21

Ich ging zum Kofferraum und holte mir Jacques’ Tasche heraus. Beckers Augen wurden immer größer, als er sah, wie ich das Teleskop auf dem Stativ befestigte und neben dem Beifahrersitz auf dem Parkdeck aufbaute. Damit ich es nicht vergaß, steckte ich sogleich die Speicherkarte dran. Bevor ich es mir dann auf dem Sitz gemütlich machte, zog ich noch schnell den Kopfhörer über. Noch waren es diffuse Verkehrs-und Stadtgeräusche, die ich vernahm. Zur eigenen Sicherheit hatte ich den Lautstärkepegel zunächst ganz niedrig eingestellt.

Da ich mit der Bedienung des Tele schon vertraut war, gelang es mir in Kürze, mit einer etwa 800er-Brennweite den Spiegelsaal zu finden. Kein Vergleich zu dem Billigschrott von Becker. Ich könnte die einzelnen Cevapcici auf dem Büfett zählen, wenn ich wollte. Da anscheinend laufend neue Gäste begrüßt wurden, konnte ich über meinen Kopfhörer nur Stimmengewirr vernehmen. Herrlich, es gab keine störenden Nebengeräusche von der Straße oder sonst wo her.

Becker saß immer noch mit offenem Mund im Fond und schaute mir zutiefst beeindruckt zu.

Ich veränderte nun leicht die Brennweite, um den Raum näher untersuchen zu können. Ich schätzte, dass ich ungefähr 80 Prozent des Saals durch die Fenster im Blickfeld hatte. Nach einer Weile sah ich die schöne Hannah Weiß den Saal betreten. Sie wurde von einer mir unbekannten Person begrüßt. Auch Knoll kam wenige Minuten später herein. Dieses Mal war er in weiblicher Begleitung und würdigte seine Chefin nicht eines Blickes.

»Das wird so nichts«, hörte ich den Studenten neben mir fluchen.

»Ich muss gestehen, Sie haben eindeutig das professionellere Gerät. Ich werde da jetzt einfach mal rübergehen und schauen, was ich vor Ort erfahren kann. Mich kennt ja dort niemand.«

Bevor ich ihn zurückhalten konnte, war er schon verschwunden. Hoffentlich ging das gut. Bei seiner Tollpatschigkeit konnte das leicht in die Hose gehen.

Ich setzte wieder das Tele an und konnte gerade in diesem Moment den Auftritt Siegfrieds erleben. In üblicher Zuhältermanier schritt er seine Gäste ab. Die Gespräche verstummten. Nur noch Siegfried sprach.

»Wie, du alter Sack! Alles klar im Rohr?«

Er schüttelte einem älteren Mann die Hand, ohne ihn näher anzusehen. Schon war er bei der nächsten Person, einer Frau.

»Na, du? Wann kommst du mal wieder vorbei? Für dich mach ich eine Stunde Pause, hähähä.«

Bevor die Frau nur ansatzweise reagieren konnte, war er schon beim Nächsten.

Da die Gespräche automatisch aufgenommen wurden, konnte ich mir den Rest seiner herzlichen Begrüßung ersparen.

In der Zwischenzeit gönnte ich mir noch den einen oder anderen Schokoriegel. Becker musste ja nicht unbedingt mitbekommen, wie ich meine Hauptmahlzeiten einnahm.

Nach einer Weile sah ich erneut durch das Tele. Die Begrüßung war vorbei, die Gesellschaft begann gerade, das Büfett zu stürmen. Was ich dann sah, verschlug mir die Sprache. Professor Müller stand in der Tür. Scheiße, wenn da jetzt noch Becker auftauchte, war alles aus.

Müller suchte den Raum ab, niemand störte ihn dabei oder sprach ihn an. Nach wenigen Augenblicken hatte er Knoll entdeckt und ging auf ihn zu. Ich zog das Objektiv nach und konnte alles live miterleben.

Knoll war sichtlich überrascht, als der Professor auf ihn zukam.

