Der Moderator fiel ihm erneut ins Wort: »Kommen Sie uns jetzt etwa mit der Autobahn? Autobahn geht ja nun gar nicht!«
Auch der Rest der Runde murmelte wieder etwas skeptischer: »Pfui« riefen die einen, »na ja«, »na und« oder »mag sein« sagten andere, bis sie Zeitz alle mit einer theatralischen Handbewegung und einem lauten »Moment!« zum Schweigen brachte.
Er zog ein Papier aus dem Jackett und entfaltete es zur Hälfte. »Hier ist ein Bauplan für das Objekt Grimm. Es läuft unter Code S I, Sonderbauten Führer, und stammt aus dem Berliner Baubüro Dr. Kammler, das auch die meisten anderen unterirdischen Anlagen für ihn geplant hat.«
Für ihn! Der Führer! Professor Zeitz kostete die Wirkung seiner Worte voll aus und ließ den Bauplan schnell wieder verschwinden, als eine Kamera näher kam. Ein paar Teilnehmer verzogen immer noch zweifelnd das Gesicht. Und die noch nicht zu Wort gekommen waren, nutzten die Pause schnell für ihren Senf.
»Noch’n Tee? Sonst mach ick nämlich Feierabend?«
Die Wirtin hatte sich absichtlich ins Bild gestellt und verlangte eine Antwort. Von eurem Tisch kam auch nur aufgeregtes Tuscheln. Ein unbekannter Bunker? Noch ein Tee? Immer diese schwierigen Fragen. Zum Glück zögerte die Wirtin nicht lange und war wieder verschwunden, als der Moderator den namenlosen Schattenmann vorstellte: Es war jedoch nur einer von diesen Freaks, die illegal nach Schätzen und dunklen Geheimnissen graben und deshalb lieber nicht erkannt werden wollen.
»Grundsätzlich würde ich nicht ausschließen, dass eine Anlage so lange funktioniert«, sagte der Bunkerfan mit künstlich verzerrter Stimme. »War ja alles für die Ewigkeit gebaut. Allerdings - das muss ich schon sagen - habe ich auch noch nie einen Nazibunker geknackt, der noch in Betrieb war.«
Das Publikum lachte. Zeitz schmunzelte. Er würde seinen Triumph vermutlich einen inneren Reichsparteitag nennen. Dagegen kamen auch die Einwände eines Bundeswehrsprechers nicht mehr an, der nun dran war. Deutsche glauben immer nur einem.
»Unsere Piloten«, so setzte er mehrmals an, »ebenso vorher die Russen ...« Er hatte keine Chance.
Selbst in der Kneipe von Gossow war keiner mehr richtig bei der Sache. Du warst plötzlich in ein altes Schulheft vertieft, als hättest du am nächsten Morgen eine Prüfung. Busch grinste wieder frech zu mir herüber. Nur das Mädchen notierte schnell noch den eingeblendeten Namen des Luftwaffenoffiziers.
Was er sagen wollte, hatte er uns schon am Nachmittag erzählt: Sie seien jahrelang über der Heide geflogen und hätten mit modernster Zieltechnik jeden Ameisenhaufen aus der Luft erfasst. Er meinte bombardiert, aber so deutlich sagen das Militaristen nicht. Ein Förster, der die Heide ab und zu inspizieren durfte, hatte in seiner Vernehmung von einem komplett umgepflügten Wald berichtet, ebenso Leute der Bürgerinitiative, die heimlich immer mal wieder auf dem Übungsplatz waren. Tiefe Krater, meterhohe Baumbarrieren - hunderte Hektar unwegsames Gelände. Was sollte man da noch aus der Luft erkennen?
7. Februar 1945 Verzeih mir, meine kleine Liesbeth! Verzeih vor allem, daß ich mich erst jetzt, nach Wochen, wieder melde und Dich obendrein so bitter enttäuschen muß. Auch ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als Dich bald wieder in den Armen zu halten - aber alles kommt anders in diesen Tagen.
Erst wurde unser Lager überraschend auf den Übungsplatz Beneschau verlegt, 1400 HJler in einer Nacht - eine Hektik, kann ich Dir sagen. Keiner hat es vorher gewußt, die Gerüchte überschlugen sich: Nun gehe es geradewegs an die Front, die Russen stünden schon vor Prag und dergleichen. Viele haben ja bereits ihren Wehrpaß in der Tasche und können das Ende der Schulzeit kaum erwarten. Erst in den völlig überfüllten Schlafsälen von Beneschau machte sich Ernüchterung breit, denn ein Teil der Kaserne wird als Lazarett genutzt. Wir haben viele Verletzte gesehen, Krüppel, Sterbende, wirklich schlimm.
Wir aber sollten nicht enttäuscht werden: Schon beim Morgenappell am nächsten Tag überbrachte uns ein hoch dekorierter Brigadeführer, dessen Namen ich mir vor Aufregung nicht gemerkt habe, die frohe Botschaft: Der Führer habe uns schon heute zu den Waffen gerufen! Unbeschreiblicher Jubel brach los, das kannst Du Dir ja vorstellen. Waffen-SS - ohne Eignungstest und Zugangsbeschränkung! Meine Gruppe wurde sofort geschlossen einem Obersturmbannführer übergeben. Schon mittags saßen wir mit 1000 Mann in Waggons Richtung Kienstlag, wo die Division Hitlerjugend neu aufgestellt werden sollte.
Jeden Tag stießen neue Kameraden zu unserem Bataillon (nun Sturmbann in der Kampfgruppe Böhmen), junge Burschen aus allen Ecken Deutschlands, keiner über 18 Jahre, aber alle mit brennenden Herzen. Bewaffnung, Tätowierung und schließlich Vereidigung, alles lief wie am Fließband und teilweise noch im Braunhemd, denn die Uniformen reichen vorn und hinten nicht.
Trotzdem: Endlich Soldat! Viel früher, als je erträumt, gehöre ich nun sogar zur Elite deutscher Kämpfer, ein Prätorianer wie Vater. Ich habe es auch Mutter gleich geschrieben, damit sie es ihm berichtet. Von Feld zu Feld, heißt es, dauert die Post manchmal noch länger. Er soll ruhig auch mal stolz auf mich sein dürfen!
Natürlich gab es zuletzt noch mal ordentlich Schliff: Bettenbau, Nahkampf und Märsche, das ganze Programm. Ausbilder und Vorgesetzte stammen fast alle aus Marine- und Luftwaffeneinheiten, die es scheinbar nicht mehr gibt. Böse Zungen nennen sie »Göring-Spende«. Aber ihr Drill ist gnadenlos: Eisige Dusche am Morgen, Appell mit Gruß an Hitler, erst danach ein mageres Frühstück. Das Gerät ist alt, zum Teil kaputt, unsere Disziplin dafür eisern, und unsere Körper - die von Athleten. Erholung spenden nur ein paar Stunden politische Theorie oder richtiger Schlaf, wenn uns ausnahmsweise mal keine Alarmpfiffe wecken. Daran, fürchte ich, werde ich mich nie gewöhnen: wie ein Toter auf die Pritsche fallen und kurz darauf wieder raus, volle Montur und mitten in der Nacht ins Manöver ...
Schließlich haben sie das Regiment noch einmal geteilt und den Abmarsch befohlen: 200 Mann nach Wien, 50 zur Panzernahkampfbrigade Berlin, der Rest auf andere Divisionen. Und ich - halt Dich fest - zur Leibstandarte!
Seitdem warten wir in einer Kaserne am Rand von Berlin auf unseren ersten Einsatz, und erst gestern hat man uns hier gleich noch einmal vereidigt, viel feierlicher diesmal und nach altem germanischem Brauch zwischen zwei Eichen.
Was müßt Ihr wohl an Strapazen durchmachen? Die Nachrichten von der russischen Walze fließen spärlich. Über die Oder käme Iwan nicht, wird gemunkelt. Dann gibt es wieder Gerüchte, die Engländer stünden bereits im Harz. Nichts genaues, nur täglich lange Listen aus dem OKW vor allem Auszeichnungen. Es geht offenbar um alles. Und wir sitzen hier rum!
Aus Beneschau sind noch vier Kameraden dabei, auch Max, der Dich grüßen läßt - Dich und die Lotsen-Elli aus Deiner Klasse. Sie soll ihm mal schreiben! Wußtest Du, daß die beiden mal miteinander gegangen sind? (Behauptet zumindest Max!)
Wir selbst dürfen momentan keine Post versenden, eine Art Quarantäne, um wenigstens einen Teil der Truppenbewegungen vor Spionage zu schützen. Deshalb weiß ich auch nicht, wann und wo ich diese Zeilen aufgeben kann. Versprochen wurde es uns spätestens für den endgültigen Einsatzort. Einige Briefe können bis dahin verlorengehen. Bitte versuche es trotzdem! Und drück die Daumen, daß wir endlich Verwendung finden! Stolz aber ungeduldig - und ewig sowieso: Dein Fritz.
30. März 2004 Wir sind zunächst in Sicherheit, Liesbeth, so viel vorweg. Richtige Betten. Die Sonne scheint. Wie im Himmel kommt es einem vor, nach so vielen Jahren ohne ihn.
Konrad wollte unbedingt noch in der gleichen Nacht seinen Hof erreichen. Wir konnten ihm diesen Wunsch unmöglich abschlagen, auch wenn es sich erst im Nachhinein als gute Idee erwies. Worauf sonst soll man sich nach den Enttäuschungen dieser Tage auch verlassen, wenn nicht auf sein eigen Fleisch und Blut? In DB 10 konnten wir unmöglich bleiben. Die Verräter wären sicher zurückgekehrt, wahrscheinlich mit Verstärkung.
Ihr Auto sollte uns einen kleinen Vorsprung verschaffen, von einer ruhigen Fahrt konnte trotzdem keine Rede sein: Feinde überall und Josef am Steuer - die reine Tortur. Kein Gedanke an leserliche Notizen. Deshalb das Wichtigste aus meinem Stenoblock nun noch mal in Schönschrift:
Josef probiert erstmal alle Hebel und Knöpfe aus und kann sich kaum aufs Fahren konzentrieren: Was für eine Kraft, diese Kraft, habt ihr diese Kraft gespürt? So redet er die ganze Zeit. Wenn er die Bremse nur berührt, kleben wir sofort an der Windschutzscheibe. Tritt er aufs Gas, schießt der Wagen stramm nach vorn. Er ruckelt und springt wie ein Esel, und Otto, der sich neben mir nur mit einer Hand festklammern kann, jault jedes Mal auf. Ihm fehlt jegliche Körperspannung, um die Sprünge zu parieren. Wir wollen es ihm mit den Gurten erleichtern, aber er protestiert beharrlich dagegen.
Nach etwa einer Stunde auf Waldwegen stoßen wir auf eine Straße. Der glatte Asphalt tut allen Knochen gut. Mit dem Polarstern voraus glaubt Konrad auf dem richtigen Weg zu sein, bis der Horizont plötzlich so blau leuchtet, daß jeder Stern erblaßt. Es ist ein helles Blau. Künstlich und gefährlich. Josef drosselt das Tempo. Seine Vorsicht in allen Ehren, aber müssen wir wirklich das Licht scheuen? Auf Heimatboden?
Unter einem großen, grell erleuchteten Dach, das wie von selbst im Himmel zu schweben scheint, sehen wir zuerst einen Glaskasten und deutlich die Silhouette eines Menschen darin. Josef will auf den letzten Metern die Scheinwerfer löschen, aber stattdessen blinken sämtliche gelben Eckleuchten unseres Wagens auf. Und als hätte Josef mit dem Lenkrad auch den Befehl inne, weist er uns an, die Waffen zu entsichern.
Der Mann im Glaskasten scheint allein. Er trägt eine Uniform im gleichen Blau wie das Licht. Konrad und ich sitzen ab. Aus ein paar mannshohen Kästen baumeln Schläuche. Es könnten Zapfhähne sein, Benzin. Doch wer soll hier mitten in der Walachei schon tanken? Für eine Feldtankstelle wiederum ist sie miserabel getarnt. Als wir uns der Glasscheibe nähern, öffnet sie sich wie von Geisterhand. Wir erschrecken, genauso der Mann in Blau. Aber erst sein hilfloser Blick aus einem Fenster verrät uns die eigentliche Gefahr:
Russen.
Mindestens zehn von ihnen tauchen gleichzeitig hinter einer Ecke auf. Ihre typisch kahl geschorenen Schädel schimmern bläulich. Wie gelähmt und doch auf alles gefaßt stehen wir ihnen gegenüber, bis einer unsicher zu lächeln beginnt. Noch ein Schritt näher, und - Konrad schreit sie plötzlich an:
Stoi! Ruki Wersch!
Natürlich: Das kleine Handbuch »Russisch im Feld«. Wir alle haben es einmal bekommen, aber nur Konrad hat es gelesen. Wie oft habe ich ihn wegen seiner Leimschnüffelei ermahnt? Er würde sich noch den letzten Rest Grütze aus dem Kopf ätzen und so weiter - vergeben und vergessen! Die Russen starren ihn ebenso respektvoll an wie ich. Nur ihre Hände heben sie nicht.
Sie tragen kurze, glänzende Jacken ohne Kragen, dazu hohe Schnürstiefel und blaue Baumwollhosen, bis unters Knie hinauf gekrempelt. Nie zuvor habe ich eine seltsamere Mischung von Uniformteilen gesehen. Auch ihre Bewaffnung paßt überhaupt nicht zu dem, was wir von Russen erwarten dürfen. Statt Maschinenpistolen haben zwei von ihnen lediglich eine Art Keule dabei, am Griff schlanker als an der Spitze. Wie schlecht muß es der Rotarmee gehen, daß sie ihre Soldaten inzwischen mit Holzknüppeln gegen uns schickt? Oder ist es nur Tarnung, ein mieser Hinterhalt? Im Zweifel dürfen wir keine Sekunde zögern.
Der Stämmigste von ihnen hält eine Flasche in der Hand und muß der Anführer sein. Er will gerade etwas sagen, da peitscht uns ein Schuß um die Ohren. Die Russen liegen schneller flach als wir. Eine Scheibe fällt splitternd in sich zusammen. Der Mann in Blau steht dahinter, den Telefonhörer noch am Ohr. Josef, dieser Hund, hat die alten Augen doch immer noch überall!
Konrad scheucht den Mann raus. Der traut sich nicht mal, sein Telefon aufzulegen, hält den Hörer noch in der Hand, als er längst neben den Russen im Dreck liegt, es ist ein Hörer ohne Schnur, ein Täuschungsmanöver. Wie eine Ewigkeit kommt es mir vor, bis Konrad wieder aus dem blauen Kasten kommt.
Er kaut und hat sich sogar die Taschen mit Fressalien vollgestopft. Kurz vor der Tür, die sich ohne Pause öffnet und schließt, seit ich sie bewache, bleibt Konrad nochmals stehen. Er greift in ein Regal und klemmt sich eine Zeitung unter den Arm. Offenbar gibt es an Feldtankstellen neuerdings allerlei Marketenderware. Und Konrad neigt zur Plünderei.
Während ich noch überlege, ob und wem ich diese Tendenz zu melden habe, rappeln sich die ersten Russen ohne Erlaubnis wieder auf. Ich lasse es ihnen durchgehen, denn sie zittern und wimmern, manche heulen sogar. Wie konnten solche Waschlappen nur so tief in unsere Heimat Vordringen?
Dawai, sjuda, Dawai! Konrad dirigiert den kläglichen Haufen zu unserem Wagen. Unter dem taghellen Dach wirken ihre Gesichter noch jünger als vorher. Lauter Milchbärte, die außer Pickel nichts Bedrohliches mehr an sich haben. Bei einem führen frische dunkle Streifen vom Schritt bis in die Stiefel.
Josef hilft Otto aus dem Wagen, da beginnt der dicke Anführer ungefragt zu lallen: Sie seien auch Deutsche, behauptet er, sogar stolz darauf und würden hier nur friedlich ihr Bier trinken. Als Konrad ihm auf Deutsch befiehlt, die Schnauze zu halten, pariert er prompt und wankt zurück ins Glied. Fast kommt er mir schwer betrunken vor.
Otto nimmt sich viel Zeit, um im Rollstuhl die erbärmliche Parade abzunehmen. Konrad reicht mir unterdessen das Heft aus dem Zeitungsregal. Auf dem Titelblatt sind Panzer und deutsche Soldaten abgebildet, einer schleudert gerade eine Handgranate. Landser, heißt die Zeitschrift -Der Landser. Und Kameraden schildern darin den gnadenlosen Kampf an der Ostfront. Na also - hat uns das kleine Flittchen im Bunker doch angelogen.
Wenn sie Deutsche sein wollen, fragt Otto und mustert die Gefangenen: Wieso seien sie dann nicht an der Front?
