Jetzt haben wir also die »Majonäse« und kein scharfes ß mehr. Und immer schwerer fällt es mir, mich gegen den Gedanken zu wehren, der Krieg sei vielleicht doch schon ein paar Jahre vorbei. Was sonst soll es bedeuten, daß die Rechtschreibung wieder wichtig genug ist? Daß wir die Wörter unserer Feinde eindeutschen? Daß Kongresse statt Kriegsgerichte die Frage behandeln, ob Soldaten Mörder sind, wie es der Artikel nahelegt?

Nur daran will und darf ich gar nicht weiter denken: Daß man uns nach dem Endsieg einfach vergessen haben könnte. Unmöglich.

Zu dem Artikel drucken sie ein Foto, das ich auch schon in den Büchern von Monse mehrfach gesehen habe. Drei Kameraden der Wehrmacht sind darauf zu sehen, die eine standrechtliche Erschießung von Zivilisten vorzunehmen haben, vermutlich Partisanen. Von Vater weiß ich, daß solche Dinge keinem Soldaten leichtfallen, auch wenn die auf dem Foto ihre Hemmungen grinsend überspielen.

Wer namentlich für die angeblichen Verbrechen der Wehrmacht angeklagt ist, läßt sich aus der Zeitung nicht entnehmen. Aber die Verhandlung findet offenbar in aller Öffentlichkeit statt. Vermutlich soll ein Exempel statuiert werden, denn die Zeitung ruft außerdem zu Protesten auf, die unter dem Motto: Nie wieder! stehen und sich gegen so genannte freie Kameradschaften richten, die ebenfalls Protest angemeldet hätten.

Irritiert lasse ich die Zeitung sinken und erschrecke wie ein Kind im Keller, als mich eine junge Frau anschreit.

Wie bitte, frage ich zurück.

Sie brüllt es mir noch mal ins Ohr, und ich habe mich doch nicht verhört: Opa nennt sie mich und fragt, was ich trinke.

Ich springe empört auf. Soll sie doch mal selber in den Spiegel sehen: Ihre Haare schimmern in allen möglichen Farben und stehen wüst in jede Richtung ab. Allein ihre Frisur müßte man wegen Zersetzung jedes normalen Form- und Farbempfindens ahnden. Aber sie drückt mich sanft zurück auf meinen Hocker und lächelt.

Keine Sorge, sagt sie, ich müsse nicht unbedingt etwas bestellen. Sie habe selbst auf der Straße gelebt, und solange ihr Chef nicht da sei und genug Platz im Laden - kein Problem.

Ich will etwas entgegnen, aber sie winkt nur ab. Dann zupft sie an meinem Mantel: Schaues Teil, sagt sie, Kleiderkammer?

Es soll wohl ein Kompliment sein, aber ich habe nun keine Zeit mehr für Plauderei und Fragen, sondern endlich einen Plan: Morgen soll das Tribunal eröffnet werden. Dazu die angekündigten Aufmärsche auf dem Alexanderplatz. Dort, spätestens, werde ich auch auf Dienstränge stoßen, die mir weiterhelfen können. Und wenn es nur der ehrenvolle Abschied ist - Hauptsache Klarheit!

Weit kann es nicht sein. Trotzdem ernte ich mehr als einmal blödes Gelächter, als ich nach dem Weg zum neuen Volksgerichtshof frage. Verdorbenes Jungvolk schickt mich auch noch feixend in die falsche Richtung, und ich merke es erst, als ich mich in einem Labyrinth aus Beton verirrt habe. Das Gelände liegt mitten in der Stadt und mißt bestimmt 150 Meter im Quadrat. Anfangs erkenne ich noch das Brandenburger Tor, dann schlagen die unterschiedlich hohen Quader förmlich über mir zusammen. Es könnte ein Heldenfriedhof sein, aber ich bin mir nicht sicher. Fingerdicke Risse ziehen sich durch den Beton, obwohl sonst noch alles recht neu wirkt. Wer es mit den Opfern seines Volkes ehrlich meint, denke ich, hätte sicher nicht am Material gespart und vielleicht auch älteren Besuchern die Orientierung erleichtert.

Eine halbe Stunde stolpere ich kreuz und quer durch den versteinerten Irrgarten, bis mich ein uniformierter Wächter rettet. Er knurrt so unfreundlich wie sein Schäferhund: Ich solle mich bloß davonmachen. Er wolle keinen Ärger mit Pennern und so einem politischen Scheiß. Genau das sind seine Worte, während er ängstlich auf meine Armbinde deutet. Dann führt er mich hinaus.

Unter den Linden streife ich die SA-Binde ab. Nicht aus Feigheit, aber sie scheint auch nicht gerade hilfreich zu sein. Und auf Schritt und Tritt wechseln sich neue Zweifel mit Zeichen der Normalität ab: Die Botschaft der Amerikaner wird von deutscher Polizei streng bewacht - nicht anders erwartet man das im Krieg. Auf der anderen Seite strömen die Leute über den Boulevard, besuchen Empfänge und Theater, wie das nur im Frieden so unbeschwert vorstellbar ist. Vor einer Filiale der Dresdner Bank studiere ich die Aushänge und kann die Schweinerei kaum glauben: Bis zu zwölf Prozent Zinsen verlangen sie - ausgerechnet die Hausbank der SS, wo auch mein Soldkonto noch laufen müßte!

Hieß es nicht immer, wir befreien uns aus der Knechtschaft des Großkapitals? Waren das auch alles nur leere Versprechungen wie die Wunderraketen und modernen Vierstrahljäger, die eine Wende bringen sollten? Und wenn die Niederlage wirklich so verheerend war, so total und vernichtend, wie Monse behauptet: Wieso geht es der Heimat schon wieder so gut? Hat jemand alles auf Null gestellt? Wo sind die Sieger und Besatzer? Wo die Verlierer?

Ob die Dresdner auch ebenso hohe Zinsen zahlen?

Ich versuche, mir die Jahrzehnte im Zinseszins auszurechnen, doch weit komme ich nicht. Meine Schritte werden immer langsamer davon, als hätte mir jemand Blei in die Stiefel gegossen. Wenn es wahr ist, was ich fürchte, wiegt das kein Geld der Erde auf. Ein ganzes Leben unter Tage, womöglich umsonst. Schwermut überkommt mich, wie ich sie vorher nie kannte. Die Zeit war stehen geblieben da unten. Ich war 17 - über 60 Jahre lang. Nun spüre ich sie auf einmal in jedem Knochen, und auch die Seele trägt schwer daran wie 60 Pfund Marschgepäck. Warum soll ich mich auch beeilen? Will ich es wirklich noch genauer wissen?

Mehr als eine Stunde brauche ich bis zum Alexanderplatz, und angesichts der nagelneuen Hochbunker ringsum kann ich die trüben Gedanken sogar noch einmal beiseite wischen. Wie viel zu enge Balkone hat man um den ganzen Platz herum MG-Nester aufeinander gestapelt und die Schützenstellungen zum Teil mit Blumenkästen getarnt. In der Mitte ragt ein Turm in den Nachthimmel, von Flakscheinwerfern beleuchtet. Ganz oben glänzt eine silberne Kugel. Das muß Germania sein: Ein Speer aus Beton, erhaben und stolz. Bald schmerzt der Nacken vom Blick in die Höhe, und ich sinke müde auf eine Bank. Und ich fürchte, Liesbeth, ich kann nicht mehr.

Dass du einfach aufgelegt hattest, war trotzdem nicht fair, Benny. Ich hatte Gerd Busch schließlich nicht vom Sims gestoßen! Wo sollte ich außerdem hin mit seinem Auto und dieser verstockten Frau auf dem Rücksitz? Obendrein war es bestimmt 20 Jahre her, dass ich das letzte Mal hinter einem Steuer gesessen hatte.

Zum Glück waren nicht mehr viele Autos unterwegs, die vielen Demonstranten längst zu Hause. Am Brandenburger Tor sammelten Polizisten die letzten Sperren und Verkehrsschilder ein. Bei dir war die ganze Zeit besetzt. Wolf Jäger ging auch nicht ans Telefon, dabei hätte ich ihn wirklich gern für den schamlosen Umgang mit Elisabeth von Jagemann zur Rede gestellt. Ich war sicher, er kannte die Einzelheiten, so wie er über alle Details der letzten Tage informiert war. Doch die alte Dame, so schien es, war der einzige Mensch auf der Welt, der überhaupt noch mit mir reden wollte. Sie saß hinter mir, hielt mit einer Hand Buschs letzte Einkäufe fest und sah interessiert aus dem Fenster.

»Ist es das? Das Juden-Denkmal?«

Hinter einem beleuchteten Bauzaun wuchsen die Stelen in den bläulichen, nie ganz dunklen Berliner Nachthimmel. Ich nickte in den Rückspiegel und hätte in diesem Augenblick fast einen Penner überfahren, der ohne nach rechts und links zu sehen über die Straße eilte. Ich musste mich noch mehr auf den Verkehr konzentrieren. Und ganz sicher würde ich nicht mit ihr über das Mahnmal diskutieren, so pikiert, wie sie schon danach gefragt hatte! Aber offenbar wollte sie sowieso lieber nur selber reden.

»Mutter hat das Pack immer verachtet, die ganze Nazibande und ihre vulgäre Ideologie. Aber für Paps war es die Zukunft und - das klingt heute vielleicht komisch - auch ein bisschen Revolte gegen seinen eigenen Vater. Nichts hat Großvater mehr geärgert, als der Umgang seines einzigen Sohnes mit dem braunen Pöbel. Vater war einer der ersten Adligen der Bewegung. Und bei ihm war keine Berechnung dabei, wegen der Karriere oder weil sie ihm später das Parteiabzeichen vergoldet haben. Seine Begeisterung war ehrlich, er glühte dafür ...«

»Und Fritz?«

»Ach Fritz!« Im Spiegel sah ich ihren Blick durch den Tiergarten schweifen, während wir auf der Straße des 17. Juni Richtung Westen fuhren. »Fritz war doch noch ein Kind, fast noch mehr als wir Mädchen. Feinsinnig, kränklich und immer zu dünn. Ein kleiner Meister am Klavier, aber sonst das ganze Gegenteil von dem, was sich Vater immer von einem Jungen versprochen hatte.«

»Und wieso«, fragte ich, »hat sich Fritz nicht genauso gegen seinen Vater aufgelehnt? Wieso wollte er auch unbedingt zur SS?«

Nachdem, was sie über ihren Vater erzählt hatte, war das doch keine so abwegige Frage, oder Benny? Sie aber seufzte nur gequält und begann plötzlich ein Schlaflied zu summen.

»Kennen Sie das«, fragte sie dann, »morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Fritz hatte immer Angst, dass Gott eines morgens nicht mehr wollen könnte. Noch mit 16 traute er sich nachts nicht allein ins Bad, wenn Vater zu Hause war. Nicht, was man heute denken würde - nein: Da stand nur dieses Glas mit Borwasser und Vaters Auge darin. Ein Granatsplitter aus dem ersten Krieg. Und wenn man Pech hatte, glotzte es einen an. So war Fritz ... aber Entschuldigung: Was hatten sie eben gesagt? Es war, glaube ich, eine ziemlich dumme Frage.«

»Wenn Sie meinen!« Ich schluckte beleidigt.

»Damals hat man sich nicht aufgelehnt, verstehen Sie? Jeder hatte mit sich selbst zu tun, so ähnlich wie heute. Vielleicht lehnt sich überhaupt nur jede zweite Generation auf. Erst dann sind die alten Ideale nicht mehr ganz frisch und die ehemaligen Revoluzzer selbst alt genug. Oder was ist mit Ihnen?«

»Ich?« Das war tatsächlich nicht so einfach im Moment. »Also früher, ich meine als junges Mädchen, ich glaube schon, dass ich mich aufgelehnt habe, und auch jetzt noch, gegen Nazis oder ...«

»Gegen Nazis, aha.« Sie kicherte albern.

»Ja, zum Beispiel. Was gibt’s da zu lachen?«

»Ganz schön mutig! Das ist doch praktisch Staatsräson. Eher würde ich mir Sorgen machen, dass die Jungen nicht genau dagegen rebellieren. Glauben Sie mir, alles kommt irgendwann wieder!«

»Eben. Deshalb ja! Deshalb ist es ja unsere Pflicht ...«

»Pflicht? Das haben wir damals auch gedacht.«

»Bis zum bitteren Ende, ich weiß schon ...«

»Genau. Und danach gab es neue Pflichten. Überleben, zum Beispiel, wieder aufbauen. Damit es immer weitergeht, damit die nächste Generation - wenn Sie so wollen - wieder etwas hat, wogegen sie sich auflehnen kann. Überleben ist sowieso Pflicht!«

»Aber Krieg und Massenmord nicht!« Endlich hatte ich sie, dachte ich. Gleich würde sie auch noch die schlimmsten Verbrechen zum Überlebenskampf zählen und sich damit endgültig entlarven.