»Herr Professor. Welche Überraschung!«

»Reden Sie keinen Stuss, Herr Knoll. Sie wissen genau, warum ich hier bin. Haben Sie schon mit Herrn Siegfried reden können? Sie hatten ja lange genug Zeit. Ich bezahle immerhin verdammt gut.«

»Ja, das heißt, nein. Ich habe schon alles mit Herrn Petersen, dem kaufmännischen Leiter besprochen. Doch der er ist heute leider nicht hier. Wir dürfen nichts überstürzen, Herr Professor, diese Sache muss man Siegfried langsam verkaufen, Stück für Stück.«

»Bullshit! Ich kann nicht mehr lange warten. Ich will das Grundstück haben. Und wenn Frau Weiß es mir nicht geben will, dann muss es eben über Siegfried geschehen. Apropos, ist Frau Weiß auch da?«

»Ja, ja, sicher ist sie da. Ich weiß nicht, wo sie im Moment steckt. Sie sollte uns vielleicht nicht unbedingt zusammen sehen.«

»Oh, hören Sie doch mit diesem Gesülze auf. Ich will eine Entscheidung. Noch diese Woche, haben Sie mich verstanden?«

»Ja sicher, Herr Professor, Sie können sich hundertprozentig auf mich verlassen.«

Knoll machte eine Verbeugung, die absolut lächerlich wirkte.

Der Professor drehte sich grußlos um und verließ den Raum. Noch keine zwei Minuten später betrat Dietmar Becker den Raum. Gespannt verfolgte ich ihn mit meinem Tele.

Der Student stellte sich möglichst unauffällig zwischen die anderen Gäste und vermied jeden Augenkontakt mit einer der anderen Personen. Das war wirklich dreist, dachte ich. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Niemand sprach ihn an, da jeder vermutete, dass er zur Gesellschaft gehörte.

Im ganzen Stimmengemurmel hörte ich einen Gong. Die Gespräche verebbten. Ich drehte die Brennweite etwas zurück und konnte erkennen, dass sich die Anwesenden auf die Stühle setzten, die alle auf eine Seite ausgerichtet waren. Es dauerte einen Moment, dann sah ich Samuel Siegfried, wie er sich gerade in Positur stellte. Leicht breitbeinig hatte er seine Hände in die Taille gestützt. Dabei machte er ein Hohlkreuz und wippte mit seinem Oberkörper leicht vor und zurück. Das war die Ich-bin-wichtig-Haltung, die man in nicht ganz so seriösen Rhetorikkursen vermittelt bekam. In diesen Kursen wurde gelehrt, dass Arroganz und Lautstärke wichtiger sind als treffende Argumente. Der grundlegende Nachteil dieser Deppenrhetorik: Man wird dadurch mit der Zeit ziemlich einsam.

Ich fokussierte nun voll auf meinen unsympathischen Freund Siegfried. Seine gefühlte geistige Überlegenheit gegenüber dem vor ihm sitzenden Fußvolk war ihm anzusehen. Fast ein Wunder, dass er sich herabließ, mit seinen Untertanen zu sprechen.

»Guten Abend«, begann er, »einige von euch habe ich ja bereits persönlich begrüßt. Die anderen sollen es bitte nicht persönlich nehmen. Ich kann nicht den ganzen Abend nur Hände schütteln.«

Er lachte über seinen vermeintlich gelungenen Witz. Doch niemand lachte mit.

»Wie ihr wisst, gab es bei uns gestern eine Hausdurchsuchung. Ursache war der Tod dieses Arbeiters, ich hab den Namen schon wieder vergessen. Ist ja auch egal. Bei der Durchsuchung wurden fast alle Unterlagen beschlagnahmt. Ich habe von dem Plan der Bullen zwar schon einen Tag vorher erfahren, doch schließlich konnte ich nicht das ganze Büro ausräumen lassen. Doch der eigentliche Punkt, warum wir heute hier zusammengekommen sind: Wir sitzen alle im selben Boot. Wir müssen uns jetzt gemeinsam überlegen, wie wir aus dieser Scheiße wieder herauskommen!«

»Was heißt da wir?«, rief ein Mann im besten Alter dazwischen.