Der Russenhäuptling kratzt sich den Schädel, tritt von einem Bein aufs andere und gibt schließlich zu, daß dies wirklich eine gute Frage sei - eigentlich, wie er anfügt. Die anderen drücken sich eng hinter ihn und nicken beflissen, während ihr Anführer immer wieder Anlauf nimmt, mehrmals abbricht und stottert, er denke, er meine und glaube - bis es aus ihm herausplatzt: Mann, diese Knarren, die Runen und alles, also wirklich! Absolut krass, sagt er dann, endkrass!
Endsieg? Otto hält die Hand hinters Ohr, als habe er das letzte Wort auch nicht richtig verstanden. Bis auf solche Kleinigkeiten ist das Deutsch des Russen nicht mal schlecht. Nur was er sagen will, weiß er allem Anschein nach selber nicht. Schwer einzuschätzen, ob er sich nur vor seinen Saufkumpanen aufspielt oder uns für blöd verkauft. Denn für Zivilisten sind sie natürlich viel zu einheitlich gekleidet. Für deutsche Soldaten wiederum fehlt ihnen jede Manneszucht. Geradezu anmaßend oft mißbraucht er das Wort Kameraden, bis auch die anderen anfangen zu murmeln, scheele Blicke tauschen und die Situation gänzlich außer Kontrolle zu geraten droht.
Gerade noch rechtzeitig fährt Otto mit einem herzhaften Still gestanden! dazwischen und lässt sich von Stahl seine leere Pistole reichen. Das wirkt. Zu Füßen des Bettnässers breitet sich die Pfütze weiter aus. Selbst das Großmaul verharrt in Habachtstellung, zieht den Kopf ein und schweigt.
Den Gruß, flüstere ich Otto von hinten zu, er soll sie den deutschen Gruß machen lassen!
Kein echter Iwan würde sich erlauben, unserem Führer die gebührende Ehre zu erweisen, nicht bei dem politischen Drill ihrer Kommissare und vor den Augen der eigenen Leute. Otto kapiert es allerdings nicht sofort. Ich muß es zweimal wiederholen, jedesmal lauter, am Ende zu laut. Denn dann hebt ihr Anführer plötzlich von sich aus den Arm. Auch die anderen versuchen, etwas Spannung in die Hühnerbrüste zu pumpen und machen es ihm nach, zögerlich zwar, und jeder schaut unsicher nach dem Nachbarn, aber nach etwa einer Minute sind tatsächlich alle Arme oben.
Dabei feixen einige von ihnen schon wieder unangemessen. Und ich bin mir nicht sicher, ob man sich über solche Überläufer wirklich freuen oder eher für sie schämen soll.
Otto jedoch wirkt erleichtert und überlässt Konrad die weitere Befragung. Angeblich wissen sie alle, wo Seesen liegt, und überschlagen sich förmlich bei der Wegbeschreibung. Wenn wir ihnen glauben dürfen, sind es keine 20 Kilometer mehr. Einer bietet sogar seine Begleitung an, er sei dort ohnehin zu Hause. Und weil wir sie unmöglich alle in Arrest nehmen können, gehen wir kurzerhand darauf ein.
Der Junge heißt Jan und packt beherzt mit an, als wir Otto einladen. Dann fragt er, zu wem wir eigentlich genau wollen?
Zum Knieper-Hof. Hoppe. Die Kartoffelbauern. Wie ein Schnellfeuergewehr antwortet Konrad, bevor er zögert und fragt: Falls dort noch jemand mit diesem Namen lebt?
Oma Inge, sagt der Junge unsicher. Er glaube, Oma Inge habe mal so geheißen - und Uroma Gretel natürlich auch.
Konrad bekommt den Mund nicht zu und kein Wort mehr heraus.
Ich frage für ihn weiter: Deine Uroma Gretel?
Der Junge nickt. Oma Inge heiße zwar anders, nämlich so wie Opa Peter, aber Uroma Gretel sei immer Uroma Gretel geblieben. Und Hoppe, ja, so stünde es auch noch an ihrem Briefkasten.
Jedem von uns schwant in diesem Moment, daß der Junge nicht nur über zwei Ecken mit Konrad verwandt ist. Ich möchte sogar sagen: Wir alle spüren die Führung des Herrn. Als Jan schließlich auch noch erwähnt, er habe seinen Uropa leider nicht gekannt, weil der im Krieg geblieben sei, ist es endgültig vorbei mit der Selbstbeherrschung, das ganze Auto schnieft. Uroma Gretel, so fährt der Junge arglos fort, habe die Hoffnung allerdings nie aufgegeben. Seit er sie kenne, sei sie bei jedem Klingeln aufgesprungen und an die Tür gerannt. Bis zuletzt habe sie Herzklopfen bekommen, wenn nur der Briefträger auf den Hof geradelt kam. Mein Konny, habe sie dann stets geflüstert oder wenigstens eine Nachricht von ihm erwartet.
Bis zuletzt? Keiner von uns wagt die nächste Frage.
Josef klammert sich ans Lenkrad. Am Horizont leuchtet Heimatflak. Sie müssen dafür ein völlig neues System haben: Rasend schnell tasten Scheinwerfer den Himmel nach Feindbombern ab, ganze Bündel gleichzeitig. Der Junge nennt es Disko. Er sei dort auch jedes Wochenende und so, wie das klingt, scheint ihm der Flakdienst für die Heimat sehr am Herzen zu liegen. Konrad schluchzt erneut, sicher ist er stolz.
Für die letzten Kilometer schlägt Jan einen Umweg vor. Wir folgen seinem Rat, auch wenn wir nichts zu verbergen haben. Immerhin ist er der erste Mensch, dem wir blind vertrauen dürfen, nachdem ihm Konrad die Wahrheit offenbart hat. Kein deutscher Junge würde seinen Uropa verraten - da können die Verhältnisse noch so durcheinander sein. Der Knabe hat es beinahe emotionslos geschluckt und schweigt den Rest der Fahrt.
Es ist fast elf, als wir durch ein offenes Tor fahren. Jan springt als Erster aus dem Wagen und hält Konrad die Tür auf. Der aber rührt sich lange nicht und starrt auf den schwach beleuchteten Hof. Wir erkennen einen Stall, das Wohnhaus, eine Pforte zum Garten. Vermutlich klebt Konrad die Zunge vor Rührung am Gaumen, und so erfahren wir nicht, ob noch alles beim Alten ist oder kaum etwas wiederzuerkennen. Ich habe es mir, ehrlich gesagt, auch nicht ganz so ärmlich vorgestellt.
Hinter einem Fenster im Erdgeschoß brennt noch Licht. Jan schlägt vor, die Familie zunächst allein auf den späten Besuch vorzubereiten. Uroma Gretel sei bestimmt noch wach, weil sie immer schwer einschlafe. So beiläufig erfahren wir, was er die ganze Zeit verschwiegen oder nicht erwähnt hat: Konrads Frau lebt! Und der brave Bursche macht sich Sorgen um ihr Herz.
Konrad braucht nur zwei Sekunden, um diese Nachricht zu verdauen. Dann ist auch er nicht mehr zu bremsen und holt seinen Urenkel trotz Hinkebein noch vor der Haustür ein, die sich im gleichen Augenblick öffnet.
Warmes Licht fällt auf den Hof, als eine kleine Frau darin erscheint. Sie stützt sich mit einer Hand in den Rahmen, lächelt verlegen und empfängt ihren Mann mit einem flüchtigen Kuss, als sei er erst am Morgen aus dem Haus gegangen. Und genauso selbstverständlich geht es weiter: Niemand fällt in Ohnmacht, kein Wort zu viel. Ein jüngerer Mann, von dem wir erst am nächsten Tag erfahren, daß es Konrads Schwiegersohn ist, nimmt uns Mäntel und Waffen ab. Konrads Tochter Inge führt uns in die Küche und bereitet still ein Gästezimmer vor.
Konrad steht die ganze Zeit mit Gretel im Flur, hält ihre Hand und beobachtet jede Bewegung seiner Tochter, die auch schon mindestens 60 Jahre alt sein muß. Gretel aber strahlt, als hätte sie ihrem Mann das reizende Mädel eben erst in den Arm gelegt. Ab und zu wird der frische Vater von Fassungslosigkeit geschüttelt und versteckt seinen Kopf im schneeweißen Haar seiner Frau. Später ziehen sich die beiden zurück, als wäre auch das nichts Besonderes. Für mich ist es immerhin die erste Nacht seit langem, in der ich einschlafe, noch bevor ich mein Dankgebet beendet habe.
Jetzt, am Morgen danach, schwebt über allem noch immer die gleiche Wolke aus Rührung und Demut. Bis auf einen zurückhaltenden Morgengruß wird in großer Runde geschwiegen. Wir sitzen am Frühstückstisch und warten nur noch auf Konrad.
Durch das Küchenfenster sieht man ihn auf einem kleinen Stück Rasen die Sense führen. Er hat es nicht verlernt. Wenn er sich nach jedem kraftvollen Schwung durch das hohe Gras vorwärts schaukelt, fällt sein steifes Bein kaum noch auf. Er ist überhaupt kaum wiederzuerkennen in seinem blauen Arbeitsanzug, der alten Schiebermütze aus Leder und den Gummistiefeln. Seine Tochter Inge hat auch uns zivile Anzüge von ihrem Mann angeboten. Ich hätte schon Lust gehabt nach so langer Zeit in Feldgrau. Aber Otto hat sofort protestiert und natürlich Recht: Warum sollen wir uns verkleiden?
Konrad soll schon ihm Stall gestanden haben, als alles noch schlief. Nach dem Melken der einzigen und letzten Kuh auf dem Hof, so berichtet Gretel, habe er seine Äcker abschreiten wollen, aber mehr als drei Hektar Wiese seien leider auch nicht mehr übrig. Wenn ich sie richtig verstehe, haben Kommunisten alles Land kassiert und im Auftrag der Russen neu verteilt.
Als Konrad endlich kommt, bleibt er in der Tür zu Küche stehen und streichelt selbstvergessen den Rahmen. Lange schaut er in die Runde und auf den liebevoll gedeckten Tisch. Dann winkt er Jan zu sich. Der Junge soll ein Tischgebet sprechen, aber er scheint nicht mal zu ahnen, was von ihm erwartet wird. Leicht widerstrebend läßt er sich von seinem Urgroßvater die Hände ineinander legen. Schließlich spricht Konrad für ihn:
Händchen falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken. Er gibt uns täglich Brot und hilft uns aus aller Not.
Amen. Inge und ich antworten wie aus einem Mund. Sogar Otto, sonst gottlos bis ins Grab, murmelt mit. Der Junge dagegen grinst nur verlegen. Natürlich ist er schon zu alt für so einen Kindervers. Aber Konrad zuliebe hätte er ja wenigstens mal Amen sagen können!
Seine Oma Inge wirbt mit gütigen Augen um Verständnis: Jans Eltern seien leider nicht gläubig, ihren Andeutungen zufolge ist das wohl auch eine Folge der bolschewistischen Besatzung. Außer Jan gibt es noch eine Enkeltochter, die gestern Abend bereits im Bett lag und nun auch beim Frühstück fehlt. Inges Mann nimmt sie morgens mit in die Stadt zur Schule. Die Großeltern kümmern sich um alles, während die Eltern im Westen ums Überleben kämpfen. Dabei würde die Ostfront viel näher liegen, denke ich, und noch merkwürdiger kommt mir vor, daß sie angeblich jedes Wochenende Heimaturlaub bekommen.
Hartz Vier nennt Inge die jüngste Totalmobilmachung, die angeblich jeder fürchten muß, der sich nicht freiwillig im Westen meldet, selbst Alte und Frauen. Harte Zeiten - aber Konrads Familie steht füreinander ein. Er darf stolz sein.
Sogar Otto Böttcher beweist unerwartet Feingefühl, indem er erst nach dem Frühstück wieder in Befehlen spricht: Einen Tag würden wir bleiben, legt er fest, morgen gehe es ausgeruht weiter. Daraufhin schickt Konrad seine Familie aus dem Raum und eröffnet uns, daß er bleiben werde. Für ihn sei der Krieg vorbei. Sein Hof bräuchte ihn, die Familie auch. Und bevor Otto etwas entgegnen kann, sagt er, dies sei sein letztes Wort.
Ich zähle die peinlich sauberen Kacheln unter dem Küchentisch und halte gemeinsam mit Josef die Luft an: Wir verstehen ihn ja. Trotzdem ist es allerhand, was er uns, seinem Vorgesetzten, letztlich der ganzen bedrohten Heimat damit zumutet. Man könnte das auch gut und gerne Fahnenflucht nennen.
Otto starrt ihn lange und verächtlich an. Dann zitiert er fast beleidigt den Erlaß des Reichsführer SS zur Einrichtung von Sonderstandgerichten zur Bekämpfung von Auflösungserscheinungen vom 26. Februar 1945. Es ist sein Lieblingsbefehl, einer der letzten, die uns erreichten, und der einzige, den er auswendig kann. Zwei Minuten später wird die Stille so unerträglich, daß Josef fragt, ob er wegtreten dürfe. Ich schließe mich, Ottos stumme Erlaubnis vorausgesetzt, sofort an. Sollen sie das doch unter sich klären! Auch wenn es sein gutes Standrecht wäre, erschießen wird ihn Otto schon nicht gleich. Seit dem Zwischenfall an der Autobahn klappert die Munition seiner P 640 in meiner Manteltasche. Das hatte der Kleinen von der Wochenschau schon das Leben gerettet, die mir - nebenbei gesagt - trotz aller Aufregung nicht aus dem Kopf will.
Später heißt es, Otto schläft. Und obwohl alle wissen, daß die Sache damit nicht erledigt ist, verbringen wir ein paar unbeschwerte Stunden auf dem Hof, beinahe friedlich.
Konrad spannt das letzte Pferd an und will die Wiesen pflügen. Inge kann ihn nicht davon abhalten. Ihr Argument, ein brachliegender Acker würde mehr einbringen als ein bestellter, ist aber auch wirklich zu albern. Ich sitze mit Jan auf einer Bank und genieße die Frühjahrssonne. Josef hat sich nach einem kleinen Spaziergang in die Scheune zurückgezogen. Der Junge erklärt mir derweil den Lauf der Welt.
Jedes Detail sauge ich auf und gebe es hier wieder, wenn auch vieles keinen Sinn ergibt. So spricht Jan viel von der Wende. Es muß sie also doch noch gegeben haben, wenn auch viel später als ersehnt. Jan verbindet allerdings nichts Positives damit: Seine Eltern hätten danach Lohn und Brot verloren. Er selbst fände nicht mal eine Lehrstelle. Deutsche Bauern ohne Arbeit - das muß man sich mal vorstellen!
Auch deshalb kann es Jan wohl kaum erwarten, seinem Vaterland zu dienen, genau wie ich in seinem Alter. Es scheint ihm sogar in erster Linie mehr um eine Art Beschäftigung zu gehen als um die Ehre. Außerdem würden junge Männer heute erst wieder mit 18 Jahren genommen und, wie er klagt, nicht mal jeder. Wie soll man da glauben, daß wir angeblich den Balkan zurückerobert haben, daß deutsche Truppen in Afghanistan stehen, und es sogar wieder eine Kriegsmarine gibt von der doch fast nichts mehr übrig war? Wenn man den geographischen Kenntnissen des Jungen trauen kann, kontrolliert sie das arabische Horn. Ein neues Afrikacorps schickt sich gerade an, Rommels Ehre im Kongo wiederherzustellen. Es scheint, als hätte unsere Generalität aus den 40er Jahren nichts gelernt: Noch immer reiben wir uns an vielen Fronten gleichzeitig auf, während der Feind längst in der Heimat wütet.
Jan versteht das auch nicht und schaut mich dennoch manchmal an, als wisse er nicht, wovon ich rede. Er mag ein feiner Kerl sein, aber ich fürchte auch, daß er nicht gerade zu den Hellsten seiner Generation zählt, genau wie seine Freunde, die sich vor Langeweile als Russen verkleiden und vor den eigenen Soldaten in die Hose machen. Aber wie sich das gehört, setzt sich Jan trotzdem für sie ein.
Sie würden sonst nicht so viel trinken, beteuert er, im Gegenteil. Anders als den meisten jungen Leuten heutzutage würden ihm und seinen Kameraden die alten Tugenden viel bedeuten. Deshalb auch die Glatzen. Ich müsse mir das so vorstellen: Selbst mit einem akkuraten Haarschnitt könne man heute ein Zeichen setzen. Ein zäher Kampf sei das gegen den undeutschen Geist und die Amerikanisierung. Hier auf dem Land würde es zwar noch gehen - nach Berlin allerdings würde er sich mit seiner Frisur (er nennt das wirklich so!) nicht getrauen.
Als ich ihm darauf unsere grobe Marschrichtung verrate, warnt er uns eindringlich: Wir sollten bloß vorsichtig sein! In der Reichshauptstadt seien Deutsche ihres Lebens nicht mehr sicher, nur noch Ausländer dort. Eine Schande sei das.
Möglicherweise übertreibt er hier und da, denn er behauptet sogar, die Partei stünde seit Jahren immer kurz vor einem Verbot, nicht etwa nur in den vorübergehend besetzten Gebieten, sondern im ganzen Reich und angeblich durch deutsche Behörden.