»Ach Kindchen«, sagte sie, »keine Generation weiß vorher, wohin die Reise geht. Die Jugend wird das Alte immer verurteilen, belächeln, bekämpfen. Es ist ihr gutes Recht, vielleicht sogar auch eine Pflicht. Meine Güte, sie als Polizistin müssen das doch kennen! Sie erfüllen doch auch nur ihre Pflicht, oder nicht?«

Wütend sah ich in den Rückspiegel. Sie wich mir aus, lächelte mild und nach zwei planlosen Runden um den großen Stern entschied ich mich zum Äußersten. Es ging nicht anders: Sie musste alles wissen. Wenigstens die Vollbremsung überraschte sie etwas. Aber als ich mich fast gleichzeitig zu ihr umdrehte, war der Spott schon wieder in ihr Gesicht zurückgekehrt. Beinahe kam es mir vor, als wenn ich diese schnippische Unterlippe schon ewig kannte, ein Mund, der nichts gelten ließ als die eigenen Worte.

»Damit Sie es genau wissen«, sagte ich, »zu meinen Pflichten gehört es leider auch, ihren Bruder zu verhaften.«

Sie lächelte immer noch: »Das liegt wohl kaum in ihrer Macht! Wolfgang würde ihnen was husten!«

»Wer? Ich rede von ihrem Bruder Fritz. Fritz von Jagemann.«

»Fritz?« Auf einmal sprach sie leise, und jede Selbstsicherheit war aus ihrer Stimme verschwunden: »Fritz lebt?«

»Ja, Fritz. Wir wissen zwar nicht genau, wo er sich im Moment aufhält, aber er könnte bereits in Berlin sein.«

Sie sah mir lange direkt in die Augen. Dann fummelte sie umständlich am Türöffner, quälte sich aus dem Wagen und stützte sich mit beiden Händen auf die Kühlerhaube, als müsste sie sich gleich übergeben. Ich wollte ihr helfen. Sie aber schüttelte mich ab. Erst als ich ihr ein Taschentuch anbot, schämte sie sich nicht mehr und nahm meine ganze Hand.

»Sie würden damit keine Scherze machen, oder?« Ganz sicher schien sie aber nicht. »Ist es wirklich unser Fritz?«

»Ich fürchte schon, ja.»

In Wirklichkeit fragte ich mich auf einmal, wie sicher ich wirklich sein konnte. Immerhin hatten sie mir bisher nie die ganze Wahrheit gesagt. Schiller jedenfalls nicht. Aber Wolf?

»Aber ...« Sie weinte nun hemmungslos. »Wo hat er denn die ganze Zeit gesteckt. Warum hat er sich denn nicht gemeldet?«

»Das prüfen wir noch. Haben Sie ihn nie suchen lassen?«

Elisabeth von Jagemann ließ meine Hand los und sank wieder auf die Rückbank des Autos. Hilflos sah sie zu mir hinauf.

»Wie denn? Wir konnten ja nicht - wegen der falschen Identität. Außerdem sind so viele umgekommen in den letzte Wochen ... Mein Gott, vielleicht hat er uns ja deshalb nicht gefunden, weil wir am Anfang selbst als tot galten. War er im Ausland? Hat er Familie? Jetzt sagen Sie schon: Wie geht es ihm?«

»Er ist gesund. Jedenfalls körperlich ganz gut beieinander, so viel wir wissen. Schauen Sie eigentlich nie fern?«

»Selten. Wieso? Was hat das mit Fritz zu tun?«

»Nichts.«

Wie sollte ich ihr die Situation nur in wenigen Worten erklären? Das Fernsehen konnte das. Ihr konntet das, Benny, weil ihr es euch einfach macht. Und wenn es doch mal komplizierter ist, macht ihr es eben kurz.

»Wo ist er? Weiß es Wolfgang schon? Jetzt reden Sie doch!«

Viel zu schnell für meinen Geschmack hatte sie ihren herrischen Ton wieder gefunden. Diese Ungeduld, der schnelle Wechsel von Nähe und Distanz - all das hätte mir gleich bekannt Vorkommen können. Müssen! Und mit dem Hauch einer Ahnung hätte ich natürlich auch die nächste Frage nie gestellt, ganz sicher jedenfalls nicht so beiläufig.

»Wen meinen Sie eigentlich ständig mit Wolfgang? Diesen Kieler, ihren Stiefvater?«

»Ach was, Kieler! Hören Sie nicht zu? Johann Baptist hieß der Kerl, wie der Täufer. Und unser Stiefvater war er nie. Wir haben ihn ausgehalten - in jeder Hinsicht. Seine Heuchelei und dass er nie wieder richtig gearbeitet hat ... außer ein bisschen Ehrenamt für die CDU. Mein Gott, manchmal habe ich unser Wölfchen wirklich verstanden, das können sie mir glauben ...«

Unser Wölfchen? Wolfgang? Meine Kompetenzen? Langsam begannen die Zahnräder in meinem Kopf zu arbeiten. Erst knirschten sie noch und taten weh, dann griffen sie erbarmungslos ineinander.

Obwohl es Gerd sicher nicht recht gewesen wäre, gab ich mich am Telefon als sein Sohn aus, und hatte so nach zehn Minuten raus, dass er in der Charite gelandet war. Zu seinem Zustand wollte man mir keine Auskunft geben. Er war auch nicht zu sprechen. Aber offenbar hatte der alte Haudegen überlebt, denn man versprach mir, ihm meinen Anruf auszurichten.

Danach - und auch dabei sah ich seinen Schnurrbart schon jetzt heftig zucken - telefonierte ich sein Adressbuch rauf und runter. Ich weckte Kollegen, störte sie bei den Tagesthemen im Fernsehen oder beim Sex - es war mir scheißegal. Jedem einzelnen bot ich unser Material exklusiv an. Doch sie wimmelten mich entweder mit dem Hinweis auf Redaktionsschluss ab oder wollten fadenscheinige Treffen für nächste Woche vereinbaren. Ein paar seiner so genannten Freunde legten mir sogar nahe, es doch bei irgendeinem faschistischen Sudelblatt zu versuchen - oder gleich wieder auf, als sie seinen Namen hörten.

Bei der Woche kannte man angeblich keinen Mitarbeiter namens Strakka. Ein anderer »alter Freund« von Busch fand es »nicht angebracht, aus geistig verwirrten Menschen auch noch journalistisches Kapital zu schlagen«, und er meinte nicht etwa Fritz. Er persönlich konnte es Busch »nicht mal verübeln, also wirklich, manchmal da könnte man schon ...« Dann aber biss er sich auf die Zunge und erklärte: »Manchmal muss man sich eben auf die Zunge beißen, damit es nicht den falschen Leuten nützt.« Er wolle nicht auch noch in die gleiche Falle tappen. Das sollte ich bitte verstehen.

Nach über zwanzig Telefonaten hatte ich verstanden: Die Story war durch. Genauso schnell, wie sie zwei Tage gekocht worden war, war sie nun gegessen und abgekühlt. Ein paar Leute hatten sich die Finger daran verbrannt, und bis zur nächsten Nazisause in den Medien benahmen sich bei dem Thema wieder alle wie trockene Alkoholiker, die einem einreden wollten, man bräuchte auch dringend eine Entziehungskur. Wer nicht hüpft, ist ein Faschist. Scheiße, Evelyn, ich war wirklich froh, als du plötzlich bei Foth vor der Tür standest. Du warst sogar genau die Richtige, denn nach diesen ganzen Telefonaten brauchte ich dringend einen frischen Persilschein: War ich wirklich schon selbst ein Nazi, nur weil ich etwas mehr Mitleid mit ein paar alten Trotteln hatte, als diese verlogene Gesinnungs-Gestapo erlaubt?

Das nicht. Ein bisschen naiv vielleicht, sonst würdest du solche dümmlichen Gestapo-Vergleiche nicht anstellen, aber auch niedlich, wie du unsereins ständig provozieren wolltest. Womöglich war es ja sogar das, was mich so anzog an dir, diese Unbefangenheit, mit der einer wie du Autobahn sagt und sich nichts dabei denkt, als schnell von A nach B zu kommen. Wie einfach du dir alles machst - oder nur nicht so schwer. Nein, ein Nazi warst du sicher nicht, auch wenn dich die alte Frau von Jagemann auf Anhieb in ihr Herz geschlossen hatte. Und bei ihr war ich mir da nicht so sicher.

Ihr hättet Euch mal sehen sollen auf diesem Sofa! Wie sie die Umschläge der ollen Kladden abtastete und liebkoste. Wie sie dir jedes Wort von den Lippen saugte, als hättest du diesen Schatz für sie persönlich vor den Russen gerettet. Wie Oma und Enkel, keine Spur mehr von Dame oder einem halbwegs unabhängigen Journalisten. Du warst längst Teil deiner Story, das machte mir Sorgen, sie hatte dich verschluckt. Du wolltest nicht mehr nur Chronist sein, sondern offenbar die Unschuld von vier alten Faschisten beweisen. Opfer in SS-Uniformen gibt es aber nicht. Sie sind niemals unschuldig, selbst wenn sie unschuldig sind, verstehst du? Da konntest du seiner Schwester noch so viel Nettes von Fritz erzählen, während ich mich in dieser gruseligen Wohnung umschaute und mich still vor mich hin schämte.

Wenn wir nur eher miteinander geredet hätten, Benny! Wenn ich gewusst hätte, was ihr von Strakka wusstet! Aber selbst dann: Wahrscheinlich hätte ich euch kein Wort geglaubt und mich genauso lange standhaft gegen die Wahrheit gewehrt. Genau wie dein Fritz. Wie wir alle. Wie Wolf Jäger letztlich auch, das Schwein!

Wie der mich benutzt hatte. Was er mir alles erzählt hatte, damit ich die Drecksarbeit für ihn mache! Erst die Amerikaner, das Ansehen Deutschlands und dann auch noch diese beknackte UNO-Geschichte. Dabei wusste er womöglich von Anfang an - spätestens aber seit der Name seiner Sippe erstmals fiel -, wer da aus dem Loch gekrochen war. Es war wie bei Kain und Abel, nur dass Jäger das Kainsmal schon vorher trug und nichts mehr fürchtete als die Frage nach Abel. Notfalls hätte er seinen eigenen Bruder lieber erschlagen, nicht mal das - erschlagen lassen. Von mir!

Wie kann man nur ein halbes Leben gegen all die alten Ausreden kämpfen, gegen blinden Gehorsam, Pflicht und Vaterlandsgerede - und gleichzeitig selbst jeden Befehl bedingungslos ausführen, sobald es einer das Ansehen Deutschland nennt? Ich hatte es hingekriegt. Wolf Jäger war nicht die schlechteste Entschuldigung dafür - ich meine: als Mann. Jedenfalls kein Vergleich zu dem kleinen Giftzwerg mit dem halben Schnurrbart, dem die Weiber angeblich ja auch zu Füßen lagen, was ich nicht verstanden hatte. Ja, Benny, wenn du schon so fragst: Es gibt immer noch genug Rätsel und Fragen, denen wir uns stellen müssen. Ob sich womöglich nur die Geschmäcker ändern, zum Beispiel, aber die Frauen nie? Das hätte ich auch Elisabeth von Jagemann gern mal gefragt.

Freitag

Naiv und niedlich also, aha. Und deshalb bist du mir sofort in Foths Schlafzimmer gefolgt, nachdem ich Liesbeth die restlichen Tagebücher in den Schoß gelegt hatte? Ich war todmüde. Es war lange nach drei Uhr. Ich hatte die Augen zwar schon zu, aber habe mich trotzdem noch mindestens zwei Minuten gegen den Schlaf gewehrt, deinen Atem warm in meinem Nacken. Worauf hast du gewartet? Bis ich nicht mehr konnte? Auf einen Heiratsantrag?

Ach, Benny! Wie du überhaupt schlafen konntest in dieser Nacht. Eine Schnapsidee war das, ausgerechnet in dieser schrecklichen Wohnung auf Fritz zu warten. Wahrscheinlich hatten sie ihn längst gefunden - oder die Papiere, die ich in dem Faxgerät vergessen hatte. Sicher konnte Schiller der Nummer im Handumdrehen eine Adresse zuordnen, ließ womöglich gerade das Haus umstellen und jeden Moment stürmen, vermutlich von UN-Truppen. Ich hatte alles vermasselt. Da konnte ich mich doch nicht auch noch an einem schlafenden Jüngling vergehen, auch wenn es mir ziemlich schwerfiel. Ich sah dir noch eine Weile beim Schlafen zu und zog die Schuhe aus, bevor ich mich wieder zu der alten Jagemann setzte.

