Nach einer halben Stunde sind die anderen mit einer Art Abschleppwagen zurück. Der kleine Lkw hat ein großes Führerhaus mit dunklen Scheiben und hinten eine Pritsche. Obwohl keinerlei Hoheitszeichen zu erkennen sind, gehört er offenbar zur Wehrmacht, denn er ist in dunkelgrünen Tarnfarben gemustert, ebenso wie der fleckige Kampfanzug des Fahrers.
Namen würden keine Rolle spielen, sagt er zur Begrüßung, ist wesentlich älter als die Jungs und macht sowohl ihnen als auch uns gegenüber kein Hehl aus seiner schlechten Laune: Er wolle in solche Sachen nicht mehr hineingezogen werden, schimpft er mehrmals ungehalten - was auch immer er meint.
Erst als er unsere Ausrüstung sieht, beginnen seine Augen zu leuchten. Das sei ja nicht zu fassen, sagt er und befummelt Spaten, Magazintaschen und was noch am Koppel baumelt. Er hätte gedacht, die Sache mit dem Bunker sei alles Lüge, Volksverdummung ...
Woher er das überhaupt wisse, frage ich.
Was, fragt er zurück, daß im Fernsehen nur gelogen werde?
Nein, das mit dem Bunker?
Aus dem Fernseher, sagt er, woher sonst.
Wieder dieser Kasten! Aber er winkt ab: Wir sollten darauf nichts geben. Alles Verleumder. Üble Propaganda. Dann will er unbedingt wissen, was da unten noch alles sei: Etwa Geschirr mit Hoheitszeichen? Bestickte Tischwäsche? Wie ein gieriger Bräutigam führt er sich auf, der reiche Aussteuer wittert, oder wie manche Schulkameraden damals, als es plötzlich hieß, Edgar Rosen komme nicht mehr zur Schule, und sie sich auf seine neuen Turnschuhe stürzten. Weißt du das noch, Liesbeth, wie peinlich das war?
In seinem Gehöft abseits jeder Siedlung fängt der Mann ohne Namen sofort an zu feilschen. Für Konrads Maschinenpistole, die wir ja übrig haben, verspricht er, nicht nur das Motorrad zu tanken und den Vergaser zu prüfen, sondern will auch sehen, ob er neue Mäntel und Stiefel für uns besorgen könne. Das klingt nicht schlecht. Leider deutet er aber auch an, daß es etwas dauern könne, vor allem die Benzinbeschaffung. Offenbar handelt er illegal mit allen möglichen Dingen, die eigentlich der Reichsausrüstungskammer Vorbehalten sind, der Partei oder irgendeiner anderen befugten Stelle - keinesfalls aber in eine alte Scheune gehören. Ehrendolche liegen überall herum. Eine Schublade voller Rangabzeichen quillt über, alle möglichen Uniformteile und sogar Orden hat er da, kistenweise.
Für Josef und Otto findet er sofort zwei passende Ledermäntel. Mit Ärmelabzeichen könne er auch dienen, sagt er, kramt in einer Ecke und breitet stolz sein Angebot vor uns aus: Wiking, Hitlerjugend, Das Reich - was immer wir wollten. Nur Leibstandarte sei gerade aus, vielleicht in zwei Monaten wieder. Einen Mantel in meiner Größe findet er auch nicht.
Was ihm außerdem fehlt, ist der nötige Ernst: Als wenn man sich seine Division aussuchen könnte und die Ärmelabzeichen wechselt wie Fußlappen! Dann will er mir auch noch den Filzmantel eines einfachen Landsers aufschwatzen. Empört lehne ich ab.
Während er nach Stiefeln sucht, ertappe ich Josef, wie er sich vor einem kleinen Spiegel dreht und wendet. Er hält sich ein Ritterkreuz samt Eichenlaub und Schwertern an die Brust und grinst verschämt. Die Versuchung scheint groß für ihn, aber ein strenger Blick von mir reicht, und er legt es zurück.
Die jungen Kameraden drängen den Krämer zur Eile und schlagen uns vor, sie zu einer Versammlung zu begleiten. Ganz in der Nähe treffe sich heute der »Nationale Widerstand«. Nie gehört, die Organisation. Die Bewegung läßt sich aber auch ständig neue Namen einfallen. Vermutlich meinen sie versprengte Kämpfer. Die Jungs flehen uns förmlich an, das Benzin soll erst morgen da sein - also willigt Otto leichtfertig ein. Wer konnte auch ahnen, daß wir dafür stundenlang kreuz und quer über Land fahren müssen, in zwei Personenkraftwagen gequetscht.
So geheim muß der Treffpunkt sein, daß unser Fahrer laufend neue Meldungen über die Richtung empfängt. Er benutzt ein ähnliches Funkgerät wie die Wochenschauleute, ein Telefon ohne Schnur. Immer wenn es piept, erscheinen auf der winzigen Glasfläche neue schriftliche Marschbefehle. Trotz Grundausbildung als Funker habe ich so etwas noch nie gesehen. Nach der vierten Nachricht müssen wir wenden, fahren noch einmal durch zwei oder drei Ortschaften, die wir schon durchquert haben, und halten hinter einem heruntergekommenen Gasthof. Bestimmt hundert ähnlich moderne Autos parken dahinter auf einer Wiese.
»Deutsches Haus« lesen wir über dem Eingang. Putz bröckelt von der Fassade. Ein Festsaal gehört auch dazu. Jemand lotst uns durch Seiteneingang und Küche bis in die Gaststube, wo man uns dienstfertig Mäntel und Waffen abnimmt. Als wir an einen Tisch geführt werden, treten andere Gäste zur Seite oder erheben sich von ihren Plätzen. Für meinen Geschmack übertreiben sie ein wenig, aber Otto gefällt es, und tatsächlich genießen wir erstmals so etwas wie Respekt, beinahe Ehrfurcht. Außerdem steht eine Brotzeit für uns bereit.
Unsere Begleiter sind nach der Ankunft sofort im Saal verschwunden. Durch eine halb geöffnete Flügeltür mit einem schweren Vorhang davor hört man Stimmen und Gläser klirren, ab und zu Beifall. Der Wirt kommt hinter seinem Schanktisch hervor, trägt einen gezwirbelten Schnurrbart wie der alte Kaiser und fragt, was wir trinken wollen: Vielleicht ein Pils? Otto nickt sofort. Mir sieht er offenbar die Bedenken an: Oder Fanta, Cola, einen Saft vielleicht?
Die gute alte Fanta, es gibt sie immer noch! Ich glaube, die letzte habe ich mit Dir geteilt. Unser Abschiedsabend. Meine Wahl ist also klar. Josef bekommt eine Coca-Cola. Wir riechen an den Gläsern wie vor einem guten Schluck Wein und kosten jeder mal beim anderen. Ein paar junge Kerle am Nachbartisch kichern. Wir müssen versuchen, etwas mehr Haltung zu wahren!
Auf dem Tisch neben mir liegen Zeitungen, darunter ein Völkischer Beobachter. Nachrichten! Dann die Enttäuschung: Es ist nur eine uralte Ausgabe von 1939. Etwas frischer sehen andere Blätter aus, die ich nicht kenne. Eine heißt National-Zeitung und fragt auf der Titelseite: Müssen Deutsche ewig büßen? Ganz schön vorwitzig, aber noch nichts gegen die übergroßen roten Buchstaben auf der nächsten: »Krieg: Der Kanzler sagt NEIN« wird da behauptet, gleich darunter das schamlose Bild einer nackten Frau.
So unauffällig wie möglich schiebe ich die Nackte zu Josef über den Tisch. Der reißt entsetzt die Augen auf und bedeckt sie mit einem Bierdeckel. Man beobachtet uns immer noch verstohlen. Ich lächele zurück und schlendere durch den Raum. Ein Mann bewacht die Tür zwischen Gaststätte und Saal. »Ordner« steht auf seiner Armbinde, und ordentlich hält er mir sofort den Vorhang auf. Aber ich spähe lieber erstmal vorsichtig durch den Schlitz.
An langen Tischen sitzen mindestens zweihundert vorwiegend junge Männer. Sie trinken Bier und lauschen den Reden, grölen und brüsten sich mit Selbstverständlichkeiten: Ich bin stolz ein Deutscher zu sein, lese ich auf einer Jacke, die dem Eingang nahe über einem Stuhl hängt. Auch ein paar vereinzelte Damen sind da, allerdings nicht gerade die Zierden unserer Rasse. Oder kannst Du Dich erinnern, daß geschminkte Frauen jemals Zutritt zu Parteiveranstaltungen hatten?
Der Saal selbst ist ebenso lieblos mit ein paar schwarz-weiß-roten Girlanden geschmückt. Gardinen und Tischtücher sind schmuddelig gelb. Hinter der Bühne verdeckt ein Banner nur notdürftig die Reste einer Losung: ...ozialismus siegt! Das ist alles, und einmal mehr überkommen mich Zweifel: Wie soll der Nationalsozialismus siegen, wenn sogar Buchstaben Mangelware sind? Dann setzt sich eine neue Stimme gegen das allgemeine Gemurmel durch und nach ein paar Sätzen, die mich sofort aufhorchen lassen, stenographiere ich hastig mit:
Von amerikanischen Verhältnissen spricht der Redner, der sich nur in seinem feinen Anzug von den anderen Kahlköpfen im Publikum unterscheidet. Die internationale Geldmafia habe das Land fest im Würgegriff, sagt er, und die Mehrheit wolle nicht mal sehen, wie unser Volk seiner Identität beraubt werde. Vaterland sei ein Fremdwort geworden. Unsere Soldaten würden ungestraft als Mörder verunglimpft. Die Wiedervereinigung Rumpfdeutschlands habe es in aller Deutlichkeit gezeigt: Unter dem Joch der Besatzung könne es keine Freiheit geben. Wie lange wolle man noch im Büßergewand durch den Staub kriechen, fragt der Redner zum Schluß und fordert seine Zuhörer auf, den Kampf nicht aufzugeben. Eines Tages werde die Stunde der Wahrheit schlagen. Und dann wehe den Verrätern!
Richtige und doch merkwürdige Sätze sind das. Vieles deckt sich mit meinen Beobachtungen. Aber was meint er mit Rumpfdeutschland und Buße? Meine ratlosen Blicke begegnen denen von Otto und Josef in der Ecke, die sich offenbar auch keinen Reim darauf machen können. Die Leute im Saal aber klatschen stürmisch und spitzen die Ohren, als der nächste Redner die Bühne betritt. Er heißt Kiefer, wird als Weltkriegsveteran vorgestellt und ist doch kaum älter als wir. Niemals hat dieser junge Kerl schon von 1914 bis 18 gekämpft. Doch alle lauschen ergriffen seinen Worten:
Oft frage ihn die heutige Generation, so beginnt er, wie das die Väter und Großväter bis zum bitteren Ende durchstehen konnten. Als Überlebender könne er dann immer nur antworten, daß man zutiefst von einer guten und gerechten Sache überzeugt gewesen sei. Mit Selbstverständlichkeit hätten er und Millionen andere junge Soldaten dafür alle Anstrengungen auf sich genommen, in Selbstaufgabe und grenzenlosem Vertrauen auf unsere Führung ...
Nicht alles ist zu verstehen. Akustisch schon, so wie er brüllt, aber vieles ergibt einfach keinen Sinn.
Zum Beispiel spricht er von »Umerziehung« und »Überfremdung«. So weit sei es schon gekommen, daß viele Kinder in der ersten Klasse eine Fremdsprache lernen müssen. An dieser Stelle legt Kiefer eine selbstgefällige Pause ein, und ich denke: Was ist daran so schlimm? Das können sie doch gut gebrauchen in Frankreich oder wo immer sie künftig ihren Mann stehen! Aber dann sagt er, und er raunt es, als wäre er nun auf dem Gipfel seiner armseligen Rhetorik angekommen: Und diese Fremdsprache sei Deutsch! Trotz des peinlichen Versprechers springt sein Publikum auf und applaudiert. Sie haben es nicht mal bemerkt oder sehen frenetisch darüber hinweg.
So ist es mit vielen Dingen: Ich verstehe die Pointen nicht, über die sie lachen, und kaum die Tragödien, die sie beklagen. Von Ausländern ist viel die Rede, als hätte unser Volk nicht mit sich selbst genug zu tun. Von Untergang, Verderben und einer glorreichen Vergangenheit - dabei findet die Veranstaltung in diesem Augenblick statt, vor meinen Augen.