Darf ich Sie etwas fragen, fragt er dann und rückt näher wie ein Verschwörer: Glauben Sie an den Freitod des Führers?
Ich habe es geahnt, der Junge hat einen Dachschaden. Das ist traurig, aber auch kein Wunder, schaut er doch auch den halben Tag in diesen Kasten mit der abartigen Negermusik. Vermutlich hängt das alles zusammen: Daß ein junger Kerl wie Jan nichts mit sich anzufangen weiß und außerdem jeden Glauben verloren hat - an sein Land, sich selbst und sogar an den Führer. Das versuche ich ihm klarzumachen. Der Führer mag eines Tages fallen oder - Gott bewahre - schon gefallen sein. Aber sein Volk im Stich lassen? Niemals!
Gegen Mittag kommen zwei seiner komischen Kameraden vorbei. Jan führt mich stolz vor, und in ihrer einfältigen Art machen sie kaum einen Unterschied zwischen mir und meinem Seitengewehr. Andächtig bestaunen sie jede Kleinigkeit meiner Ausrüstung, als sei selbst das Feldgeschirr eine Art Reliquie. Die Doppelrune hat es ihnen besonders angetan: Irre, sagen sie immer wieder, und ob ich damit wirklich auf der Straße herumlaufen würde, wollen sie wissen. Wie denn sonst, frage ich zurück. Da erzählt einer von ihnen, er lerne Konditor, und sein Meister habe ihm sogar verboten, die Sahneschnitten auf den Bestellzetteln so abzukürzen. Muß man das verstehen?
Kaum ruft Gretel zum Essen, trollen sie sich vom Hof wie ungelittene Hunde. Die Frauen haben einen Eintopf mit Fleischeinlage gezaubert und servieren ihn gleich auf dem Hof. Weil Otto und Konrad kein Wort miteinander reden, liegt es an mir, für die Unterhaltung am Gartentisch zu sorgen. Ich lobe die Suppe, das Wetter und Inges Enkelsohn. Über das Kompliment für die Suppe freut sie sich. Der Frühling dagegen sei viel zu spät und Jan - na ja. Mehr sagt sie dazu nicht.
Mein Eindruck kann täuschen, aber der Junge scheint ein echtes Sorgenkind zu sein. Bevor ich danach fragen kann, kommt ein kleines Auto auf den Hof geknattert. Inges Mann Peter steigt aus, und ich bin mir ziemlich sicher, daß er es war, dem die Burschen lieber nicht begegnen wollten. Peter ist der Einzige in der Familie, der vor Ort noch Arbeit hat. Als Lehrer in Wittstock kommt er dennoch täglich zum Mittagessen nach Hause, so wie das auf dem Land von jeher üblich ist.
Endlich taucht auch Josef wieder auf. Das klappernde Auto hat ihn aus der Scheune gelockt. Er fängt Peter auf dem Hof ab und fragt ihn irgendwas. Konrads Schwiegersohn sieht nicht gerade begeistert aus, kehrt aber nach wenigen Sekunden im Schuppen mit einer Kiste voller Farbdosen und Pinsel zurück. Josef bedankt sich überschwenglich und verschwindet wieder in der Scheune. Was macht er dort nur? Hat er keinen Hunger?
Grußlos setzt sich Peter an den Tisch und beginnt, mürrisch seine Suppe zu löffeln. Sein Kopf hängt tief über dem Teller, als wolle er jeden Blickkontakt mit uns vermeiden. Irgendetwas passt ihm nicht, aber offenbar fehlt ihm der Mumm, es auszusprechen. Als Konrad ihm die Hand auf die Schulter legt und seinen Schwiegersohn auffordert, ordentlich reinzuhauen, verschluckt sich Peter furchtbar. Gretel und Inge klopfen ihm abwechselnd auf den Rücken, bis er sich wieder beruhigt, aber mit seinem halbvollen Teller ins Haus flüchtet. Während ich dankbar eine Kelle Nachschlag annehme, frage ich beiläufig, was denn mit ihm los sei. Inge winkt ab, als wolle sie auch darüber lieber nicht reden. Gretel übernimmt es für sie: Es seien unsere Uniformen, der ganze Aufzug und die Abzeichen. Peter sei eben Kommunist, jedenfalls lange gewesen. Noch gestern Abend habe er verlangt, wir sollten uns umziehen oder verschwinden. Aber es sei ja nicht sein Hof, sagt Gretel abschließend und streichelt Konrad verliebt die Hand.
Inge muß dieses Geständnis so peinlich sein, daß sie wütend das leere Geschirr einsammelt und ihrem Mann ins Haus folgt. Gretel schaut ihr mitleidig nach. Von Anfang an sei sie gegen diesen Kerl gewesen, flüstert sie dann, aber was hätte sie machen sollen - ohne Konrad und in der schweren Zeit damals.
Ein Kommunist? Otto scheint nur die Hälfte mitzubekommen, denn er schweigt dazu, döst satt und zufrieden vor sich hin, bis ein Schuß über den Hof hallt. Konrad beugt sich schützend über seine kleine Frau. Inge und Peter kommen aus dem Haus gerannt. Ich selbst sitze starr vor Schreck vor meinem Notizbuch und fürchte, es kam aus der Scheune. Josef, dieser Idiot!
Tatsächlich geht das Scheunentor auf. Der Jude lacht und schiebt ein Motorrad mit Beiwagen heraus, fängt an zu rennen und springt auf. Es knallt noch zweimal, bis der Motor richtig bollert, und Josef eine Runde über den Hof dreht. Zwei Hühner flattern um ihr Leben. Danach bremst er scharf vor unserem Tisch, steigt ab und zeigt mit beiden Händen auf das knatternde Gespann - stolz wie ein Dirigent, der mit dem Solisten kokettiert und doch vor allem selbst Beifall erwartet.
Zuerst bekommt er ihn von der falschen Seite: Völlig aus dem Häuschen springt der Kommunist um das Motorrad herum. Was der Fehler gewesen sei, will er wissen, und wie das Josef nur gemacht habe. Offenbar hat Peter selbst jahrelang vergeblich daran herumgebastelt und auf einmal auch kein Problem mehr mit Josefs Uniform, der grinsend den Motor abwürgt und seine öligen Zauberhände hebt, als könne er dafür genauso wenig.
Ich glaube, es ist eine R 75, wie sie Panzerdivisionen gern zur Begleitung ihrer Verbände nutzen. Ausgelegt für drei Mann, nur das Maschinengewehr auf dem Beiwagen fehlt. Und natürlich weiß Konrad alle restlichen Daten aus dem Kopf: 746 Kubik, Zweizylinder-Boxer, über 90 Kilometer pro Stunde ...
Da schreit Peter plötzlich auf und zeigt entsetzt auf das Hakenkreuz an der runden Nase der Beiwagenwanne. Die Farbe glänzt noch feucht. Mit seinem Hemdsärmel will er es sofort abwischen. Es ist ein jämmerlicher Anblick, wie er vor seiner Maschine kniet und putzt. Ein häßlicher Fleck aus schmutzigem Rosa bleibt trotzdem, da kann er reiben, wie er will.
Inge erinnert ihn daran, daß er wieder in die Schule muß, und holt schnell ein frisches Hemd. Fluchend zieht sich Peter um, fährt wortlos vom Hof, kehrt noch einmal um und droht uns aus dem Wagenfenster, er werde die Polizei rufen, notfalls auch die Russen, sollten wir heute Abend immer noch da sein.
Bevor die Sache eskaliert, beschließen wir kurzfristig den Aufbruch. Sein Motorrad müssen wir allerdings requirieren. So ein Gespann ist allemal unauffälliger als der Kraftwagen der Filmleute, außerdem fällt durch den Beiwagen die Plackerei mit Ottos Sessel weg. Jeder wird uns für eine ganz normale Patrouille halten, und ohne Konrad passen wir sogar alle drauf.
Der Abschied von ihm fällt denkbar kühl aus: Deserteur bleibt Deserteur. Da mag seine Tochter eine noch so ordentliche Marschverpflegung packen und ein roter Schwiegersohn Strafe genug sein - das hätte niemand von ihm erwartet!
Natürlich war es auch ein Schock für mich, als plötzlich jemand den Duschvorhang zur Seite riss, jedenfalls im ersten Moment. Aber vor allem war es meine Schuld.
Ich hatte nicht abgeschlossen und unter dem rauschenden Wasser niemanden kommen hören. Du hattest nichts weiter an als ein Handtuch um und deine Kopfhörer auf. Wir waren beide taub, in Gedanken noch im Bett. Ich hatte dermaßen schlecht geträumt, dass ich zwar über den Flur zur Dusche gewankt war, aber keine Sekunde daran gedacht hatte, dass es nur ein Bad für alle Gäste gab. Aber das soll natürlich auch alles keine Ausrede sein. Dafür, dass ich aufschrie, als du plötzlich vor mir standest. Dafür, dass du es wahrscheinlich nicht mal gehört hast, sondern nur meinen offenen Mund und weite Augen sahst. Und ganz sicher wollte ich nicht, dass du deshalb mit beiden Händen auch noch zuerst nach deinem Kopfhörer greifen und dabei dein Handtuch loslassen musstest.
Keine Ahnung, wann ich zuletzt einem nackten Mann gegenüberstand. Noch länger war nur her, dass mich meine toten Eltern im Schlaf heimgesucht hatten. Und einzeln hätte ich zwei emotionale Erdbeben dieser Art vielleicht sogar verkraftet.
Als ich zwischen 11 und 15 Jahre alt war, passierte das noch jede Nacht - dass nachts meine Eltern kamen, meine ich. Später sah ich sie nur noch ab und zu. Aber der Albtraum war immer noch der gleiche: Mutter und Vater standen vor meiner Schule, hinter ihnen eine amerikanische Limousine, so lang wie die halbe Pestalozzistraße. Geschenke für mich quollen nur so aus dem Kofferraum. Vater lächelte schüchtern. Mutter trug jedes Mal exakt das gleiche Kleid wie Shirley MacLaine in Irma La Douce und ging so tief in die Hocke, wie das ihr Petticoat erlaubte, während sie beide Arme nach mir ausstreckte.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich habe mir diese Szene nie gewünscht. Es war - im Gegenteil - immer in Ordnung für mich, dass sie tot waren. Keine Eltern zu haben, ist eine verlässliche Sache, man kann sich dann ein Bild von ihnen machen, das nie enttäuscht wird. Und da ich nie wusste, wer meine Eltern waren, hatte ich immer ziemlich klare Vorstellungen, die allerdings wenig mit lächelnden Menschen vor einem Amischlitten zu tun hatten, sondern vielmehr mit Mord und Totschlag.
In meinem Traum drehte ich mich deshalb stets Hilfe suchend nach meinen Adoptiveltern um, die aber offenbar in die Überraschung eingeweiht waren und sich diskret im Hintergrund hielten. Von dieser herzlosen Kälte war ich an diesem Morgen wieder einmal aufgewacht und hatte mich unter der heißen Dusche gerade etwas auf gewärmt, als du dich ähnlich diskret von mir abwenden wolltest. Nur deine Augen gehorchten dir nicht.
Da musst du gar nicht rot werden: Was ich sah, bevor du dein Handtuch aufgehoben hast, und sich auch danach nur notdürftig verbergen ließ, war eher ein Kompliment. Kein Wort bekamst du heraus. Ich drehte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Es war eng in dem kleinen Bad. Ich spürte die Tropfen auf meiner heißen Haut fast von allein verdampfen, angelte dennoch mein Handtuch von der Heizung und versuchte, mich so ungezwungen zu bewegen, wie das einer nackten Frau in meinem Alter eben möglich ist, wenn ihr ein makellos junger Kerl dabei zuschaut. Dass du, die Hand schon an der Tür, deine Augen trotzdem nicht von mir lassen konntest, war womöglich das schönste Geburtstagsgeschenk, seit mich meine Adoptiveltern mit genau vier Jahren aus dem Heim zu sich geholt hatten.
Es waren die frühen 60er Jahre, DDR, und ich hätte es sicher schlechter treffen können. Das vermittelte mir auch der alte Pfarrer Thorwart von Anfang an, und vielleicht war die Pflicht zu lebenslanger Dankbarkeit sogar das einzige Gefühl, das ich ihm verdanke. Ansonsten bestand er darauf, dass ich ihn Herr Thorwart nenne. Weil ich das blöd fand, sprach ich ihn gar nicht mehr an, was ihm auch recht war. Er hatte sowieso immer eine Predigt vorzubereiten und unterhielt sich lieber allein mit Gott über die Welt. Mutter dagegen durfte ich Mutter nennen und sie versuchte sogar nach Kräften, eine zu sein.
Ich dagegen wollte die Thorwarts von Herzen lieben und schon deshalb nicht mal im Traum Geschenke von meinen leiblichen Eltern. Es konnte kein gutes Zeichen sein, wenn sie noch lebten. Warum sollten sie mich sonst erst allein gelassen haben? Tot passten sie besser zu mir, in die Zeit und die allgegenwärtige Verehrung der Opfer des Faschismus. Als Vollwaise konnte ich sogar den OdF-Veteranen, die wir an jedem zweiten Pioniernachmittag besuchten, halbwegs auf Augenhöhe begegnen.
Mit ungefähr 14 ging Herrn Thorwart mein ständiges Gerede über Konzentrationslager dermaßen auf die Nerven, dass er mir zigmal vorrechnete, meine Eltern könnten niemals im Dritten Reich verschwunden sein, weil ich erst 1959 geboren wurde. Das leuchtete leider ein. Trotzdem mochte ich ihm kein Wort glauben und schrie jedes Mal, woher er überhaupt wissen wollte, wann genau ich geboren war? Als er eines Tages meine Geburtsurkunde auf den Tisch knallte, weinte seine Frau und ... na ja, entschuldige! Ich wollte dich damit nicht langweilen.
Was ich eigentlich sagen wollte, war nur, wie gut mir deine Stielaugen getan hatten. Und wer weiß, was schon damals unter der Dusche hätte passieren können, wenn du nicht plötzlich irgendwas von einem Auftritt gestammelt hättest, dich offenbar für die Kopfhörer entschuldigen wolltest, dass du eigentlich DJ wärst und dir mit dem Opener des zweiten Sets noch nicht sicher ... wirres Zeug jedenfalls, aber auch zum Niederknien niedlich, deine Verlegenheit.
Das mit den richtigen Worten im richtigen Moment würdest du auch noch lernen, dachte ich und ließ dich ungeschoren gehen.
Kaum warst du raus und die Tür verriegelt, sank die Temperatur im Bad um gefühlte 30 Grad. Ich musste noch mal unter die heiße Dusche, aber es nutzte auch nichts mehr. Waren das schon die Vorboten der Hormonumstellung? Ein neuer Komplex in meiner Sammlung? Würde ich dich beim Frühstück wiedersehen?
Was du nicht wissen konntest und mir auch erst unter der Dusche eingefallen war: Es war wirklich mein Geburtstag, jedenfalls stand es so auf meiner Geburtsurkunde. Der 30. März lieferte mir damit gewissermaßen auch die amtliche Erklärung für meinen Traum. So wie es einen Biorhythmus gab, gab es bestimmt auch einen für Schicksal und Traumata. Die Urkunde war schuld, die geschwärzten Namen meiner Eltern, denn wenn sie keine Opfer waren, konnten sie nur Täter gewesen sein. Meine Mutter stellte ich mir seitdem als KZ-Aufseherin vor, Vater als eins von diesen Schweinen, die mit Häftlingen experimentiert hatten, von dem Kaliber mindestens. Wahrscheinlich waren sie kurz vor ihrer Enttarnung Hals über Kopf in den Westen oder gleich nach Südamerika geflohen. Ihre Angst vor gerechter Strafe war größer als die Sorge um ihr Kind, das sie auf der Flucht nicht gebrauchen konnten. So hatte sich die jugendliche Evelyn eine Unmenschlichkeit mit der anderen erklärt. So waren aus leiblichen Eltern Leibhaftige geworden. Nur so ließ sich das damals aushalten, vielleicht sogar bis heute.
Weil Frau Thorwart trotzdem immer fürchtete, meine Eltern könnten eines Tages vor der Tür stehen, kam ich mir bei ihr oft vor wie das ganze Land, in dem wir lebten: Umarmt und adoptiert von der großen, gütigen und allmächtigen Sowjetunion, aber auch immer am Gängelband und voller Misstrauen, wenn es um die eigenen Wurzeln oder um Selbstständigkeit ging.
Entsprechend ungern ließen mich die Thorwarts ziehen, als es mir gleich mit 18 darauf ankam. Seitdem sah ich sie kaum öfter als meine leiblichen Eltern. Sie waren alle nur noch virtuelle Verwandte, Komparsen meiner Albträume. Und der einzige Mensch, mit dem ich mich bis heute über solche Dinge unterhalten konnte, war Wolf.