Sie hatte ihre Lektüre gerade unterbrochen und starrte weinend ins Leere. Es mochte nicht der richtige Moment gewesen sein, vielleicht auch nicht der richtige Ton, aber den muss man ja auch erst mal treffen nach stundenlangem Schweigen. Auf jeden Fall war es nicht böse gemeint und erst recht kein Vorwurf, als ich von ihr wissen wollte, wie viel man eigentlich als Kind davon mitbekommt, was ein Massenmörder-Papa den ganzen Tag über treibt.

Ihre Tränen schienen auf der Stelle zu gefrieren:

»Bitte verschonen Sie mich damit, ja? Vater war Soldat.«

»Aber ihr Bruder hat wegen ihm immerhin ...«

»... unseren Namen sterben lassen - wem sagen Sie das?«

Na toll! Man konnte Wolf oder Wolfgang sicher einiges vorwerfen, aber doch nicht zuerst das Ende der Linie von Jagemann! Aber seine feine Schwester hatte sogar dafür Verständnis.

»Wahrscheinlich konnte der Kleine nicht anders. Er hielt das einfach nicht aus, dass es in allen anderen Familien auf einmal nur noch Flakhelfer gab. Ein Volk ohne Vorfahren! Mitgegangen - aber nicht gehangen. Außer unser Papa. Niemand hat damals die Nürnberger Urteile anerkannt, aber alle waren doch froh, dass sich ein paar Sündenböcke gefunden hatten. Was ist mit ihren Eltern? Sprechen Sie noch mit ihnen? Lieben Sie sie trotzdem?«

»Ich kenne sie nicht - kannte sie nie.«

»Ach so«, sagte sie kühl, »das macht es natürlich einfach.«

Mitleid hatte ich nicht erwartet - aber das? Ein Waisenkind mehr oder weniger war in ihrer Generation nicht der Rede wert. Nichts von damals war der Rede wert. Vergessen, verdrängen, verleugnen - sie nannten das überleben. Hatte es sich Wolf, als er noch Wolfgang war, am Ende auch nur einfach machen wollen?

Elisabeth von Jagemann sah mich noch ein paar Sekunden vorwurfsvoll an, dann sanken ihre Augen wieder in die Tagebücher. Über dem Sofa, auf dem sie saß, hing ein scheußliches Gemälde von blonden Jungs am Strand. Mir fiel der Name des Malers nicht ein, aber ich wusste, dass er noch relativ jung war. Erst in deiner Generation war es geradezu Mode geworden, mit solchen Chiffren zu kokettieren: Unbeschwerte Hitlerjugend, stampfende Musik, dazu das rollende R. Lustige Filme über Hitler oder pathetische über die Vertreibung. Und Wörter wie Gesinnungs-Gestapo, mein Lieber, gehörten für mich auch auf diesen Kinderspielplatz.

Natürlich stritt jeder ab, irgendwas damit sagen zu wollen. Die Provokation allein kam euch offenbar selbst zu platt vor und mir tat das regelrecht leid. Da wolltet ihr euch auch mal mit der Vergangenheit auseinandersetzen - es war nur nicht mehr eure. Da geilten sich junge Künstler an faschistischer Ästhetik auf, manche penetrant beiläufig, andere aufreizend eindeutig - aber es regte kaum noch einen auf, sondern verkaufte sich gut. Im Grunde war es das Gleiche wie bei uns, nur dass euch die lebendigen Gegner fehlten. Ihr konntet nur noch mit Schatten - oder euch über eure 68er-Eltern lustig machen, die gerade anfingen, sich mit euren Großeltern zu versöhnen. Was würden eure Kinder sagen? Mit 17 bei der Waffen-SS? Na und? Ich habe auch schon mal geklaut.

Wolf hatte versucht, über seinen Schatten zu springen. Nun waren sie plötzlich alle wieder da, sein Bruder, der Vater, die ganzen Gespenster. Es war sein politisches Ende. Alles verzeihen Deutsche ihren Politikern: Weiberheldentum und polnische Putzfrauen, hässliche Schnauzer und getönte Haare - aber niemals Schwindelei im Lebenslauf. Auf seine Schwester konnte er nach dieser Nacht auch nicht mehr zählen. Sie lächelte und weinte bis zum Morgen abwechselnd in die Aufzeichnungen ihres Lieblingsbruders. Und obwohl ich Wolf einiges zutraute, wenn es um seine Karriere ging, sträubte sich in mir immer noch alles dagegen. Tot oder lebendig, hatte ich ihn gefragt und wollte mich schon nicht mehr genau erinnern: Hatte er wirklich mit den Schultern gezuckt?

Kurz nach sieben Uhr klingelte dein Handy auf dem Couchtisch. Ich hatte es aufgegeben, vorher die Uhrzeit zu schätzen und nur das dumpfe Geläut einer hässlichen Standuhr gezählt. Die alte Jagemann las immer noch. Du kamst aus dem Schlafzimmer gewankt und es ärgerte mich ein wenig, dass du zum Telefonieren wieder zurückgegangen bist: Konntest du mir immer noch nicht trauen, weil ich offiziell noch Polizistin war? Oder war da noch was offen mit dieser Jessy oder Jenny, deren Namen ich aus Versehen auf deinem Display gelesen hatte und jetzt schon wieder vergessen habe.

Unsinn: Jede neue schlechte Nachricht hatte ich erwartet - nur nicht Jenny. Ihre aufgedrehte Stimme war mir jedenfalls lieber als irgendeine auf Beileid gedimmte aus dem Krankenhaus.

»Wie geht es dir?« fragte sie und begann sofort von sich zu erzählen: »Mich haben sie total fies abserviert ... dieser Matti...«

»Mir geht’s auch nicht besonders«, sagte ich, »danke.«

»Ich hab’s gehört. Wo liegt er denn, der Arme?«

Jenny musste nicht unbedingt die Erste an Gerds Krankenbett sein, aber hatte schon wieder diesen professionellen Ton drauf.

»Charite«, sagte ich misstrauisch, »aber ...«.

»Wann besuchst du ihn? Nimmst du mich mit? Sagen wir 13 Uhr?«

»Ich ...«

Es klingelte an der Tür und vor Schreck hielt ich das Telefon zu, als sei es Jennys Mund. Im Flur traf ich dich, nackte Panik im Gesicht. Frau von Jagemann aber stürzte zur Tür wie ein Kind am Heiligen Abend, und ich konnte sie gerade noch zurückhalten.

»Okay«, flüsterte ich schnell ins Telefon, »13 Uhr.«

Durch den Spion war niemand zu sehen. Ich lauschte ins Treppenhaus, ihr beide hinter mir. Dann ging das Licht an. Die Haustür hatten sie also schon auf. Leise schloss ich die Wohnungstür wieder, trat ein paar Schritte zurück und rechnete damit, dass sie gleich auffliegen würde, wahrscheinlich gefolgt von einer Blendgranante und einer Armee aus SEK-Leuten. Du hieltest deinen Dienstausweis bereit, um die Kollegen zu beruhigen, doch die Schritte auf der Treppe hörten sich nur nach einer Person an. Als es vor der Tür raschelte, konnte ich Liesbeth nicht mehr halten.

»Fritz?« Ihre Stimme zitterte, als sie die Klinke berührte, aber vor der Tür hockte nur ein fremder Mann in blauer Uniform, der ängstlich zu uns aufsah und abwehrend die Hände hob.

»Ich habe damit nichts zu tun«, sagte er, richtete sich mühsam auf und rannte die Treppe hinab, so schnell er konnte.

Dass du ihm »Halt! Polizei!« hinterherriefst, beeindruckte ihn nicht und ehrlich gesagt klang das auch nicht sehr überzeugend. Auf dem Fußabtreter hatte er ein altes Schreibheft liegen gelassen und außerdem - uns stockte allen der Atem - eine Pistole. Liesbeth bückte sich, doch ich kam ihr zuvor und zögerte nur einen Moment, bevor ich ihr beides anstandslos aushändigte. Die Knarre wollte sie nicht. Aber über den letzten Eintrag von Fritz beugten wir uns gemeinsam. Er las sich wie ein Abschiedsbrief.

Liebe Liesbeth, tapferes Mädchen! Vor ein paar Stunden noch habe ich wirklich gedacht, ich könnte dich noch einmal in die Arme schließen. Ich habe gehofft und gebetet und am Ende sogar an das Ende geglaubt, weil es sonst nicht mehr viel zu glauben gibt. Verstehen werde ich es ohnehin nie. In jeder Minute, die bleibt, will ich dir wenigstens alles schildern, als wärst du dabei gewesen - nicht nur in meinem Herzen. Denn da bist du für immer.

Möglichweise bin ich auf der Bank unter der glänzenden Kugel sogar für einen verzeihlichen Moment eingeschlafen, als jemand meine Stiefel berührt. Es ist ein Dackel, der schnüffelt und gerade noch rechtzeitig von seinem Herrchen weggezerrt wird, denn sein Bein war schon oben. In Wahrheit, so kommt es mir gleich vor, suchen beide Kontakt, wenn auch auf unterschiedliche Weise.

Ich richte mich schlaftrunken auf. Seinem Gesicht nach könnte der Fremde etwa mein Alter sein, und als er seinen kleinkrempigen Hut lüpft, vermisse ich auf einmal meine eigene Mütze.

Ach, sagt er freundlich und zeigt auf die Zeitung neben mir, das gute alte ND: Was schreiben sie denn?

Meinen Sie diese Zeitung, frage ich, das Neue Deutschland?

Unsere Zeitung, betont er und schaut mich prüfend an: Natürlich sei die Parteipresse auch nicht mehr, was sie einmal war. Dabei blinzelt er komisch, als wüßte ich schon.

Es scheint ein Test zu sein. Wie ein Verschwörer klopft er mich ab, ob er offen reden kann, und genau diese Angst macht mir Angst: Sehe ich etwa aus wie ein ehrloser Verräter? Was soll die verdruckste Art? Wer so einen Turm baut - und genau so zurückhaltend formuliere ich es auch - muß sich nicht verstecken.

Da nickt er beruhigt, lässt sich neben mir nieder, und beide starren wir eine Weile hinauf. Der Dackel legt seinen Kopf auf meine Stiefel, bis sein Herrchen unvermittelt mit der Faust auf die Bank haut und sagt, wir seien eben doch das bessere Deutschland gewesen. Da knurrt der Dackel und klingt fast genauso.

Gewesen, frage ich vorsichtig. Wie meint er das? Glaube er etwa nicht mehr an die Zukunft unseres Volkes?

Jedenfalls sei nicht alles schlecht gewesen, sagt er darauf. Und der traurige Trotz in seiner Stimme läßt mich schaudern.

Unsere Blicke begegnen sich kurz, bevor er seine wieder über den Platz schweifen läßt und fragt, ob ich auch hier in der Nähe wohne, er habe mich nämlich noch nie gesehen.

Gute Frage, denke ich und frage mich erstmals selbst: Wo ist eigentlich mein Zuhause? Konrad hat eins, Josef auch im weitesten Sinne. Für Otto mag es keine Rolle mehr spielen. Aber ich? Wo soll ich hin, wenn man mir morgen meine Papiere aushändigt?

Ich fürchte, sage ich, meine Heimat gibt es nicht mehr.

Er verstehe genau, was ich meine, antwortet er, und wir schweigen ein paar Minuten einträchtig nebeneinander her, bis er wieder zu klagen anhebt: Wer hätte auch gedacht, dass uns die Russen dermaßen in den Rücken fallen. Gorbatschow und Perestroika - so eine Schweinerei! Dazu spuckt er auf den Boden.

Ich pflichte ihm bei, auch wenn mir die Namen der beiden Russen-Generäle nicht geläufig sind: Man hätte die zweite Front gar nicht erst eröffnen dürfen, sage ich, dann hätten wir auch den Westen auf lange Sicht in den Griff bekommen.

Sicher, sagte er und nickt versonnen. Sei ja auch nicht alles Gold dort, wie man heute weiß. Da hätten wir wahrlich einen anderen Ansatz gehabt, Arbeit für alle, zum Beispiel, und diese Begeisterung der Jugend für eine gerechte Sache ...

Der Fremde bestätigt genau meine Eindrücke: Vergreist und kraftlos habe ich die meisten Volksgenossen erlebt. Keine Vision mehr in den Gesichtern, lange Schlangen vor Arbeitsämtern, fast wie in der großen Krise Ende der 20er Jahre.

Eine Stimmung wie nach dem Krieg, seufze ich.

Wem sagen Sie das, fragt er, nur daß wir was draus gemacht haben: Obdachlose und eine Jugend, die nichts mit sich anzufangen weiß - das sei doch unvorstellbar gewesen bei uns. Aber heute werde das ja alles pauschal verteufelt, sogar die Partei und ihre Jugendorganisationen - als wären Millionen dazu gezwungen worden.