Verstört gebe ich meine Mitschrift auf und will zurück an den Tisch, da entdecke ich es. Ein schweres Tuch läßt die Konturen nur ahnen. Zudem hat ein Banause leere Schnapsflaschen darauf drapiert. Ob es wohl gestimmt ist? Ob ich mich einfach mal ransetze? Ob meine steifen Finger überhaupt noch umsetzen können, was sie jahrzehntelang ohne Noten und Tasten auf dem Tisch geübt haben? Ich wage es nicht, noch nicht. Stattdessen beginnt im Saal eine Gitarre zu klimpern, dazu erhebt sich ein dünnes Stimmchen und fordert zum Mitsingen auf. Es soll wohl An der Saale hellem Strande werden, aber niemand stimmt ein. Selbst die einfachsten Melodien können sie nicht. Erst im Refrain von Die Gedanken sind frei brummen einige mit. Ich spüre eine Gänsehaut - Rührung ist es nicht.
Ich sitze schon wieder bei Otto und Josef, als dieser Kiefer mit einer Entourage von Bewunderern aus dem Saal in den Gastraum kommt. Einer flitzt voran, um Bier zu holen. Ein Glatzkopf im Anzug geleitet ihn an unseren Tisch. Kiefer scheint Respekt gewohnt, auch ohne Wichs und Kragenspiegel. Er trägt eine Trachtenjacke mit Hornknöpfen. Unter seinem faltigen Hals erkenne ich ein Ritterkreuz am Band - sonst keinerlei Hinweis auf seinen letzten Dienstgrad. Einen peinlichen Moment lang wissen wir deshalb alle nicht, wer wen zuerst zu grüßen hat.
Immerhin ein Ritterkreuzträger - wie Vater! Das macht in meinen Augen mindestens fünf Ränge wett. Vielleicht war Kiefer sogar in echte Kämpfe verwickelt. Dagegen stehen wir natürlich wie blutige Anfänger da. Wir haben ja praktisch nichts dergleichen erlebt und - von wegen Blut! - das eigene gerade mal beim Küchendienst vergossen. Otto aber bleibt trotzdem eisern sitzen.
Heil Hitler! So zackig schleudert Kiefer seine Hand nach vorn, daß er Josef beinahe am Kinn erwischt und sich selbst fast den Arm auskugelt. Wir erwidern den Gruß eher schlapp. Otto winkt nur mit einer Hand ab und hält es nicht mehr aus:
Was das alles heißen solle, will er von Kiefer wissen, und wie er vor allem darauf käme, wir hätten kapituliert?
Wir? Kiefer lächelt: Die Wehrmacht vielleicht - wir nicht!
In aller Form bittet er dann erstmal darum, sich vorstellen zu dürfen: Gestatten, Standartenführer Kiefer. Es sei ihm eine Ehre. Er zögert kurz und fragt nach unseren Namen. Wir sollten das bitte entschuldigen, aber an und für sich kenne er alle noch lebenden Kameraden vom Brigadeführer aufwärts.
Der Reihe nach nennen wir Namen und Dienstgrad. Ungläubig mustert er uns dabei von oben bis unten. Ist es Neid? Wie sich herausstellt, gehörte Kiefer einige Monate zum persönlichen Stab des Reichsführers, zuletzt als Adjutant eines Adjutanten von Himmler, wie er großspurig behauptet.
Von Jagemann, fragt er misstrauisch zurück, viel gehört von dem Mann, aber nie mit ihm zu tun gehabt. Aber Schneid hätten auch wir, das müsse er schon sagen.
Wieso?
Ob ich ihn veralbern wolle: Hier in voller Uniform aufzutauchen, und dann noch als ein von Jagemann. Also wirklich, sagt er, Respekt, mein Lieber! Dabei schüttelt er lachend den Kopf.
Eigentlich finde ich es nicht besonders respektvoll von ihm, mich seinen Lieben zu nennen und mir gleichzeitig zu unterstellen, ich würde einen falschen Namen benutzen.
Mein Name sei von Jagemann, stelle ich noch einmal unmissverständlich klar, und dass ich stolz darauf bin, sage ich auch.
Na dann, zischt Kiefer, herzlichen Glückwunsch!
Die anderen lachen leise. Ein Anflug von Ironie in seiner Stimme ist auch mir nicht entgangen. Aber nun übernimmt Otto wieder und fragt, wie oder wo wir die Reichsführung erreichen.
Also wenn wir das nicht seien, sagt Kiefer und erntet diesmal offenes Gelächter - nach seinen letzten Informationen habe sich der Reichsführer als stinknormaler Feldwebel der Wehrmacht zum Feind abgesetzt und sich feige ergeben.
Das ist ein dicker Hund! Otto scheint seinen Ohren auch nicht zu trauen oder hat es einfach nicht gehört. Jedenfalls sagt er nichts mehr. Der Reichsführer SS galt sicher nie als großer Feldherr. Wie er mit der Heeresgruppe Weichsel baden ging, ist mehr als ein Gerücht. Aber niemand hätte je gewagt, so offen despektierlich über ihn zu reden.
Ermutigt durch unser entsetztes Schweigen und den Beifall aus der Runde setzt Kiefer sofort nach und will nun in einem provozierenden Ton wissen, wieso wir diese Judenbrause tränken?
Judenbrause? Josef Stahl verschluckt sich beinahe an seiner Cola. Und endlich ist auch Otto wieder voll da: Er habe das Gefühl, sagt er, der Standartenführer vergreife sich gerade gewaltig im Ton, und empfiehlt ihm nachdrücklich Mäßigung. Unwillkürlich spannt Kiefer den Rücken. Sein Gesicht läuft rot an, aber ich fürchte, es ist mehr Zorn als Scham.
Nun, stammelt er, Coca-Cola sei nun mal der Inbegriff für die Besatzer, das Blut der Feinde gewissermaßen. Eine Schande, daß dieser Dreck hier überhaupt ausgeschenkt werde.
Die jungen Zuhörer pflichten ihm murmelnd bei. Das Gelächter immerhin ist auch ihnen vergangen. Dafür treffen nun den Wirt vorwurfsvolle Blicke, der betreten zu Boden schaut.
So ein Unsinn, denke ich: Coca-Cola war doch überall dabei. Ich sehe die Reklame noch vor mir. Sie ergänzte sich wunderbar mit den Farben des Reiches. Damals zum Beispiel auf der Tribüne mit Vater, 1936, Berlin - weißt Du das auch noch? Ein Meer aus rot-weißen Bannern. Alle Funktionärskinder durften trinken, so viel sie wollten. Hinterher war uns allen schlecht...
Was soll daran schändlich sein, frage ich Kiefer schließlich laut, und alle schauen mich mit großen Augen an: Auf Coca-Cola sei doch immer Verlaß gewesen, Unterstützer der Jugend, bei allen großen Massenveranstaltungen dabei. Coca-Cola eiskalt! Hatten sie so nicht sogar in unseren HJ-Einsatzbüchern geworben?
Dem Standartenführer fällt die Erinnerung sichtbar schwer. Mir dagegen fällt der Zeitungstisch ein und ich greife mir den alten Beobachter, blättere ihn hastig durch, auf der vorletzten Seite werde ich fündig: Hier - dabei halte ich sie Kiefer vor die Nase - die Coca-Cola-Nachrichten. Das sei eine Anzeige, dafür werde Geld bezahlt. Ob er wirklich glaube, frage ich spitz, die Parteizeitung lasse sich von amerikanischen Juden finanzieren?
Kiefer sucht seine Brille. Seine jungen Lakaien beugen sich über die Annonce und tun gerade so, als könnten sie es kaum glauben. Sicher, ich kann mich auch entsinnen, daß die braune Brause später wieder aus den Regalen verschwand (warum eigentlich?). An der Anzeige aber gibt es nichts zu rütteln.
Kleinlaut gibt Kiefer zu, das hätte er wohl vergessen. Seine Kameraden schauen uns nun auch wieder mit anderen Augen an. Ich habe ihren Respekt zurückerobert, lehne mich zurück und streife mit den Augen erneut das Klavier. Ob mich das Konservatorium noch nimmt nach dem Krieg? Fast hatte ich mich von diesem Gedanken schon verabschiedet. Jetzt ist er plötzlich wieder da.
Von hinten flüstert der Anzugträger seinem Brigadeführer etwas ins Ohr, ohne mich dabei aus den Augen zu verlieren. Kiefer verkauft es trotzdem sofort als seine Idee und schlägt vor, einer von uns solle doch ans Pult gehen und zu den jungen Leuten sprechen. Die würden nach echten Erfahrungen lechzen und seien dankbar für jedes wahre Wort.
Ja. Genau! Sprechen Sie zu uns! Alle stimmen ein und bedrängen vor allem Otto, der sich erst geschmeichelt ziert und dann doch kneift: Los, Jagemann, befiehlt er mir, an die Front!
Na großartig! Auf meine Frage, worüber ich denn reden soll, antwortet Kiefer, das sei völlig egal, Hauptsache authentisch, so wie es wirklich war, seinetwegen auch das mit der Cola.
Seine Leute eskortieren mich auf die Bühne. Die Männer im Saal beginnen zu applaudieren, erst ein paar, dann alle, schließlich stehen sie sogar von ihren Plätzen auf.
Woher ich die Worte nahm und welche ich sprach, weiß ich schon jetzt, da ich diese Zeilen notiere, nicht mehr genau, aber ich begann zu reden und nach einem Lauter-Rufer, die es wohl zu jeder Zeit bei jeder Veranstaltung gibt, ging es wie von selbst.
Beinahe hätte ich den Kaffee wieder ausgespuckt, als der Mann mit dem Kopfhörer plötzlich auf Laut stellte:
Die beiden Kollegen vom Verfassungsschutz hatten uns nur mit einem stillen Nicken begrüßt, Schiller und mir je einen Becher lauwarmen Kaffee in die Hand gedrückt, dann waren wir auch schon mittendrin in einer dieser Saalveranstaltungen, von denen ich noch nie verstanden hatte, wieso man sie nicht gleich verbietet, wenn man schon von ihnen weiß und sogar alles mithören kann.
Die Lauscher hatten sich im Rohbau eines Einfamilienhauses eingenistet, keine hundert Meter von der Gaststätte entfernt. Nach ihren Informationen waren etliche regionale NPD-Führer anwesend, außerdem mehrere hundert Jugendliche aus der Gegend und - wenn es stimmte, was irgendein zwielichtiger V-Mann gemeldet hatte - auch unsere Zielpersonen. Es stimmte.
Die Stimme, die ich hörte, kam mir schon fast vertraut vor. Zwar wusste ich nicht, welcher der vier da drüben eine Rede hielt, aber eins stand fest: sein Talent. Er sprach die Zuhörer direkt an, stellte mehr Fragen als Antworten in den Raum und vergaß auch die rhetorischen Pausen nicht. Die ganzen alten Demagogentricks hatte er drauf, die gerade bei Blödmännern mit extra langer Leitung und extra kurzen Haaren immer wirkten.
»Ich sehe fast nur junge Leute hier«, sagte er, »und da frage ich mich: Warum redet ihr ständig von damals? Wieso lebt ihr in der Vergangenheit? Was meint ihr damit, wenn auf euren Jacken steht, dass ihr stolz seid, Deutsche zu sein? Meint ihr damit Ehre, Fleiß, Sauberkeit - unsere Stärken? Wenn ja, warum zeigt ihr sie nicht? Sitzt hier rum und trinkt Bier, während das Land in einem unüberschaubaren Chaos versinkt. Stolz auf der Jacke ist wie Mut auf dem Wunschzettel: Niemand bekommt das geschenkt. Wenn es eine Zukunft gibt, gehört sie euch. Wartet nicht, bis sie kommt! Wir haben selbst lange genug gewartet. Und noch eins: Anständige Deutsche verkleiden sich nicht als Russen und zünden türkische Geschäfte an! Das ist feige und unwürdig.«
Mit offenem Mund hörte ich den Beifall tosen. Dieser alte Mann redete, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. Manche seiner Sätze hätten genauso gut von einem Antifaschisten stammen können, andere wieder klangen, als hätte er gerade erst sein faschistisches Propaganda-Diplom gemacht. Er sprach über Landesverrat und den Frühling, von Europa und - ich hatte mich wirklich nicht verhört - Coca-Cola. Sein Publikum schien ähnlich verwirrt und jubelte sogar, wenn er es beschimpfte: Nur Idioten hätten etwas gegen ein geeintes Europa. Das sei doch exakt die Idee der Vorväter: Ein Kontinent im Geiste Karl des Großen, ohne Grenzen vom Ural bis zum Atlantik, naturgemäß geführt von der zentralen größten auserwählten Nation ... Was es denn Europäischeres geben könne, fragt er, als beispielsweise die Waffen-SS mit ihren freiwilligen Kämpfern aus mehr als einem Dutzend Nationen, die alle für die gleiche Sache streiten? Dann drohte er noch einmal unverhohlen mit dem Endsieg: »Die ewige Schlacht wird nur gewinnen, wer am Ende immer noch steht. Wer nicht umkippt und fest an die Worte des Führers glaubt, selbst wenn es zeitweise anders scheint: Es kann nur einen Sieger geben und es kommt der Tag...«
Mir kam es hoch. Keine Minute länger konnte ich mir das anhören, knallte meinen Kaffeebecher auf den Tapeziertisch, der schon unter der Last der Abhörtechnik ächzte, und forderte Schiller mit einem Handzeichen auf, mir zu folgen.