Darauf musst du nicht eifersüchtig sein, Benny! Leidensgenossen brauchen das manchmal, weil es kein anderer versteht. Wolf nickte an den richtigen Stellen und sagte nichts Falsches an den falschen. Gott, wie ich diese Vertrautheit vermisste! Mehr als Sex, vielleicht sogar mehr als ihn selbst...
Das ungefähr war mein Leben, als ich an diesem Morgen unter der Dusche stand und du hereinplatztest. Und wer wartete beim Frühstück auf mich? Schiller. An meinem Geburtstag, in Gossow!
Wenigstens hast du überhaupt geschlafen und nicht die halbe Nacht gelesen wie ich auf meiner Luftmatratze. Gegen drei Uhr hatte ich mir die Kopfhörer geholt, weil Busch schnarchte wie ein Wildschwein. Um vier Uhr war Jenny genervt aufgestanden und hatte noch einen Bummelzug früher nach Berlin genommen als geplant. Die letzten Stunden in ihrem Bett brachten dann auch nichts mehr. Zu viel ging mir durch den Kopf, und dabei hatte ich dich ja noch nicht mal unter der Dusche gesehen.
Die Fernsehexperten hatten uns live bestätigt: Alle suchten den Bunker - und wir waren schon drin. Dazu die Tagebücher von Fritz. Meine Bilder auf allen Kanälen, morgen wahrscheinlich weltweit. Was für ein Scoop! Wir waren die Größten!
Busch hatte noch während der Sendung hektisch telefoniert und angeblich versucht, eine Kopie des Bauplans zu besorgen - nur zur Sicherheit, wie er sagte, ob es auch wirklich dasselbe Objekt war, über das der Professor gesprochen hatte. Ich musste bei Grimm ständig an die Märchenbrüder denken und war mir auch bei Busch ziemlich sicher: In Wirklichkeit hatte er sofort ein Zusatzhonorar für die Sensation ausgehandelt, nachdem nun feststand, dass es doch eine war.
»Sie haben keine heiße Spur«, sagte Busch nach einigen Telefonaten mit Kollegen und Informanten und das klang aus seinem Mund fast wie eine Entschuldigung für alle seine Zweifel.
Weil das Material für einen Kurier zu wertvoll war, sollte es Jenny am Morgen persönlich nach Berlin bringen. Sie wollte außerdem unbedingt beim Schnitt dabei sein, in Archiven nach den vier Opas forschen und einen Mietwagen besorgen. Busch und mir drohte ein ganzer Tag zu Fuß und ohne Handschuhfach.
Mit solchen Aussichten und nach dieser Nacht hätte mir eine Dusche wirklich auch gut getan, aber na ja - wie soll ich sagen? Sie war besetzt. Ich wusste nichts von deinem Geburtstag, weder wie alt du warst noch was die paar Sekunden angerichtet hatten. Am liebsten hätte ich gar nicht weiter darüber nachgedacht. Wie sollte ich das meinen Kumpels erklären? Oder mir selbst? Gut, ich gebe zu: Vielleicht waren es auch zwei Minuten, die ich dich anstarrte; ich war verwirrt, überrascht, unausgeschlafen und - ja - auch aufgeregt, begeistert, Feuer und Flamme ... Bist du jetzt zufrieden, Evelyn?
Wenig später saßen Busch und ich bereits bei Gabis Mann im Auto, der uns in ihrem Auftrag für unverschämte 30 Euro mit nach Wittstock nahm. Wir hatten ihn vorher noch nie gesehen. Verglichen mit ihr war er ein Strichmännchen, durfte seine Küche offenbar nur zum Einkäufen verlassen und setzte uns nach zehn Kilometern Schweigen vor dem Polizeirevier ab. Schon kurz vor acht Uhr waren wir dort und trotzdem nicht die ersten Journalisten, die das kleine Gebäude im Schatten der Stadtmauer belagerten, aber die einzigen mit einem echten Grund. Ein Beamter hörte sich Gerds Geschichte über die Umstände des Autodiebstahls in aller Ruhe an, tippte sogar eine Anzeige, und wenn er uns kein Wort glaubte, so ließ er sich davon nichts anmerken. Alle Versuche, ihn nebenbei über den Stand der Ermittlungen auszuhorchen, parierte er leider ebenso lässig.
Tatsächlich hatte die Polizei vor Ort den Fall längst abgegeben. Wie alle Reporter, die es unter irgendeinem Vorwand bis in die Wache schafften, wurden auch wir für Auskünfte an das Polizeipräsidium verwiesen, von dort telefonisch zur Direktion und weiter zum Brandenburger Innenminister. Bei der Landesregierung in Potsdam hieß es, inzwischen würden Bundesbehörden den Fall bearbeiten, aber sowohl die Pressesprecher des BKA als auch die Bundesanwaltschaft schoben wieder die örtlichen Behörden vor. Das übliche Spiel. Unser Vorsprung schmolz mit jeder Stunde. Spätestens nach der Ausstrahlung der Bunkerbilder würden alle Kollegen so viel wissen wie wir und nicht eher aufgeben, bis sie etwas Eigenes gefunden hatten. Wir dagegen hatten nicht mal ein Auto.
Immerhin erinnerte sich der Reviervorsteher bei unserem zweiten Versuch an meinen Auftritt vor dem Pfarrhaus in Gossow und gab uns den Tipp, es doch mal in einem Gebäude zwei Ecken weiter zu probieren. Er wollte nichts gesagt haben, aber dort hätten sich die Wichtigtuer aus Berlin eingenistet.
Nach einem weitläufigen Spaziergang, der die Kollegen ablenken sollte, sahen wir vor der beschriebenen Villa Jugendliche in kleinen Gruppen stehen, die alle aufgeregt mit ihren Händen wedelten wie Rapper bei einem Battlefight. Als wir nah genug waren, stellte es sich als Gebärden-Hip-Hop heraus, und ich schämte mich ein wenig. Es war eine Schule für Gehörlose.
Obwohl es noch früher Vormittag war, wurden kleinere Kinder schon wieder von ihren Eltern abgeholt; die größeren schienen sich freudig erregt darüber auszutauschen, was sie mit der unverhofften Freizeit anfangen sollten. Ein paar Männer schleppten Computerkonsolen und andere Technik in das Gebäude, brüllten immer wieder »Vorsicht« oder »Platz da«, was ziemlich sinnlos war, aber für ein feines Durcheinander sorgte, in dem auch wir kaum auffielen, bis Gerd auf der Schwelle zu einem Klassenraum die Kamera schulterte.
»Moment mal!« Es war derselbe Kerl wie am Pfarrhaus, der sich vor das Objektiv schob und eine Hand auf die Linse hielt: »Kamera aus! Oder haben Sie etwa eine Drehgenehmigung?«
Gerd trat einen Schritt zurück, zoomte frech aus dem Weitwinkel auf das zornige Gesicht, dann auf den gezückten Dienstausweis und gab die Frage zurück: »Und Sie, Herr Schiller, haben Sie hier etwa Hausrecht oder so was?«
»Ganz genau«, sagte Herr Schiller, »das Gebäude gehört vorübergehend zum BKA. Und Sie stören eine Polizeimaßnahme.«
»Schon wieder! Das tut mir aber leid.« Gerd lächelte charmant. »Darf man fragen, worum es diesmal geht?«
»Nein«, sagte Schiller und blickte sich auf dem Gang nach Verstärkung um, »nicht mal das dürfen Sie.«
»Komm doch mal her, Schiller!«, rief es hinter ihm aus dem Zimmer, »das Scheißding sagt keinen Mucks!«
»Weil die Standleitung noch nicht steht«, antwortete Schiller über seine Schulter, aber ohne einen Fuß zurückzuweichen.
Als du hinter ihm in der Tür erschienst, war ich fast ein wenig enttäuscht, denn du trugst Jeans und einen grauen Blazer. Gerd grinste ebenfalls, obwohl ich ihm natürlich nichts erzählt hatte. Schiller blieb mit verschränkten Armen trotzig am Eingang stehen, während du uns sogar Stühle angeboten hast. Und ehe wir uns versahen, steckten wir mitten in einem Verhör.
»Na schön. Sie waren also schon in diesem verdammten Bunker. Warum sagen Sie uns dann nicht einfach, wo er ist?«
Gerd schloss lächelnd die Augen, als wäre das nun wirklich eine dumme Frage. Ich wunderte mich nur, woher ihr das überhaupt wusstet, bis ich neben einer schwarzen Wandtafel, an der mit Magneten eine Landkarte der Gegend befestigt war, einen Fernseher entdeckte. Darauf lief lautlos das Programm von Kanal 5 und ein Schriftband kündigte ununterbrochen die ersten Bilder aus dem Bunker für das Mittagsmagazin an. Demnach war das Material gut in Berlin angekommen und, klar, Jenny auch.
»Wissen Sie, wo die Kerle jetzt sind?«
Gerd schüttelte wieder nur den Kopf: »Selbst wenn ...«
Ein Beamter erschien in der Tür und räusperte sich.
Schiller schnauzte ihn an: »Jetzt nicht!« Es schien aber wichtig zu sein und so ging er nach kurzem Zögern mit raus.
Gerd nutzte die Gelegenheit sofort und beugte sich wie ein Verschwörer über deinen provisorischen Schreibtisch: »Ist es besser, wenn wir uns nicht kennen?«
Du sahst aus, als wüsstest du auch nicht, was besser ist.
»Jedenfalls könnt ihr euch nicht einfach mit Informantenschutz rausreden. Immerhin geht es um Faschisten.«
»Und ob wir das können«, flüsterte Gerd zurück, »es sei denn, du erklärst uns mal, warum ihr so einen Aufstand macht. Sogar Kennzeichen aus Karlsruhe: Bundesanwaltschaft etwa?«
Lange saht ihr euch in die Augen. Dann griffst du plötzlich in deine Jackentasche und schobst einen Zettel über den Tisch.
»13 Uhr.«
Verschiedene Mittagsmenüs standen darauf, Pasta und Pizza, »auch außer Haus«. Busch ließ das Blatt schnell in seiner Gesäßtasche verschwinden, als die Tür wieder aufging.
Wahrscheinlich bemerkte Schiller unser Schweigen und wollte die Vernehmung gerade fortsetzen, aber du warst schneller.
»Die Herren berufen sich auf den Schutz ihrer Quellen.«
»So einfach ist das nicht«, protestierte Schiller und konnte seinen Zorn kaum zügeln, »wenn sie nicht kooperieren, sind sie selbst mit dran. Wir reden hier nicht mehr nur über Propagandadelikte, sondern über schwere Straftaten.«
»Aha.« Gerd grinste: »Welche sollen das denn sein?«
»Bildung einer terroristischen Vereinigung zum Beispiel, Geiselnahme, versuchter Mord - wenn Sie unbedingt wollen, sitzen Sie schnell wegen Beihilfe mit im Boot...«
»Beihilfe zu einem Mord?«
»Ach, lecken Sie mich doch!«
Gerd hatte ihm offenbar mehr entlockt, als er wollte. Wir wussten zwar nicht genau, was er gemeint hatte, aber mehr war für den Moment auch nicht drin, denn Schiller warf uns raus.
Wir streunten noch ein wenig durch die Stadt, die kaum wiederzuerkennen war. Polizei und Presse waren überall, als stünde ein Besuch des amerikanischen Präsidenten bevor. Ich ertappte mich dabei, wie ich mir Sorgen um Fritz und seine Leute zu machen begann. Ab und zu dachte ich aber auch an deine Brüste. Zwei Kollegen vom ungarischen Fernsehen fragten uns, wo sie die Geiselkirche fänden und bedankten sich überschwänglich, dass wir sie sogar in ihrem Auto nach Gossow begleiteten. In der Pension haute sich Busch sofort wieder aufs Ohr. Er schlief lieber, als untätig zu warten. Von Jagemanns Aufzeichnungen wollte er immer noch nichts wissen.
13. MÄRZ 1945 Liebste, ganz kurz ein Lebenszeichen von mir, denn endlich haben wir wieder eine gültige Feldpostnummer. Es sieht sogar so aus, als hätten wir unseren vorläufigen Einsatzort erreicht. Sogar zwei Briefe von Dir sind angekommen, der jüngste allerdings von Neujahr, noch ans HJ-Lager adressiert.
Wo genau wir uns jetzt befinden, wissen wir selbst nicht, so geheim ist das alles. Es waren etwa vier Stunden Fahrt von der letzten Kaserne, und nach einer kurzen Pinkelpause - wahrscheinlich südlich von Berlin - noch einmal zwei Stunden Geholper. Die Plane des Lkws blieb immer unten, bis wir zwischen zwei Baracken mitten in einem Wald absitzen durften. Es gibt nur einen Code für dieses Sonderobjekt, mehr nicht. Wir sind etwa 20 Mann, die es bewachen und in Schuß halten sollen, viele Techniker dabei, drei (!) Köche, alles angenehme Leute im Großen und Ganzen. Ich gehöre zur Wachmannschaft und soll außerdem als Schreiber dienen. Man könnte sich eigentlich nicht beklagen. Doch ich fürchte, so tief ins Herz der Heimat wird der Feind niemals vorstoßen. Rückwärtige Dienste, rückwärtiger geht es kaum. Ehrlich gesagt habe ich mir das, gerade in der Leibstandarte, etwas spannender vorgestellt.
Wenigstens ist unser Kommandeur ein echter Haudegen: EK Eins 1917, SS-Mann der ersten Stunde, Nahkampfspange und Gefrierfleischorden im russischen Winter 41/42. Bis vor kurzem war er noch Ausbilder in Bad Tölz, der Junkerschule, wo Vater mich gern gesehen hätte. Sturmbannführer Hohmann kennt ihn sogar persönlich, das hat er mir gleich am ersten Tag gesagt. Seitdem habe ich allerdings das Gefühl, er nimmt mich extra hart ran. Das mag in Vaters Sinne sein, besonders angenehm ist es trotzdem nicht, solange Hohmann nur eine Truppe befehligt, die nicht mal Kompaniestärke hat. Auch die anderen Offiziere, zwei Obersturmführer und ein Hauptsturmführer, sind dem Dienstgrad nach eindeutig unterverwendet, aber nehmen ihre Aufgaben ernst, als hinge von uns die ersehnte Kriegswende ab.
Die ersten Tage haben wir nur Vorräte geschleppt: Konserven, Ausrüstung, Munition, treppauf, treppab, unglaubliche Mengen. Abends hat mich der Sturmbannführer einmal beim Beten erwischt und mir sofort eine Standpauke gehalten: Ein SS-Mann bete nicht, hat Hohmann gesagt, er fürchte weder Gott noch Teufel und schon gar nicht den Tod. Das macht mir nun zu schaffen. Das wußte ich nicht und will mir auch nicht einleuchten. Schließlich ist Vater doch auch ein gläubiger Mensch. Wie soll ich mich bloß verhalten? Heimlich beten?
Das Objekt, für das wir eingeteilt sind, ist fast fertig. Zum Teil arbeiten Häftlinge noch an der Tarnung gegen Aufklärung aus der Luft. Sie schaufeln tonnenweise Sand hin und her und versetzen ganze Bäume. Zwei arrogante Ingenieure der Organisation Todt leiten den Bau, einer heißt von Kling. War das nicht die Sippe, in die Onkel Bruno eingeheiratet hat?
Unter den KZlern sind mindestens drei Franzosen. Einmal habe ich sie erwischt, wie sie über den Vormarsch der Amerikaner tuschelten. Ihre eigenen Leute seien angeblich auch schon in der Pfalz. Weil es ihnen verboten ist, bei der Arbeit zu reden, erst recht in ihrer Sprache, waren sie gehörig erschrocken, als ich »Ta gueule!« dazwischen zischte. Sie sollten gefälligst ihre Schnauzen halten. Schlimm genug, daß Goebbels im Radio ähnliches über die »feige Westmark« andeutet. Stimmt das womöglich? Ist die Pfalz wirklich schon in Feindeshand?
Zum Glück haben wir mit den Häftlingen wenig zu tun, sonst hätte ich das womöglich melden müssen. Sie haben auch so wenig zu lachen bei den Kameraden der Lager-SS: Kann einer nicht mehr, wird er bis aufs Blut geprügelt. Max behauptet sogar, sie würden nach getaner Arbeit alle erschossen. Das kann ich zwar nicht glauben, doch Schüsse fallen immer mal im Wald. Es wäre eine rechte Schweinerei, zumal bei Kriegsgefangenen. Zu Hohmann kann ich damit nicht gehen. Der macht immer nur Sprüche, »den Tod geben und nehmen«, von der Art. Und dagegen ist dann wenig einzuwenden im Krieg.
Nun, wir werden sehen. Bis bald, alles Gute, Dein Fritz!
Kurz vor elf holte mich Buschs Handy zurück in die Gegenwart. Der alte Sack schlief immer noch wie ein Toter.
Es war Jenny. Sie klang irgendwie gehetzt, aber anders als wir immer noch genauso euphorisch wie am Abend zuvor.