Der Mann spricht die Wahrheit, denke ich, und doch blitzen auch immer wieder die Bilder in meinem Kopf auf, mit denen mich Monse bombardiert hat. Dieses schleichende Gift der Zersetzung.

Was mit dem Zusammenbruch sei, frage ich zaghaft, den vielen Opfern im Osten? Ob er wohl glaube, da sei was dran?

Ungläubig starrt er mich an. Ich bräuchte mich doch nur mal umzusehen: Alle hätten ihre Arbeit verloren, viele ihre Wohnung...

Ich hätte, so unterbreche ich ihn, eher die gemeint, die ihr Leben verloren haben, die Gefolterten, Deportierten ...

Ach was! Geradezu entrüstet bäumt er sich auf: Ich solle mir nichts erzählen lassen! Eher sei man noch viel zu nachsichtig mit den inneren Feinden umgegangen. Das könne ich ihm glauben, er wisse, wovon er redet. Und das Ergebnis hätten wir ja nun!

Fast erleichtert bücke ich mich nach meiner Mütze, die mir während meines Nickerchens hinter die Bank gefallen sein muß, setze sie auf und prüfe mit der Handkante den korrekten Sitz der Totenkopf-Kokarde, genau wie es die Vorschrift verlangt.

Der fremde Volksgenosse aber reißt entsetzt die Augen auf, bevor sie sich zu Schlitzen verengen.

Also wirklich, keucht er dann, einem alten Antifaschisten so einen Schreck einzujagen! Das hätte ich auch gleich sagen können, daß ich auch mit der Ausstellung drüben zu tun hätte. Ob wir etwa immer noch nicht mit dem Aufbau fertig seien, will er wissen, und was der Schabernack mit der Uniform soll?

Ich verstehe ihn nicht mehr und lächele entschuldigend.

Na hör mal, sagt er vorwurfsvoll und duzt mich auf einmal, mit einem Exponat in der Öffentlichkeit herumzulaufen, noch dazu mit so einem. Ich solle mich bloß nicht erwischen lassen! Er selbst sei dort Nachtwächter, sagt er und schaut auf seine Armbanduhr. Aber ich hätte Glück, lacht er dann, seine Schicht beginne erst in einer halben Stunde. Er sei nur noch mal schnell mit dem Hund draußen gewesen. Wenn ich also kurz hier warten würde, käme er gleich mit rüber ins KZ.

Wohin?

Na ins Kongeßzentrum, sagt er, unser altes Haus des Lehrers. Und ich solle endlich aufhören, ihn auf den Arm zu nehmen.

Er eilt davon, aber ich bin sicher: Das Schicksal hat mir diesen Mann geschickt. Mit seiner Hilfe, sagt mir mein Gefühl, werde ich noch heute Nacht Gewißheit haben. Und wenn sie noch so niederschmetternd ist, wie ich indessen fürchte: Ich bin bereit.

Nach einer Viertelstunde ist er zurück, trägt nun eine schmucklose blaue Uniform und ein Barett auf dem Kopf. Kurt, sagt er und reicht mir seine Hand, an der ein Einkaufsbeutel baumelt. Während wir den Platz überqueren, nenne ich meinen Namen, und er findet es eine Schande, daß wir in unserem Alter immer noch arbeiten müßten. Dieses verdammte Rentenstrafrecht, schimpft er, diese Arroganz der Besatzer ...

Beim Ministerium sei er gewesen, sagt er dann und flüstert dabei fast, über 30 Jahre. Nur bei welchem verrät er nicht. Und du, Fritz, fragt er stattdessen, auch bewaffnete Organe?

Unsicher deute ich ein Nicken an. Er lächelt verständnisvoll.

Am Eingang begrüßt er einen Kollegen, der ihm eine Taschenlampe und einen Schlüsselbund übergibt. Kurt wünscht einen schönen Feierabend, und ich folge ihm widerstandslos hinein. Ein paar Arbeiter tragen Stühle in einen großen Saal.

Auf der Bühne wird noch gehämmert. Vom Foyer aus kann ich sehen, wie zwei Mann einen Konzertflügel zur Seite schieben, und bleibe verzaubert stehen.

Was denn mit mir los sei, fragt Kurt - ob ich nichts zu tun hätte. Er müsse erstmal seine Runde machen, später sehe man sich bestimmt noch. So läßt er mich einfach stehen, und ängstlich wie ein Kind in fremder Umgebung folge ich ihm noch ein paar Meter durch die hohen Räume. In einem entdecke ich mehrere Kameraden, die vor großformatigen Bildern Wache halten. Ich rufe, aber sie rühren sich nicht, eile näher und stelle fest: Es sind nur Konfektionspuppen in Uniformen, die sich auch auf den jeweiligen Fotos wiederfinden. Dort haben sie Gesichter, erschießen Menschen oder pferchen zu Skeletten abgemagerte Häftlinge zusammen. Auf Texttafeln ist wieder von Völkermord die Rede, von Kriegsgefangenen und Zivilisten, zu tausenden erschossen oder erschlagen, erhängt und verbrannt. Es hört nicht auf und ist auf diesen übergroßen Fotos noch schwerer zu ertragen als in Monses Büchern. Benommen treibe ich von Bild zu Bild. Immer das Gleiche: Exekutionen, Lager und deutsche Soldaten. Die SS ist diesmal nicht allein am Werk, aber das macht es kaum besser.

Ich muss mich setzen und greife zu Kopfhörern, die auf einer Bank in der Mitte des Raumes bereitliegen. Hohe Parteigenossen hört man dort reden, auch Generäle und Industrielle sind dabei, lauter bekannte Namen. Nur was und wie sie es sagen, ist neu: Sie jammern über Befehl und Gehorsam, sprechen ständig von einer kleinen Clique, Hitler einsam vorneweg, und tun gerade so, als wären sie allesamt von ihm gezwungen worden. Ohne die schrecklichen Bilder ringsum hätte ich beinahe laut gelacht: Nichts gegen den Führer, seinen Anteil als Visionär und Feldherr - aber selbst er hätte das allein nie geschafft. Wir sind doch nicht wenige gewesen - wir waren doch das Volk! Beifall und Begeisterung, an etwas anderes kann ich mich nicht erinnern. Du etwa, Liesbeth?

Ab und zu kommen auch einfache Soldaten zu Wort. Sie sind etwas ehrlicher, aber fühlen sich auf einmal auch alle vom Führer um Jahre ihrer Jugend betrogen. Jahre? Jugend? Was soll ich denn da sagen? Niemand hat behauptet, es würde einfach. Auch darauf hat er uns doch vorbereitet: Daß es ein hundertjähriger Kampf würde. Daß es zum Äußersten käme ... Und genau wie damals ist auf den Aufnahmen für meinen Geschmack viel zu viel von den Juden die Rede.

Schon als Kind fand ich dieses Problem irgendwie überbewertet. Dem alten Herrn Maus, zum Beispiel, nahm ich lediglich übel, daß ich plötzlich nicht mehr zu ihm durfte und der neue Klavierlehrer viel strenger war. Aber sonst? Wann immer wir auf der Straße versuchten, Juden am Gang oder ihren Gesichtern zu erkennen, wie wir es gerade in der Schule gelernt hatten, lag ich daneben. Ich hatte kein gutes Auge für Untermenschen und schon deshalb stets die Hoffnung, das Thema sei irgendwann erledigt. So kann man sich täuschen.

Als lebe eine Horde Menschenfresser unter uns, so hören sich die Landsleute in diesem Zusammenhang immer noch an - und nur ganz langsam begreife ich, daß sie sich selbst damit meinen. Uns. Uns alle! Plötzlich sind wir die Kindermörder, ein Volk von Unmenschen, die Millionen andere getötet haben. Und alle tun dabei so, als seien sie über Nacht verrückt geworden, blind und taub, und hätten es nicht mal bemerkt. Es scheint sogar ansteckend zu sein, denn auf einmal frage ich mich selbst: Wir haben es doch gewusst, oder etwa nicht? Dieser Ort ist judenfrei - so stand es doch auch bei uns am Ortseingang. Es war kein Geheimnis, eher selbstverständlich. Man hat es fast nicht mehr gesehen. Und natürlich, das gebe ich zu, wollte ich auch nie genauer wissen, was aus Eddie geworden war oder dem alten Herrn Maus.

Es ist zu viel für mich, Liesbeth, die Bilder, die Zahlen, diese Heuchler! Bis gestern habe ich noch an den Endsieg geglaubt und jeden Zweifel tapfer niedergerungen. Nun soll aus Ehre plötzlich Schande geworden sein - und aus Schande Ehre? Aus Deserteuren haben die Jahre Helden gemacht, aus Männern wie Vater Lumpen - blutrünstige Mörder, das waren Monses Worte.

Schnell wische ich mir mit dem Ärmel über mein Gesicht, als mir jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legt.

Ich müsse mich nicht schämen, sagt Kurt, das ginge jedem so. Man bräuchte eine Weile, bis man das verdaut, manche ein Leben.

Aus seinem Beutel holt er eine Thermoskanne und wickelt belegte Brote aus. Salami, sagt er und drückt mir eins davon in die Hand. Seine Frau mache sowieso immer zu viel, das sei wohl noch von damals so drin, als ihre Mutter nicht da war, und seine Frau ihre kleinen Geschwister allein durchbringen mußte.

Ich bedanke mich stumm und schaue ihn ratlos an.

Ravensbrück, sagt er dann, zweieinhalb Jahre Hunger und Sklavenarbeit. Im Winter habe die SS seine Schwiegermutter mit einem Wasserschlauch abgespritzt und danach Stunden im Frost stehen lassen. Alles nur für ihren Glauben. Nur weil sie zum Beispiel den deutschen Gruß nicht machen wollte und ihr die Schläge der SS nichts bedeuteten gegen die einzig göttliche Wahrheit. Kurt schüttelt den Kopf: Dabei hätte sie einfach nur abschwören müssen. Aber nein: Niemand ist heilig außer ihm!

Ich möchte etwas sagen, doch die wenigen Brotkrumen in meinem Mund bilden einen Kloß, und ich frage mich, ob er das mit Absicht macht. Immer wieder die SS! Bin ich ihm noch nicht klein genug? Merkt er nicht, was mit mir los ist - oder weiß er es genau?

Dann redet er wieder voller Respekt von seiner Schwiegermutter: Sie sei vielleicht unvernünftig gewesen - aber mutiger als die meisten Männer, selbst unter den Zeugen Jehovas.

Die Mörickes, erinnerst Du Dich? Das waren auch solche - Vater nannte sie immer Bibelwürmer. Eigentlich hilfsbereit und bescheiden, die ganze Familie. Wogegen sie genau waren, konnte niemand sagen. Allein ihr religiöser Starrsinn war keinem geheuer. Sie waren Nachbarn - aber nie unser Fall, und so grämte sich auch niemand im Ort, als sie plötzlich verschwunden waren. Ein Umzug, hieß es, oder? So hieß es doch wirklich!

Ob es mir nicht schmecke, fragt Kurt.

Nein, doch. Keinen Bissen bekomme ich in Wahrheit herunter.

Nach einer langen Pause sagt er, daß es für ihn selbst nach 45 auch nicht einfach gewesen wäre. Er sei immerhin PG gewesen, wenn auch nur - damit ich das richtig verstünde - um das mit der unzuverlässigen Familie seiner Braut auszugleichen, um sie zu schützen, das müsse ich ihm bitte glauben! Selbst seine Schwiegermutter habe ihm daraus nie einen Vorwurf gemacht, sie habe es - er zögert - jedenfalls nie ausgesprochen. Wenn sie wenigstens Kommunistin gewesen wäre, irgendein, wie er es nennt, anerkanntes Opfer des Faschismus! Aber die Zeugen wären in der DDR ja genau so verboten gewesen, und so sei er am Anfang nicht nur in die SED eingetreten, um seine NSDAP-Mitgliedschaft zu sühnen, sondern letztlich wieder aus Liebe, um seine Frau zu schützen ... Erst später habe er dann auch selbst an die gute Sache geglaubt.

An Gott, frage ich und habe doch eigentlich keine Lust mehr auf diese ganzen Rätsel: DDR? Nach 45? Es sind einfach zu viele.

Kurt lacht bitter auf und erhebt sich: Es sei Zeit für seine nächste Runde. Ich sollte auch langsam Feierabend machen.

Die anderen seien schon alle weg, und er würde dann gern abschließen.

Ich schüttele den Kopf. Keinen Schritt gehe ich mehr. Stattdessen ziehe ich meine Pistole aus der Ledertasche, die mich schon die ganze Zeit drückt, und lege sie auf die Bank neben mir. Es ist keine drohende Geste, im Gegenteil - aber Kurt reißt erschrocken die Augen auf, als dürfte ich jetzt nicht aufgeben.

