnte dadurch sicherlich eine wundersame Belebung erfahren.
Heerse dachte an die Hinterbliebenen der Opfer. Vielleicht hatte von denen einer mit der Presse gesprochen. Brunhilde Müller, die Schwägerin der ersten Toten, hatte sich möglicherweise einem netten jungen Mann anvertraut und sich ihre Sorgen von der Seele geredet. Wer weiß, ob nicht sogar einer der Reporter Freda aufgespürt hatte. Für ein bisschen Kleingeld hätte die sicher gerne ihre Geschichte erzählt. Wer konnte es ihr verdenken?
Dann holte ihn die Erinnerung an Gisela Barus ein. Die Frau des dritten Opfers. Er nahm sich noch einmal das Protokoll vom Vortag vor und fühlte sich sofort wieder zurückversetzt in das gutbürgerliche Wohnzimmer der Familie Barus.
Befragung der Familie Barus, Baden-Baden, einen Tag zuvor
Einen Tag nach dem Tod von Walter Barus mussten die Beamten der Witwe ihre Fragen stellen. Gisela war mit verweintem Gesicht auf der dunklen Ledercouch gesessen, dicht an ihre Schwester gedrückt, die sie liebevoll im Arm gehalten hatte. Auch der Schwager war dabei, stand hilflos neben den beiden Frauen und war dankbar, als man ihn bat, Kaffee für die Polizisten zu kochen.
Heerse hatte dieses Mal Frank Dorthal mitgenommen. Seine nüchterne Art würde sich bei der späteren Auswertung sicher als nützlich erweisen.
»Sie wüssten nicht, dass Ihr Mann Feinde gehabt hätte?«, fragte Heerse gerade. Den Versuch, diese Dinge schonend zu umschreiben, hatte er bereits vor Jahren aufgegeben. Den Hinterbliebenen half es wenig, wenn er wie die Katze um den heißen Brei schlich. Dann lieber kurz und schmerzlos. Allerdings war es niemals schmerzlos.
Auch jetzt schluchzte Gisela laut auf: »Walter? Nein, der war viel zu gutmütig, hatte nie Streit mit jemandem.«
»Und er ging regelmäßig zur Jagd?«
»Ja, aber er war kein gewöhnlicher Jäger. Meistens schoss er gar nichts, sondern genoss nur die Ruhe des Waldes.«
Wieder schluchzte die Witwe und ihre Schwester sah den Hauptkommissar vorwurfsvoll an. Er hatte alle seine Fragen zur Person des Toten gestellt und nichts erfahren, was sie dem Täter näherbringen konnte. Jetzt sah er zu Frank, der, so wie es die Männer vereinbart hatten, mit der Befragung fortfahren sollte.
Mittlerweile war der Kaffee fertig und der Schwager von Gisela Barus setzte sich zu ihnen.
»Sind Sie mit der Jagd vertraut?«, erklang Franks ruhige Stimme.
»Nicht besonders«, stammelte Gisela und auch die Schwester schüttelte mit dem Kopf.
»Und Sie?«, wandte sich der Polizist nun an den Schwager.
»Na ja, ich war ein paar Mal mit Walter draußen. Bin selbst aber kein Jäger, ist nicht meine Welt.«
»Hat er, als Sie dabei waren, auch einmal Wildkaninchen geschossen?«
»Ja, einmal«, der Schwager war jetzt nervös und sah Hilfe suchend zu seiner Frau.
Heerse wurde aufmerksam und fixierte den Mann.
»Und, wie war das? Was hat er mit den toten Tieren gemacht?«
»Er hat sie mit nach Hause genommen und dort ...«
»Mein Mann hatte sich im Keller einen Raum eingerichtet«, ergänzte Gisela.
»Hat er irgendetwas Besonderes mit den Tieren gemacht? Ich meine noch im Wald?«
Der Schwager fühlte sich immer unwohler.
Schließlich sprach seine Frau für ihn: »Mein Mann ist, wie er bereits gesagt hat, nicht für die Jagd geboren. Als er damals die toten Tiere sah, wurde ihm schlecht und er musste sich übergeben.«
»Ja, so war es. Walter hat daraufhin nie wieder etwas geschossen, wenn ich dabei war. Wir saßen dann einfach nur da und haben das Wild beobachtet.«
Heerse war enttäuscht. Das war also auch eine Sackgasse, trotzdem hakte er jetzt ganz direkt nach: »Es ist also keinem von Ihnen bekannt, dass Ihr Mann erlegte Wildkaninchen mit weißem Küchenpapier eingewickelt hätte, und zwar so, dass der Kopf noch zu sehen war?«
»Nein, wozu auch? Walter hatte seine Ausrüstung, spezielle Taschen zum Transportieren.«
»Aber er hatte Küchenpapier dabei?«
»Ja, aber nicht, um Wild darin einzuwickeln. Das war dafür gedacht, etwas abzuwischen oder zu reinigen. Sich die Hände abzutrocknen oder auch mal die Nase zu putzen, eben für den Notfall.« Gisela wurde ungeduldig. »Was spielt das überhaupt noch für eine Rolle?« Sie schluchzte laut und rief hysterisch: »Sie sollten lieber den Mörder finden, anstatt uns solche dummen Fragen zu stellen!«
Ein Heulkrampf schüttelte die arme Frau und Heerse bedeutete seinem Kollegen, dass es Zeit war, sich zu verabschieden.
Der Schwager brachte sie zur Tür. »Der Walter war einer der besten Menschen, dem ich jemals begegnet bin. Sie würden uns ein wenig Seelenfrieden zurückgeben, wenn Sie das Schwein finden, das ihm das angetan hat.« Jetzt liefen dem Mann Tränen über die Wangen und Heerse drückte ihm wortlos zum Abschied die Hand.
Danach waren er und Frank Dorthal zurück zum Präsidium gefahren. Sowohl Heerse als auch sein jüngerer Kollege hatten die große Last, die auf ihren Schultern lag, gespürt.