»Das ist doch alles nur dein Problem. Wir haben unsere Ware ordentlich abgeliefert. Wenn du krumme Dinger drehst, dann ist das alleine deine Sache!«

»Ja genau!«, rief ein anderer dazwischen. »Du machst die Kohle mit deinen Hinterziehungen und wir sollen es ausbaden! Nein, nicht mit mir!«

»Beruhigt euch doch. Hört, was ich zu sagen habe. Seid froh, dass der Haftbefehl gegen mich außer Vollzug gesetzt wurde. Sonst hättet ihr gleich heute Insolvenz anmelden können. So sieht es nämlich aus!«

»Red keinen Stuss, Samuel! Dann hätte man eben einen Insolvenzverwalter eingesetzt und schon wäre Ruhe gewesen.«

»Sagt mal, wie naiv seid ihr denn?«, rief Siegfried gereizt. »Dann würdet ihr nicht gleich heute kaputt gehen, sondern erst in den nächsten Monaten langsam ster

ben.«

»Warum das denn?«

»Stell dir mal vor, die würden einen Insolvenzverwalter einsetzen. Dann ist es vorbei mit den kleinen steuerlichen Auslegungen in eigener Verantwortung, der macht voll auf Gesetz.«

»Ja, so soll es sein! Wir zahlen auch Steuern.«

Siegfried nickte ihm mitleidig zu.

»Ja, natürlich zahlst du brav deine Steuern, da habe ich gar nichts dagegen. Nur bei unserer Genossenschaft geht das leider nicht!«

»Jetzt red nicht um den heißen Brei herum, was hast du für ein Problem, Samuel?«

Wissend lächelte er einen Moment in die Runde, bevor er siegessicher weiterredete.

»Ihr wisst genau, dass die Discounter einem das Leben schwer machen. Zwei Drittel unserer Waren nehmen die ab. Ständig wird man mit Preissenkungen erpresst. Ich sag euch was: Ohne die Tricksereien hätten wir nur die Hälfte an Umsatz zu verteilen. Meine Provision verdiene ich seit zwei Jahren nur durch Umschichtungen ins Ausland. Handelsspanne? Vergesst das. Da bleibt nichts, aber auch gar nichts mehr hängen.«

Für eine halbe Minute herrschte Ruhe. Dann brach das Chaos aus. Alle riefen gleichzeitig, manche standen von ihren Stühlen auf und einige beschimpften Siegfried lautstark.

Dieser stand noch an gleicher Stelle und wippte immer noch vor sich hin.

Einige Minuten später wollte er erneut das Wort an sich reißen, was ihm nach ein paar misslungenen Anläufen auch gelang.

»Es tut mir leid, wenn ich euch die Pistole auf die Brust setzen muss. Entweder ihr seid ab sofort mit der Halbierung der Umsätze einverstanden oder ihr müsst euch ab morgen einen anderen Vermarkter suchen. Drauflegen will ich nämlich nicht.«

Daraufhin musste ich die Lautstärke am Kopfhörer zurückdrehen, vermutlich war man im Spiegelsaal nahe daran, Siegfried zu lynchen.

Ich beobachtete das Spektakel noch eine Weile. Aus heiterem Himmel klopfte plötzlich jemand auf das Autodach. Vor Schreck fiel ich fast vom Beifahrersitz. Es war Dietmar Becker, der zurückgekommen war. »Mensch, müssen Sie mich so erschrecken?«, herrschte ich ihn an.

»Tut mir leid, Herr Palzki. Ich ahnte nicht, dass Sie bereits eingeschlafen sind.«

Ich schaute ihm tief in die Augen.

»Na, das haben Sie aber schlau angestellt. Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Was halten Sie von der ganzen Sache da drüben?«

»Ich habe mir ehrlich gesagt mehr davon versprochen. Drüben geht es einzig und allein darum, dass Siegfried in Zukunft noch mehr Gewinn einsacken will.«

»Glauben Sie die Geschichte nicht, die er seinen Genossenschaftsmitgliedern erzählt hat?«

»Vergessen Sie es. Mein Freund, der bei Siegfrieds Steuerberater arbeitet, hat mal zu mir gesagt, dass der Großhandel eine Gelddruckmaschine sei, und das selbst dann, wenn man alles legal abrechnen würde.«

Ich schüttelte nur noch ungläubig den Kopf.