Er stöhnt, läuft los, dreht sich noch einmal um und kommt zurück: Du gehörst nicht hierher, sagt er dann, hab ich Recht, Fritz - und kneift die Augen voller Mißtrauen zusammen.

Aber hinter meiner Stirn gibt es nichts zu sehen. Wenn ich wüßte, wo ich hingehöre, wäre ich schließlich nicht hier. Gern möchte ich ihm alles erzählen. Gerade er würde vielleicht verstehen, daß es manchmal keine Erklärungen mehr gibt, und mir vielleicht sogar gestatten, mich noch einmal an diesen Flügel...

Doch stattdessen greift Kurt plötzlich nach meiner 640 und läßt sie mit spitzen Fingern in seinem Beutel verschwinden. Schluß jetzt, sagt er dazu schroff: Entweder ich sei verschwunden, bis er wiederkommt, oder er hole die Polizei.

Ich verstehe ihn ja. Er hat auch nur seine Befehle, und beim Feierabend hört die Kameradschaft eben auf. Trotzdem werde ich ihn fragen, wenn er wiederkommt, notfalls anflehen - und wenn es das letzte ist, was ich tue: Ich muß auf diesem Flügel spielen. Etwas Melancholisches auf jeden Fall, vielleicht Chopins Winterwind - was hältst Du davon? Einen vollen Saal werde ich mir dazu ausmalen, dich in der ersten Reihe, und glaub mir Liesbeth, ich bin ziemlich gut, habe über 60 Jahre geübt. Ein richtiger Virtuose bin ich geworden, im Einbilden und Ausmalen.

Jetzt kommt er zurück, ich höre seine Schritte schon. Ob ich ihn außerdem bitten kann, Monse meine letzten Notizen zu bringen?

Foth, Stuttgarter Platz 2, eine Visitenkarte liegt bei.

Leb wohl, kleine Schwester, und bitte auch Monse in meinem Namen um Verzeihung. Denn falls Dich diese Zeilen erreichen, habe ich mich in ihm getäuscht, wahrscheinlich nicht nur in ihm.

Ob wenigstens auf Gott noch Verlaß ist? Ich muß es unbedingt herausfinden! Wenn ja, wird er mir verzeihen. Genau wie Du, hoffentlich.

So Etwas, damit du auch noch was lernst, Benny, nennt man Ironie der Geschichte: Dass sich die Creme der internationalen Naziforschung ausgerechnet im ehemaligen Haus des Lehrers traf war in meinen Augen jedenfalls dasselbe, als würden hundert Nobelpreisträger in einer Sonderschule Seifenblasen pusten. Im Grunde war der ganze Alexanderplatz mit seinen hässlichen Nachkriegsbauten ein einziges Abziehbild für dieses kleine schäbige Land, das sich so viel auf seinen Antifaschismus eingebildet hatte und dabei doch nur neue Duckmäuser produzierte. Gerade die Lehrer.

In dieser Kuppelhalle hatten die Helden der Volksbildung ihre berüchtigten pädagogischen Kongresse gefeiert, Auszeichnungen entgegengenommen und sich von Margot Honecker aufhetzen lassen. Den Früchten ihrer Arbeit konnte man heute an jeder ostdeutschen Tankstelle begegnen. Und wie zur Strafe dafür fanden hier neuerdings auch regelmäßig Pornomessen statt.

Ein paar ehemalige Jungpioniere, die später ihre FDJ-Hemden schnell gegen Bomberjacken getauscht hatten, waren auch an diesem Morgen da. Abgeschirmt von Polizisten standen sie vor dem Haupteingang einer Übermacht aus linken Gegendemonstranten gegenüber. Und ihre kläglichen Sprechgesänge von »Ruhm und Ehre« hatten kaum eine Chance gegen die Trillerpfeifen aus Kreuzberg und Friedrichshain.

Vor ein paar Tagen noch hätte ich sicher meine Freude daran gehabt und allein die Demo-Poeten als Kronzeugen für die geistige Kluft zwischen beiden Lagern gelobt. »Ohne Verfassungsschutz seid ihr nur zu dritt«, sangen zum Beispiel die Guten in Anspielung auf das peinlich gescheiterte NPD-Verbot. Leider ließen sie auch den Klassiker nicht aus, als immer mehr Beamte aufliefen: »Deutsche Polizisten schützen Faschisten.« Sie hatten ja keine Ahnung!

Mit der Tochter eines Massenmörders an der Hand schlich ich zum Hintereingang, traute mich kaum aufzusehen und war außerdem ziemlich genervt, weil Elisabeth von Jagemann ständig stehen blieb. Es war nicht etwa die Puste, die ihr fehlte, sondern jedes Mal derselbe kleine Spiegel, den sie aus ihrer Handtasche kramte. Sie zupfte sich darin ihre Haarspitzen zurecht, kaute die ganze Zeit auf ihren Lippen wie ein junges Mädchen vor dem ersten Date und lächelte verlegen, wenn ich sie dabei ertappte. Keinen Gedanken verschwendete sie daran, er könnte sich etwas angetan haben. So etwas tut ein von Jagemann nicht - da war sie sich sicher.

Niemand von uns wusste, was sich nach seinen letzten Zeilen tatsächlich abgespielt hatte. Warum hatte dieser Kurt die Pistole gebracht? Hatte er Fritz vorher rausgeschmissen? Erschossen? Ihm nur seinen letzten Wünsch erfüllt? Oder alles in einem?

Wir waren Hals über Kopf aufgebrochen. Du hattest dir eingebildet, mit der Kamera sei auch der Haupteingang kein Problem. Ich wollte es mit der alten Jagemann von hinten probieren. Wahrscheinlich dachte sogar jeder von uns an sein eigenes Happyend bei diesem seltsamen Familientreffen - Liesbeth an Fritz, du natürlich nur an deine Bilder und ich vor allem daran, dass Wolf damit nicht durchkommen durfte.

Am Hintereingang zückte ich beiläufig meinen Dienstausweis - und prallte gegen eine Wand aus Muskeln. Fünf Bodybuilder in schwarzen Bomberjacken standen uns im Weg, Schulter an Schulter, die Reihen fest geschlossen. Alle trugen das gleiche Emblem auf der Brust und den Stolz resozialisierter Schläger vor sich her. Jede zweite Visage kam mir aus der SoRex-Datei bekannt und sie grinsten alle, als wüssten auch sie genau, was man mit einer wie mir eigentlich machen müsste. Die Veranstalter hatten genau die richtigen Figuren für ihren Kongress engagiert. Als Ordner konnten sie heutzutage ihre KZ-Aufseher-Mentalität ausleben oder spielten an Disko-Türen Selektion, und während einer in sein Walkie-Talkie sprach, bildete ich mir sogar ein, er würde Frau von Jagemann anhimmeln - sicher nicht wegen ihrer Figur. Am allermeisten schockierte mich jedoch die Fehlfunktion meiner kleinen Zauberkarte. Wie ein Bewegungsmelder öffnete sie normalerweise alle Türen. Viel zu schnell hatte ich mich auch daran gewöhnt.

»Können Sie nicht lesen«, fragte ich und bereute es sofort, denn das konnte ja wirklich sein bei diesen dicken Ärmeln.

Der Analphabet mit dem Funkgerät aber lächelte nur den kläglichen Rest meiner Autorität in Grund und Boden. »Tut mir leid, Frau Thorwart«, sagte er freundlich, »aber wir haben Anweisung, Sie und die gnädige Frau nicht hereinzulassen.«

Sie mussten gar nicht lesen können. Vielmehr hatten sie offenbar mit uns gerechnet und natürlich »Anweisungen«, auf die sie sich jederzeit berufen konnten. Dann winkten sie einem Sanitäter, der hinter seinem Wagen lauerte.

»Was soll das«, protestierte ich, »wer sagt das?«

»Moment, bitte!« Der Wortführer drehte sich etwas zur Seite und schaute nach, was er auf seine Hantelschwielen notiert hatte.

»Po ... Poli... Polizei... Polizeiober ...«

»Polizeioberrat Schiller?«

»Nein, mit E«, sagte er: »Genau: Elber hieß der Kollege.«

Mein Gesicht musste danach sogar bei einem Grobian wie ihm Mitleid erregt haben, denn er fühlte sich genötigt zu erklären, dass Herr Schiller nicht mehr beim BKA sei - genau wie ich, wenn er richtig informiert sei. Der Sanitäter kam mit einem Rollstuhl, aber ein Blick der alten Jagemann reichte und er trollte sich wieder. Die »gnädige Frau« wurde nun auch langsam ungeduldig.

»Ist er schon da?«

»Wer? Polizeioberrat Elber?«

»Nein, mein Fritz natürlich, Sie Trottel!«

»Tut mir leid. Da muss ich erstmal nachfragen.«

Das Funkgerät ersparte dem Kraftsportler weitere intellektuelle Klimmzüge: Es war Kondor 1, der »alle verfügbaren Kräfte sofort ins Foyer« befahl - und tatsächlich Elbers Stimme. Sie plärrte so aufgeregt, dass die Türsteher vor Schreck gar nicht wussten, ob sie nun verfügbar waren oder nicht. Zwei Frauen, eine alt, die andere verrückt - ein Mann müsste reichen, entschied ihr Anführer und rannte mit den anderen los.

Das Entsetzen über Elbers Beförderung lähmte bei mir immer noch jeden Muskel. Elisabeth von Jagemann aber machte dem letzten Mann an der Tür sofort die Hölle heiß, beschimpfte ihn wüst und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängeln. Er umarmte sie so vorsichtig er konnte. Ich beneidete beide nicht, aber spürte wieder Blut in meinen Beinen. Ich musste nicht mal rennen. Der Wachmann wimmerte mir nur noch hinterher, ich solle bitte keinen Quatsch machen. Der Rest ging im Geschrei der »gnädigen Frau« unter.

Die Ursache für Elbers Aufregung war nicht gleich auszumachen. Zwischen glänzenden Aluminiumwänden und hellem Holz schoben sich hunderte Wissenschaftler Richtung Kuppelsaal. Manche hatten noch an der Garderobe zu tun, andere waren in ihre Tagungspapiere oder gegenseitige Begrüßungen vertieft. Meine Türsteher bahnten sich orientierungslos einen Weg durch das Gedränge, ich hinterher, bis mich jemand am Ärmel zupfte.

»Guten Tag, Frau Thorwart! Wie geht’s uns denn heute?«

»Das geht Sie zum Glück gar nichts an!«

Ich durfte die Muskelmänner nicht aus den Augen verlieren. Aber Dr. Worch trat mir immer wieder in den Weg mit seinem aufgesetzten Psychiaterlächeln.

»War wohl doch ein bisschen viel in den letzten Tagen?«

»Mag sein. Ich stelle schließlich auch nicht nur Ferndiagnosen: Schizophrener Formenkreis, nicht näher explorierbar - habe ich mir das richtig gemerkt, oder haben Sie inzwischen auch mal einen ihrer Patienten richtig untersucht?«

Zu gern hätte ich gewusst, ob sich auch Josef Stahl indessen unter seiner zweifelhaften Obhut befand. Aber man darf Psychiater auch nicht unterschätzen. Worch sah mich an, als durchschaute er gleich noch zwei, drei Leute mit, die hinter mir standen.

»Überlagert durch posttraumatische Wahnsymptome«, sagte er, »das haben sie vergessen. Sie zeigen übrigens ganz ähnliche Symptome, wenn ich nicht irre. Gegebenenfalls könnte ich mir da auch eine Gruppentherapie vorstellen.«

»Sie irren sich aber!« Nun trat ich auch einen Schritt näher: »Vielleicht ist das ja eine Berufskrankheit bei Irrenärzten?«

Leider ließ sich Worch von so einem Kalauer nicht beeindrucken. Wahrhaftiger Zorn musste es schon sein, ein richtiger Wutanfall, am besten fremdgefährdend und laut. Wahrscheinlich erwartete er genau das von mir, so charmant wie er grinste. Es war mir auch egal.

»Nehmen Sie eigentlich Geld für ihre Diagnosen«, begann ich und schraubte meine Stimme langsam in die Höhe, »oder haben Sie nur die gleiche Berufseinstellung wie Ihr Kollege Mengele?«

Er lächelte stur weiter. Nur die Lautstärke schien ihm nicht mehr zu passen. Ein paar Leute schauten schon. Er sah peinlich berührt zurück. Ich musste noch lauter werden:

»Eine ichdystone Störung der Sexualpräferenz! Sind sie so blöd, Worch? Josef Stahl ist einfach nur schwul, nichts weiter.«

Ein paar japanische Weltkriegsexperten kicherten. Vielleicht verstanden sie nicht jedes Wort, aber sie sahen eine Frau einen Mann anschreien: Es ging um Mengele und Sex. Und der Mann tauschte sein Grinsen langsam gegen einen roten Kopf. Spektakulärer konnte so ein Kongress kaum beginnen, selbst im Heimatland aller Weltkriege nicht. Doch fast gleichzeitig verloren wir unser Publikum wieder, denn nun übernahm Fritz von Jagemann die Show.