»Sie können ruhig reden, die hören Sie nicht«, sagte einer der Verfassungsschützer und grinste.
»Danke, ich habe genug gehört. Wir schlagen sofort zu.«
»Moment!« Er zog das Wort in die Länge und starrte Schiller hilflos an. »Das wäre jetzt aber keine so gute Idee!«
Schiller sah auch nicht begeistert aus, sagte aber nichts.
»Das werden wir ja sehen. Wie viele Beamte haben wir zur Verfügung? Ist die Kneipe vollständig umstellt?«
»Umstellt?« Der Verfassungsschützer lachte gekünstelt auf.
Endlich erwachte auch Schiller aus seiner Starre, doch statt den Kollegen zur Schnecke zu machen, hielt er mir die Tür auf und schob mich sanft hinaus.
»Nichts für ungut«, sagte er zum Abschied zu den beiden Lauschern. Mit mir sprach er erst draußen wieder: »Entschuldigung, aber ich glaube, ich muss Ihnen erstmal was erklären.«
»Das glaube ich auch. Was haben die uns denn zu sagen?!«
»Eine Menge: Wenn die uns nichts sagen, wären wir gar nicht hier. Ohne Verfassungsschutz wüssten wir nicht mal von der Veranstaltung, ganz zu schweigen von den Überraschungsgästen.«
»Ich denke, das ist deren Job?«
»Sicher. Aber sie müssen uns nichts verraten. Das entscheiden die selbst. Wir erfahren das meist erst hinterher, wenn wieder irgendwo was los war. Es sei denn, es gilt eine konkrete Gefahr abzuwehren - oder man hat gute Drähte.«
Langsam gingen mir seine guten Drähte auf den Docht. Immer wusste er mehr als ich, hatte er schon mit irgendwem den nächsten Schritt besprochen - nur nicht mit mir.
»Lass mich raten: Es gibt eine Absprache?«
»Genau: Wir durften nur mithören, weil ich zugesichert habe, weder ihre Maßnahme noch ihre Quelle zu gefährden, das war der Deal. Daran müssen wir uns halten, wenn wir je wieder was vom Verfassungsschutz wollen. Das kennen Sie doch auch aus der Politik, oder? Sehen Sie’s mal positiv: Immerhin sind wir ganz nah dran und wissen, wo sie sind. Morgen früh hindert uns keiner mehr, dann schlagen wir zu.«
Was mich betraf, schlug ich zunächst wütend die Wagentür zu. Den Fahrer hatte Schiller schon vor unserer geheimnisvollen Spritztour in den Feierabend geschickt. Vermutlich gehörte das auch zum Deal. Ich schloss die Augen und beruhigte mich langsam. Lars Schiller würde nie zu meinen Freunden zählen, aber manchmal tat es einfach gut, dass er da war, und wenn nur als Blitzableiter für meine Wut. Ich hatte ja sonst niemanden. Und in einem kindischen Anfall von Einsamkeit, bot ich ihm das du an. Sag nichts, Benny - ich weiß schon! Aber du warst ja auch nicht da.
»Lars«, sagte er lächelnd.
Gegen Mitternacht rollten wir auf den Parkplatz eines kleinen Schlosshotels in der Nähe von Neuruppin, das uns die Bundesanwälte empfohlen hatten. Efeu rankte sich um drei Laternen und das halbe Gemäuer. Im Dunkeln plätscherte ein See. Und wie immer, wenn man Kerlen leichtfertig den kleinen Finger reicht, brauchte ich nicht länger zu warten, bis mir Schiller den Arm ausreißt.
»Wie gemacht für ein Liebespaar«, sagte er und zwinkerte anzüglich, als er mit die Tür aufhielt, »findest du nicht?«
Hinter der Rezeption wachte eine junge Frau auf und wollte den verschlafenen Eindruck schnell wettmachen, in dem sie uns doch noch eilfertig entgegenlief.
»Nur keine Umstände«, tröstete ich sie, »wir wollen auch nur ins Bett.«
»Aber Sie haben Besuch!«
Schiller ließ die Taschen fallen und sah mich an. Doch ich hatte auch keine bessere Erklärung als das Mädchen:
»Sie bestanden darauf, in einem Ihrer Zimmer zu warten.«
Schillers Hand zuckte unwillkürlich zum Holster unter seinem Jackett. Das Mädchen zückte die Zimmerschlüssel.
»Sie?«, fragte er, »wer denn - und auf welchem Zimmer?«
»Drei Männer, alle ähnlich angezogen. Sie wollten zu Frau Thorwart, es sollte wohl eine Überraschung sein«, flüsterte das Mädchen verschwörerisch. Doch weil Schiller plötzlich seine Pistole in der Hand hielt, schwante ihr wohl, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Es tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht...«
»Keine Sorge«, sagte ich, »wie alt waren sie denn etwa?«
»Eher älter, würde ich sagen.«
Sie war höchstens 20. Alter konnte alles heißen. Lars Schiller musste dennoch nicht aussprechen, was wir beide dachten, und nahm die Treppe - wegen der Aufzuggeräusche. Auf was der Junge immer alles achtete. Der Flur im Obergeschoss war leer. Ein Bewegungsmelder schaltete das Licht ein. Schiller drückte sich flach an die Wand und huschte von Tür zu Tür, ich hielt mich dicht hinter ihm. Es sah vielleicht so aus, aber es war nicht wie in einem Film - und kein bisschen lustig.
Vor meinem Zimmer lud Schiller seine Waffe durch. Drinnen lief der Fernseher. Er schickte sich an, die Tür einzutreten, und einem seiner vielen Handzeichen zufolge sollte ich wohl warten, bis er die Männer überwältigt hätte. Doch damit war ich nicht einverstanden. Drei gegen einen - so unsympathisch konnte niemand sein, dass ich seinen Heldentod leichtfertig in Kauf genommen hätte. Ich war seine Chefin und damit vielleicht sogar für ihn verantwortlich, nicht umgekehrt - und ich erinnerte ihn daran.
»Das ist nicht dein Ernst«, flüsterte er zurück, »bis die ihre alten Knochen sortiert haben ...«
»Nein heißt nein. Das ist ein Befehl!«
Er lehnte seine Stirn gegen den Türrahmen, aber rührte sich nicht. Das Licht auf dem Flur ging wieder aus.
Wieso eigentlich drei? Das Mädchen musste sich verzählt haben. Außerdem hatten sie bisher jede Konfrontation gescheut. Wieso suchten sie auf einmal unsere Nähe?
»Wir warten auf Verstärkung«, flüsterte ich und hörte Schiller unwirsch schnaufen. Keine zwei Sekunden später sprang das Licht wieder an. Meine Iris schaltete noch von dunkel auf hell, als ich Schiller schon in mein Zimmer fallen sah, beinahe lautlos. Erst innen polterte es laut. Auf ein gedämpftes Kommando folgte leises Gelächter. Und ich stand immer noch zitternd auf dem Flur, als jemand meinen Namen sagte, ganz ruhig und so vertraulich, wie das nur einer konnte.
»Ev? Evelyn?«
Wolf Jäger steckte seinen Kopf aus der Tür und lächelte.
»Alles ist gut. Entschuldige! Ganz ruhig.«
Er nahm mich in den Arm und führte mich in das Zimmer, wo Lars Schiller mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett lag. Einer von Wolfs Personenschützern war gerade dabei, ihm die Handschellen wieder abzunehmen. Ein anderer hob eine Stehlampe auf, die während des kurzen Handgemenges umgestürzt war. Wolf bugsierte mich zu einem Sessel und langsam fand ich meine Stimme wieder.
»Was soll das? Was machst du hier?« Dann fiel mir ein, dass wir nicht allein waren, und ich korrigierte mich schnell: »Sie.«
»Ich wollte dir zum Geburtstag gratulieren.«
Tatsächlich zauberte er einen Strauß gelber Rosen hervor, den ihm einer der Bodyguards gereicht hatte.
Was für ein eingespieltes Team, dachte ich, starrte auf die Blumen und zu Lars Schiller, der mit finsterem Blick auf meinem Bett saß und seine Schulter massierte. Gern hätte ich Wolf die Blumen aus der Hand gerissen und in eine Ecke gefeuert, aber meine Arme zitterten immer noch. Schließlich stopfte er sie eigenhändig und ziemlich lieblos zurück in die bereitstehende Vase.
»Nun beruhig dich mal wieder«, sagte er beiläufig, »die Jungs können nicht anders, wenn vor der Tür jemand mit einer Waffe hantiert. Und bei dir - alles noch dran, Schiller?«
Mein kleiner Held nickte beleidigt.
»Na, bitte«, sagte Wolf Jäger, »alles wieder gut!«
Gar nichts war gut. Er wusste das selbst, sonst hätte er es nicht ständig wiederholt. Seine Jungs konnten sich ihr Grinsen nur schwer verkneifen - aber sie konnten es. Niemand musste diese Spielchen verstehen: Warum hatten sie uns hier aufgelauert und nicht einfach unten gewartet? Warum mussten sie Schiller unbedingt den Arm auskugeln? Und warum - vor allem - musste Wolf vor Fremden mit mir reden wie mit einem kleinen Mädchen?
»Und warum bist du wirklich hier?«
»Weil ich mit dir reden muss.«
Ohne dass er irgendein Zeichen geben musste, standen seine Leute auf. Einer zog Lars Schiller auf die Beine wie ein Fußballspieler nach einem Foul und gab ihm seine Waffe zurück. Schiller schüttelte die Hand erst ab, als sie sich auch noch kumpelhaft auf seine Schulter legen wollte, aber dann folgte er den beiden anstandslos nach draußen. Wolf schaltete schließlich sogar den Fernseher aus, in dem ein Mann mit Pistole gerade vom Dach eines Hauses zum nächsten sprang.
Der feine Herr Staatssekretär hatte sich einen Actionfilm angesehen. Diese Vorstellung versöhnte mich etwas. Auch dass er offenbar wirklich an meinen Geburtstag gedacht hatte, hielt ich ihm beinahe zwanghaft zugute. Immerhin glaubte ich da noch, wir wären beide Vollwaisen. Das machte solche Tage nicht einfacher, aber verband eben auch. Er schob sich den anderen Sessel zurecht, beugte sich nach vorn, und wenn er mich in diesem Moment berührt hätte, hätte ich mir das wahrscheinlich auch sofort gefallen lassen - wahrscheinlich sogar mehr.
»Was gibt es Neues von der Front?«
»Was soll das«, antwortete ich, »das weißt du doch selbst am besten, besser als ich jedenfalls. Und wo wir gleich dabei sind: Was soll das ganze Theater überhaupt? Wieso jagen wir vier harmlose alte Männer, als wären es Terroristen? Was ...«
»Weil es welche sind. Sie haben unsere Verbündeten auf der Autobahn angegriffen und damit auch uns den Krieg erklärt.«
»Hör doch auf, Wolf! So ein Quatsch: Die Amis, das internationale Ansehen und so weiter - ohne den Aufwand, den wir hier betreiben, wäre es längst wieder ruhig um die Pappkameraden. Oder sie hätten sich gestellt! Angriff, Front - dass ich nicht lache. Du bist es, der redet wie im Krieg!«
»Es ist Krieg, Evelyn ...«
»... ja klar, und Klassenkampf auch, ich weiß schon! Mensch Wolf, ihr lasst mich hier draußen auflaufen wie eine blöde Lasagne - vor den Kollegen genauso wie in der Öffentlichkeit. Und zu Hause verhungert mein Kater.«
»Der gute alte Ephraim. Lebt der etwa immer noch?«
Ich funkelte ihn wütend an.
»Entschuldige! Das mit dem Verfassungsschutz tut mir leid. Aber anders ging es nicht. Du musst verstehen, dass wir...«
»... ich muss immer alles verstehen! Ich habe das mit deiner Frau verstanden, ich verstehe, dass du ...«
»Eva, vermisch das nicht!«
Das war gemein. Nicht weil er sich mit der Trennung von Dienst und Privatleben aus der Affäre zog, daran war mir selbst nur gelegen. Auch sein herablassender Ton störte mich kaum. Aber dass er meinen richtigen Namen ins Spiel brachte, war mehr als unfair. Damit hatten sie mich schon in der Schule geärgert: Adam und Eva. Adolf und Eva! Eva Herman und die ganzen deutschen Erbsünden. Seit ich 14 war, wollte ich nur noch Evelyn sein. Deshalb war ich Evelyn. Niemand kannte mich anders, nicht mal Hanka. Ihm hatte ich es irgendwann mal anvertraut, auch den Grund. Und so, wie Wolf lächelte, hatte er diese Nadel sicher gezielt gesetzt.