»Erst die gute oder erst die schlechte Nachricht?«
»Bitte nur gute. Wir sind hier völlig aufgeschmissen ohne Auto - ich meine: Ohne dich natürlich auch.«
»Sie bringen es ganz groß. Der Chef persönlich sitzt im Schnitt und ist völlig aus dem Häuschen. Der Professor kommt auch wieder und wird noch einmal alles untermauern.«
»Schade nur, dass es danach vorbei ist, ich meine: mit der Exklusivität. Es wimmelt hier jetzt schon von Kollegen!«
»Hier auch. Und damit zu den schlechten Nachrichten: Ich war im Bundesarchiv, Militärarchiv, sogar im Deutschen Baumuseum. Überall Fehlanzeige. Sämtliche Unterlagen über Bunker aus der relevanten Zeit sind nicht auffindbar oder ausgeliehen. Und ausgeliehen heißt bei anderen Behörden. Normale Leute dürfen nur an Ort und Stelle Einsicht nehmen.«
»Und über die Namen?«
»Auch ganz schräg: Bei der Wehrmachtsauskunftsstelle gibt es alles, nur keine Auskünfte. Stell dir vor, ich stand dort mit lauter richtigen Journalisten in einer Reihe, nicht nur so Fernsehheinis wie wir, vor mir der Stern, zwei vom Spiegel hinter mir. Die haben zwar ein ordentliches Fass aufgemacht, Auskunftsrecht der Presse und so weiter, aber selbst für die keine Chance! Nur Angehörige, und dann dauert es Wochen. Mann, wir hätten die Namen gleich wegpiepsen sollen in deinem Interview, dann wüsste jetzt nicht jeder Kollege Bescheid ...«
»Vielleicht. Aber wer denkt denn an so was! Und weiter?«
»Tja, das habe ich die Kollegen auch gefragt. Die waren erst ganz kühl und abweisend, aber als sie hörten, wer ich bin, waren sie wie verwandelt. Scheiße, Benny, wir sind berühmt! Der Sender hat noch gestern eine Pressemitteilung rausgehauen. Alle haben es heute auf Seite eins, einige Tageszeitungen nennen sogar unsere vollen Namen!«
»Nicht schlecht, aber was ist mit den SS-Nummern?«
»Wie gesagt: Auf einmal waren die Kollegen ganz freundlich. Es gebe noch eine Möglichkeit und es wäre ihnen eine Ehre, bla bla ... Nur bräuchten sie unbedingt die Nummern, denn die waren - sorry - bei dem schlechten Ton deiner Aufnahmen kaum ...«
»Das lag nicht an mir, sondern an dem komischen Dialekt.«
»Klar. Natürlich habe ich erst mal nur eine rausgerückt, die von dem klapprigen Böttcher. Und siehe da, eine halbe Stunde später spuckt das Archiv in Hamburg alles aus: Böttcher, Otto, Jahrgang so und so aus Regensburg, vermisst seit April 1945, letzter Dienstgrad irgendwas mit Rudelführer ...«
»Rottenführer.«
»Genau, jedenfalls nichts Besonderes, so der Archivmann.«
Jenny hätte die anderen Nummern gern für sich behalten, aber da hatte sie die Bluthunde der großen Nachrichtenmagazine unterschätzt, die sie bedrängten und behaupteten, eine allein wäre als Beweis völlig wertlos. Sie muss sich redlich geziert haben, denn schließlich rückten die vom Spiegel sogar mit der Wahrheit über ihre Quelle heraus: Es war gar nicht ihr eigenes Archiv, sondern ein Informant direkt aus der Behörde.
»Die haben überall einen sitzen«, schwärmte Jenny und hatte sich auf dem Parkplatz vor dem Bundesarchiv Nummer für Nummer abschwatzen lassen. Der Kontaktmann hatte offenbar Zugang zu einer Datenbank der gesamten SS-Registratur. Anders konnte sich Jenny die Geschwindigkeit nicht erklären, mit der auch Josef Stahl und Konrad Hoppe abgeglichen werden konnten. Beide galten ebenfalls als verschollen.
»Alle komplett, bis auf einen«, sagte Jenny, »mit der Nummer von deinem Freund Fritz kann der Computer nichts anfangen. Wir haben es x-mal probiert. Ich kann sie schon auswendig: Drei-Fünf-Eins-Eins-Vier. Bist du sicher, dass sie stimmt?«
»Ganz sicher. So steht es auch auf seinen Tagebüchern.« Sie lagen vor mir auf dem Bett. »Drei-Fünf-Eins-Eins-Vier.«
»Der Mann aus dem Archiv hat dann noch mal per Hand nach dem Namen gesucht und gleich zwei Karteikarten mit von Jagemanns gefunden, einen Carl Otto, Jahrgang 1900 und einen Friedrich, einiges jünger, also vielleicht dein Fritz. Mehr war aber nicht - nur Namen und Geburtsjahr und bei beiden der Hinweis: Datensatz in Bearbeitung.«
»Merkwürdig, oder?«
»Das fanden die anderen allerdings auch und konnten am Kürzel der Dienststelle sogar entschlüsseln, wer die Akten hat: Irgendein Wolf Jäger vom Außenministerium. Sagt dir das was?«
»Nee, vielleicht schon mal gehört. Ist ja auch egal, oder?«
»Weiß nicht«, sagte Jenny, »ein Kollege von der Woche war von dem Namen wie elektrisiert, und als wir noch mal kurz allein waren, hat er mir seine Visitenkarte zugesteckt. Strakka heißt der Typ und hat so beiläufig wie möglich gefragt, ob Fritz von Jagemann zufällig etwas von einem kleinen Bruder gesagt hätte. Wusste ich aber nicht. Hat er?«
»Nein. Doch, warte: Einmal fragt er in einem Brief an seine Liebste nach irgendeinem Wolfgang und nennt ihn den Kleinen.«
»Na ja. Vielleicht hast du Recht. Als die Spiegelleute vom Telefonieren zurückkamen, hörte Strakka auch sofort wieder davon auf. Weißt ja, wie wichtig und geheim die immer alle tun.«
Dann hatte es auch Jenny plötzlich eilig: Sie müsse noch in die Maske, stöhnte sie aufgeregt, der Sender wolle nach der Reportage wieder so eine Gesprächsrunde bringen. Aufzeichnung sei in einer halben Stunde. Und dreimal sollte ich raten, wer diesmal auch mit in einem der Expertensessel sitzen würde.
»Glückwunsch! Aber danach kommst du wieder her, oder?«
»Vermisst ihr mich etwa schon?«
»Na ja«, antwortete ich halbwegs ehrlich, »ich schon. Haben die anderen gesagt, wann sie ihr Zeug veröffentlichen?«
»Wahrscheinlich gleich in der nächsten Ausgabe. Wenn sie noch etwas Eigenes finden, könnte es sogar eine Titelgeschichte werden: Irgendwas mit Hitler vorne drauf verkauft sich angeblich immer wie von selbst. Und natürlich würden sie alle gern noch den Bunker fotografieren ...«
»Na klar! Aber den Zahn hast du ihnen gezogen, oder?«
»Logisch. Die werden ordentlich zahlen müssen, wenn sie unsere Bilder verwenden. Auch andere Sender haben schon angefragt, sogar international, CNN, History Channel. Vor allem Amerikaner und Engländer sind total verrückt nach dieser Nazikacke und wollen unser Material. Du und Gerd, ihr müsst unbedingt mit Matti reden, damit auch für euch etwas extra herausspringt. Zur Zeit ist alles drin, der Chef küsst uns die Füße. Wir müssen nur vornbleiben!«
»Schön wär's. Hast du etwa selbst schon was ausgehandelt?«
»Ich muss jetzt wirklich, Benny. Machs gut! Und nicht vergessen: 13 Uhr, Kanal 5!«
Sie hatte aufgelegt, ohne meine guten Wünsche für die Aufzeichnung abzuwarten, aber ich nahm ihr das nicht weiter übel - im Gegenteil: Jenny hatte auch mich wieder scharf gemacht. Seit dem trostlosen Vormittag mit Busch war ich drauf und dran, mich nach meinen Platten zu sehnen. Immerhin stand morgen meine zweite Chance im Doro an, ich hatte noch nichts sortiert. Und während der Lektüre der Tagebücher hatte ich mich sogar mal gefragt, ob man den armen Kerlen nicht einfach reinen Wein einschenken und sie danach in Ruhe lassen sollte.
Nach dem Telefonat mit Jenny fand ich solcherlei Skrupel nur noch unprofessionell. Natürlich waren sie eine Sensation. Alle Welt würde jede Einzelheit wissen wollen. Und schließlich hatten wir es ja auch schon mit der Wahrheit versucht, vorsichtig zwar, aber ohne meine Notlüge von der Wochenschau wären sie vielleicht gar nicht mehr am Leben, mal ganz abgesehen von meiner Gesundheit. So wie diese Jungs drauf waren, hätten sie ohne weiteres das Feuer auf die SEK-Leute eröffnet. Mit ihnen selbst wäre dann auch unsere Story gestorben.
Wir mussten dranbleiben, da hatte Jenny Recht. Und während ich noch spekulierte, was ein gedrucktes Videostandbild abwerfen würde, nahm ich die Treppe zu Gabi, bei der es an diesem Vormittag richtig lebendig zuging. Die Stammgäste redeten alle durcheinander. Natürlich gab es nur ein Thema. Und sorgfältig checkte ich den Raum nach Kollegen ab, bevor ich an die Theke trat, hinter der auch die Wirtin sofort Dampf abließ.
»Die janze Gegend voll Polente, sogar aus Bayern. Tausende! Da habta uns vielleicht was injebrockt!«
»Wieso wir?«, fragte ich, aber Gabi weigerte sich, näher darüber nachzudenken. Einer musste schließlich Schuld haben.
»Solls was sein?«
»Ja, eine Frage: Gibt es in der Gegend eine Familie Hoppe?«
»Hoppe?« Sie verdrehte kurz die Augen zur Decke: »Nicht dass ick wüsste. Sind aber auch viele weg. Is ja allet im Arsch hier. Keene Arbeit, keen Umsatz, nischt...«
Ich unterbrach sie kurz, um eine Kanne Kaffee, zwei Flaschen Cola und sechs doppelte Wodka zu bestellen. Sie schlurfte lustlos nach hinten aber schimpfte weiter vor sich hin und über die Verhältnisse. Kein Wunder, dachte ich und kam mir wie einer von diesen blöden Besserwissern aus dem Westen vor: Statt sich über mehr Umsatz zu freuen, stöhnen sie lieber.
»Haben Sie eigentlich einen Ausschankwagen«, fragte ich, als sie zurück war und im Hintergrund die Kaffeemaschine zu gurgeln begann, »so was für Volksfeste?«
»Ja«, sagte sie misstrauisch, »sogar eine Gulaschkanone, noch von die Volksarmee - warum?«
»War nur so eine Idee: Man könnte ja damit einfach mal in den Wald fahren und ein paar hundert Portionen Erbsensuppe an die Polizei verkaufen. Aber egal - Ihre Sache ...«
»Könnte man«, sagte sie, »is aber nicht sauber. Wir waren ja erst auf dieser Demo. Ein Reinfall: Nur Hagebuttentee ...«
Dann stockte sie plötzlich, als könne sie nicht gleichzeitig lamentieren und rechnen, und starrte ins Leere.
»An wen müsste man sich denn wenden, wegen die Erbsen? «
»Die Chefin wohnt bei Ihnen. Apropos, ist Frau Thorwart...«
»Nee«, sagte sie, »die haben vorhin ihr Gepäck abholen lassen. Wollen Sie das Zimmer wieder?«
Auf einmal dachte Gabi fast wie eine Geschäftsfrau.
»Gern. Haben die vom BKA auch gesagt, wo sie jetzt sind?«
»Vom BKA? Nee. Aber vielleicht könnse sich den Kaffee selbst nehmen, wenn er durch ist? Ick muss erstmal meinen Mann in die Spur schicken, die Kanone putzen ...«
Sie warf mir noch den Zimmerschlüssel auf die Theke und verschwand. Ich kippte etwas Cola in die Spüle, füllte die Flaschen mit Wodka auf und wollte Gerd behutsam wecken. Doch der hing schon am Telefon. Offenbar horchte er jemanden über dich aus. Auch der Name von diesem Jäger fiel mehrmals und weil das Gespräch noch eine Weile zu dauern schien, zog ich mich mit der Ledertasche von Fritz in das neue Zimmer zurück, nahm diesmal ein anderes Heft zur Hand und bildete mir ein, es roch noch nach dir, das Bett natürlich.
16. April 1945 Seit einer Woche dringen weder neue Lagemeldungen noch Befehle zu uns durch. Nachdem die letzten Arbeiter mit ihren Wächtern Hals über Kopf abgehauen sind, mussten wir vorgestern die Eingänge eigenhändig tarnen, haben alle Luken geschlossen und sind nun dabei, den letzten Befehl (Nummer 344/45) auszuführen: Er lautet, DB 10 so schlicht wie möglich auszustatten, denn - halt dich fest - der Führer wünsche keinen Luxus, während seine Soldaten im Graben liegen.
Meine Güte, Liesbeth, der Führer!
Mit heißen Herzen reißen wir die Holzvertäfelung wieder heraus, zuerst im Lagerraum, dann auch in den Gästezimmern. Bei einem zögert Sturmbannführer Hohmann allerdings plötzlich, weil das angeblich sämtliche Installationen darunter zerstören würde. Ich habe jedoch eher das Gefühl, es liegt daran, daß er diesen Raum vorläufig selbst bewohnt und sich auf länger einrichtet. Seine Rückfragen dazu blieben bisher ohne Antwort.
Also bleibt der vorletzte Befehl (343/45) unser Kampfauftrag: Das Objekt sichern und ständig in Bereitschaft halten für höchste Schutzgäste aus Reichsführung und Wehrmacht, ansonsten wie gehabt: Alarmstufe Rot; Feind auf Reichsgebiet; Stellungen bedingungslos halten; neue Befehle abwarten.
Abwarten - soll das die Stunde der Bewährung sein? Unsere Feuerprobe, der wir seit Wochen entgegenfiebern, eine Geduldsprobe? Ganz sicher wird uns der Feind auf dem Posten finden, wachsam, fanatisch und entschlossen - die Frage ist nur, ob er uns hier unten überhaupt finden wird.
Anders als in den Wochen vorher wird nun um jeden Dienst gerangelt. Besonders die Schleusenwache ist beliebt, weil es da alle vier Stunden, zur Funktionsprüfung, einen Schwall frische Luft gibt, ungefiltert. Wer dienstfrei hat, ist arm dran. Manche melden sich freiwillig in der Küche, aber der Koch hat auch nicht genug zu tun, und das Essen - nun ja, ich will nicht klagen. Es ist nur bitter, immer wieder die unglaublichen Vorräte zu kontrollieren, darunter konservierte Leckereien aus aller Herren Länder. Und wir fressen fast jeden Tag diese dünne Zementsuppe aus Grieß.
Wenigstens macht man keine großen Unterschiede mehr zwischen Offizieren und einfachen Schützen. Es gibt weder Mannschaftskantine noch Kasino; alle essen zusammen - und dasselbe. Sogar bei der Schnapsausgabe wird redlich geteilt.
Mit dem letzten Kurier kam außerdem eine Schallplatte, auf der Minister Goebbels dem Führer zum Geburtstag gratuliert. Sie haben es offenbar vorab aufgenommen, und die Kameraden diskutieren nun, ob das mehr zu bedeuten hat als die Vorsehung, die in jedem zweiten Satz waltet. Wahrscheinlich wird es aber auch dafür eine ganz praktische Erklärung geben, zum Beispiel, daß die Rede auch ohne Radio überall pünktlich zu hören sein muß. So wie sich sicher auch die Totenstille über Funk bald aufklären wird: Von wegen Iwan habe die Umsetzer zerstört - oder was sonst noch geunkt wird - sogar unsere Erdantennen gefunden. Ein Erkundungstrupp von drei Mann, der gestern nachsehen sollte - das muß ich allerdings zugeben - kehrte nicht zurück. Was immer das bedeutet: Ich bleibe tapfer Dein Fritz.
HANKA hätte ruhig mal anrufen können. Schiller wusste nichts davon. Und du, Benny, hättest es von mir aus auch nie erfahren. Selbst Wolf Jäger, der sonst immer daran dachte und sich beinahe stündlich nach dem Stand der Dinge erkundigte, hatte mir noch nicht gratuliert. Aber im Grunde fand ich sogar das ziemlich aufmerksam von ihm, immerhin war es mein 45.
Wonach ich mich sehnte, waren lediglich ein paar Sätze von Menschen, die keine Polizisten waren, ein paar Worte ohne Abkürzungen und Funker-Deutsch, ohne Befehl und Jawohl - und ohne vorher dreimal über eine Antwort nachdenken zu müssen. Allein deshalb, damit du dir nicht zu viel einbildest, freute ich mich auf die Verabredung mit euch zum Mittagessen.