Das kannst du laut sagen: Wie ein Gespenst schwebte er vor dem Kongresszentrum durch die Polizeiketten, musste weder drängeln noch Ausweise zücken. Allein seine Uniform und die Selbstverständlichkeit, mit der er sie trug, ließen alle Leute vor ihm strammstehen. Sogar das Geschrei von Gegendemonstranten und Gegen-Gegendemonstranten verstummte für ein paar Sekunden. Niemand wusste so recht, was der SS-Mann zu bedeuten hatte. War er nun für oder gegen die Ausstellung? Wofür oder wogegen war man eigentlich selbst? Fritz stellte alles in Frage.

Die Verblüffung der Einlasskräfte reichte sogar noch für mich, und ich folgte ihm quer durch das Foyer bis in den Saal, wo sich hunderte Wissenschaftler gerade ihre Plätze suchten. Alle reckten ihre Hälse dabei, um auch ja nicht übersehen zu werden. Es war ein Schaulaufen wie in einer Angeber-Diskothek. Fritz aber überragte alle. Aufrecht und selbstbewusst bahnte er sich seinen Weg, während mir plötzlich niemand mehr einen Meter schenkte.

Um mir Respekt zu verschaffen, schulterte ich die Kamera, was sich jedoch als schwerer Fehler erwies: Nun stellten sich diese Leute erst recht in den Weg und spreizten ihre ungelenken Wissenschaftlerkörper, als wären sie selbst die Sensation. Den SS-Mann nahmen sie zwar auch wohlwollend wahr, aber hielten ihn wohl eher für einen Gag der Veranstalter. Manche lächelten anerkennend: Diese Deutschen waren doch immer noch für eine Überraschung gut.

Als Fritz die Bühne betrat, flaute das Gemurmel langsam ab. Professor Zeitz, der noch einmal die Papiere für seine Begrüßungsansprache auf dem Rednerpult sortierte, sah irritiert auf. Am Bühnenrand flüsterten ein paar von deinen Leuten aufgeregt in ihre Ärmel. Doch Fritz hatte längst zu viel Aufsehen erregt, um ihn unauffällig verschwinden zu lassen. Sichtlich nervös trat ihm Professor Zeitz entgegen. Man hörte seine Schuhe quietschen, so still war es auf einmal im Saal.

»Kann ich Ihnen helfen, Herr ...?«

»Jagemann«, antwortete Fritz, »Fritz von Jagemann - nein, ich glaube das können Sie nicht.«

Jemand begann zu klatschen. Es kam aus der linken, hinteren Ecke, von mir aus gesehen. Auch Fritz suchte mit den Augen nach dem Störenfried, blieb kurz bei mir hängen, und ich hoffte, er würde nicht zu lange in die Kamera schauen, weil das hinterher immer so gestellt aussah. Inzwischen waren mindestens zehn Kongressteilnehmer auf den Vorklatscher hereingefallen, und mit jedem Handschlag wurden es mehr.

Nichts ist ansteckender als Applaus, Gelächter vielleicht noch oder Schnupfen, aber selbst bei Witzen oder Viren sind die meisten Leute wählerischer. Mit Beifall dagegen ist es wie auf der Tanzfläche: Entweder du kriegst keinen oder alle. Hast du sie erst mal, kannst du beliebig große Massen aufputschen oder runterholen, die Nacht zum Tag machen oder Weltkriege anzetteln. Denn ob Beats marschieren oder Stiefel, ob sie klatschen oder trampeln: Wenn die Mehrheit mitmacht, hat das meist auch für den Rest seine Richtigkeit. Und dann wird es fast immer gefährlich.

Am Mischpult kann man notfalls das Tempo rausnehmen. Manche Veranstalter verlangen das sogar, weil ihre Clubs ein paar hundert Beine im Gleichschritt nicht aushalten. Schwingungskatastrophe nennt das die Physik, wenn sich gleiche Frequenzen aufschaukeln, bis es kein Halten mehr gibt. Und soll ich dir was sagen, Evelyn: Ungefähr so stelle ich mir das auch unter MC Adolf vor. Er war ein Master of Ceremonies ohne jeden Funken Verantwortung. Move the Crowd um jeden Preis - verstehst du? Ich will nicht sagen, dass er nur ein paar Engtanznummern hätte auflegen müssen. Aber heute hätten es Typen wie er auf dem Dancefloor der Weltgeschichte sicher noch leichter, weil die Leute dank moderner Drogen praktisch nie müde werden. Das ist es, was ewigen Sorgenfalten wie dir, Evelyn, keine Ruhe lässt, hab ich Recht? Es fängt mit einem Klatscher an und hinterher kann man plötzlich niemand mehr erklären, wieso eine SS-Uniform solche Beifallsstürme auslöst.

Fritz verzog keine Miene. Nur seine Augen verrieten eine gewisse Beklemmung. Sein Blick irrte kreuz und quer über die Bühne, dann wieder zu seinem tobenden Publikum. Eine Rückkopplung quietschte auf. Die Tontechnik war wohl davon ausgegangen, Fritz wollte gleich etwas sagen, doch Professor Zeitz deutete mit einem Kopfschütteln an, dass dieser Mann nicht Teil seiner Inszenierung war. Dann besann er sich jedoch anders, lächelte wie ein Showmaster und teilte den Beifall redlich mit Fritz.

»Danke«, sagte er, sonnte sich noch ein paar Sekunden mit gesenktem Kopf und räusperte sich schließlich so oft, bis man ihm absolute Stille entgegen brachte.

Danach begrüßte Zeitz seine »geschätzten Kollegen« und war gerade dabei, sich selbst »glücklich zu schätzen, Ihnen einen Zeitzeugen vorstellen zu dürfen«, als Fritz sich unvermittelt von ihm abwandte. Er hatte offensichtlich keine Lust, vorgeführt zu werden und lief stattdessen zielstrebig zum linken Bühnenrand, wo er begann, den schwarzen Vorhang abzutasten, als suchte er ein Versteck oder wenigstens einen Ausweg. Zeitz lächelte hilflos vom Podium, was ein paar seiner Kollegen zu einem neuen Schwall Beifall ermunterte. Dann kreischte plötzlich eine Frau hysterisch auf, und du musst es nicht abstreiten, Evelyn - so viele andere Frauen waren nicht da. Wie ein Groupie hast du geschrien und dich gleichzeitig einem deiner Kollegen in die Arme geworfen.

Das war Elber, der alte Nazi. Er hatte plötzlich seine Waffe in der Hand - und falls das irgendwann mal untersucht wird: Ich habe genau gesehen, dass er zuerst gezogen hat.

Erst nachdem er mich abgeschüttelt hatte, entsicherten noch mehr Kollegen ihre Dienstpistolen, und die ersten Reihen im Saal rückten mit einem Raunen von uns ab. Wie bei einer La Ola im Stadion rollte die Schockwelle durch den Saal. Sogar Fritz von Jageman ließ den Vorhang los und blinzelte verwirrt in die Scheinwerfer. Wahrscheinlich konnte er im Gegenlicht nicht mal sehen, was vor der Bühne passierte. Auf jeden Fall aber, das könnte ich im Zweifel auch beschwören, hat er niemanden bedroht.

Zeitz dagegen hob beschwichtigend die Hände, zitterte am ganzen Körper und tastete sich in kleinen Schritten zum Bühnenrand vor. Mit dem ersten Schritt ins Leere verlor er das Gleichgewicht und fiel steif nach vorn. Bei Rockkonzerten - damit du weißt, dass ich auch nicht von gestern bin, Benny - nennt man das Stage-Diving. Nur dass niemand da war, der Zeitz auffing.

Schade. Das mit Zeitz hätte ich auch gern gehabt, aber ich war natürlich mit der Kamera bei Fritz geblieben und muss dir leider sagen, dass du nicht ganz richtig liegst mit deinen Schwüren: In seinem Gesicht konnte man sehen, dass er die Situation ganz genau begriffen hatte. Doch statt jede falsche Bewegung zu vermeiden, zog Fritz seine Uniformjacke straff, die bei der Arbeit am Vorhang etwas aus dem Koppel gerutscht war, sah noch einmal aufreizend lange ins Publikum, um schließlich mit einem plötzlichen Ruck nach seiner Pistolentasche zu greifen, die er am Koppel trug. Es war Absicht. So blöd konnte man gar nicht sein. Und natürlich verloren deine Leute sofort die Nerven.

Drei oder vier Polizisten in Zivil hatten fast gleichzeitig abgedrückt. Die versammelte Wissenschaft warf sich in Deckung und auch mir fiel es einigermaßen schwer, nicht alles zu verwackeln. Fritz stolperte rückwärts, verhedderte sich im Vorhang, hielt sich daran fest und fing sich noch einmal, während der schwere Stoff hinter ihm zu Boden ging. Mit der rechten Hand tastete er seine Brust ab, berührte seine linke Schulter und anders als im Kino sah man weder Einschüsse noch sprudelte sofort Blut. Sein Gesicht wirkte wie eingefroren, fast enttäuscht: Zweifellos hatte er sich das auch anders vorgestellt. Nach seinem ganzen Leben hatten sie ihm nun auch noch das selbst gewählte Ende versaut.

Er taumelte noch ein paar Schritte und stützte sich dann mit dem unverletzten Arm auf eine große verhüllte Kiste, die etwa zwei Meter hinter dem Vorhang aufgetaucht war. Dort ruhte er sich drei Sekunden aus, als wollte er mir Gelegenheit für einen Sprung in die Nahaufnahme geben, bevor sich sein Körper noch einmal straffte und er versuchte, die Kiste von ihrer Hülle zu befreien. Er schaffte es nicht ganz.

Der halb entblößte Flügel glänzte schwarz im Scheinwerferlicht. Fritz hangelte sich daran vorwärts, und als er endlich auf dem Hocker am anderen Ende saß, konnte ihn jeder im Saal schwer rasselnd nach Luft schnappen hören. Mit seinem unverletzten Arm stellte er umständlich die richtige Höhe des Hockers ein, klappte den Deckel auf und hob seine schlaffe linke Hand auf die Tasten. Doch gleich der erste Akkord, den er anschlug, löste sich in wüste Dissonanzen auf, weil sein Oberkörper nach vorn gesunken war.

Die schrägen Töne hallten lange nach, wahrscheinlich bekomme ich sie sogar nie wieder aus den Ohren, als stünde Fritz immer noch auf dem Pedal. Trotzdem schaute ich mich erstmal im Saal um, ob ich auch wirklich die einzige Kamera war, bevor ich zu begreifen begann, was ich da eben aufgenommen hatte. Es funktionierte exakt so, wie mir Gerd immer eingebläut hatte: Man holt sich die Dinge ganz nah ran und hält sie gleichzeitig fern. Du bist dabei und doch wieder nicht. Die Distanz des Chronisten, echt krass.

Wohl eher ein typisches Symptom für menschliche Verwahrlosung: Erst die Pflicht, der Auftrag, die Sache und dann - ja was eigentlich? Als wenn ich das wüsste? Ausgerechnet ich!

Immerhin war ich noch nicht ganz so weit heruntergekommen und dachte zuerst an die alte von Jagemann. Sie hatte die Schüsse womöglich auch gehört, war vielleicht noch in den Saal geschlüpft, hatte alles mit ansehen müssen und würde ihren Fritz nun doch erst tot wieder in die Arme schließen können.

Machte das einen Unterschied nach über 60 Jahren? Wo hatte sich Wolf verkrochen, während sich das Drama seiner Familie fortsetzte? Auf dem Weg zum Hinterausgang fragte ich mich sogar, wieso ich seine Schwester unbedingt vor der blutigen Wahrheit bewahren wollte, nachdem sie die Lügen selbst Jahrzehnte mitgetragen hatte. Wieso war ich überhaupt ständig damit beschäftigt, Leute vor irgendwas zu bewahren?

Mehrere Dutzend Historiker verstopften den Ausgang, als mich jemand von hinten berührte.

»Da laufen sie plötzlich vor ihrer Geschichte davon.«

Sprüche, Kalauer, ich weiß schon: Anders wissen sich Kerle keinen Rat, wenn es ans Eingemachte geht. Trotzdem hörte sich das fast an, als hättest du plötzlich angefangen, im Großen und Ganzen zu denken. Und als wir es ins Freie geschafft hatten, warst du es auch, der Liesbeth zuerst entdeckte. Sie saß in einer Limousine auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zwei Leibwächter hampelten um den Wagen herum und versuchten die Übersicht zu behalten, während immer mehr Menschen aus der Halle strömten. Hinter den Autoscheiben redete jemand auf die alte Dame ein. An seinen ausladenden Gesten erkannte ich ihn sofort. Seine Schwester hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Und ich war mir auch nicht sicher, ob ich ihm zuerst mein Beileid ausdrücken konnte, bevor ich - ja, was eigentlich?