»Ich habe es nie jemandem verraten«, sagte er und hob zwei Finger zum Schwur, »wirklich! Und jetzt werde ich dir auch mal ein Geheimnis anvertrauen, wenn ich darf? Darf ich?«
Misstrauisch sah ich ihn an und zuckte unsicher mit den Schultern: Sollte das ein Geschäft werden, wieder irgend so ein Deal? Er interpretierte mein skeptisches Schweigen als Ja.
»Also gut: Wie fange ich am besten an? Am Wochenende haben wir doch diesen Riesenrummel in Berlin. Du weißt schon: die neue Ausstellung, Wehrmachtsverbrechen, Demos und so weiter, dazu auch noch diesen internationalen Historikerkongress.«
»Schon klar, Wolf, das Ansehen Deutschlands: Bis dahin sollen sie verschwunden sein. Wir tun ja unser Bestes!«
»Warte, langsam. Da ist noch mehr, was du wissen musst.«
Endlich, dachte ich, gleich würde er zugeben, wie sehr er mich vermisst hat, dass auch er es bereue und so weiter ...
»Kennst du die UN-Charta«, fragte er stattdessen und ignorierte mein beleidigtes Gesicht, »ich meine - die ganze?«
»Was soll das denn? Natürlich nicht auswendig.«
»Aber ich«, sagte er, »Artikel 107 zum Beispiel geht so: Maßnahmen, welche Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in Bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während des Krieges Feind eines Unterzeichnerstaates dieser Charta war, werden durch diese Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt.«
Er machte eine Pause und schaute mich erwartungsvoll an.
»Ja, und weiter?«
»Nichts weiter! Wir waren so ein Feind und sind es noch. Oder Artikel 53, hör genau zu: Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates dürfen Zwangsmaßnahmen - und so weiter - nicht ergriffen werden. Und jetzt kommt’s: Ausgenommen Maßnahmen gegen einen Feindstaat im Sinne von 107 oder Absatz 2. Und in Absatz 2 dann gleich noch einmal: Der Ausdruck Feindstaat bezeichnet jeden Staat, der während des Zweiten Weltkriegs Feind eines Unterzeichners dieser Charta war. Zitat Ende.«
Ich hatte versucht, mich auf jedes Wort zu konzentrieren und mir gleichzeitig nicht ansehen zu lassen, dass dies gar nicht so einfach war. Er aber zog eine abgewetzte Broschüre aus seiner Aktenmappe und warf sie mir in den Schoß.
»Lies es nach! Du kannst es mir aber auch einfach glauben: Nach diesen so genannten Feindstaatenklauseln sind wir rechtloser als jeder Schurkenstaat heutzutage. Alle ehemaligen Feinde können jederzeit gegen uns vorgehen, deutsches Vermögen im Ausland beschlagnahmen, einfach das Feuer eröffnen. Der kleinste Anlass reicht, sie wären im Recht, gedeckt von der UN-Charta. Und genau da kommen deine, wie du glaubst, harmlosen Opas ins Spiel...«
»Moment mal: Aber wir sind doch vollwertiges UN-Mitglied, sowohl DDR als auch BRD waren es ... und jetzt erst recht...«
Wolf schüttelte ungeduldig mit dem Kopf: »Von wegen! Wir erklären nur auf fast jeder Generalversammlung, dass die Klauseln nicht länger anwendbar seien. Aber das juckt keinen, niemand ändert deshalb die Charta. Dafür müssten zwei Drittel der Mitgliedstaaten zustimmen. Sehr heikel. Einen solchen Antrag hat bisher noch keine einzige Bundesregierung riskiert.«
»Und warum nicht?«
»Weil der Ausgang unsicher ist - und zu teuer. Jedes Land der Dritten Welt hält bei solchen Sachen erstmal die Hand auf ... Egal. Jedenfalls liegen deine Opas nicht falsch, wenn sie sich immer noch im Krieg wähnen. Es gibt ja bis heute nicht mal einen Friedensvertrag. Sie haben eine Meise, aber Recht - verstehst du? Das ist das Problem.«
»Und Zwei-plus-Vier, diese ganzen Verträge?«
»... nicht mehr als eine nette Geste, rein völkerrechtlich. Es geht darin immer nur um die Akzeptanz der Wiedervereinigung, die Festschreibung der Grenzen und den Abzug der Besatzungstruppen. Außerdem stand Deutschland im Mai 45 nicht nur mit den vier Siegermächten im Krieg, sondern mit fast allen Ländern Europas, einigen mehr in der Welt - und steht es noch ...«
Wahrscheinlich schaute ich ihn an, als könne ich kein Wort glauben, als habe er versprochen, seine Frau nun doch noch zu verlassen. Dieser Ton, sein eindringlicher Singsang. Ich kannte das schon. Und - ja, ich vermischte es immer noch.
»Aber die Alliierten sind doch wirklich abgezogen ...«
»... und können theoretisch jederzeit wiederkommen, auf ihre Rechte pochen und mit uns machen, was sie wollen.«
»Aber nur theoretisch!« Endlich schien ich den Haken gefunden zu haben: »Theoretisch, du sagst es ja selbst!«
»Klar - aber das ist doch kein Zustand! Wir können uns außenpolitisch aufspielen, wie wir wollen, im Kosovo, im nahen Osten, überall, letztlich ist das derzeit alles nur ein Witz.«
Mir fiel nichts weiter ein, was ich ihm noch entgegenhalten konnte. Seine außenpolitischen Ambitionen kannte ich gut genug: Deutschland für immer im Sicherheitsrat, er selbst vielleicht UN-Botschafter in New York, von der Art waren seine Träume. Nicht schlecht für eine Laufbahn, die als Steinewerfer begonnen hatte und nun als Staatsekretär im Außenministerium in einer gewissen Sackgasse steckte. Da konnte er in Interviews noch so lässig tun: Jeder habe das Recht auf Jugendsünden, dürfe sich weiterentwickeln. So ähnlich stellte er sich das offenbar auch für Deutschland vor: Mit den eigenen bitteren Erfahrungen dem Frieden dienen, so redete er gern.
»Und niemand weiß davon?«
»Der Status quo an sich ist kein Geheimnis, es ist nur ...«
Er zögerte kurz. Und wenn er mir gleich erklärt hätte, wir müssten jeden Moment mit einem atomaren Vergeltungsschlag für Auschwitz rechnen, dann hätte ich ihm das wahrscheinlich auch abgenommen: Warum sollte es dafür so etwas wie Verjährung geben, wenn es nicht mal Frieden gab? Schuld waren wir sowieso. Ausgerechnet mir musste das niemand erklären.
»Es ist - wie soll ich sagen? Wir arbeiten seit Generationen daran. Schon Brandt wollte die Klauseln weghaben. Jede Regierung hat es mehr oder weniger intensiv versucht, jetzt sind wir ganz nah dran, kurz vor einem Durchbruch. Damit könnten wir den ganzen alten Mist ein für alle Mal beenden.«
»Den alten Mist?« Ich war ehrlich entsetzt: »Ausgerechnet du willst den Schlussstrich ziehen?!«
»Himmel, Evelyn, hör doch erst mal zu: Es geht nicht um Schuld oder Verantwortung, sondern um ein Stück Papier.«
»Egal wie oder worauf - wir können keinen Frieden mit unserer Vergangenheit schließen! Niemals!«
»Aber wir können den Krieg beenden. Nur darum geht es, eine reine Formsache, wenn du so willst. Einige unserer Verhandlungspartner sind am Wochenende auch in Berlin, quasi im Schatten der Blitzlichter. Geheimdiplomatie, verstehst du?«
»Verstehe. Und vier klapprige Nazis stören den Frieden.«
»Mehr als das: Sie können alles gefährden. Alles! Die Presse macht doch jetzt schon aus jeder Schlägerei einen rassistischen Überfall. Was denkst du, wenn erst die New York Times Wind von der Sache bekommt: Bewaffnete SS-Männer, die auf amerikanische Austauschschüler schießen. >The Nazis< - das finden die doch immer noch in jeder Schlagzeile schick.«
»Bleib fair: Das wussten die Alten nicht.«
»Egal! Das Schlimme ist, dass diese Verrückten sich auch noch so benehmen, als sei der Krieg in vollem Gange.«
»Na ja, nichts anderes hast du mir gerade erklärt, oder?«
»Eben! Deshalb müssen wir sie unbedingt kriegen, egal wie!«
»... tot oder lebendig ...«
»Und wenn schon, Ev! Das wäre in dem Alter doch auch egal, oder? Jedenfalls hast du volle Rückendeckung. Auch von ganz oben, darauf kannst du dich verlassen.«
Die Lizenz zum Töten. Einen Augenblick kam ich mir tatsächlich wie James Bond vor und schämte mich ein wenig, meinen Geheimauftrag durch gedankenlose Plapperei mit Fernsehleuten gefährdet zu haben. Erst als Wolf mit einem Kuss zum gemütlichen Teil des Abends übergehen wollte, dämmerte mir, was er gerade von mir verlangt hatte oder in Kauf nehmen würde: Wir sollten notfalls vier alte Opas einfach über den Haufen schießen.
Irritiert zog ich meinen Hals zurück. Wollte er das wirklich oder dachte er jetzt nur noch an Sex? So, wie er meinem Blick standhielt, schien für ihn beides eine legitime Alternative zu sein. Sein Rasierwasser war immer noch das gleiche und leicht verwirrt gab ich nach: Immerhin stand mehr auf dem Spiel als die Hirngespinste von ein paar alten Männern. Es ging auch um mich, und nicht zuletzt um den Frieden in der Welt.
Busch und ich saßen noch beim Frühstück, als Jenny hereinplatzte. Sie hatte für jeden ein 3er-Pack frische Unterhosen dabei und zum Glück nicht die Nerven, uns lange auf die Folter zu spannen.
»Was soll ich sagen? Alles war fertig. Matti selbst hat Schnitt und Vertonung überwacht, extra Sprecher da, alles vom Feinsten - als er einen Anruf bekam und verschwand.«
»Und dann?«
»Nichts dann. Ich saß schon in der Maske für den Expertentalk, als der Chef vom Dienst plötzlich den Film über Mallorca ins Programm hob, angeblich auf Anweisung von Matti.«
Den ganzen Nachmittag hätten sie noch gewartet, die große Bunkerreportage jederzeit abspielbereit, danach die Talkrunde live. Doch Matti habe nach der letzten Anweisung nichts mehr von sich hören lassen. Professor Zeitz war auch nicht erschienen, auf dessen Verspätung es Jenny zunächst geschoben hatte.
»Vormittags war der noch total heiß auf die neuen Bilder. Aber als wir ihn dann endlich erreicht haben, entschuldigte er sich lapidar mit Terminproblemen, keine Zeit, wegen irgend so einer Konferenz am Wochenende ...«
»Na toll«, warf ich ein und dachte an die kommende Nacht im Doro. »Terminprobleme habe ich auch. Und nun?«
»Wir sollen zurückkommen. Ende. Aus. Story gestorben.«
Jenny sah Busch an, als rechnete sie mit Widerspruch von ihm. Ich erwartete das eigentlich auch, jedoch vergeblich:
»Tja«, sagte er nur, »wenn das die Anweisung vom Chef ist ...«
Es wäre das erste Mal gewesen, dass sich Busch um Anweisungen geschert hätte. Einfach lächerlich. Das kam ihm offenbar auch selbst so vor, aber er zuckte nur mit den Schultern:
»Schaut mich nicht so an! Wir kriegen keine Minute länger bezahlt. Und überhaupt: Ich hab’s ja gleich gesagt.«
Mir persönlich konnte nichts Besseres passieren: Ich würde pünktlich zurück in Berlin sein, am Abend lässig auflegen und ich dachte sogar einen Moment an dich. Vielleicht könnte man sich nach dem schnellen Ende dieser Geschichte ja auch mal unverkrampfter Wiedersehen. Hätte wir doch gekonnt, Evelyn, oder? Aber irgendwas verschob die üblichen Prioritäten.
»Willst du dir das wirklich gefallen lassen?«, fragte ich Busch. »Du hast doch alles mit eigenen Augen gesehen? Mann, es sind auch deine Bilder, die sie unterschlagen!«
Er wollte etwas entgegnen, aber winkte nur ab.
»Scheiße Gerd. Dein Problem ist: Du willst es nicht wahrhaben. Das ist so ein politisches Ding bei dir. Genau wie bei der Thorwart oder neulich mit dieser Synagoge.«
»Was hat das denn damit zu tun? Du spinnst ja!«
Es hatte genau damit zu tun und war erst ein paar Wochen her. Ein anderer Sender hatte uns für ein Interview mit einem Rabbiner in Leipzig gebucht. Nie zuvor hatte ich Gerd dermaßen befangen erlebt. Er war ein völlig anderer Mensch gewesen, der ebenso wie der fremde Redakteur kaum ein Wort herausbekommen hatte.