Die »Pizzeria Alfonso« unterschied sich kaum von jedem anderen Kleinstadt-Italiener, mit einem Steinofen für die Salamipizza und Plastikgondeln an der Wand. Im Hintergrund sang natürlich Pavarotti oder einer von den anderen zehn Tenören. Alfonso war eigentlich Türke, das hatte er mir gestern verraten und war auch schon wieder so eine Geschichte. Dreimal hatten sie ihm vorher seinen Dönerladen abgefackelt. Erst seit er den Italiener spielte, kamen sie sogar Eis essen bei ihm.
Ihr wart pünktlich und kaum zur Tür herein, da wünschte ich mir doch, du wärst allein. Neben Gerd kamst du mir anfangs immer wie ein Schatten vor, wie sein schweigsamer Rucksack, beinahe willenlos - oder ist es das, was ihr cool nennt? Auf jeden Fall bekam dafür erstmal der alte Busch sein Fett weg.
»Du siehst scheiße aus, Gerd, schläfst du zu wenig?«
»Danke, es geht, du hast dich auch kaum verändert.«
Dann schwiegen wir eine Weile, und ich fragte mich, ob man mir die 45 jetzt doch schon ansah. Sah man? Du bist meinen Blicken jedenfalls ausgewichen. Busch lächelte gespannt.
»Hast du deinen Pitbull irgendwo an die Laterne gebunden? Was ist das überhaupt für ein Vogel?«
»Schiller? Der ist schon in Ordnung, auf seine Art. Wir müssen uns nur erst aneinander gewöhnen.«
Busch nickte ironisch und blätterte in der Speisekarte.
»Also Männer, Hosen runter!« Dabei zwinkerte ich dir zu. »Eine Provokation, irgendwelche Altnazis und ihr seid genauso darauf reingefallen wie wir, hab ich Recht?«
»Gibt es hier keinen Fernseher?« Das war dein erster Satz.
»Warum?« fragte ich. »Ich dachte, wir essen was.«
»Ja, sicher, nur weil unsere Reportage gleich kommt ...«
Es war kurz vor eins, und ihr wusstet es also noch nicht. Wie eine echte Polizistin kam ich mir auf einmal vor, die einer frischen Witwe die traurige Nachricht überbringen muss. Dass Lupe nicht mal Busch informiert hatte - Männer können so feige sein! Ich konnte es allerdings auch nicht.
»Ich nehme den Fisch.« Busch klappte die Karte zu und sah mich ahnungslos ehrlich an: »Wieso reingefallen?«
»Das würde ich nicht machen - ich meine: den Fisch nehmen.«
Alfonso hatte mir gestern eine ölige Schuhsohle serviert, die er in der Speisekarte als Schollenfilet ausgab.
»Nimm irgendeine Pasta«, empfahl ich Busch, »da kann man nicht viel falsch machen. Und dann sag mir endlich, was ihr an diesen Vogelscheuchen so sexy findet? Ausgerechnet du, Gerd!«
Der türkische Italiener kam an den Tisch und begrüßte mich wie einen Stammgast. Signorina nannte er mich, zückte pathetisch seinen Block und war enttäuscht, dass es für Gerd und mich nur ein paar Nudeln al Olio sein sollten und für dich eine Thunfischpizza. Leider war es nicht der Moment, dir den Zusammenhang zwischen industriellem Fischfang und dem Massenmord an Delfinen zu erklären. Du hattest sowieso nur die Sendung im Kopf. Mürrisch schleppte Alfonso auf dein Drängen einen kleinen Fernseher aus seiner Küche und stellte ihn auf die Bar.
Gerd beugte sich über den Tisch.
»Mir geht diese Nazischeiße selbst so was von gegen den Strich, das kann ich dir vielleicht sagen!«
»Und warum fahrt ihr den Quatsch dann so groß?«
»Wir? Ihr doch auch! Weil es eben kein Quatsch ist, Ev! Sie sind echt!«
»Was meinst du mit echt? Echt gefährlich?«
»Ja.« Er kratzte sich unter seinem Schnurrbart. Dann schüttelte Gerd unwirsch den Kopf. »Und zwar richtig gefährlich.«
»Schon klar.« Wem sagte er das? »Du meinst den alten Ungeist, die Ansteckungsgefahr, dass es unter der Oberfläche...«
»Eben nicht! Sondern ihre Knarren. Die sind gemeingefährlich. Wo wir einmal dabei sind: Was war eigentlich auf der Autobahn los? Du musst uns schon auch ein wenig entgegenkommen.«
Ich war geschockt: Woher wusstet ihr das schon wieder? Bisher war nichts davon durchgesickert. Die Amerikaner hielten immer noch still. Vielleicht hatte Wolf sogar nur vorauseilend Panik geschoben. Und bewiesen war gar nichts, hoffte ich.
»Was soll da gewesen sein? Wir waren dort, weil es den Verdacht gab, Nazis hätten Steine von einer Brücke geworfen. Aber Fehlalarm. Genau das ist ja das Problem, Gerd: Allein der Verdacht! Allein, dass es hätte sein können, dass es die SoRex gibt! Dass es schon wieder so weit ist - ach was: nie weg war und bei den Jungen längst wieder Mode ist, gerade hier in der Gegend. Das ist die Gefahr, die ich meine.«
Enttäuscht lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme. Musste ich jetzt schon meine eigenen Leute von der ewigen Latenz überzeugen, einen alten Gefährten wie Gerd, sensibel und wachsam? Immerhin sah er betreten nach unten.
»Gleich geht’s los.« Du hattest die Fernbedienung in der Hand und schienst dich über meinen verstörten Blick zu wundern: »Ich dachte ja nur, der Bunker interessiert Sie auch.«
War es eigentlich mein Alter, dass du mich so lange gesiezt hast? War dir unsere Begegnung unter der Dusche etwa immer noch peinlich? Hast du wirklich geglaubt, ich hätte eure Aufnahmen noch nicht gesehen? Am liebsten hätte ich - aber egal.
»Das glaubt ihr doch selbst nicht! Der Bunker! Schöne Story - aber denkt ihr auch mal dran, wie viele Leute das für bare Münze nehmen, gerade diese jungen Dorffaschisten ohne Hirn und Haare. Mensch, Gerd, ihr habt auch eine Verantwortung!«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt, Ev. Wir haben uns den Scheiß nicht ausgedacht. Und noch mal: Wir reden hier nicht von ein paar jugendlichen Möchtegerns, sondern über vier alte Knacker, die wild in der Gegend rumballern, Geiseln nehmen und - vergiss das bitte nicht - mein Auto geklaut haben.«
»Und sich als Nazis verkleiden. Das ist kein Zufall - nicht in dieser Gegend! Glaub mir: Die haben wieder Oberwasser. Und die Jugend hinter sich. Sonst würde sich das keiner trauen.«
Alfonso brachte die Nudeln. Die Pizza für den jungen Mann brauche noch einen Moment, aber das interessierte dich so wenig wie mein kleiner Disput mit Gerd. Das Mittagsmagazin begann. Eine blonde Moderatorin zählte die Themen auf, die ihre Zuschauer in der nächsten Stunde erwarten durften. Nur deine Erwartungen wurden offenbar bitter enttäuscht.
»Was soll das?« Du sprachst mehr mit der Moderatorin als zu uns: »Was machen die denn? Hast du das gehört, Gerd? Kein Wort über unseren Bunker. Spinnen die jetzt total?« Gerd Busch sah kurz auf, dann wieder tief in meine Augen.
»Meine Güte, Evelyn - wovor habt ihr Angst?«
Der alte Fuchs hatte sofort durchschaut, dass eure Bunkerstory nicht zufällig aus dem Programm geflogen war. Zum Glück kam deine Pizza, das verschaffte mir etwas Luft. Ich wollte Gerd nicht anlügen, so wie er scheinbar nicht begreifen wollte, dass es um mehr ging als ein paar alte Flinten, auch wenn die ihn besonders schwer beeindruckt hatten.
»Angst? Frag mal Alfonso, wie das hier so ist! Ein Funke reicht und es brennt wieder überall. Du weißt es, ich weiß es, wir alle - wenn wir die Augen nicht davor verschließen.«
Ich hoffte sehr, er würde Alfonso nicht wirklich fragen, denn der wollte damit nichts mehr zu tun haben, seit er Ruhe vor ihnen hatte. Niemand wollte das, solange er seine Ruhe hatte. Sogar Busch sah mich an wie eine Gestörte:
»Und du meinst, die vier Alten sind dieser Funke?«
»Ich meine: Es gibt nicht nur die Alten. Es lebt.«
»Ach Ev! Kennst du das Spiel ,Ich sehe was, was du nicht siehst’? So kommt mir das manchmal vor bei dir ...«
»Stimmt genau. Und die Regel lautet, dass ich so lange dran bin, bis es die anderen auch endlich sehen.«
»Die anderen haben aber irgendwann keine Lust mehr.«
Gerd Busch deutete mit dem Kopf in deine Richtung.
»Schau dir Monse an, auch ein junger Kerl, soviel ich weiß kein Nazi und trotzdem macht er sich wegen ein paar Hakenkreuzen nicht verrückt, oder Monse?«
»Was?« Du hattest nicht zugehört, weil du immer noch mit der Fernbedienung beschäftigt warst, als könne nur etwas mit dem Gerät nicht stimmen.
»Evelyn will wissen, ob die vier Opas nächste Woche die Macht übernehmen. Was fürchtest du mehr: ihre Waffen, die Uniformen oder ihr Gequatsche?«
»Ich fürchte, unser Material ist nichts geworden - oder Jenny hat es vermasselt.« Endlich warfst du die Fernbedienung auf den Tisch und schobst dir mit der Hand ein Stück Pizza in den Mund: »Den ganzen Tag kündigen sie den Knaller an und nun bringen sie die 182. Reportage über Promis auf Mallorca. Gestern 25 Prozent Marktanteil. Heute nichts. Ich kapier das nicht! Du etwa, Gerd?«
»Siehst du, es interessiert ihn nicht. Er denkt nur an Quoten und Karriere. Das solltest du auch machen, Ev: Fang die Opas - aber jag nicht noch nebenbei irgendwelche Gespenster!«
Das mit der Karriere fand ich fast so gemein wie deine Ignoranz unerträglich war. Ich kannte etliche Leute in deinem Alter, die sich in Netzwerken gegen die rechte Übermacht auf dem Land engagierten, die wussten, um was es ging. Ihr in Berlin hattet vermutlich gar keine Ahnung, was es hieß, jeden Tag Spießruten zu laufen, in der Schule, nach der Disko - immer Freiwild, nur weil man anders aussah oder anders dachte.
»Soll ich Ihnen sagen, was ich denke?«
Mit diesem plötzlichen Vorstoß hast du mich dann doch überrascht und nicht mal mein zögerliches Nicken abgewartet.
»Ich denke erstens, dass die vier Typen völlig harmlos sind, solange man sie nicht in die Enge treibt. Zweitens sind sie eine absolute Sensation, wenn ich den Professor gestern Abend richtig verstanden habe. Wie war noch mal sein Name?«
»Zeitz. Professor Zeitz war das.«
»Genau. Und drittens - auch wenn Sie gleich explodieren - ist das endlich mal was anderes als die tausendste Doku über Hitlers Frauen, seine Hunde oder Promis auf Mallorca. Aber ich kann mir ungefähr vorstellen, was vier SS-Opas bei Leuten wie Ihnen oder Gerd für Reflexe auslösen.«
Das, mein Lieber, konntest du sicher nicht. Dafür konnte ich in diesem Moment nicht mal Schiller wegdrücken, dessen Anruf mein Handy Greensleeves summen ließ - zu fasziniert war ich von deiner kleinen Rede. »Mal was anderes als Hitler!« Ich kannte diesen Blick, eine Mischung aus Provokation und gedankenloser Ehrlichkeit. Nur einmal hatte, mich auch ein halbwegs erwachsener Mensch so angeschaut. Es war ein Journalist aus England, den ich bei einer Reportage über Skinheads unterstützt hatte, bis ich mitbekam, dass er mit Geld nachhalf, um einen deutschen Gruß vor der Kamera zu bekommen. »So what«, hatte der sich gewundert, als ich ihn wütend zur Rede stellte, das gehöre doch dazu -»Nazi sells!«
Wieder mischte sich Greensleeves unter die zehn Tenöre.
»Dein Handy«, sagte Gerd und schob es mir vor die Nase.
Wieso fiel er dir eigentlich nicht ins Wort?
»Findest du das auch, Gerd? Siehst du das auch so? Verratet ihr uns deshalb nicht, wo sie stecken? Wegen der Story?«
»Wir wissen es nicht. Ehrlich. Jetzt geh endlich ans Telefon, das ist ja nicht zum Aushalten!«
Schiller nahm es klaglos hin, dass er mich erst im dritten Anlauf erreichte. Zu gut waren seine Nachrichten: Wir hatten sie. Er war bereits auf dem Weg und wollte nur wissen, wo er mich einsammeln sollte. Nachdem ich es ihm gesagt hatte, fiel mir sofort ein, dass er mich besser nicht mit zwei quotengeilen NS-Verharmlosern an einem Tisch erwischen sollte. Die Nudeln waren ohnehin kalt.
»Tut mir wenigstens einen Gefallen und lasst mich allein aus der Tür gehen, ja? Und bitte bezahlt mein Zeug mit!«
»Das sind aber schon zwei - ich meine: Gefallen.«
Gerd Busch grinste gespannt und erwartete offenbar eine Gegenleistung. Ich hätte es wissen müssen: Lass dich nie mit der Presse ein! Aber letztlich würdet ihr es so oder so erfahren.
»Na gut, also wir haben sie. Ich sag euch sogar wo. Aber dafür lasst ihr mir dreißig Minuten Vorsprung - versprochen?«
»Klar«, sagte Gerd, »wenn wir überhaupt ein Taxi finden.«
Ich traute euch trotzdem nicht mehr. Wer Nazis interviewt und nichts dabei findet, hat auch sonst kein Gewissen.
»Sobald mein Wagen vor der Tür steht, sage ich euch den Ort. Erst dann bestellt ihr die Rechnung. Einverstanden?«
»Versprochen«, sagte Gerd, »ist mein Auto dabei?«
Es hatte uns überhaupt erst den Weg gezeigt. Ohne die Fahndung nach seinem weißen Van ... Aber das musste Gerd Busch nicht auch noch wissen.
Nicht, dass es mich etwas anginge, Evelyn - aber was habt ihr eigentlich gegeneinander, du und Busch? War da mal mehr?
Den bizarren Streit über alte und neue Nazis konnte man euch ja gerade noch als 68er-Folklore durchgehen lassen. Doch so gehässig, wie Gerd danach über dich herzog, hatte selbst ich ihn noch nie erlebt: Dass du schon immer so eine Meise gehabt hättest, keinen Mann mehr abbekämst und angeblich glauben würdest, das liege alles nur daran, weil du aus dem Osten stammst, eine Frau bist - so ging das in einem fort.
Ich versuchte, Jenny ans Telefon zu kriegen, hielt vor der Pizzeria nach einem Taxi Ausschau. Aber Busch hörte nicht auf:
»Am liebsten wäre sie wahrscheinlich selbst Jüdin. Opferneid nennt man das«, giftete er. Sogar vor der Wende hättest du schon gegen Neonazis gekämpft, das sollte ich mir mal vorstellen: »In der DDR! Wo doch bei euch praktisch nur Antifaschisten den Krieg überlebt haben!«
Während er über irgendeine Affäre von dir faselte, die schon damals in Bonn ein offenes Geheimnis gewesen sei, begann ich, wahllos Autofahrer anzusprechen. Sie stauten sich in einer bescheidenen Nachmittagsrushhour vor der einzigen Ampelkreuzung der Stadt. Doch niemand fuhr zufällig nach Seesen. Manche Fahrer hoben sogar die Hände, als hätten sie den Namen des Ortes noch nie gehört. Gerd folgte mir jedes Mal bis zum Bordstein und war nun überzeugt, du hättest uns sowieso einen falschen Ort genannt, nachdem deine Kollegen mit Blaulicht vor der Pizzeria aufgetaucht waren. Und eins sollte ich mir auch gleich ein für alle Mal merken: »Alle Frauen über 40 haben einen Schuss, da braucht man sich gar nichts vormachen!«
Glaub mir, Evelyn: Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten. Ich wollte das nicht hören und glaubte ihm kein Wort. Über 40 - du? Dass unser Bunker einfach aus dem Programm geflogen war, schien Gerd dagegen gar nichts mehr auszumachen. Als ich ihn daran erinnerte, sah er mich nur mitleidig an:
»Was hast du denn gedacht?«
»Dass der Sender unabhängig ist, das zumindest.«
Gerd verzog das Gesicht, als hätte er Bauchschmerzen.