Ohne genau zu wissen, was ich ihm antun würde, hatte ich die halbe Straße schon überquert, als ein Krankenwagen aus der Tiefgarage des Kongresszentrums geschossen kam. Wolfs Leibwächter sprangen sofort in ihren Wagen und hängten sich mit quietschenden Reifen dran. Zwei weitere Limousinen folgten, dann noch ein Rettungswagen, alle mit Blaulicht. Ihre Richtung konnten wir nur ahnen: Charite vielleicht, aber bis wir am Van waren, hätten sie überall sein können.

»Glaubst du, er überlebt das?«

»Nein«, sagte ich, »die Frage ist sogar, ob er überhaupt je gelebt hat.«

»Du meinst, sie werden alles vertuschen?«

Das auch. Aber ich hatte natürlich sein verplempertes Leben gemeint, während du offenbar immer noch auf diesem komischen Journalistentrip warst. Doch dein Fluchen und Hupen nutzte alles nichts. Im Stau Unter den Linden verloren wir mindestens eine weitere halbe Stunde, bevor wir eine der Limousinen vor der Charite wiedersahen. Der Fahrer stritt sich gerade mit einem Arzt um den Platz auf der Rampe für Rettungsfahrzeuge. Du warst dabei, genauso kriminell in der zweiten Reihe zu parken, als es prompt auch bei uns heftig an die Scheibe klopfte.

Deine junge Kollegin sah ganz schön zornig aus:

»Hab ich’s doch gewusst«, schrie sie, »du wolltest mich abkochen, aber nicht mit mir, mein Lieber!«

Ich hätte schon gern gewusst, was sie gewusst haben wollte - nur du leider nicht. In welcher Etage die anderen seien, war allerdings auch keine so schlechte Gegenfrage bei mindestens 20 Stockwerken. Davon wollte sie jedoch wiederum nichts wissen.

»Was soll der Scheiß? Welche anderen? Spinnst du?!«

Nach allem, was ich mitbekam, wart ihr wohl hier verabredet und beide früher da. Sie hatte einen Kameramann dabei, der mit ein paar jungen Ärzten um einen Aschenbecher stand. Und so beleidigt, wie sie dich anpflaumte, »mein Lieber« - vor allem aber, wie kleinlaut du reagiert hast, konnte man fast denken, ihr hättet mal was miteinander gehabt. Aber lass mal, das kenn ich auch!

»Das verstehst du völlig falsch«, waren deine Worte, »wir sind nicht wegen Gerd hier. Er hat noch nicht mal angerufen ...«

»Es geht ihm gut«, sagte sie, »aber angeblich will er nicht mit mir reden. Da steckst du doch auch dahinter, oder?«

»Also wirklich, Jenny!« Endlich hattest du mal ordentlich Luft geholt: »Was soll ich denn denken? Du hast sogar ein eigenes Team dabei und es anscheinend schon alleine probiert.«

Genauso sah es aus. Aber wie schon vermutet: Sie brauchte nur zweimal Miau zu sagen, schon hast du wieder geschnurrt.

»Doch nur zur Sicherheit. Für Interviews gibt es keinen Besseren als dich. Also gehen wir jetzt rein, oder was?«

Zielstrebig war sie, das musste man ihr lassen. Aber eins kannst du einer erfahrenen Frau auch glauben: Für dich persönlich interessierte sich dieses Mädchen einen Dreck. Und was sie erst für Augen machte, als du an der Rezeption nach Fritz von Jagemann gefragt hast und nicht nach eurem Kollegen.

»Ich fasse es nicht! Seid ihr da etwa immer noch dran?«

»Ja«, kam kleinlaut von dir, »ehrenamtlich sozusagen.«

Die Krankenschwester an der Aufnahme fand den Namen nicht im Computer: »Weshalb ist er denn hier? Sind sie ein Angehöriger?«

»Er muss eben erst rein sein. Schussverletzungen.«

Schwester Gülsen, so stand es auf ihrem Kittel, sah kurz vom Bildschirm auf, als wolltest du sie veräppeln: »Jagemann. Und sie sind sicher, dass es nicht eher zu viel Jägermeister war?«

»Nein, aber Jäger kann schon sein. Schauen sie bitte mal unter Wolf Jäger nach - vielleicht ist er ja darunter angemeldet? Der Patient selbst hat wahrscheinlich keine Krankenversicherung.«

»Nicht versichert, aha.« Gülsen runzelte die Stirn: »Wissen Sie was? Entweder nennen Sie mir Vor- und Zunamen eines Patienten - oder lassen mich in Ruhe. Ich habe noch mehr zu tun!«

Sie ließ uns stehen und nahm kopfschüttelnd die nächsten in der Schlange dran, zwei Omas mit Blumen. Für deine Jenny, die schon die letzten zwei Minuten nur mühsam geschwiegen hatte, war das endgültig zu viel.

»Busch, Gerd Busch - eigentlich wollen wir zu dem.«

Die Schwester rollte mit den Augen und mit ihrem Stuhl nochmals zum Computer, gab den neuen Namen ein und fand ihn sofort:

»Und wen kann ich anmelden?«

»Ihn.« Jenny schob dich wieder vor: »Benjamin Monse.«

Nach einer Rückfrage beim Patienten durften wir zum Aufzug.

»Ebene 12, Station 1.4. Sie müssen sich aber im Dienstzimmer melden wegen Kittel und Mundschutz! Das ist Intensiv.«

Busch empfing uns drei vermummte Gestalten mit einem schadenfrohen Lächeln und sah doch selber kaum besser aus mit seinen Verbänden und Schläuchen überall. Scheinbar konnte er nur auf dem Bauch liegen und schämte sich nicht für seine Thrombosestrümpfe.

»Was will die denn hier?«, fragte er dich, als er Jenny erkannte und auf einmal höllische Schmerzen zu bekommen schien.

Im ersten Moment war ich froh, dass er nur die Kleine gemeint hatte, doch seine Begrüßung für mich fiel auch nicht charmanter aus: »Und was macht mein Auto? Alles noch ganz?«

Ich hatte keinen Dank erwartet. Aber wenn er das mit seiner Karre noch wusste, hätte er sich ja auch daran erinnern können, dass ihn die Wachleute ohne mich vermutlich hätten verbluten lassen. Endlich bekamst du auch ein paar Worte raus:

»Mensch, Gerd, du machst vielleicht Sachen!«

»Halb so wild. Rat mal, wo es mich erwischt hat?«

»Na beim BKA, denke ich. Was sollte das überhaupt?«

Vorsichtig nahmst du auf seiner Bettkante Platz.

»Ich habe nur geholt, was mir gehört, aber das meine ich nicht. Hier ...« Busch klopfte auf seine Decke und verzog sofort das Gesicht. »... ich meine: Was kaputt ist?«

»Keine Ahnung - du bist völlig im Arsch, würde ich sagen.«

»Genauer!« Vor lauter Ungeduld antwortete er schließlich selbst: »Die Leber! Ist das gerecht? Ich will gerade - du weißt schon ... Und zum Dank reißt mir das Miststück mitten entzwei!«

Niemand musste das verstehen. Du hast es aber wenigstens versucht und etwa so herzlich gelacht wie nach einem missglückten Witz beim Leichenschmaus.

Immer noch besser, als wenn sich Jenny gleich auf ihn gestürzt hätte, oder? Sie scharrte so schon taktlos genug mit den Hufen.

Mann, war mir das peinlich - vor dir, aber auch vor Gerd, wahrscheinlich habe ich mich sogar das erste Mal für unseren Beruf geschämt. Wie sie ständig fragte, ob wir endlich könnten, wie scheiße Gerd aussehe und dass wir das unbedingt haben müssten. Wie der arme Kerl wimmerte, wovon das Küken eigentlich rede, und sie schließlich sogar zugab, dass es für Tele Vier sein sollte. Da hat sogar Gerd gehässig aufgelacht - oder krümmte er sich nur vor Schmerzen? Konntest du das noch unterscheiden, Evelyn?

Wenigstens hast du mal live mitbekommen, wie die Leute beim Fernsehen tatsächlich ticken - vor allem aber, wie andere junge Leute alte Nazigeschichten einordnen. Weißt du noch, was Jenny sagte, als ich ihr vorwarf, wie sie überhaupt bei diesem Beknackten-Sender arbeiten könne, bei Tele Vier, wo es wirklich nur um Sex und Crime geht, Blut und Pornos für Arme? Job sei Job, hat sie geantwortet, und dass wir es genauso gemacht hätten, aber außerdem sagte sie wörtlich: Das ganze Thema sei doch auch irgendwie Porno, alte Faschisten, BKA und das alles. Es ist ein verdammtes Trash-Thema, Evelyn, wie irgendwelche Menschenfressergeschichten, ein bisschen gruselig, aber in Wirklichkeit weit weg von jedem durchschnittlichen Fernsehsessel aus gesehen.

Da hast du ganz schön geschluckt, was? Jedenfalls hast du dich ziemlich zaghaft angehört, als Gerd dich anflehte, du solltest das Küken rausschmeißen, du wärst doch bei der Polizei. Sogar »bitte« hast du zu Jenny gesagt. Aber letztlich hat sie es erst kapiert, nachdem ich mit ihr auf den Flur musste, weil wir den zwei Schwestern beim Rangieren im Weg standen, die das leere Bett neben Gerd gegen eins mit einem neuen Patienten tauschen wollten.

Ein paar Sekunden sah mich Jenny vor der Tür noch wütend an, dann schaltete sie auf enttäuscht, aber die Nummer zog auch nicht mehr bei mir. Ich sah einfach an ihr vorbei - und etwa fünf Türen weiter eine Traube von Leuten stehen, bei denen es auch ziemlich hoch herging für einen Krankenhausflur. Während sich Jenny aus ihrem Kittel schälte, erkannte ich sogar mehrere Stimmen: Eine gehörte definitiv Elisabeth von Jagemann, dazu die der Schwester vom Empfang, die mit verschränkten Armen die Tür zu einem Krankenzimmer versperrte. Und die dritte klang - ob du’s glaubst oder nicht - wie Fritz. Jetzt hörte ich auch schon Gespenster.

»... und wenn Sie ein Außerirdischer sind«, kreischte Schwester Gülsen, »hier kommen nur Verwandte rein!«

»Aber wir sind doch verwandt«, brüllte der Geist zurück.

Sein Kopf ragte aus einer Masse grauer Anzüge heraus, und wenn es dein Freund Jäger war, wie ich vermutete, kam ihm das Bekenntnis zu seinem Bruder eigentlich recht leicht über die Lippen. Liesbeth allerdings forderte die Schwester auf, sich seinen Ausweis zeigen zu lassen. Vor Spannung hätte ich beinahe Jenny vergessen, die mich unverwandt anstarrte. Wahrscheinlich war das der Gipfel für sie, dass ich mich nun auch noch für die Probleme anderer Leute mehr interessierte als für ihre. Das Gezeter hinter ihrem Rücken schien sie jedenfalls nicht zu kümmern, und dass dies auch unbedingt so bleiben musste, war mir erst in dem Moment klar, als sie sich endgültig beleidigt von mir abwandte.

»Warte«, rief ich und überlegte fieberhaft, wie ich es Liesbeth und Fritz wenigstens ersparen konnte, auch noch in irgendeinem beknackten Boulevardmagazin vorgeführt zu werden.

Jenny stapfte noch ein paar Schritte weiter, dann blieb sie stehen. Ihr Siegerlächeln törnte mich so was von ab, aber egal.

Nachdem die Kleine mit dir verschwunden war, ging es Busch schlagartig besser - im Gegensatz zu mir, und das lag nicht nur daran, dass ich mir mit ihm nicht mehr viel zu sagen hatte.

»Jagemann haben sie übrigens vorhin erschossen«, sagte ich, »falls dich das noch interessiert.«

Es sah nicht so aus. Ohne den engen Verband um seine Schultern hätte Gerd sicher damit gezuckt. »Wenigstens konsequent«, sagte er nur und lächelte mich an: »Und was ist mir dir?«

»Mit mir?« Ich wusste nicht, was er wollte.

»Ja, mit dir und Jäger. Fühlst du dich nicht mitschuldig?«

Erschüttert sah ich in sein Gesicht. Selbst wenn es so wäre - wie konnte er mich das fragen? Wie wenig Takt muss einer ...