»Du hast sogar absichtlich keine Antextbilder gemacht!«
»Du weißt genau warum. Der Redakteur wollte es nicht.«
»Schnickschnack! Das hätte dich sonst auch nicht interessiert. Immer Antextbilder, immer Außenschüsse - dass ich nicht lache! Du wolltest die Umgebung einfach keinem zeigen!«
»Eine Synagoge zwischen lauter Banken - deshalb! Benutz mal deine Birne, Monse, dann kommst du vielleicht selbst drauf!«
Später war ich natürlich darauf gekommen. Aber damals hatte ich auf die Schnelle gar nicht um so viele Ecken denken können, wie es Busch und dem etwa gleich alten Redakteur offenbar eigen war. Ich dachte nur: Wie wollen die das jemals schneiden? Niemand springt so hart in einen O-Ton.
Wenn sie keine Drehgenehmigung gehabt hätten oder die Polizisten nicht provozieren wollten, die vor der Synagoge Tag und Nacht Wache hielten - das hätte ich alles verstanden. Doch ihre Sorge galt uralten Vorurteilen, denen sie auf keinen Fall neue Nahrung geben wollten. Deshalb verzichteten sie lieber auf den üblichen Außenschwenk. Völlig irre! Die Banken und die Juden. Kein Mensch stellte da noch irgendeinen Zusammenhang her, im Gegenteil: Die meisten Mitglieder der Gemeinde - darum vor allem war es auch in dem Interview gegangen - waren arme Schlucker aus Russland, die ihren Glauben über Jahrzehnte verlernt oder verleugnet hatten. Noch absurder als der Gedanke, diese bescheidenen Leute hätten Geld zu verleihen, kam mir nur vor, dass ein Vollblutjournalist wie Busch deshalb vorauseilend Fakten unterschlug. Die Frage war sogar, wer hier eigentlich in alten Mustern dachte?
Während ich schon das Licht abbaute und uns der Rabbi noch einmal die Leviten las, was unsere spezielle Verantwortung betraf, war es dann zum Eklat gekommen, zumindest interpretierte ich Buschs Blicke so, denn letztlich war es gar keiner. Ich hatte nur nicht verstanden, wieso der Rabbi ständig auf die Polizisten vor der Synagoge anspielte und dabei betonte, dass so etwas überhaupt wieder nötig sei - »ausgerechnet hier«. Bisher hatte ich immer gedacht, diese Vorsichtsmaßnahmen galten eher internationalen Terroristen. Und genau das hatte ich gesagt, mehr nicht.
»Natürlich«, hatte der Rabbi darauf geantwortet und war - im Gegensatz zu meinen um Luft ringenden Kollegen - ganz gelassen geblieben: »Ich weiß schon, was Sie meinen, junger Mann. Sie und ihre Generation wollen nichts mehr mit dem Holocaust zu tun haben. Sie müssen das auch nicht. Es ist ihr gutes Recht. Ich bitte Sie nur um Verständnis, dass es für uns nicht so einfach ist.«
Seine Augen waren dabei regelrecht mild geworden, als wüsste er genau, dass es unsereins manchmal nicht mehr hören kann: Opa klar, Oma wahrscheinlich auch, alle damals, die es wussten oder nicht wissen wollten, die Komplizen waren oder Egoisten genug, um keine Helden zu sein. Wir aber kannten die Zahlen, die Schicksale, fast jedes Detail. In der Schule, im Konfirmandenunterricht, im Fernsehen. Auf Klassenfahrt, im Museum oder im Ausland: immer das Gleiche. Durch die ständige Wiederholung wurde das Unvorstellbare nicht vorstellbarer, sondern immer abstrakter, und die grausamen Fakten gingen irgendwann unter wie ein genialer Loop im Overkill von zu vielen Rhythmuseffekten.
Der Rabbi hatte das verstanden - Busch nicht. Mir und meiner ganzen Generation hatte er Absolution erteilt - Busch nicht. Seine Altersgenossen nickten zwar demütig und bekannten sich schon mit geschlossenen Augen schuldig, aber wenn es mal drauf ankam, sahen sie immer noch lieber weg und redeten sich ein, das sei eine Art Prophylaxe, keine Synagogen zwischen Banken zu drehen, zum Beispiel, oder keinen Millimeter Film über Nazis.
»Gut«, sagte ich bitter, »lassen wir es eben. Wenn es Matti so will! Befehl ist Befehl. Führer befiel - wir folgen!«
»Sehr witzig«, ätzte Busch zurück, aber für ihn schien die Sache ein für alle Mal erledigt und damit auch für uns.
»Er hat Recht«, sagte Jenny, »wenn es keiner sendet, hat es wirklich keinen Zweck. Fahren wir nach Hause.«
Jenny mochte zwar schon ein paar Stunden länger Zeit gehabt haben, sich damit abzufinden, aber wie schnell sie nun einlenkte, überraschte mich fast noch mehr als Buschs Verhalten. Ihn wiederum schien das gar nicht zu wundern. Beinahe zufrieden sah er ihr hinterher, als sie mit ihrem Mietwagen losfuhr, während ich noch unser restliches Zeug in den Wagen schleppte.
Noch langsamer als sonst schlich er danach über die Autobahn Richtung Berlin, und ich spürte, es arbeitete auch noch in ihm, sonst hätten wir uns nicht so verkrampft angeschwiegen. Inzwischen erklärte sogar das Radio den Bunker offiziell für eine Ente. Ein Moderator spekulierte sogar, ob nicht eine Satirezeitschrift dahinterstecke, und sparte kaum mit Hohn und Häme für unseren Sender. Natürlich vergaß er dennoch nicht, mehrmals zu versichern, es sei ein ziemlich geschmackloser Scherz gewesen. Allein die Kosten für den Polizeieinsatz bezifferte das Innenministerium mit zwei Millionen Euro, Überstunden nicht mitgerechnet.
Busch schaltete das Radio aus. Sein Schnurrbart zuckte, und als er merkte, dass ich ihn beobachtete, wies er mit einem Nicken nach vorn. Ein paar hundert Meter vor uns rollte eine Polizeikolonne. Es waren mindestens 20 VW-Busse, entweder auch auf dem Heimweg oder nur dazu da, uns ein schlechtes Gewissen zu machen. Immerhin animierten sie Busch, endlich mal zu beschleunigen.
»Ich wette, das mit dem Kaviar glaubt uns kein Schwein«, sagte Busch plötzlich, »selbst wenn wir alles auf Band haben.«
Ich sah irritiert von meiner Zeitschrift auf. Seine Augen flatterten belustigt zwischen Fahrbahn und mir hin und her.
»Also wirklich«, sagte er dann, »ich versteh das nicht: Da habt ihr mal ein echtes Ding am Haken und dann gebt ihr so schnell auf? Eben noch überzeugt davon und auf einmal - puff - alles nicht mehr wahr, nur weil es offiziell abgestritten wird.«
Er genoss meine Verwirrung ausgiebig und grinste nur.
»Ich sag’s ja: kein Biss. Immer nur die einfachen Geschichten. Etwas Gegenwind, und schon werft ihr hin. Typisch!«
»Aber Gerd, du hast doch vorhin selbst...«
»Ich? Ich bin nur Kameramann. Augenzeuge und Chronist. Dafür weiß ich aber umso besser, was ich gesehen habe.«
»Heißt das, wir machen weiter?«
»Keine Ahnung, was du machst, Benny. Ich lasse mich jedenfalls nicht einfach so abservieren wie dieses Küken.«
Erleichtert schlug ich ein, als er mir seine Pranke herüberreichte. Das war wenigstens wieder Busch, wie ich ihn kannte. Dem ich Unrecht getan hatte. Der lediglich Jenny nach Hause geschickt und mich gerade zum ersten Mal in fast drei Jahren beim Vornamen genannt hatte. Fast schämte ich mich, dass ich auch schon wieder an meine Plattenteller gedacht hatte. Das Schicksal von Fritz wäre mir sicher noch ein paar Tage nachgegangen, aber nüchtern betrachtet - so hatte ich mich eben noch getröstet - war er vielleicht doch kein so harmloser Opa, wie ich gedacht hatte. Und nun wollte sogar Gerd auf einmal etwas aus seinen Tagebüchern vorgelesen bekommen, während er der Polizeikolonne hinterher zuckelte.
23. September 1982 Liebe Liesbeth! Heute morgen mußte ich mich erstmals zwingen zu beten. Ausgerechnet an meinem Geburtstag! Ich trage eine frische Kragenbinde, bin mit Konrad zu einer Partie Schach verabredet und weiß dennoch nicht, ob ich nun auch verrückt werde. Es wäre keine Schande mit 53. Andere haben längst nicht so lange durchgehalten. Aber diesmal ist es wirklich mehr als der übliche Bunkerkoller, der mindestens einmal im Monat über jeden von uns kommt.
Körperlich dagegen bin ich wieder flott: Keine Mangelerscheinungen mehr, keine Symptome dieser rätselhaften Seuche, die allein in den letzten zwei Jahren fünf Kameraden hinweggerafft hat. Es sieht aus, als hätten wir es ausgestanden, die Krankheit zumindest, nur weiß ich nicht, was besser ist.
Wie in dieser Höhle von Platon komme ich mir in diesen Tagen und Wochen vor, gefangen in einer Welt aus Schatten, lebendig begraben. Erinnerst Du Dich an das Gleichnis aus der Schule? Wie sich die alten Philosophen fragen, was passieren würde, wenn einer plötzlich Tageslicht sieht und erkennt, dass die Schatten doch nicht das wahre Leben sind? Geblendet, aber gleichzeitig erleuchtet kehrt er zu seinen Kameraden in die Höhle zurück, die ihn auslachen und aus einer diffusen Angst vor allem Unbekannten mit dem Tod bedrohen. Was, wenn auch wir eines Tages den Kopf aus der Höhle strecken und erkennen müssten, daß alles ... Verdammt noch mal. Wenn ich es nicht schaffe, diese Zweifel zu bekämpfen, werde ich mich eines Tages selbst für immer degradieren.
Anders als die anderen bringe ich es auch noch immer nicht fertig, mich auch mal tagsüber ins Bett zu legen. Nicht, daß ich etwas verpassen würde, aber ich habe einfach Angst, nicht mehr aufzustehen und denke auch an die Heeresdienstvorschrift, die das verbietet. Vor drei Tagen habe ich begonnen, in der dienstfreien Zeit durch den äußeren Gang zu laufen, immer im Quadrat. Das hilft ein paar Stunden - ist aber auch keine Lösung auf Dauer. Wenn ich allein bin, weine ich oft.
Du merkst ja selbst, wie der Abstand zwischen den Einträgen wächst - nein: Du merkst es eben nicht. Das ist es ja gerade! Geduld! Durchhalten! Parolen! Manchmal kann ich mich selbst nicht mehr hören. Aber wer soll mir sonst Mut machen? Manche Gedanken lassen sich nicht einfach weglaufen, Gedanken an Dich zum Beispiel und die Sorge, ob Du noch an mich glaubst. Sie sind immer da und hämmern gleichmäßig in meinem Schädel wie die Schiffsdiesel, die Josef ab und zu für fünf Minuten anwirft, um die Notstromversorgung zu überprüfen. Es ist ein gutes Geräusch. Man kann sich dann einbilden, man sei unterwegs. Auf einem Schiff, einer Reise irgendwohin, jedenfalls noch am Leben.
Ist das nicht merkwürdig? An alles haben wir gedacht, nur nicht daran, daß der Krieg ein paar Jahre länger dauern könnte. So gesehen ist es vielleicht nicht mal Zufall, daß uns die richtigen Formulare langsam ausgehen. Die meisten Vordrucke rechneten nicht einmal mit 1950, sondern enden im Datum mit »194...« Für den Tagesbefehl benutzen wir derzeit das Meldeformular VII/16 (»Geschlechtskrankheiten in den Siedlungsgebieten Ost«). Selbst die beinahe zeitlosen Urlaubsscheine, bei denen die letzten beiden Stellen frei sind, werden bald ihre Aktualität verlieren. »19...« steht da noch - aber gar nicht mehr lange, und wir schreiben vorn eine ungeheuerliche Zwei. Nur die Protokollkladden für die Luftbeobachtung hat man ausgerechnet in einem Bunker zu hunderten eingelagert, und ich habe sie mir vorsorglich alle unter den Nagel gerissen.
Weißt Du noch, wie wir mal unser Alter im Jahr 2000 ausgerechnet haben? Ich weiß es noch genau: Du hast schon damals mit dem Kopf geschüttelt. Ich aber wollte mir auch diese Zahlen vorstellen. Ich wollte mit Dir so alt werden! Ob der Bunker dabei Glück war oder Pech, ist schon wieder so ein Gedanke, den ich mir vorsichtshalber sofort verbiete. Bisher haben wir nur Zeit totgeschlagen. Dafür gibt es zwar keine Orden, aber gegen die Aufgaben an der Ostfront ist das vielleicht gar kein schlechter Auftrag.