»Wahnsinn. Und jetzt nutzt Siegfried die Gunst der Stunde, um seinen Mitgliedern noch ein Stück mehr vom Kuchen abzuknapsen.«

»So sieht es aus. Die Mitglieder sind arme Schweine und zudem noch in einer extrem schlechten Verhandlungsposition.«

»Und was lernen wir daraus, Herr Becker?«

»Das es sich nicht gelohnt hat, hierher zu kommen. Ich dachte nämlich, dass der Fall Schablinski aufgeklärt wird.«

»Na, da wird jetzt wohl nichts mehr draus. Ich denke, wir brechen ab und fahren wieder heim, okay?«

»Das glaube ich auch. Hier zu warten dürfte nichts mehr bringen.«

»Dann lassen Sie uns mal alles zusammenräumen. Sie werden wohl nichts dagegen haben, wenn ich Sie nach Hause fahre, oder?«

»Oh, vielen Dank, das wäre wirklich nett.«

Ich schraubte das Teleobjektiv vom Stativ, packte alles wieder ordentlich in die Tasche und stellte diese behutsam in den Kofferraum. Die Speicherkarte ließ ich am Tele, da konnte sie wenigstens nicht verloren gehen. Gleich morgen früh würde ich das kostbare Stück wieder zu Jacques zurückbringen.

Auf der Rückfahrt bot ich dem Studenten einen meiner beiden letzten Schokoriegel an. Diesmal schien auch er Hunger zu haben und so fuhren wir schmatzend an der Abfahrt Mutterstadt vorbei.

»Äh, Herr Palzki, ich glaube, wir hätten hier vielleicht besser abbiegen sollen.«

»Mist, der Mensch ist halt ein Gewohnheitstier. Ganz automatisch wäre ich jetzt nach Schifferstadt gefahren. Na ja, macht nichts, fahren wir eben über Limburgerhof, das ist nur unwesentlich länger.«

»Das ist vielleicht verkehrstechnisch gesehen gar keine schlechte Variante. So müssen Sie nicht an der Ampel im Ortszentrum von Mutterstadt vorbei. Selbst mitten in der Nacht steckt man da minutenlang fest.«

Es war bereits kurz nach elf, als wir die vier Kreisel, die am nordöstlichen Ortsende von Limburgerhof innerhalb eines knappen Kilometers jeden ortsfremden Autofahrer um den Orientierungssinn und um den Verstand brachten, durchfuhren.

In Fahrtrichtung konnte ich bereits die vielen Lichter Mutterstadts sehen, als Becker neben mir plötzlich unruhig wurde.

»Schauen Sie mal, da drüben!«, rief er erstaunt. Er zeigte mit seiner Hand nach rechts zum Großmarkt Siegfried.

»Da tut sich doch was. Um diese Uhrzeit habe ich hier noch nie Autos parken sehen. Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber ich denke, ich habe eben einen schwachen Lichtschimmer gesehen.«

Ich legte eine ordentliche Vollbremsung hin.

»Und, was wissen Sie noch?«, fragte ich ihn in besonders hartem Ton.

Er schaute mich erstaunt an.

»Wie meinen Sie das, Herr Palzki? Ich habe keine Ahnung, weshalb da heute die Autos stehen. Normalerweise ist das Gelände, wenn ich nachts heimkomme, menschenleer.«

»Okay, dann werden wir mal nachschauen. Da Sie schon mal hier sind, können Sie auch mitkommen. Aber Sie verhalten sich absolut ruhig und machen bitte keine Extratouren, okay?«

»Ja, ist schon in Ordnung. Wahrscheinlich gibt das sowieso noch eine Pleite.«

Ich parkte 50 Meter hinter der Einfahrt im Straßengraben. Als ahnte ich, dass ich sie gebrauchen konnte, schnappte ich mir die Tasche mit dem Teleobjektiv.