»Mitschuld«, sagte eine gequälte Stimme aus der Ecke, »dass ich nicht lache. Am Ende aller Tage gibt es immer nur Opfer. Hab ich nicht Recht, Fräulein Thorwart?«

Es war nicht nur das Fräulein, das mir die Sprache verschlug. Auch Gerd rappelte sich so weit auf die Seite, wie es ihm möglich war: »Da schau an, der Herr Professor. Willkommen im Club!«

Auf dem Kopf trug Zeitz einen Turban aus Binden und schnell hatten sich die neuen Bettnachbarn über ihre Verletzungen ausgetauscht. Man hatte ihn zur Hälfte eingegipst und wegen des Verdachts auf ein Schädelhirntrauma vorübergehend auf der Intensivstation geparkt. Bis auf ein paar gebrochene Rippen musste man sich aber keine großen Sorgen um ihn machen - höchstens wegen mir: Ich spürte meine Halsschlagadern zu Wasserschläuchen anschwellen, trat an sein Bett und genoss seine wehrlose Angst.

»Ach«, sagte Gerd, als wollte er instinktiv das Schlimmste verhindern, »ihr kennt euch auch?«

Was ich genau erwidert habe, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich, dass er mich gleich richtig kennenlernen werde oder so, vielleicht auch deftiger. Auf jeden Fall packte ich Zeitz an den Schultern und wollte ihn so lange schütteln, bis er mir alles gesagt haben würde: Wer noch alles mit Jäger unter einer Decke steckte. Seit wann er die Wahrheit über den Scheißbunker gewusst habe. Warum immer noch Menschen sterben mussten - und überhaupt: Zeitz sollte mir gefälligst erklären, was ich nicht verstand oder ertrug, nicht glauben wollte oder mir selbst anlastete ... Ich war außer mir, kurz vorm Durchdrehen - vielleicht auch schon drüber. Das verstehst du doch, Benny, nach diesen Tagen, oder etwa nicht?

Ehrlich gesagt - nein. Ehrlich gesagt fand ich das nur noch peinlich: Keine zwei Minuten konnte man euch allein lassen, ohne dass ihr euren Scheißkrieg weiterführen musstet. Letztlich wart ihr genauso drauf wie Fritz oder Otto. Auch für euch gab es kein anderes Thema, als wärt ihr neidisch auf eure Eltern, hättet lieber damals gelebt, natürlich alles besser gemacht, schon klar.

Mensch, Evelyn, einen Krankenbesuch wollten wir machen, bestenfalls noch einem alten Liebespaar zu ihrem letzten Wiedersehen verhelfen - aber du musstest erstmal zwei wehrlose 68er-Opas verprügeln, zumindest sah es so aus, als ich das Zimmer betrat.

Ein Mann, den ich auch nicht gleich erkannte, wand sich unter deinen Händen. Seine Angst, mindestens aber seine Schmerzen waren nicht gespielt. »Bitte«, winselte er, »dafür braucht dieses Land doch keinen Grund! Das ist ein Reflex, ein Ritual, alles Kosmetik wie Lichterketten oder Mahnmale - das wissen Sie doch selbst ...« Gerd versuchte, dich mit einer Hand am Mantel zu ziehen, was du jedoch mit einem lässigen Tritt nach hinten abwehren konntest.

»... oder die Geschichte mit den Amis, ihr Objekt Grimm, diese ganze Geheimnistuerei - erzählen Sie mir bloß noch, da stecken die Juden dahinter!«

Das sollte wohl zynisch klingen, aber stand dir gar nicht.

»Nein, natürlich nicht«, flehte Zeitz, »es ist nur so ...«

Egal, was er sagte - der Professor konnte sich nur um Kopf und Kragen reden. Das war zwar fast immer so bei eurem Lieblingsthema, aber natürlich erst recht, wenn man als Stellvertreter herhalten musste wie Zeitz. Deine Wut galt Wolf Jäger, dir selbst, einer unsichtbaren Weltverschwörung womöglich - und du warst drauf und dran, den Falschen dafür mit der Bettpfanne zu erschlagen. Ich räusperte mich mehrmals, rief deinen Namen, es nutzte alles nichts. Erst als ich die Tür noch einmal öffnete und besonders laut zuknallte, ließt du von ihm ab.

»Okay«, sagte ich und hatte mich doch innerlich längst von der Hoffnung verabschiedet, ihr könntet für eine halbe Stunde mal alle alten Geschichten vergessen. Aber die Zeit war knapp. »Jenny wird gleich wieder hier sein«, erklärte ich knapp und ließ Gerd gar nicht erst zu Wort kommen. »Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ich habe ihr versprochen, dass ihr beide zu einem Interview bereit seid. Nicht aufregen, Gerd! Bitte Evelyn! Fritz liegt nur ein paar Zimmer weiter. Wenn ihr euch nicht zusammenreißt, stürzen sich die Tele-Vier-Geier auf Liesbeth und ihn.«

Ich musste nicht erwähnen, dass es diesmal um mehr ging als eine exklusive Geschichte, und euer langes Schweigen nahm ich einfach als gutes Zeichen, auch wenn es für das überheizte Krankenzimmer immer noch ganz schön frostig rüber kam. Niemand achtete mehr auf den Professor, der langsam wieder zu Atem kam und mir, vermutlich aus Dankbarkeit, fast noch alles versaut hätte.

»Also«, sagte er, »wenn es der historischen Wahrheit dient, stehe ich natürlich auch für ein Interview zur Verfügung.«

Du hattest schon wieder Luft geholt, nicht wahr? Aber noch bevor du erneut aus der Haut fahren konntest, klopfte es schon.

»Danke«, sagte ich, um das stille Abkommen schnell zu besiegeln. Dann öffnete ich die Tür und ließ euch mit Jenny und einigen Bauchschmerzen allein.

Bauchschmerzen? Eine einzige Zumutung war das, und wenn ich gewusst hätte, dass draußen Wolf Jäger herumgeistert ... Aber das hast du mir ja vermutlich auch absichtlich verschwiegen.

Gerd Busch stierte tapfer in den Fernseher über seinem Bett, während ihn ein Kollege von oben bis unten abfilmte. Er blieb auch dabei, als das Mädchen seine Fragen stellte, und ich nahm mir ein Beispiel an ihm. Kein einziges Wort bekam sie von uns, aber wir machten auch kein Theater - mehr war wirklich nicht drin, Benny. Ich blieb sogar ruhig, als Zeitz einsprang und den Reportern tatsächlich den gleichen Mist erzählen wollte, mit dem es Wolf schon bei mir probiert hatte: kein Friedensvertrag, immer noch Krieg und so weiter. Der einzige Unterschied war, dass Zeitz allen Ernstes behauptete, die Bundesregierung hätte seit Jahrzehnten gar kein Interesse daran, diesen Zustand zu ändern.

»Der Staat wäre doppelt und dreifach pleite, wenn wir ehrlich damit umgehen würden«, sagte er, »solange noch irgendwelche Opfer leben, wird es auch keinen Frieden geben - wir brauchen den Krieg wie die Kirche die Erbsünde. Er sichert unsere Existenz.«

Die Opfer waren schuld, natürlich, das kennt man ja. Laut Zeitz war der sogenannte Schlussstrich also nicht mal eine ethische Hemmschwelle, sondern eher eine Frage der Kosten. Und deine ehrgeizige Kollegin hielt das offenbar für eine Sensation.

»Wollen Sie damit sagen«, fragte sie fiebernd, »wir rennen alle ein paar verwirrten Nazis hinterher - dabei drückt sich das ganze Land vor der Wahrheit? Vor dem Ende des Krieges?«

Zeitz hob abwehrend die Hände, aber gleichzeitig verschwörerisch die Augenbrauen: »Ich will damit gar nichts sagen, um Gottes Willen. Allerdings können Sie jeden Völkerrechtler in Ihrer Nachbarschaft fragen, oder Sie schauen mal in die UN-Charta ...«

Vielleicht kannst du dir ungefähr vorstellen, was es mich für Anstrengungen kostete ... wahrscheinlich kannst du es nicht. Zum Glück rollte Gerd ab und zu mit den Augen und deutete mit der Fernbedienung in der Hand einen Dachschaden an, den sich Zeitz bei seinem Kopfsprung von der Bühne zugezogen haben musste. Ich war nur froh, dass er da war, dass ich mich in ihm getäuscht hatte, und versuchte, mich auch auf die Videotextnachrichten zu konzentrieren, durch die sich Gerd die ganze Zeit blätterte.

Mehrere Sender berichteten von »einem tragischen Zwischenfall beim Internationalen Historikertag im Berliner Kongresszentrum«. Ein »offenbar verwirrter Mann« habe das Podium gestürmt und sich vor den Augen der Wissenschaftler ein Feuergefecht mit Sicherheitskräften geliefert. »Zur Identität des Mannes«, hieß es, »kann die Polizei noch keine Angaben machen.« Entgegen ersten Augenzeugenberichten habe er jedoch kein Nazikostüm getragen. Ich weiß, es ist ein böses Wort, aber alle berichteten wie gleichgeschaltet falsch. Dass es kein Kostüm war, stimmte als Einziges.

Weil Zeitz gerade über das Deutsche Reich schwadronierte, das auf dem Papier angeblich nach wie vor existiere und Krieg führe, hätte ich die nächste Meldung beinahe überlesen. Gerd musste mich erst darauf aufmerksam machen: Die für Anfang Juni turnusmäßig angesetzte UN-Vollversammlung, hieß es da, werde nun doch nicht über den deutschen Antrag auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat abstimmen. Na und, dachte ich, dann las auch ich den Namen, der in diesem Zusammenhang zitiert wurde: Die Bundesregierung, so Lars Schiller vom Auswärtigen Amt, habe ihren Antrag zurückgezogen, nachdem die USA und Großbritannien signalisiert hatten, für einen solchen Schritt sei die Zeit noch nicht reif.

Schiller konnte erst seit wenigen Stunden im Amt sein, trotzdem teilte ich Buschs stumme Empörung darüber kaum. Klar war es paradox, sich jemandes Schweigen mit einem Posten als Sprecher zu kaufen. Aber irgendwie passte es auch zu den beiden. Für Schiller war Desinformation - was sonst macht ein Pressesprecher? - eigentlich sogar genau der richtige Job.

Falls es dich tröstet, Evelyn, dein Freund Jäger war gar nicht mehr auf dem Flur. Nur zwei Polizisten in Uniform und zwei von diesen grauen Wichtigtuern hielten noch vor dem Zimmer Wache und hatten offenbar keine Lust, sich mit Elisabeth von Jagemann anzulegen. Anfangs wollten sie mich nicht einmal klopfen lassen.

»Da ist er ja«, rief sie, nachdem sie die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte, und starrte mir in die Augen wie ein Hypnotiseur: »Mein Enkel.« Dann zog sie mich auch schon sanft in den Raum, als hätte sie dort wirklich nur auf mich gewartet.

Betreten stand ich vor einer Mumie von Mensch. Mehr als ein paar piepsende Kontrollströme war von Fritz nicht mehr übrig. Eine Maschine pumpte die hellgrüne Krankenhausdecke kaum wahrnehmbar auf und ab. Nur Schläuche hielten seinen Körper künstlich warm. Und Liesbeth erklärte mir mit knappen Worten die Situation.

Sie sei dankbar, ihn noch einmal gesehen zu haben, wenn auch nur so. Es sei nicht unsere Schuld, aber auch nicht seine. Das Gehirn wäre zu 80 Prozent zerstört, hätten die Ärzte gesagt, die Lunge ganz. Nie wieder würde er aus eigener Kraft atmen.

»Ich würde es auch selbst tun«, sagte sie nach einer Pause, »wenn ich mich nur mit Computern auskennen würde und genau wüsste, dass er wirklich nichts merkt.« Schließlich räumte sie sogar ein, dass sie es trotzdem nicht könnte, und fragte mich, ob ich nicht auch glaubte, dass es das Beste für ihn sei...

Während sie redete, starrte ich auf die Monitore. Natürlich kannte ich mich auch nicht aus mit diesem Zeug, mit Pumpen und Kurven und unzähligen Reglern. Aber eine Verteilerdose versorgte mindestens fünf Geräte mit Strom. Sein Herzschlag war kaum noch der Rede wert, also bückte ich mich hinter das Bett und zog den Hauptstecker mit einem Ruck aus der Wand. Das war ich Fritz schuldig. Ein paar Geräte schlugen sofort Alarm, summten und piepten und steigerten - offenbar von Batterien versorgt - allmählich ihre Lautstärke. Manche zeigten die Minuten an, die sie noch Saft haben würden. Elisabeth von Jagemann begann zu beten. Ich drückte noch ein paar Netzschalter aus, klemmte einen Stuhl unter die Klinke, als von draußen daran gerüttelt wurde, und setze mich darauf. Die beiden hatten ein Recht auf diesen intimen Moment.

Die Fenster waren verdunkelt, genau wie Fritz es immer verlangt hatte, und auf dem Monitor zog er in aller Ruhe seinen grünen Schlussstrich. Es war nicht schlimm. Kein Zucken, kein Röcheln, nur ein langes tiefes Ausatmen.