Was denkst Du? Bin ich schon tot? Gefallen, weil keine Post mehr kommt, kein Urlauber vor Deiner Tür steht, kein Held, der endlich heimkehrt. Bin ich schon gestorben für Dich? Das vor allem frage ich mich an meinem Geburtstag und wünsche nichts sehnlicher, als daß du immer noch wartest - auf Deinen Fritz.
WOHER dieser Tipp schon wieder kam, wollte ich gar nicht genauer wissen. Schiller hatte nur lapidar von einem V-Mann gesprochen und dirigierte nun ein Großaufgebot aus Zivilpolizei und Bundeswehr über eine Autobahnraststätte, als müssten wir jetzt auch schon jede McDonalds-Filiale vor Terroristen schützen.
Anstatt gleich gestern auf der Veranstaltung zuzuschlagen, konnten wir an diesem Vormittag nur noch hoffen, dass der zwielichtige V-Mann nicht zu viel versprochen hatte. Denn warum sollten sie ausgerechnet hier Rast machen? Wieso hatte er nur von drei Zielpersonen gesprochen? Was versprach sich Schiller außerdem von den Lockvögeln der Bundeswehr, die Wolf Jäger »organisiert« hatte? All das fragte ich lieber nicht, sondern ertrug still den Gestank von Frittieröl.
Es war laut und heiß. Nie zuvor hatte ich mich in einer Fastfood-Küche versteckt, aber wie immer seit Kindertagen musste ich sofort aufs Klo, sobald es »Eins, Zwei, Drei, Vier Eckstein« hieß. Unsere Zivil-Kollegen fraßen unterdessen einen Hamburger nach dem anderen. Auch den Bundeswehrleuten schien es nichts auszumachen, sich immer wieder hinten anzustellen.
Durch das kleine Fenster, an dem sonst die Kunden gleich im Auto bedient wurden, konnten wir nur einen Teil des Parkplatzes überblicken. Schiller hatte deshalb die Überwachungsbilder der Tankstellenkameras auf zwei Monitore umleiten lassen. Echte und falsche Zivilisten konnte man nur an den Kindern unterscheiden, die mir die meisten Sorgen machten.
»Wir hätten die Raststätte ganz sperren müssen. Das ist doch alles viel zu gefährlich!«
»Aha«, sagte Schiller, »und wie soll dann eine Falle funktionieren, wenn niemand reindarf?«
Das musste ich einsehen und ärgerte mich trotzdem. Immerhin trug ich die Verantwortung für den ganzen Zirkus, den Schiller hier veranstaltete. »Kondor 1« nannte er sich am Funkgerät und holte von seinen Spähposten Kondor 11 bis 15 ständig neue Meldungen ein, die unverschlüsselt so viel bedeuteten wie »nein, noch nichts.« Kleine Jungs mit teuren Spielzeugen, dachte ich, während meine Sachen den fettigen Gestank aufsogen wie eine Abzugshaube. Nachdem etwa hundert Beamte zwei Stunden lang mit kalten Pommes ihren Ketchup umgerührt hatten, tauchten sie tatsächlich auf.
Ein Pick-Up in Tarnfarben hielt an der Tankstelle. Hinter den verdunkelten Scheiben war nichts zu erkennen, aber Kondor 1 funkte trotzdem ein aufgeregtes »Achtung« an alle - »das sind sie!«
Der Fahrer stieg aus, wuchtete eine Rampe von der Ladefläche und sah sich ängstlich nach allen Seiten um, als wüsste auch er Bescheid. Er trug eine Glatze und eine Art Kampfanzug in den gleichen fleckigen Farben wie sein kleiner Laster und zerrte die Plane von der Ladefläche. In meinem Fernglas tauchte ein altes Beiwagenmotorrad auf, und als ich das Hakenkreuz auf dem Tank erkannte, verdoppelte sich mein Puls noch einmal. Außerdem ließ sich die böse Ahnung nicht abschütteln, dass der Bilderbuch-Neonazi daneben unser V-Mann war.
»Guter Mann«, lobte ihn Schiller leise, »aber was zum Teufel macht er denn jetzt?«
Sein guter Mann schob das Motorrad vorsichtig von der Ladefläche und zu einer der Zapfsäulen, schraubte umständlich langsam den Tankdeckel auf und schaute sich immer wieder um, als müsste endlich was passieren. Doch Kondor 1 flüsterte lediglich in sein Funkgerät, alle sollten sich bereithalten.
»Erst wenn wir alle vier sehen, schlagen wir zu.«
Zwei Türen des Autos öffneten sich. Ein Mann in schwarzer Uniform stieg aus. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, aber der Größe nach konnte es nur dieser von Jagemann sein. Der zweite Mann sah aus wie Josef Stahl, straff gescheitelt, dunkles Haar, genau wie auf den Videostandbildern in meiner Mappe.
Wie zwei Zombies wankten sie auf uns zu, langsam und unsicher. Am Eingang versuchten sie, die Angebote zu lesen, bevor sie ohne große Scheu die Burger-Bude betraten. Von den beiden anderen Untoten aber sah man immer noch nichts.
»Kondor 1 für Kondor 7: Wo sind Nummer drei und vier?«
»Keine Ahnung! Wir sehen auch nur zwei. Zugriff?«
»Nein! Kondor 1 für Kondor 11- seht ihr was im Auto?«
»Negativ. Sollen wir mal näher ran? Kommen!«
»Kondor 1 für 11: Ja, Aufklärung am Fahrzeug bestätigt. Kondor 1 für alle: Zugriff erst auf meinen Befehl!«
Ein Mann mit roter Kappe, der seit Stunden den Ölstand seines Autos kontrollierte, wischte sich die Hände ab und schlenderte um den Pick-Up herum. An der Fahrertür blieb er stehen, hielt beide Hände an die Scheibe und glotzte hinein, als interessiere er sich für den Tachostand. Zurück an seinem eigenen Wagen lehnte er sich mit beiden Armen aufs Dach, schaute grob in unsere Richtung und streckte den Daumen einer Hand nach oben.
»Nur einer?« Ratlos sah Schiller beinahe hübsch aus.
»Vielleicht ist ja unterwegs schon einer gestorben?«
Es sollte ein Scherz sein. Schiller aber nickte nachdenklich, als die beiden hungrigen Alten plötzlich am Verkaufstresen auftauchten. Sie hatten sich vorgedrängelt. Von unseren Statisten murrte vorsichtshalber niemand. Nur vier Jugendliche mit bunten Haaren scherten aus der Reihe und verließen empört das Restaurant. Vermutlich regte sie am meisten auf, dass sich sonst niemand über diese Nazis aufregte. Recht hatten sie!
Stahl und von Jagemann starrten angestrengt auf die beleuchtete Tafel mit den Menüs. Nicht einmal mehr zehn Meter trennten uns von ihnen. Noch näher war nur die junge Kollegin dran, die wir als Bedienung verkleidet und verkabelt hatten und deren Stimme deutlich zitterte.
»Und für Sie? Was darf es für Sie sein, bitte?«
»Haben Sie auch Bockwurst«, fragte von Jagemann gereizt. Offenbar kam er mit Kingsize XXL und Super-Spar-Menü nicht zurecht.
»Nein. Tut mir leid. Einen Hamburger vielleicht?«
Die junge Kollegin drehte sich kurz zu uns um und zog ein Gesicht, als würde sie entweder gleich vor Angst oder vor Lachen zusammenbrechen. Wenigstens war Stahl nicht so wählerisch.
»Ich nehme zwei von den kleinen Bouletten. Was kosten die?«
»Zwei Cheeseburger? Drei Euro. Noch ein Getränk dazu?«
»Ja, eine Cola bitte. Und du, Fritz?«
Von Jagemann sah aus dem Fenster und schüttelte den Kopf.
»Macht dann vier Euro vierzig. Als Sparmenü wäre es aber günstiger und Sie kriegen auch noch Pommes dazu ...«
»Wie bitte?« Stahl sah ungläubig von seinem Geldbeutel auf: »Ich soll also mehr nehmen, um weniger dafür zu zahlen?«
Sie nickte und zuckte mit den Schultern, als habe sich ihr die Super-Spar-Logik auch noch nie erschlossen.
»Und was soll das sein - Euro? Wir haben nur Reichsmark.«
Daran hatte niemand gedacht. Er reichte ihr einen 20-Mark-Schein, und die Bedienung wedelte mit dem alten Lappen nicht gerade unauffällig Richtung Küche. Offenbar wollte sie uns nach passendem Wechselgeld fragen. Schiller schloss die Augen und hatte das Funkgerät schon am Mund, um endlich den Zugriff zu befehlen, als ein kleines Mädchen zwischen Stahl und von Jagemann auftauchte, um sich die Spielzeuge näher anzusehen, die beim Kindermenü mit in die Tüte kamen. Gott sei Dank hatte Schiller die Kleine auch bemerkt. Die falsche Verkäuferin fackelte nun auch nicht mehr länger und ließ ihre Kasse aufspringen.
»Ich kann aber nur in Euro rausgeben«, sagte sie.
Stahl hielt erst gleichgültig die Hand auf, dann aber beugte er sich neugierig über, die Münzen und bekam fast gleichzeitig einen Ellenbogen von Jagemann in die Seite. Das Kleingeld klimperte zu Boden, und beide starrten aus dem Fenster.
»Was ist da los«, flüsterte Schiller, »Kondor 7: Was ist auf dem Parklatz? Wir sehen das von hier nicht. Kommen!«
»Schöne Scheiße.« Mehr kam nicht von Kondor 7.
Wir stürzten aus der Küche in einen Vorratsraum, wo sich Pommessäcke bis zur Decke stapelten, und sahen durch ein schmales Fenster eine Polizeikolonne auf den Parkplatz rollen. Den Kennzeichen nach waren es Kollegen aus Sachsen, die uns in Wittstock unterstützt hatten und nun wie hungrige Ameisen über die Raststätte herfielen. Am Ende der Kolonne tauchte ein weißer Van auf und natürlich erkannte auch Schiller euer Auto sofort.
»Diese Schmeißfliegen«, fluchte er und brüllte über Funk die armen Sachsen an, was so sinnlos wie ungerecht war, denn abgesehen von ihrem Dialekt benutzten sie offenbar auch eine andere Frequenz. Dass sie von unserer Geheimoperation nichts wussten, war allein Schillers Schuld, der nun wenigstens die Verantwortung für die nächste Panne mit mir teilen wollte.
»Zugriff?«, fragte er scheinheilig und entsprechend unentschlossen hob ich die Schultern. Schiller verstand das schon.
»Kondor 1 an alle: Zugriff sofort!«
Während wir in das Restaurant stürmten, waren die beiden SS-Männer schon an der Zapfsäule. Stahl stieß den gefleckten Pick-Up-Fahrer zur Seite und startete das Motorrad. Von Jagemann zögerte noch, doch als die Jungs vom SEK aus einem Möbelwagen quollen, sprang auch er auf und Stahl gab Gas.
Rund um die Zapfsäulen waren selbst Warnschüsse tabu. Die Kollegen Kondor 3 und 4 blockierten mit ihren Wagen zwar die Auffahrt zur Autobahn. Das Gespann aber bog kurz vorher auf einen Feldweg ab, der von der Raststätte ins Hinterland führte. Ungläubig sah ihnen Schiller nach: Offenbar hatte sich mein kleiner Stratege auf das Verbotsschild verlassen. Bis sie außer Schussweite waren, sahen wir nur noch Staubwolken.
Danach schwärmten unsere Leute aus. Schiller teilte sogar die Sachsen mit ein. Nur die Lockvögel von der Bundeswehr durften sich nicht von der Stelle rühren, damit sich keine Uniform zwischen ihnen verstecken konnte. Der V-Mann lag unterdessen fest verschnürt am Boden. Sein Gesicht in einer Diesellache, wimmerte er und beklagte sich über die Behandlung, aber niemand hörte zu. In seinem Auto saß immerhin noch ein schwer bewaffneter SS-Mann, der sich trotz offener Türen weigerte, die Hände zu heben und auszusteigen. Von jeder Seite des Wagens zielten drei Mann auf seinen Kopf, bis uns einfiel, dass er gar nicht anders konnte. Sie hatten ihren Anführer zurückgelassen, den klapprigsten von allen. Und beinahe vorschriftsmäßig machte ich mich über Böttcher her.
»Guten Tag, mein Name ist Thorwart, BKA. Sie haben selbstverständlich das Recht zu schweigen, aber können uns auch helfen. Vor allem wollen wir wissen: Wo ist ihr vierter Mann?«
Böttcher stellte sich taub.