»Ach ja«, sagte ich, als von ihm nichts weiter kam, »wie konnte ich das vergessen: Keinen Millimeter Film über Nazis. Keine Bühne. Am Ende steckst du selbst mit dahinter ...«
»Stell dich nicht blöder als du bist, Monse! Sie hat es doch selbst zugegeben: Die machen sich ernsthaft Sorgen, es könnte jederzeit wieder auflodern. Dabei - und das allein nervt mich - blasen sie selbst immer wieder in die Glut. Diese Paranoia wegen ein paar jungen Bekloppten kommt mir manchmal vor, als bräuchten sie unbedingt etwas Neues zum Löschen, seit es keine Altnazis mehr in Amt und Würden gibt. Dieser Typ zum Beispiel, mit dem die Thorwart in Bonn etwas hatte, verdankt seine ganze politische Karriere noch echten Nazis. Richter, Politiker, Journalisten. Er hat sie bis in die 80er Jahre hinein reihenweise geoutet und ihnen völlig zu recht den Ruhestand versaut: Da waren richtig schlimme Finger dabei...«
»Mag ja alles sein, Gerd, aber diese alten Geschichten bringen uns auch nicht weiter, jedenfalls nicht nach Seesen.«
»Du musst ihnen Geld bieten«, sagte Gerd und nestelte beiläufig einen 20-Euro-Schein aus seiner Brieftasche. ». .. heute ist dieser Typ ein hohes Tier im Auswärtigen Amt und...«
»... heißt Jäger, ich weiß ...«
»Mensch, Monse - Respekt! Aber weißt du auch, wer die ganzen Skandale damals exklusiv bekommen hat?«
»Was weiß ich. Du?«
Er lachte hysterisch auf: »Dann wäre ich heute vielleicht auch Chefredakteur. Nein. Unser lieber Matti natürlich.«
»Dann verstehe ich aber erst recht nicht, warum sie es heute lieber unter der Decke halten wollen.«
»Siehst du, und ich auch nicht.« Gerd schüttelte ratlos den Kopf: »Eigentlich müsste die Thorwart über den Bunker jubeln: Die alte Gefahr, die immer noch in der Tiefe lauert - das kommt denen doch wie bei einer Werbeagentur bestellt, um gedankenlose junge Leute wie dich mal wieder daran zu erinnern, was das Fundament unserer Demokratie ist, nämlich lauter Nazitrümmer. Stattdessen versuchen sie es mit dem gleichen Aufwand geheimzuhalten, mit dem sie dagegen vorgehen. Als würden vier klapprige Gespenster das ganze Land bedrohen. Da komme ich nicht mehr mit. Da läuft irgendetwas anderes ...«
Ich zuckte die Schultern, stellte mich wieder neben die Ampel und wedelte nun wie ein Idiot mit dem Geldschein, als Gerd plötzlich herzhaft zu lachen begann.
»Aber dieses Gesicht von der Thorwart vorhin! Das vergisst die ihren Lebtag nicht, wie einer so nüchtern darüber reden kann. Hast du nicht sogar das Wort harmlos benutzt?«
»Ich habe keine nüchterne Meinung darüber - eher keine!«
»Eben. Genau das hat sie ja so geschockt.«
Das ist doch Quatsch, Evelyn, oder? Du hast mich schon richtig verstanden, dass ich Nazis auch noch nie leiden konnte, junge, alte, scheißegal. Was ich sagen wollte, war doch nur, dass man keine Angst mehr vor ihnen haben muss. Vor den vier Alten nicht, und vor den Jungen erst recht nicht. Nie wieder würde so etwas Mode oder gar Mainstream werden. Dafür waren allein ihre Outfits zu blöd, ihre Mädchen zu hässlich und ihre Musik zu scheiße. Im Grunde waren Nazis heutzutage vor allem ein ästhetisches Problem - aber mach das mal einem Cowboystiefel wie Busch klar, dessen neueste Schallplatte wahrscheinlich irgendwas von Hank Williams war.
Hatte ich wirklich so einen schlechten Eindruck bei dir hinterlassen? Wenn ja, wirst du mir vermutlich auch Absicht unterstellen, dass ich als nächstes an die verdunkelte Scheibe eines Golfs klopfte, dessen Odin-Aufkleber am Heck ziemlich genau signalisierte, was einen erwartete. Aber ich schwöre: Etwas Verzweiflung war nach einer Stunde Warten auch dabei!
Ein bulliger Skinhead im karierten Hemd kurbelte die Scheibe runter und dachte gar nicht daran, sein Radio leiser zu drehen. Jemand grölte etwas von Odin und Rache und - noch mal, Evelyn - ich stimme dir auch in diesem Punkt vorbehaltlos zu: Solche Musik gehört wirklich verboten, nicht zuletzt wegen der einfallslosen Gitarren. Der Schein aber wirkte sofort.
»Für 20 Euro nach Seesen? Na logo. Steigt ein, Kameraden!«
Busch zögerte keinen Moment. Nur das Zucken seines Bartes verriet, dass er genau wusste, neben wem er da Platz nahm. Wahrscheinlich dachte er an seinen Van, drehte einfach das Radio aus, und obwohl der hilfsbereite Nachwuchs-Faschist böse guckte, entschied er sich dann doch lieber für Smalltalk.
»Seesen? Doch nicht etwa wegen Jan und seinem Opa?«
»Maul halten und fahren!« Immerhin schien Gerd zu wissen, wie man mit ihnen reden musste: »Nur dafür wirst du bezahlt.«
»Alles klar, Chef.«
Danach traute sich der Typ nicht mal mehr, auch nur einen Kilometer schneller zu fahren als erlaubt, und sah erst wieder von seinem Lenkrad auf, als er zehn Minuten später auf der Zufahrt zu einem Bauernhof hielt. Ein paar Meter vor uns versperrte ein weißer Van den halben Sandweg, als hätte ihn Gerd selbst dort geparkt. Und schlagartig besserte sich auch seine Laune. Gerd ließ sich von mir den Zwanziger geben und steckte ihn wieder ein. Dem Skin fielen fast die Augen heraus.
»Tja, mein Junge«, sagte Gerd und stieg schwerfällig aus, »ohne Quittung kein Geld. Du kannst dich ja beschweren. Schau da vorn: Alles voller Polizei!«
Unser Fahrer nahm seinen ganzen Hass für einen einzigen Blick zusammen, ließ die Reifen durchdrehen und uns in einer Staubwolke zurück. Als sich der Dreck wieder gelegt hatte, tauchten vor dem Gehöft zwei Männer und eine Frau in weißen Overalls auf. Sie hatten große Koffer dabei und begannen damit, unseren Van zu untersuchen, während sich auf dem Hof sämtliche Polizisten Brandenburgs auszutoben schienen.
Sie rannten zwischen Scheune und Wohnhaus hin und her und über die Wiesen ringsum. Ein Hund zerrte wütend an einer Kette und knurrte seine Artgenossen an, die brav mit ihren Hundeführern in jeder Ecke herumschnüffelten. Die Autos aus Karlsruhe waren auch wieder dabei. Schiller stand in der Mitte und dirigierte das Durcheinander. Etwas abseits entdeckte ich Ottos alten Sessel mit den Motorradfelgen. Ein Pärchen, allem Anschein nach Bewohner, stand zwischen dir und diesen Bundesanwaltstypen. Die Frau redete laut auf euch ein. Wir schlenderten näher und mussten nicht mal heimlich lauschen.
»Sag ich doch«, schimpfte die Frau, »heute Morgen stand das Auto plötzlich vor der Tür. Dafür war das Motorrad weg, stimmt doch, Peter, oder? Jetzt sag doch auch mal was!«
Mit spitzem Ellenbogen stieß sie ihrem Mann in die Seite, der nur störrisch nickte, als hätten sie gerade Streit gehabt.
»Warum haben sie den Diebstahl nicht angezeigt?«, fragte einer von den Bundesanwälten.
»Na ja«, druckste die Frau herum, »ehrlich gesagt dachten wir, es sei ja kein schlechter Tausch.«
»Ich war gleich dagegen«, sagte der Mann, »ich meine ...«
Doch seine Frau hatte ihn mit ihrem Ellenbogen schnell wieder unter Kontrolle. Dir aber konnte sie nichts vormachen.
»Sie wollten etwas sagen?«
Peter wusste es auf einmal nicht mehr. Verunsichert sah er seine Frau an, dann dich und wieder seine Frau. Irgendwas lief schief zwischen den beiden, so wie zwischen dir und den Ermittlern aus Karlsruhe auch. Vermutlich ging es sogar um das Gleiche - nämlich darum, wer auf diesem Hof das Sagen hatte.
»Wer wohnt noch hier?«, fragte der Bundesanwalt beherzt dazwischen, und Peters Frau übernahm wieder das Antworten:
»Meine Tochter und ihr Mann, die arbeiten beide im Westen, außerdem Jan, unser Enkel, und meine alten Eltern.«
»Wo sind die?«
»Wahrscheinlich in ihrem Zimmer. Aber bitte, Sie müssen sehr behutsam sein. Mein Vater hat gerade seinen zweiten Herzinfarkt hinter sich und ist noch ziemlich schwach.«
Fast im gleichen Moment fiel ihr der alte Bauer in den Rücken, indem er aus dem Wohnhaus trat. Er führte eine ebenso alte Frau am Arm, trug einen blauen Zweiteiler und Gummistiefel und obwohl er ein Bein nachzog, war völlig klar, dass er die Frau stützte - und nicht umgekehrt. Seine Tochter wurde blass, dann rot und als sie mit ihrem starren Blick endlich alle anderen Augen auf das Pärchen aufmerksam gemacht hatte, grüßten die alten Herrschaften freundlich zurück. Auch Busch hatte Konrad sofort erkannt, hob die Kamera auf die Schulter und rechnete offenbar jeden Moment mit klickenden Handschellen. Ich schloss die Augen und biss mir auf die Lippen: Klar konnte er sich das nicht entgehen lassen, aber hätte er nicht auch einmal kein Chronist sein können oder wenigstens feinfühlig genug, um auf dieses eine Bild zu verzichten?
Schiller kam natürlich sofort angerannt und stürzte sich auf ihn. Gerd tobte und schrie. Aber ehrlich gesagt glaube ich ihm bis heute nicht, dass sein Theater nur Absicht war, um von Konrad abzulenken, wie er hinterher behauptete. Auch wenn es zufällig genau so funktionierte.
Während Busch von Schiller und zwei weiteren Beamten vor das Tor geleitet wurde, ließen sich die beiden alten Leute auf einer Bank neben dem Wohnhaus nieder und freuten sich an dem bunten Treiben auf ihrem Hof. Fast sah es aus, als hielten sie nur deshalb so glücklich miteinander Händchen, weil endlich mal was los war zwischen Heu und Hühnern. Schiller lief auf dem Rückweg gleich noch einmal an ihnen vorbei, immer noch wütend, nur diesmal in meine Richtung.
Wie konnte er Konrad übersehen? Gut, ihr hattet ihn bisher nur von weitem und mit dieser schrägen Schweißerbrille gesehen. Aber bei meinem Interview war er auch mindestens zwei Sätze lang ohne im Bild gewesen. Mir gefiel er als Bauer natürlich auch besser als in SS-Uniform, aber war er deshalb gleich ein anderer Mensch - nicht wiederzuerkennen?
Schiller musste nichts sagen oder gar tätlich werden: Ich hob abwehrend die Hände und folgte Busch freiwillig vors Tor. An seinem Auto war das Team von der Spurensicherung gerade mit der Karosserie fertig und begann den Innenraum abzupinseln. Busch zeigte sich von seiner hilfsbereiten Seite, öffnete alle Türen und kam ihnen sogar beim Handschuhfach zuvor.
»Vorsicht«, sagte die Frau im weißen Overall, »Sie verwischen ja alles!« Aber übermäßig engagiert klang das nicht.
»Also wenn Sie mich fragen«, sagte Busch leutselig und roch misstrauisch an einer seiner Colaflaschen, »hier fehlt nichts - als hätten sie nichts angerührt.« Dann senkte er vertraulich die Stimme: »Sind die euch etwa schon wieder entwischt?«
Die Frau sah sich nach Schiller um und nickte verkniffen. Ich hielt ihr die Heckklappe auf, was auch die hydraulische Sperre erledigt hätte. Aber auch diese Geste kam gut an.
»Vielleicht schauen Sie ja selbst gleich mal mit«, sagte sie. »Es geht aber weniger darum, ob was fehlt, sondern darum, ob etwas liegen geblieben ist, was Ihnen nicht gehört.«
Die grüne Munitionskiste aus Holz sprang einem zwischen unseren ganzen Alukoffern ins Auge wie ein Weihnachtsmann am FKK-Strand. Als auch noch Busch und der andere Spurensucher dazukamen, entschuldigte ich mich schon mal in Gedanken bei Fritz: Ich konnte der Polizei ja schlecht erklären, dass seine Kiste ausschließlich dem SS-Oberkommando Vorbehalten war.
»Lasst mich mal sehen«, sagte Busch und drängelte mich grob zur Seite. Er öffnete einen Alukoffer mit Kabeln, schaute kurz hinein und schloss ihn wieder. Dann ließ er mit der gleichen Selbstverständlichkeit die Riegel der Holzkiste aufspringen, nahm zwei von Fritz' Tagebüchern in die Hand, warf sie wieder hinein und ließ den Deckel fallen.
»Notizbücher, Kabel - alles da. Aber - was ist das denn?«
Mit spitzen Fingern angelte er einen grünen, speckigen Rucksack zwischen Sitzbank und Kofferraum hervor und betrachtete ihn angewidert von allen Seiten. Die Polizisten streckten schon ihre Latexhandschuhe danach aus, als ich die blassen Buchstaben erkannte, die ich darauf vor Jahren mit Kuli gekritzelt hatte: Ice Cube stand da, mein altes Idol.
»Sehr witzig«, sagte ich und riss Gerd den Rucksack aus der Hand, der danach lachend die Heckklappe zuzog, als wäre es an ihm, die Untersuchung seines Autos für beendet zu erklären.
Die beiden Polizisten sahen sich ratlos an, bedankten sich aber für unsere Kooperation und packten ihre Utensilien ein. Am Hoftor mussten sie zur Seite springen, weil eine schwere Limousine herausgeschossen kam. Auf unserer Höhe öffnete sich das Beifahrerfenster. Ich erkannte Schiller, hinter ihm dein Gesicht, und rechnete mit irgendeinem blöden Spruch zum Abschied. Der Fahrer aber bremste nicht mal. Schiller klebte nur ein magnetisches Blaulicht aufs Dach. Busch hob die Hand an die Dauerwelle und salutierte dem Wagen ironisch hinterher.
»Danke für die Kiste«, sagte ich, »coole Vorstellung!«
»Scheiß auf die Kiste, ich wollte mein Auto wieder.«
»Und jetzt?«
»Jetzt warten wir, bis die anderen verschwunden sind, und fragen den Alten, wo der Rest der Bande steckt.«
Nachdem ihre Chefs weg waren, dauerte es auch nicht mehr lange, bis der letzte Polizist vom Hof war. Konrad kam vor das Tor gehinkt, sah sich misstrauisch um, und obwohl er uns nicht übersehen konnte, zog er den ersten Flügel zu, rammte den Stachel in den Sand und griff gerade nach dem zweiten, als ich vor ihm stand. Er richtete sich auf und schüttelte wortlos mit dem Kopf. Die Geste war eindeutig, aber es musste sein:
»Wo sind die anderen? Bitte, Konrad, du hast doch gesehen: Wir haben dich auch nicht verraten.«
Der alte Bauer ließ das Tor los, kratzte sich am Hinterkopf und schob die Mütze wieder gerade, bevor er mich verständnislos anblinzelte: »Wer? Welche anderen? Wen meinen Sie?«
Ich nickte. Wir schwiegen uns noch ein paar Sekunden an. Dann kehrte ich zum Van zurück und angelte mir eine Kladde aus der grünen Kiste, während Busch den Motor aufheulen ließ.
24. Juni 1974 Der Erkundungstrupp war endlich oben, fünf Stunden nur - dann meldeten sich die vier Kameraden mit Klopfzeichen am Lüftungsschacht Nord zurück. Iwan sei überall, so ihr erster atemloser Bericht. Am Himmel seine Kampfflugzeuge. Der Wald eine Feuerwand. Kein Durchkommen. Die totale Überlegenheit, als wüßte er von uns. Sie wirken total verstört.
Also hat der Eindruck hier unten nicht getäuscht: Sie decken uns nun seit fast 30 Jahren mit Bomben und Granaten ein. Ihr Artillerieaufgebot muß gewaltig sein: Täglich vibrieren die Gläser. Immer öfter rieselt Sand durch die porösen Teerfugen, manchmal bebt sogar die Zwischendecke aus Beton. Was die Späher sonst noch zu berichten haben, macht auch wenig Mut: keine Spur von eigenen Verbänden oder Gegenwehr. Der Russe parke seine Flugzeuge nur spärlich getarnt ganz in der Nähe. Wie für die Ewigkeit hätten sie sich eingerichtet. Andererseits: Warum sollte Iwan diesen Aufwand treiben - wenn nicht in einem Großkampf gegen erbitterten deutschen Widerstand?