»Hallo«, fragte ich und rüttelte ihn dabei sanft an der Schulter: »Können Sie mich verstehen?«
»Fass mich nicht an, Amiluder!« So fauchte er zurück. »Ich will mir nicht auch noch die Syphilis holen.«
Der alte Giftzwerg hatte keine Ahnung von modernen Geschlechtskrankheiten, aber das entschuldigte wenig: Da nimmt man seine ganze Höflichkeit zusammen, spricht einen Faschisten wie einen Menschen an, berührt ihn sogar ohne Handschuhe - und dann das! Ich spürte mein Gesicht glühen. Scham war es nicht:
»Holt ihn raus!«
Vier Polizistenarme packten zu, zerrten Böttcher aus dem Auto, und weil er partout nicht stehen wollte, setzten sie ihn mit dem Rücken an eine Zapfsäule, wo er wüst weiter krakeelte. So von oben herab fühlte ich mich gleich besser und wollte es gerade noch einmal in aller gebotenen Strenge versuchen, als mich ein schlanker Mann zur Seite schob, neben Böttcher niederkniete und zwei Finger um dessen dürres Handgelenk legte. Erst nachdem er den Puls hatte, stellte er sich vor. Ihm!
»Worch mein Name. Ich bin Arzt. Tut ihnen irgendwas weh?«
Schiller stand schweigend daneben, bis ihm wenigstens auffiel, dass ich nicht aus Luft bestand und ziemlich wütend aussah.
»Dr. Worch«, erklärte er dann, »arbeitet gelegentlich für unser Ministerium als psychiatrischer Sachverständiger.«
»Aber wir brauchen keinen Psychiater!« So dachte ich damals wirklich noch. »Wo kommt der überhaupt auf einmal her?«
Es stellte sich heraus, dass Dr. Worch von Anfang an zu unserem Tross gehört hatte. Schiller versuchte mir weiszumachen, dass jede Aussage von offensichtlich Verrückten ohne ärztliche Begutachtung wertlos sei. Doch so viel Ahnung hatte sogar ich inzwischen von Polizeiarbeit: Das war nicht mal die halbe Wahrheit.
Worch erklärte, er müsse den Patienten sofort stationär aufnehmen. Offenbar hatte das seine Pulsdiagnose ergeben. Alle meine Einwände verwies er lässig an die Bundesanwaltschaft. Ich könne mich natürlich auch im Außenministerium beschweren, fügte er süffisant hinzu. Worauf er sich verlassen konnte!
Aber so schnell, wie sie meinen einzigen Zeugen einluden, bekam selbst ich Wolf Jäger nicht ans Telefon. Immerhin habt ihr euch sofort an den Krankenwagen gehängt, was einerseits schade war, weil ich ganz und gar nichts gegen ein schnelles Wiedersehen mit dir hatte - aber auch beruhigend. So musste ich dir nach meiner wirklich endgültig letzten, unverzeihlichen abschließenden Nacht mit Wolf wenigstens nicht in die Augen sehen. Und wenn du deshalb beleidigt gewesen wärst, hätte ich notfalls sogar Busch gefragt, wohin man Böttcher gebracht hatte. Schiller schien das schon gar nicht mehr zu interessieren.
»Der läuft uns nicht weg«, sagte Kondor 1 nur und fand das offenbar lustig. » Und die anderen haben wir auch bald.«
1. April 2004 Jetzt sind wir nur noch zu zweit, der Jude und ich. Und eins scheint auch klar: Man ist immer noch hinter uns her, wahrscheinlich sogar speziell hinter uns, denn der Überfall an der Tankstelle kann nur eine Falle gewesen sein.
Ich hatte gleich kein gutes Gefühl bei diesem schmierigen Krämer und dieser merkwürdigen Veranstaltung auch nicht, bei der am Ende noch der letzte Pöbel mit uns anstoßen wollte. Meine Rede hatte - bei aller Bescheidenheit - zwar eingeschlagen wie eine V1, doch zum Schluß waren alle betrunken und redeten wirres Zeug: über »vorübergehend besetzte Ostgebiete« oder »Jahrzehnte der Fremdherrschaft« zum Beispiel, aber auch über »alliierte Besatzer«, die sich angeblich kampflos zurückgezogen hätten. Teilweise entlarvte sich derlei Unsinn in den Widersprüchen, die sie uns auftischten, selbst. So soll Berlin derzeit nicht mal besonders schwer umkämpft sein. Trotzdem entließ man uns nur mit eindringlichen Warnungen, wir würden nicht lebend in der Reichshauptstadt ankommen. Der Scheunenbesitzer hatte immerhin auch ein paar Schlafplätze im Angebot und (für Ottos Ehrendolch) versprochen, uns am nächsten Tag mit dem Motorrad zu einer Tankstelle zu fahren. Als wir dort die vielen Landser sahen, war es schon zu spät.
Sie trugen neue Uniformen, nickten kameradschaftlich, aber machten keinen Finger krumm, als der Feind zuschlug. Vielleicht lag es an der Truppenverpflegung, die wahrlich eine Katastrophe ist. Nachträglich fällt mir aber auch ein, daß alle unbewaffnet waren, womöglich Kriegsgefangene. Dann würde auch der Fraß einen Sinn ergeben. Und Otto gehört nun auch dazu.
Wahrscheinlich habe ich mich oft und bitter über ihn beklagt. Jetzt trauere ich um ihn wie um einen gefallenen Kameraden. Gerade seine störrische Art hat uns lange zusammengeschweißt. Wegen ihm (und zum Schutz vor ihm) waren wir aufeinander angewiesen. Seine Befehle, ob wir sie befolgten oder nicht, haben aus unserem Haufen erst eine funktionierende Einheit gemacht. Seit er weg ist, gibt es nur noch Streit.
Josef lehnt es strikt ab, wegen Otto noch mal umzukehren und hat damit vermutlich sogar Recht. Gegen diese Übermacht könnten wir zu zweit wenig ausrichten. Aber mal auf Ehre und Gewissen: Hätten wir es nicht trotzdem versuchen müssen?
Nicht mal auf einen groben Plan können wir zwei uns einigen. Josef meint, wir sollten weiter über Land fahren. In der Stadt würde man uns gnadenlos aufreiben, dazu die Kollaboration allenthalben ... Ich dagegen glaube, wir hatten bisher einfach nur Pech, falsche Erwartungen und haben über all die Jahre im Bunker manches idealisiert. Von wegen oben sei das Paradies, Platon lässt grüßen. Ja, ich sehne mich im Moment sogar zurück nach der Stille und Gleichförmigkeit der Tage in DB 10. Ist das feige?
Leider hat unser Gespann erheblich gelitten. Das Vorderrad eiert und schleift, das am Beiwagen hat gar keine Luft mehr. Es dauert zwei Stunden, bis ihn Josef ohne Werkzeug abmontiert hat. Auf Feldwegen stoßen wir danach weiter Richtung Süden vor, bis uns ein Fluß den Weg versperrt. Wenn es die Havel ist, wie ich vermute, müssen wir uns nun entscheiden: Osten oder Westen? Bolschewisten oder Amerikaner? Endlich Gewißheit in der Reichshauptstadt, das wäre links, oder - rechts: das unübersichtliche Chaos im Hinterland? Aus Sorge vor dem nächsten Streit zeige ich nach rechts, und Josef biegt erwartungsgemäß links ab. Nach einer weiten Flußschleife, die wir querfeldein abkürzen, mischt sich plötzlich Geschützlärm unter das Geknatter der Maschine. Ohne Fahrtwind sind sogar einzelne MGs zu hören. Wir steigen ab, kriechen auf einen Hügel, und vor uns breitet sich ein Schlachtfeld aus, wie wir es höchstens aus der Wochenschau kennen.
Auf den ersten Blick ist es mindestens ein Pionier-Bataillon, das unter schwerem Feuer versucht, ein paar Pontons über den Fluß zu legen. Durch den Feldstecher erkennen wir Wehrmachtstechnik diesseits des Wassers. Mehrere hundert Mann halten den Gegner am anderen Ufer in Schach. Aber auch dort rücken immer neue Verbände nach, stürmen Russen mit roten Fahnen in das Sperrfeuer unserer Leute und werden im Dutzend niedergemäht. Glück muß man haben. Es ist das erste echte Gefecht, das wir aus dieser Nähe erleben dürfen, und gleich so eine Schlacht! Lange genug haben wir auf unsere Feuertaufe warten müssen. Josef zögert dennoch: Ob ich da wirklich rein wolle, fragt er aufgeregt, mitten ins Getümmel?
Ich nicke entschlossen und zurre den Stahlhelm fest. Danach gibt es auch für Josef Stahl keine Ausreden mehr.
An einer Schranke winkt uns ein Posten anstandslos durch. Er scheint sich nicht über die Dienstgrade der eiligen Kradmelder zu wundern. Umso mehr staunen wir: Werden Kampfgebiete neuerdings abgesperrt? Das mag zwar ganz praktisch sein gegen heimtückische Flankenangriffe oder flüchtende Deserteure. Aber läßt sich solches Pack wirklich von Stahlzäunen mit gelben Schildern abschrecken, auf denen Betreten verboten steht?
Nach zweihundert Metern stoßen wir auf ein kleines Feldlager. Anders als an der Tankstelle tragen die Kameraden hier die gewohnten Uniformen. Landser sitzen oder liegen auf Bierbänken. Andere stehen in Schlangen vor weißen Wohnwagen, wo sie Getränke und Essen fassen, oder werden gruppenweise zurück ins Gefecht geführt. Vor einem Zelt, das als Lazarett dient, spielen junge Kerle mit blutdurchtränkten Kopfverbänden fröhlich Karten, als wären ihre Verletzungen nur ein Klacks.
Wir sitzen ab und fragen nach dem Kommandeur.
Weiter vorn am Fluß, erklären sie, und einer grölt uns respektlos hinterher, aus welcher Gruft man uns denn aus gegraben hätte? Vermutlich ist es unser Alter.
Durch ein Labyrinth aus Schützengräben werden wir weitergereicht. Am Ende der Kette weist uns ein Feldwebel an, kurz zu warten. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen strecke, kann ich den Gefechtstand sehen: Es ist ein weißes Zelt und überragt das Feld der Ehre ohne jede Tarnung - eine Zielscheibe für Blinde. Josef Stahl schüttelt ebenso ungläubig den Kopf: Das hier hat nichts mehr mit Todesverachtung zu tun, sondern grenzt an Selbstmord. Doch geradezu schicksalhaft wird das Zelt von jedem Treffer verschont.
Ab und zu rennen weibliche Zivilisten an uns vorbei durch den Graben. Mit winzigen Funkgeräten in der Hand kommandieren sie Truppen hin und her. Eine Schande ist das - aber auch kein Wunder: Denn der General soll Amerikaner sein. Du hast Dich nicht verhört! Der Feldwebel nennt ihn Mister Jason, ein Überläufer wahrscheinlich - aber trotzdem: Frauen an der Front?
Der Kampf um den Fluß scheint schon einige Tage zu dauern. Für die Nächte hat man riesige Gerüste mit Scheinwerfern aufgestellt. An einem Kran schwebt ein Kanonier über das Schlachtfeld. Er sitzt in einer Gondel, starrt in seine Zieloptik - aber schießt nicht, obwohl er auch dem Feind immer wieder bis auf wenige Meter nahe kommt.
Jemand ruft Achtung, wir stehen stramm. Dann heißt es: Szene 24, Sturm auf die Wolga, die Dritte - und statt Angriff lautet der Befehl Äktschn. Deckung wäre allerdings eher angezeigt gewesen, denn knapp vor unserem Graben detoniert eine Granate. Dreck spritzt nach allen Seiten, aber zum Glück hören wir keine Splitter pfeifen. Der Feldwebel und alle andere Kameraden klettern aus dem Graben und stürmen nach vorn. Stahl und ich schauen uns an und folgen kurz entschlossen ihrem Beispiel. Ein paar Russen haben nun doch unser Ufer erreicht und rennen mit unmenschlichem Geheul auf uns zu. Die Landser neben uns werfen sich in den Sand und feuern. Wir zögern auch nicht lange: Anlegen, zielen und - was soll ich sagen: Es ist gar nicht so schwer, auf Menschen zu schießen, wenn alle um einen herum das gleiche tun.
Aus! Gekauft! Danke!
Die merkwürdigen Befehle kommen über Lautsprecher aus dem weißen Zelt. Mit den anderen Kameraden stellen wir das Feuer ein. Manche stehen auf und schlendern zurück in den Graben. Sogar die Russen erheben sich, klopfen Staub von ihren blassen Uniformen und ziehen sich zum Fluß zurück. Die meisten von ihnen haben scheinbar nur so getan, als seien sie getroffen - außer zwei. Auf einen davon hatte ich gezielt.
Er wimmert und schreit. Und eine merkwürdige Aufregung macht sich deshalb breit. Jemand ruft nach Sanitätern. Sogar der Kommandeur steigt von seinem Feldherrenhügel herab. Der Feldwebel zeigt mit dem Finger auf uns, und eine junge Frau, die eben selbst noch den Angriff befohlen hat, baut sie sich nun vor uns auf wie ein Spieß, stemmt die Hände in die Seiten und fragt, was wir hier überhaupt verloren hätten?
Stahl grinst sie an. Das gleiche könne er sie fragen, sagt er, worauf sie völlig die Fassung verliert. Insgeheim hat ihr Mann mein ganzes Mitgefühl, wenn sie überhaupt einen hat: So eine kleine, runde Person, kurze Haare, Nickelbrille, Hosen - wenn Du weißt, was ich meine - aber ein Mundwerk wie ein MG!
Wenigstens werden wir nun zum Kommandeur vorgelassen. Jason läuft wohlwollend um uns herum. Unser Einsatz scheint ihm Respekt abgenötigt zu haben. Kein Wunder: Immerhin haben wir als Einzige getroffen. Leider reicht mein Englisch nicht. Er nuschelt ein paar unverständliche Sätze, zeigt auf Josefs Stahlhelm und setzt ihn selber auf. Die Dragonerin übersetzt: Angeblich will Mister Jason wissen, woher wir die Kostüme hätten. Wer unser Ausstatter sei. Sie spricht zwar ganz passabel Deutsch, aber wir verstehen trotzdem fast nichts. Versorgt sich die Truppe neuerdings selbst mit Uniformen? Aus kleinen Depots in bäuerlichen Scheunen? Das wäre eine Erklärung. Aber mir gefällt das alles nicht.
Eine Prozession von aufgebrachten Soldaten nähert sich, deutsche Landser und Russen gemischt. An der Spitze tragen sie die zwei Verletzten. Sie wollen ebenfalls zu Jason und eine schier unglaubliche Diskussion beginnt: Der General brüllt, die Dragonerin brüllt es weiter. Und die Wortführer ihrer Untergebenen brüllen zurück. Es grenzt an Meuterei. Das Wort Vieh fällt mehrmals, und weil dazu blaue Flecken vorgezeigt werden, schließe ich, sie fühlen sich wie Viecher behandelt.
Rückzug, zischt Josef und hat wohl ausnahmsweise mal Recht.
Etwas stimmt nicht mit diesem Frontabschnitt, eine ganze Menge sogar. Die Russen schauen immer feindseliger zu uns herüber, ein paar von ihnen bewegen sich sogar auf uns zu. Es sind nicht gerade die kleinsten und schmälsten. Von den deutschen Kameraden - das kennen wir ja schon von der Tankstelle - haben wir keine Hilfe zu erwarten. Also weichen wir lieber zurück und pflanzen die Bajonette auf, wie wir das in der Ausbildung für den Nahkampf im Graben gelernt haben. Jason ruft die Russen zwar auf Englisch zur Ordnung, aber das hindert uns trotzdem nicht, den Schritt zu beschleunigen und zurück in den Graben zu klettern. Wir schlagen Haken wie in einem Irrgarten, obwohl uns nur noch die Dragonerin verfolgt. Wir sollen warten, ruft sie, Jason wolle, dass wir einen Vertrag unterschreiben. Der Kanonier auf dem Kran dirigiert sie von oben: Rechts, links, schreit er, weiter links. Wir aber stolpern kopflos weiter, bis wir unser Motorrad erreichen.
Wir werden weiter marschieren ... Wütend summe ich unser Lied, während Josef die Schranke durchbricht. ... wenn alles in Scherben fällt. Niemand hält die Waffen-SS auf ... Denn heute da hört uns Deutschland... Und ein Vertrag? Wir sind doch keine Söldner!
Eigentlich konnte man sich für Otto Böttcher keinen besseren Platz auf dieser Welt vorstellen, aber ich spürte dennoch einen dicken Kloß im Hals, als ich mit Busch sein Zimmer betrat.
Ein Bett, ein Schrank, ein Fenster zum Park - mehr schien ein alter Mensch nach den Vorstellungen von Pflegeheimplanern nicht mehr zu brauchen. Es war der übliche Standard in beige und roch nach Pressspanmöbeln, Desinfektion und Kamillentee. Der Fußboden glänzte wie die Gitter am Bett. Zwei Besucherstühle standen vor einer Fototapete mit Laubwald, vor dem Fenster weiße Senkrecht-Jalousien wie sie Anfang der 90er Jahre in jedem Büro üblich waren - Ottos neues Zuhause war weder schön noch richtig hässlich, sondern einfach nur menschenverachtend praktisch.
Er blätterte gerade in einem Versandhauskatalog, saß mit dem Rücken zu uns in einem nagelneuen Rollstuhl und war mit einem breiten Gurt an dessen Lehne gefesselt. Aus dem Bund seiner schlabberigen Jogginghose ragte ungeniert ein hellblaues Stück Plastik hervor. Der Reichsführer SS trug Windeln.
Wir standen noch immer betreten am Eingang. Busch musste sich mehrmals räuspern, bis uns Otto Böttcher bemerkte, sich mühsam umdrehte und uns überschwänglich begrüßte. Er wollte uns entgegenrollen. Doch jemand hatte die Bremse des Rollstuhls angezogen. Fluchend griff er zu einem Klingelknopf, als bereits die Tür hinter uns aufgerissen wurde.
Der junge Pfleger muss schon die Hand auf der Klinke gehabt haben, schien kein bisschen überrascht und wollte uns sofort rausschmeißen. Offenbar hatte sein Zivildienstkollege an der Pforte doch noch Alarm geschlagen, nachdem er uns arglos einen verwirrten Neuzugang bestätigt und den Weg gezeigt hatte.
»Halten Sie den Mund«, bellte ihn Otto an, »oder untersteht das Lazarett etwa ihrem Kommando?!«
»Aber Dr. Worch hat...«
»Papperlapapp! Diese Kameraden haben mir im Gefecht das Leben gerettet. Wissen Sie überhaupt, was das heißt?«
Das wusste der arme Wehrdienstverweigerer natürlich nicht.
»Na also: Wegtreten!«
Widerwillig zog der junge Mann die Tür zu, und erst da fiel mir auf, dass es innen keine Klinke gab. Otto fühlte sich dennoch wohl und schwärmte in den höchsten Tönen von diesem »königlichen Quartier«, wie er es mehrmals nannte.
Zumindest von außen hatte es genau so ausgesehen - aber nicht so, als könne er sich das leisten. Das Jagdschloss lag an einem See mitten im Wald. Hinter dem edel renovierten Hauptgebäude aus hellem Sandstein schmiegte sich ein Neubau aus Glas und Beton in die Idylle. Hohe Zäune, etliche Kameras und ein goldenes Schild, auf dem »Vesperi« stand und darunter »gerontopsychiatrische Privatklinik«. Man konnte es vornehm aus drücken, wie man wollte, es war eine Luxus-Klapsmühle für Senioren. Drei Stunden hatten wir hinter einer Garage gelauert, bis der Arzt, der Böttcher einkassiert hatte, wieder herausgekommen und in einem Jeep davongefahren war.
Otto schien sich ehrlich über unseren Besuch zu freuen und vergessen zu haben, dass er uns bei der letzen Begegnung, vor nicht einmal 48 Stunden, noch hatte erschießen lassen wollen.
»Setzt euch doch! Großartiges Zimmer, was? Nur das Personal ... Und? Was von den Kameraden gehört?«
Ich nickte unsicher. Gerd lief zum Fenster und schaute in einen penibel gepflegten Park. Keiner von uns wusste so recht, was er sagen sollte. Ich versuchte es wenigstens:
»Sie sind immer noch unterwegs. Wir wissen nur nicht wohin.«
»Diese tapferen Burschen!«
»Haben Sie eine Ahnung, wohin sie wollen? Verwandte, Anlaufpunkte, irgendjemand in Berlin vielleicht?«
»Wer will das wissen? Ihr?« Otto blinzelte misstrauisch.
Tat er sonst womöglich immer nur so verkalkt?
»Ja, wir. Wir sind doch ...« Ich wollte sagen: auf seiner Seite, ein Team oder so. Aber das fiel mir immer noch schwer.
»Wir machen uns Sorgen um die Jungs.«
Zum ersten Mal hatte Busch ihnen gegenüber die richtigen Worte gefunden, sogar den richtigen Ton. Leider verdrehte er dabei uncharmant die Augen, als würden wir nur unsere Zeit verschwenden. Sogar Otto spürte, dass es an ihm lag, den Besuch sofort zu beenden oder künstlich in die Länge zu ziehen. Vorsichtshalber holte er etwas weiter aus.
»Also der Fritz, was der von Jagemann ist, stammt aus Pommern - oder aus dem Anhaltinischen? War aber auf jeden Fall mal kurz in Berlin stationiert, das weiß ich genau. Und Hoppe - lasst mich mal überlegen! Ich glaube, Hoppe ist Bauer. Angeblich mit eigenem Hof. Aber der erzählt auch viel, wenn der Tag lang ist...«
Otto war selbst dort gewesen, gestern erst. Es hatte wirklich keinen Zweck mit ihm. Doch dann versuchte er plötzlich mit seiner schweren bayrischen Zunge einen anderen Dialekt nachzuahmen:
»Aber der Jude, det issn Berliner, hört man ja och, wa?«
»Was?«
Wir hatten das beide gleichzeitig ausgerufen. Busch legte sogar noch ein höfliches »Wie bitte?« nach.
»Jetzt könnt ihr euch was wünschen.« Der alte Nazi strahlte wie ein Vorschulkind: »Aber nicht verraten - ihr wisst ja!«
»Josef Stahl ist aus Berlin? Wissen Sie das genau?«
»Wer sagt das?« Otto kicherte blöde: »Die Ärzte etwa?«
»Nein«, sagte Gerd nachsichtig, »Sie selbst haben das gesagt, gerade eben. Egal: Was ist mit den Ärzten?«
»Ach herrlich, dieser Dr. Worch, feiner Kerl! Wir könnten stundenlang reden. Und einen Kognak hat der im Schrank! Also wenn es nach mir geht - ich könnte hier alt werden.«
Weil das nicht ironisch klang, lachten wir auch nicht.
»Wartet mal«, sagte er dann, »ich zeig euch was!«
Per Knopfdruck fuhr er den Kopfteil seines Bettes nach oben, dann das untere Ende, so dass es zusammenklappte wie ein Taschenmesser und alles Bettzeug verrutschte.
»Und jetzt passt auf! Das habt ihr noch nicht gesehen.«
Er drückte einen anderen Knopf. Sein gesundes Auge schaute uns vielversprechend an, und wieder zuckten wir zusammen, als die Tür aufging. Der Pfleger blickte sich kurz im Zimmer um und machte sich sofort über das liederliche Bett her, während Otto hinter seinem Rücken feixte und offenbar Beifall erwartete, als der junge Mann wieder raus war.
»Nettes Spiel«, sagte ich, um ihn nicht zu enttäuschen.
»Soll ich noch mal? Das macht der immer wieder.«
Behutsam nahm ihm Busch die Fernbedienung aus der Hand und versuchte es noch einmal mit den wesentlichen Dingen: »Josef Stahl ist also Berliner. Hat der Doktor auch gesagt, wie es jetzt weitergehen soll? Wissen die auch, wohin ihr wollt?«
»Er hat auch immer nur Fragen gestellt: Wohin? Woher? Weshalb? Genau wie ihr. Als wenn ich das alles wüsste!«
Nach einem kurzen Anflug von Zorn sackte Böttcher wieder kichernd in seinen Stuhl. Beinahe neidisch fragte ich mich, was es hier wohl für geile Drogen gab. Dann aber nahm er plötzlich von sich aus den richtigen Faden wieder auf:
»Um Fritz müsst ihr euch keine Sorgen machen. Den holt sein Vater schon raus. Muss ja ein ganz hohes Tier sein!«
»Der Vater von Fritz? Wissen Sie zufällig den Namen?«
»Na klar: Der heißt natürlich auch von Jagemann.«
»Klar, natürlich, dumme Frage.« Busch gab es auf.
»Hat Fritz noch was von seinem Vater erzählt?«, fragte ich.
»Noch was? Ständig hat er von ihm gesprochen, ziemlich eingebildet die ganze Sippe. Ehrendegen des Reichsführers, dazu sämtliche Parteiauszeichnungen, Blutorden, alles.«
»Und sein Name?«
»Sein Name? Aber Jungchen, den habe ich doch schon ...«
»Nein.«
»Nein? Na dann: Carl Otto von Jagemann. Carl mit C, darauf legen solche Leute ja unheimlich Wert. Zuletzt Brigadeführer.«
Danach nahm Otto den Katalog wieder zur Hand und vertiefte sich in eine Doppelseite mit Damenunterwäsche. Er reagierte nicht einmal mehr, als wir uns verabschieden wollten und nach dem Pfleger klingelten, der uns nur zu gern wieder freiließ.
»Moment noch«, schnarrte Otto, als wir schon fast aus dem Raum waren. »Ein Frisör, Stahls Vater hat einen Frisörsalon.«
»Nächste Woche«, rief der Pfleger durch den Türspalt zurück, »der Frisör kommt nächste Woche, Herr Böttcher.«
Uns gegenüber wedelte er nur mit der Hand vor der Stirn, bevor er uns zum Ausgang begleitete.