Die Mannschaft ist in dieser Frage gespalten. Ich gehöre eher zur Fraktion der Optimisten, auch wenn niemand mehr bedingungslos an den Endsieg glaubt. Immerhin sind wir hier unten einigermaßen sicher und haben einen eindeutigen Befehl. Schon deshalb erübrigt sich die Diskussion, die einige immer offener führen: Es kann nicht darum gehen, ob wir den Rest unseres Lebens hier unten verschimmeln wollen, sondern höchstens darum, was wir am Ende mehr fürchten - die Russen oder die strafende Verachtung des eigenen Volkes. Es wäre Fahnenflucht, nichts weiter. Und letztlich ist damit - wenigstens darauf können sich alle einigen - jeder Schritt aus dem Bunker mit Lebensgefahr verbunden, so oder so.
Erst vier Stunden nach der Heimkehr der Aufklärer können sich wieder alle vorbehaltlos dem Halmaspiel widmen, das seit kurzem Mode ist. Im letzten Kartenspiel war der Pik-Bube nicht mehr von einer roten Sieben zu unterscheiden, so abgegriffen war das Blatt. Die Halmabretter schneidet Josef aus Linoleum. Für die Steine pult er die Projektile aus Patronen und bemalt sie bunt. Die halbe Wehrmacht könnten wir inzwischen damit versorgen.
An Geld sind noch exakt 324 Mark und 78 Pfennige im Umlauf. Dabei waren es nach meinen Aufzeichnungen vor zwei Jahren noch knapp über 700 Mark. Nachdem endlich auch alle Zigaretten aus den eisernen Rationen als adäquate Währung aufgebraucht sind, wandert der Rest sinnlos hin und her und wird immer wieder neu verteilt, sobald einer alles gewonnen hat. Nichtraucher wie ich genießen dafür eine völlig neue Lebensqualität! Es grüßt und küßt Dich in diesem Sinne von Herzen - Dein Fritz.
Mal ehrlich, Evelyn: Hattet ihr wirklich keinen Schimmer oder habt ihr Konrad absichtlich übersehen? Dir hätte ich so viel Mitgefühl sogar zugetraut, rein menschlich, Busch aber lachte mich dafür nur aus, und wenige Minuten später musste ich es auch einsehen.
Jenny ging immer noch nicht an ihr Telefon. Wir hatten zwar unser Auto wieder, aber waren gerade zehn Minuten unterwegs, als Busch an einer Straßensperre seinen Presseausweis zückte und drei Sekunden später im Straßengraben lag. Zwei Polizisten fesselten ihm die Hände auf den Rücken, einer setzte sich oben drauf. Und obwohl ich mich weder wehrte noch die Bullen als Faschisten beleidigte wie er, lag ich genauso daneben.
»Ihr Schweine«, schimpfte Busch, »das macht euch Spaß, nicht wahr?« Und er hörte auch nicht auf, als der Beamte über ihm zur Strafe sein Gewicht verlagerte. »Wenn ihr nur könntet, wie ihr wolltet! Ihr wärt doch auch alle KZ-Aufseher geworden!« Busch stöhnte erneut vor Schmerz und drehte danach sein Gesicht zu mir. »Hast du dich mal gefragt, Monse, wo die ganzen Folterknechte damals herkamen? Jetzt weißt du Bescheid.«
Ich schloss die Augen und sagte nichts. Er sollte einfach den Mund halten, dachte ich, und nicht alles noch schlimmer machen. Doch er dachte gar nicht daran.
»Was ist? Hast du etwa Angst? Du musst reden, damit sie dich überhaupt als Mensch wahrnehmen. Alter Demotrick. Komm schon, Monse, sprich mit mir: Wärst du auch gern zur SS gegangen damals, so wie diese beiden Arschgeigen hier?«
Ich bat die Polizisten mit einem zaghaften Lächeln um Verständnis für meinen Kollegen. Ein Beamter stand mit unseren Ausweisen vor einem Kleinbus und wartete offenbar auf eine Anweisung per Funk. Irgendeinem Vorgesetzten würde schon auffallen, dass wir zu jung waren für die, die sie suchten. Ich zumindest.
Busch aber wollte es unbedingt wissen und ich konnte es einfach nicht fassen, wie er in dieser Situation solche Diskussionen anfangen konnte: »Ich meine es ernst, Monse: Wenn sie dir einen ruhigen Posten beim Radio angeboten hätten oder als DJ an der Front: Hättest du dann heimlich zur Fahnenflucht aufgerufen oder weiter Lili Marleen aufgelegt? Wärst du ein Held gewesen oder ein Feigling, der brav die Schnauze hält - genau wie jetzt?«
Er grinste, wollte mich provozieren, wahrscheinlich war er das von früher sogar gewöhnt, ab und zu mal ein Polizistenknie im Kreuz zu haben. Für mich aber waren allein Handschellen eine völlig neue Erfahrung und ich wusste sofort, dass ich nicht drauf stand. Waren das die Momente, auf die es ankam? Die Dresche, bei der sich die Spreu vom mutigen Weizen trennt, selbst wenn es nichts einbrachte außer Schmerzen? Busch sah mich jedenfalls so an und schnaubte verächtlich, als ich weiter standhaft schwieg. Dann verlegte er sich wieder darauf, die Polizisten zu ärgern.
So ein Idiot! Und so eine idiotische Frage: Wer weiß, wie ich mich verhalten hätte? Ich weigerte mich, darüber auch nur einen Augenblick ernsthaft nachzudenken, erst recht in Bauchlage auf irgendeiner Brandenburger Landstraße - und konnte doch nicht anders. Wie ein blöder Ohrwurm ließ mich die Frage nicht mehr los.
Natürlich hätte ich die faschistische Diktatur mit heißem Herzen bekämpft, hätte mich schützend vor meine jüdischen Klassenkameraden gestellt und nie im Leben ein blödes HJ-Hemd angezogen. Was dachte Busch denn? Schließlich weiß ich, wie es damals dazu kam, wie es aus ging. Ahnungslose Besserwisser sind wir alle, aber wer nicht mal im Nachhinein ausschließen kann, vielleicht auch Mitläufer oder Täter gewesen zu sein, der kann auch gleich davon ausgehen. Der wird im Zweifel immer wieder mitmachen. Und genau so kam mir euer Antifaschismus manchmal vor, ob er nun polterte wie bei Busch oder in jedem Krakel ein Zeichen erkannte wie deiner: Lautes Singen im Wald war das, eine Art Eigenurintherapie, weil ihr euch selbst nicht sicher wart - euer selbst!
Beinahe musste ich Gerd für diese Lektion noch dankbar sein, dir und den Polizisten natürlich auch, deren Auftrag an diesem Tag auch nur die Bewältigung der Vergangenheit war. Wie sich das gehörte, fassten sie die nicht mit Samthandschuhen an. Aber während mein Kinn Altöl vom Asphalt radierte, sah ich die Dinge, über die ich mir vorher allerdings auch noch nie Gedanken gemacht habe, plötzlich ganz klar: Ihr könnt euch einfach nicht entscheiden! Das ist es, was oft so nervt. Einerseits legt ihr stets Wert darauf, wie einzigartig und unvergleichlich die Verbrechen damals waren, aber entwertet sie gleichzeitig mit eurer Scheißangst, es könnte jederzeit wieder passieren. Das ist Verharmlosung, Evelyn, das relativiert alles. Denn entweder war es einzigartig oder es kann jederzeit wieder passieren. Beides geht nicht. Und wenn du mich fragst: Dann lieber einzigartig. Was wir darüber wissen, ist grausam genug. Keine Zeit ist besser erforscht. Wonach sucht ihr also immer noch - nach Rätseln? Nach Erklärungen und Entschuldigungen - nach Ausreden womöglich fürs nächste Mal?
Ein paar pflichtbewusste Polizisten vollzupöbeln, war so gesehen nicht mal mehr besonderes mutig. Aber immerhin konnte man sich ungefähr ausmalen, was Fritz und die anderen erwartete.
»Halt endlich den Mund, Busch«, zischte ich, »es wird sich gleich aufklären.« Er sah mich an wie einen Verräter, schlimmer noch: wie einen Spielverderber. Denn er wusste das selbst genau.
Als der Typ mit unseren Papieren zurückkam, stellte sich heraus, dass man in der Zentrale lediglich vergessen hatte, unseren Van aus der Fahndung zu streichen. Noch mal schönen Dank, Evelyn! Ich nahm die halbherzige Entschuldigung meines Bewachers halbherzig an. Busch, der Held, ließ sich die Dienstnummern geben, kündigte eine Anzeige wegen Körperverletzung und mehrere Dienstaufsichtsbeschwerden an, worauf - und wirklich erst darauf - ihm die Beamten eine wegen Beleidigung in Aussicht stellten.
Ich hätte ihn gern gefragt, ob er sich das bei echten Gestapo-Schergen auch getraut hätte. Aber Busch war schon wütend genug und doch noch so vernünftig, in diesem Zustand nicht selbst Auto zu fahren. Stattdessen begann er sofort, wie ein Wilder zu telefonieren, und ich hatte erst den Verdacht, er wollte vor allem nicht mit mir reden. Den Wortfetzen nach versuchte er jedoch, unseren Chef Matti zu erreichen und außerdem herauszubekommen, wieso die Bunkergeschichte auch auf anderen Sendern nur noch auf Sparflamme kochte. Auf einmal interessierte ihn das, aber für die vielen Kollegen, die er angeblich gut kannte, erfuhr er erstaunlich wenig. Nur einer rief zurück, und dieses Gespräch dauerte lange genug, um an zwei weiteren Polizeisperren nach einem kurzen Blick ins Auto durchgewunken zu werden. Und als ich vor der Pension in Gossow hielt, schien sein Zorn fast verraucht. Beinahe gut gelaunt klappte Busch sein Telefon zu.
»So«, sagte er und tat als wäre nun alles klar, »das war mein alter Freund Strakka. Der schreibt seit 30 Jahren für alle großen Blätter und ist fast genauso lange hinter diesem Jäger her, du weißt schon, der Ex von der Thorwart. Darauf kommst du nie, was seiner Meinung nach hinter all dem steckt!«
»Worauf? Dass dein alter Kumpel statt bei allen Großen jetzt nur noch bei der kleinen Woche ist? Das liegt doch auf der Hand: Weil er seit 30 Jahren der gleichen Geschichte hinterherjagt.«
»Na sag mal! Langsam wird’s aber unheimlich. Spionierst du mir etwa nach?«
Wahrscheinlich hatte ich Strakka nur nicht erwähnt, als ich ihm vor ein paar Stunden das Wichtigste von Jennys Recherchen berichtet hatte und freute mich diebisch. Es kam immer gut, Busch auch mal verblüfft zu sehen. Leider musste ich es viel zu schnell auflösen und reichte die über alle Maßen nebensächliche Frage des Kollegen nach einem kleinen Bruder von Fritz sofort nach.
»Siehst du, Monse«, sagte er, »das ist eben der Unterschied zwischen einem wie dir und einem harten Hund wie Strakka.«.
Dann quälte er mich wieder mal mit einem Vortrag über journalistische Hartnäckigkeit und einer dieser alten Geschichten, die natürlich in den frühen 60er Jahren spielte. Damals, so hätten Strakkas langwierige Recherchen ergeben, habe sich Wolf Jäger einen neuen Namen zugelegt, angeblich um den seines Vaters loszuwerden, der wohl ein übler Kriegsverbrecher war. Wer wollte ihm das verübeln, dachte ich und meinte - nur damit wir uns nicht schon wieder missverstehen, Evelyn - selbstverständlich den Sohn.
»Niemand kann sich seine Verwandten aussuchen«, sagte ich.
»Verstehst du nicht, Monse? Dieser Jäger bastelt sich selbst eine Legende als Waisenkind, um nicht mit seinem Vater in Verbindung gebracht zu werden - aber gleichzeitig geht er besonders eifrig gegen alle Altnazis vor. Seine eigene Lebenslüge diskreditiert jede Glaubwürdigkeit dabei - sogar Jägers Verdienste.«
Sein Freund Strakka war offenbar wild entschlossen, die kleine biografische Schummelei nach so vielen Jahren unbedingt aufzudecken. Busch fand das nur legitim und hatte Recht: Ich verstand wirklich nicht, was daran so aufregend sein sollte - außer vielleicht, man bekäme das Wiedersehen der beiden Brüder exklusiv vor die Kamera. Aber sonst? Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass Fritz von Jagemann und Wolf Jäger tatsächlich den gleichen schrecklichen Vater hatten: Wie kann man sich denn konsequenter von der Vergangenheit distanzieren, als die eigenen Wurzeln zu verleugnen? Hatte es nicht das ganze Land so gemacht? Hitler war es, die Nazis - aber doch niemand aus der Verwandtschaft. Sie waren abstrakte Monster, ohne Namen und Familien. Oder kennst du einen persönlich? Genau genommen war Fritz auch mein erster echter Nazi. Ich wollte ihn nicht unbedingt zum Opa haben, aber mal abgesehen von seinen uncoolen Klamotten und dem Schwachsinn, den er schrieb und redete, war er nicht so unsympathisch, wie man sich diese Leute sonst vorstellte. Oder vorzustellen hatte?
Jetzt wirst du wieder aufheulen, Evelyn, ich weiß schon: Dass man das weder trennen noch von diesen Dingen absehen kann. Dass man bei all dem nicht vergessen darf, was sie verbrochen haben, wofür sie standen und heute noch stehen. Aber - du hast ja Recht.
30. MÄRZ/II So kann man sich täuschen, Liesbeth: Alles muß ich zurücknehmen, was ich über Jan und seine Freunde gedacht und voreilig aufgeschrieben habe - denn ohne sie wären wir nicht weit gekommen. Zwar bin ich nicht sicher, ob sie zufällig den gleichen Weg hatten, wie sie behaupten, oder uns gefolgt sind, wie ich vermute. Aber darauf kam es nicht an: Wir saßen mit leerem Tank am Straßenrand und hatten noch nicht mal begonnen, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen - da schickte sie schon der Himmel.
Ihr Auto war vollbesetzt, der dicke Anführer, Jan und drei andere, die für mich aufgrund ihrer Frisuren (darf man das so nennen?), den gleichen Jacken und Stiefeln immer noch schwer zu unterscheiden sind. Sie überschlugen sich sofort vor Hilfsbereitschaft. Vielleicht ist auf die Jugend ja doch noch Verlaß.
Zwei sind gleich weitergefahren, um Hilfe zu holen. In der Zwischenzeit lauschen Jan und die anderen Ottos Geschichten aus den frühen Tagen des Krieges, an denen er in Wirklichkeit auch nie beteiligt war. Tatsächlich scheinen die Jungen an der Heimatfront sogar mehr zu erleben als wir. Von Kämpfen gegen Russen und Türken berichten sie und staunen darüber, daß wir darüber staunen, daß die Türken nicht mehr zu unseren Verbündeten zählen. Das könnten sie sich nun überhaupt nicht vorstellen. Wir dagegen wissen nicht, was ein Döner ist, den sie neulich - wie sie es nennen - »abgefackelt« hätten. Der Muselmann sei tags zuvor mit einem armlangen Messer auf sie losgegangen, nur weil sie seinen Laden mit einem freundlichen Sieg-Heil betreten haben. Nachts seien sie dann mit Benzinkanistern hin, berichten sie stolz. Wie hinterhältige Partisanen, denke ich - was sollen das für Heldentaten sein?
Bei den Russen, von denen sie reden, soll es sich eigentlich um Volksdeutsche handeln, und an diesem Punkt wird es vollends verwirrend: Angeblich werden sie in großer Zahl im Kernreich angesiedelt, stammen aus Kasachstan oder von der Wolga, aber zeigen wenig Ambitionen, sich hiesiges Brauchtum anzueignen. In ihren Familien werde weiter Russisch gesprochen. Die Mädchen würden keine echten Deutschen küssen (umgekehrt selbstredend auch nicht, wie Jan versichert). Auf dem Schulhof seien die Russen allerdings gefürchtet, weil sie eine Art Faustkampf mit Füßen beherrschen.
Man müßte doch wenigstens wissen, ob es nun Russen seien oder Deutsche, wendet Josef ein und legt dabei einem der Knaben behutsam seine Hand auf den Oberschenkel. Dieses ewige Getatsche! Jahrzehnte haben wir versucht, ihm das abzugewöhnen. Hoffnungslos. Gerade vor den jungen Burschen spreizt er sich wie ein Pfau, starrt ihnen unangemessen lange ins Gesicht, und ich habe auch seine heimlichen Blicke nicht übersehen.
Jan und seine Freunde nennen die ominösen Deutschrussen mal Aussiedler, mal Umsiedler und scheinen keinen Schimmer zu haben, wie es sich mit diesen Leuten tatsächlich verhält. War es seinerzeit nicht genau umgekehrt gedacht? Ein Volk ohne Raum kann doch unmöglich noch enger zusammenrücken! Das finden die Burschen allerdings auch. Und ich kann mir nicht helfen: Früher hat man den Volksgenossen die Siedlungspolitik besser erklärt! Gibt es denn keine Schulungen mehr für den Nachwuchs der Partei?